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+++BERN
hauptstadt.be 09.06.2023
«Alle Brücken hinter mir sind kaputt»
Die Iranerin Zoya Mahallati exponiert sich in der Öffentlichkeit mit künstlerischen Darbietungen. Ihr Asylgesuch wurde abgewiesen, im Iran fürchtet sie Verfolgung. Dieses Wochenende tritt sie an der Flüchtlingssession auf.
Von Andrea von Däniken (Text) und Dres Hubacher (Bild)
Oktober 2022. Eine Frau steht bei einer Demonstration auf der Bühne auf dem Bundesplatz. Sie trägt ein rotes Kleid und tunkt ihre Haare in rote Farbe. Damit beschmiert sie ein Foto des geistlichen Führers Ayatollah Ali Khamenei, und zerreisst es schliesslich. Mit der Menge ruft sie «Jin – Jiyan – Azadi!». Frauen – Leben – Freiheit, die Worte des Aufstands gegen das iranische Regime.
Gut einen Monat zuvor hat dieselbe Frau vor der iranischen Botschaft eine selbstgemachte Skulptur zerstört. Die Skulptur zeigte eine traurig aussehende kurdische Frau ohne Kopftuch.
Hinter den Aktionen steckt Zoya Mahallati. Die Darbietungen haben in den hiesigen Medien für Aufsehen gesorgt. Wer ist diese Frau, die sich so stark exponiert? Warum macht sie das?
Die «Hauptstadt» besucht Zoya Mahallati in einer WG an der Effingerstrasse. Sie lebt hier gratis in einem Zimmer. Einmal am Tag reist sie ins abgelegene Enggistein bei Worb, wo sie offiziell in einem Rückkehrzentrum untergebracht ist und ihre Anwesenheit bezeugen muss. Denn eigentlich müsste Zoya Mahallati zurück in den Iran. Dort blühen ihr für solche Aktionen im Ausland schwerwiegende Sanktionen, im schlimmsten Fall die Todesstrafe. Doch ihr Asylgesuch hat die Schweiz abgewiesen.
Die Feministin im Iran
Zoya Mahallati ist Kurdin und im Iran geboren. Sie studierte dort Kunst und erschafft auch heute noch Keramikskulpturen und malt. Ihre Ausstellungen, die feministisch geprägt waren, wurden von der iranischen Regierung verhindert. Sie arbeitete als Dozentin an einer Hochschule, später Kunstlehrerin an einer Primarschule in ihrer Heimatstadt Sanandaj. Der Bildungsbereich wird vom iranischen Regime beobachtet. Denn eine Lehrerin hat Einfluss auf die Gesinnung der Jugend. Nachdem die Sittenpolizei Mahallatis Primarschule kontrolliert hat, wurde sie entlassen.
Mahallati ist eine Feministin und eine Nonkonformistin. Nach der Heirat wollte sie nicht mit ihrem damaligen Mann in eine gemeinsame Wohnung ziehen. Daraufhin rächte sich ihr Mann, indem er verbreitete, dass sie bisexuell sei. Im Iran sind sexuelle Handlungen zwischen Gleichgeschlechtlichen illegal und können mit dem Tod bestraft werden.
Ohne Zukunftsaussichten und mit nichts zu verlieren, flüchtete Mahallati 2015 in die Schweiz.
Schweiz – Schweden – Schweiz
Hier ersucht sie im September 2015 um Asyl. Sie ist zu diesem Zeitpunkt 28 Jahre alt. Rund vier Jahre später, im Juli 2019, erhält sie einen negativen Bescheid, den sie anfechtet. Im März 2022 wird die Beschwerde abgewiesen.
Zoya Mahallati hat sich bis dahin ein Leben in der Schweiz aufgebaut. Sie ist vom Durchgangszentrum Aeschiried in eine Wohngenossenschaft in der Stadt Bern gezogen, hat an der Hochschule der Künste Bern Workshops und Weiterbildungen besucht und selbst Workshops geleitet. Das Festival der Kulturen Bern zeichnet sie gar mit dem ersten Preis für ihre Keramik aus.
Ein halbes Jahr nach dem negativen Entscheid beginnen die Aufstände im Iran aufgrund der Ermordung von Mahsa Amini. In der Schweiz ist die Solidarität gross, Demonstrationen werden veranstaltet und Zoya Mahallati ist mittendrin.
Stolz zeigt sie auf ihrem Instagramprofil Videos von ihren Performances, denn die oben erwähnten sind nicht ihre einzigen Aktivitäten. Sie hielt letzten September eine Rede an einer Kundgebung auf dem Bahnhofsplatz über die Situation im Iran. In einem Interview mit CH Media trägt sie ein Shirt, auf dem zwei Frauen abgebildet sind – eine mit und eine ohne Kopftuch. Ihre Aktionen und das mediale Interesse daran bleiben für sie nicht ohne Folgen. Im Iran werden ihre Aktivitäten in der Schweiz beobachtet, im November 2022 wird ihr Vater in Sanandaj vom iranischen Geheimdienst festgenommen. Ihre Familie informiert sie darüber und fordert sie auf, in den Iran zurückzukehren.
Sie hat Angst und verlässt tatsächlich die Schweiz. Sie flüchtet aber nach Schweden zu ihren Verwandten, weil sie sich dort sicherer fühlt.
Doch Schweden nimmt sie nicht auf. Das Dublin-Abkommen verpflichtet sie, in die Schweiz zurückzukehren – an einen Ort, an dem sie eigentlich nicht bleiben darf.
Kein Zurück
«Mein Land hat mein Leben zerstört. Ich bin hierher gekommen, weil ich dachte, es würde besser werden», sagt Zoya Mahallati. «Alle Brücken hinter mir sind kaputt.» Sie stehe im Iran auf einer schwarzen Liste. Sie sagt, sie fürchte, von der Regierung verhaftet oder gar getötet zu werden, wenn sie zurückkehre.
Aufgeben kommt für Mahallati nicht in Frage. Sie hat kürzlich ein neues Asylgesuch eingereicht. Aufgrund der veränderten Umstände im Iran und ihren exilpolitischen Aktivitäten hofft sie, als Flüchtende anerkannt zu werden.
Danach hat sie viel vor. Wenn sie wieder Kraft habe, möchte sie die grosse Solidarität, die sie von vielen Menschen erfahren habe, zurückgeben. Sie möchte geflüchtete Frauen, die ähnliches wie sie erlebt haben, unterstützen. Und sie möchte an der Hochschule der Künste Bern studieren. Dort könne sie ganz sie selbst sein. Am 10. Juni wird sie an der Flüchtlingssession teilnehmen. Sie wird wieder eine Performance zeigen. Sie könne sich am besten mit Kunst ausdrücken, sagt sie. Was das für eine Performance sein wird, verrät sie nicht. Aber möglichst viele Menschen sollen sie sehen und davon hören, sagt sie.
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Flüchtlingssession am 10. Juni
Seit 2021 führt die Schweiz eine Flüchtlingssession durch. Hier können geflüchtete Menschen jeden Alters, die mindestens ein B1-Niveau auf Deutsch, Französisch oder Italienisch aufweisen, teilnehmen und ihre Bedürfnisse an das Parlament tragen.
Letztes Jahr haben die Teilnehmenden die zehn wichtigsten Vorstösse demokratisch priorisiert und einem Podium aus Politiker*innen und Fachpersonen präsentiert. Diese nahmen die Vorstösse entgegen, kommentierten sie und lassen sie künftig in die politischen und öffentlichen Debatten einfliessen.
In der diesjährigen Session geht es um folgende sechs Themen:
– Verbesserung des Aufenthaltsstatus (Abgewiesene und F-Status)
– Bildung für alle
– Psychologische Begleitung während dem Asylprozess
– Familienbesuche mit F-Ausweis im Schengenraum
– Familiennachzug erweitern
– Faire Behandlung von Kindern unabhängig von Aufenthaltsstatus
(https://www.hauptstadt.be/a/zoya-mahallati-iranerin-gefluechtet-abgewiesen)
+++SCHWYZ
Direkt beim Kloster Einsiedeln: Hier sollen Afghanische Asylsuchende untergebracht werden
Der Kanton Schwyz will seine Flüchtlinge in einem stillgelegten Hotel unterbringen. Das befindet sich jedoch direkt vor dem Kloster Einsiedeln. Für die SVP ein Affront und auch der Bezirksrat ist überrumpelt.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/direkt-beim-kloster-einsiedeln-hier-sollen-afghanische-asylsuchende-untergebracht-werden-151950704
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/svp-gegen-fluechtlingsunterkunft-am-kloster-einsiedeln-151951169
+++SCHWEIZ
Europäisches Asyl- und Migrationssystem: Minister verabschieden konkrete Vorschläge
Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider hat am Treffen der Justiz- und Innenminister (JI-Rat) der Schengen-Staaten in Luxemburg teilgenommen, an dem zwei zentrale Elemente der Reform des europäischen Asyl- und Migrationssystems verabschiedet wurden. Die Innenministerinnen und -Minister der Mitgliedstaaten haben am 8. Juni in Luxemburg die generelle Ausrichtung eines Solidaritätsmechanismus und schnellen Asylverfahrens an den Schengen-Aussengrenzen verabschiedet. Diese Entscheide werden sich auch auf die Schweiz als assoziierter Staat auswirken.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-95611.html
EU-Pakt: Flüchtlingsschutz und Menschenrechte sollen geopfert werden
An einem Treffen in Luxemburg haben die EU-Innenministerinnen und -innenminister am 8. Juni 2023 eine gemeinsame Position zu zwei Kernelementen des EU-Pakts zu Migration und Asyl beschlossen: die verpflichtende Einführung von Grenzverfahren sowie einen Solidaritätsmechanismus voller Schlupflöcher. Die Einigung basiert auf dem Konsens der EU-Staaten, dass Abwehr und Abschottung Vorrang haben. Dafür sind sie bereit, Rechtsstaatlichkeit, Flüchtlingsschutz und Menschenrechte preiszugeben.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/eu-pakt-fluechtlingsschutz-und-menschenrechte-sollen-geopfert-werden
+++DEUTSCHLAND
Ausverkauf der Menschenrechte: Deutschland stimmt für Aushebelung des Flüchtlingsschutzes
Beim Rat der EU-Innenminister*innen wurde sich auf eine Reform des europäischen Asylsystems geeinigt, die Haftzentren an den Außengrenzen und Abschiebungen in fast beliebige außereuropäische Staaten vorsieht. Solidarisches Aufnahmesystem? Fehlanzeige. Auch die deutsche Bundesregierung stimmte dem Ausverkauf der Menschenrechte zu
https://www.proasyl.de/news/ausverkauf-der-menschenrechte-deutschland-stimmt-fuer-aushebelung-des-fluechtlingsschutzes/
+++BALKANROUTE
Keine rechtliche Grundlage: Flüchtlingscamp Lipa soll nun doch kein Gefängnis bekommen
Der bosnische Menschenrechtsminister Sevlid Hurtić und Premierminister des Una-Sana-Kantons Mustafa Ružnić verkündeten das Aus für die umstrittene Gefängnisanlage im Flüchtlingscamp Lipa. Der Bürgermeister aus Bihać bleibt skeptisch. Gebaut hat die Anlage das ÖVP-nahe Institut ICMPD.
https://www.kleinezeitung.at/politik/aussenpolitik/6297450/Keine-rechtliche-Grundlage_Fluechtlingscamp-Lipa-bekommt-nun-doch
+++EUROPA
EU verschärft Asylsystem – Rendez-vous
Die EU hat sich nach sieben Jahren mühsamen Ringens auf eine Verschärfung des Asylsystems geeinigt. Zentraler Punkt sollen schnelle, abgekürzte Asylverfahren an den EU-Aussengrenzen sein.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/eu-verschaerft-asylsystem?partId=12401599
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-asylreform-einigung-100.html
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-06/eu-asylpolitik-polen-gefluechtete-ablehnung-solidaritaetsmechanismus
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/eu-asylkompromiss-wie-die-einigung-bewertet-wird-a-f464a25a-143c-4f49-aa9f-92b58da3011f?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter#ref=rss
-> https://www.blick.ch/ausland/die-wichtigsten-antworten-zum-neuen-asylverfahren-so-hart-geht-europa-in-zukunft-gegen-migranten-vor-id18651511.html
-> https://www.blick.ch/news/plaene-fuer-asylreform-eu-kommission-sieht-keine-veto-gefahr-id18651739.html
-> https://taz.de/Reaktionen-auf-EU-Innenministerkonferenz/!5939577/
-> https://www.spiegel.de/politik/deutschland/jessica-rosenthal-nennt-asyleinigung-beschaemend-und-greift-nancy-faeser-an-a-ee7b6f4f-b9b6-4560-a68a-01aeb97f0202
-> https://www.srf.ch/news/international/asylkompromiss-in-europa-ist-der-neue-eu-asyldeal-ein-durchbruch
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173875.europa-asylrechtsverschaerfung-zynische-weitsicht-der-eu.html
-> https://www.nau.ch/politik/international/italien-nach-asyleinigung-der-eu-staaten-zufrieden-66515214
-> https://www.nau.ch/politik/international/asyleinigung-polen-nennt-solidaritatsmechanismus-absurd-66515176
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/asyl-eu-verschaerfung-kritik-gruene-ampel-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/gruene-streit-eu-asylreform-einigung-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/reform-asylsystem-eu-ueberblick-100.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/eu-asylpolitik-102.html
-> https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/asylkompromiss-reax-korri-100.html->
-> https://www.tagesschau.de/kommentar/eu-asylreform-102.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/faq-asylverfahren-eu-100.html
-> https://de.qantara.de/inhalt/kritik-an-der-eu-einigung-im-asylstreit-asylkompromiss-der-eu-menschenrechtlicher-tabubruch
-> https://www.freitag.de/autoren/the-guardian/europas-innenminister-feiern-sich-fuer-einen-historischen-asyl-kompromiss
-> https://www.telepolis.de/features/Asylpolitik-Menschenrechtsabbau-statt-Bekaempfung-von-Fluchtursachen-9182430.html
-> https://taz.de/Einigung-in-der-EU-Fluechtlingspolitik/!5937229/
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173883.festung-europa-grenzverfahren-in-der-eu-haft-statt-sicherheit.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173887.europaeisches-asylsystem-asyl-in-der-eu-lagerhaft-und-kopfgeld.html
-> https://www.jungewelt.de/artikel/452448.repressive-migrationsgesetze-eu-wird-asylrechtsfreie-zone.html
-> https://www.nau.ch/news/europa/eu-asylrecht-menschen-ohne-prufung-abschieben-ist-tabubruch-66515046
Grenzverfahren in der EU: Haft statt Sicherheit
Grenzverfahren könnten die Entstehung europaweiter Morias zur Folge haben
Die von den Innenminister*innen der EU beschlossenen Grenzverfahren könnten die Entstehung europaweiter Geflüchtetenlager im Stile Morias nach sich ziehen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173883.festung-europa-grenzverfahren-in-der-eu-haft-statt-sicherheit.html
Wie Frontex die EU-Abschiebemaschine ölt
Abgelehnte Asylsuchende sollen klimaneutral und mit »Fesselungstechniken« in ihre Herkunftsländer zurückgebracht werden
Die EU-Grenzagentur führt immer mehr Abschiebungen in Eigenregie durch, im vergangenen Jahr waren es schon 25 000. Bei den mehr oder weniger freiwilligen »Rückführungen« wird sogar auf Klimaneutralität geachtet.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173885.europaeisches-asylsystem-wie-frontex-die-eu-abschiebemaschine-oelt.html
+++FREIRÄUME
Centrale Viva muss weiterleben! – Online-Petition
Die an der Sägestrasse 67 kultur-besetzte Lagerhalle, hat den Räumungsbefehl erhalten. Die Gemeinde Köniz hat uns heute Freitag 9. Juni 2033 in einem Schreiben informiert, dass wir das Haus bis am Sonntag 11. Juni um 18:00 Uhr räumen müssen.
Jetzt brauchen wir eure Unterstützung damit die Gemeinde Köniz sieht, wie dringend es diesen kulturellen-Raum braucht!
https://www.openpetition.de/petition/online/centrale-viva-muss-weiterleben
Besetzung am Untern Quai
Ein Kollektiv hat ein verlassenes Gebäude des Kantons in Biel besetzt. Sie möchten ungenutzen, städtischen Raum wiederbeleben.
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-06-09
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ajour.ch 09.06.2023
Kanton setzt den Bieler Hausbesetzern ein Ultimatum – diese denken nicht ans Ausziehen
Seit Mittwoch besetzt ein Kollektiv ein Haus am Unteren Quai. Geht es nach dem Kanton, sind die Besetzer am Samstagnachmittag wieder weg.
Carmen Stalder
Lediglich zwei Transparente weisen darauf hin, dass das Haus am Unteren Quai 30 in Biel nicht mehr leer steht. Am Mittwoch hat ein Kollektiv namens «L’equipe» das Gebäude samt zugehörigem Areal zwischen Schüss und Wydenauweg besetzt. Laut eigenen Angaben besteht die Gruppe aus rund 30 Mitgliedern.
Das Haus gehört dem Kanton Bern, und dieser zeigt sich ob der illegalen Besetzung nicht erfreut. Innert kurzer Zeit hat er Anzeige eingereicht sowie Strom und Wasser abgeschaltet. Laut Lorenz Held, Vorsteher des kantonalen Amts für Grundstücke und Gebäude, haben die Behörden dem Kollektiv am Donnerstag um 16.00 Uhr eine Frist von 48 Stunden gesetzt – diese würde also am Samstagnachmittag ablaufen.
«Dies ist Voraussetzung für eine allfällige Räumung, was wir uns natürlich nicht wünschen. Wir setzen auf die Vernunft des Kollektivs», so Held. Ultima Ratio bleibe aber eine Räumung.
Das Kollektiv hat längerfristige Pläne
Die Mitglieder des Kollektivs haben derweil ganz andere Pläne. In einem Interview mit «Telebielingue» sagt eine Frau, die ihren Namen den Medien nicht preisgeben möchte, dass man längerfristig Strukturen aufbauen wolle, um den Ort für eine aktive Mitgestaltung zu öffnen. «Es geht nicht darum, Raum für den Eigenbedarf zu blockieren. Sondern Raum zu beleben, der bisher blockiert war.»
Laut der Besetzerin besteht ein Kontakt zum Kanton und zur Stadt Biel. Es sei schön, dass dieser Dialog habe aufgenommen werden können. «Weiteres wird sich zeigen», so die Frau. Man mache nichts kaputt und trage Sorge zur Infrastruktur.
Per E-Mail lässt «L’equipe» verlauten, dass öffentliche Events geplant seien. Es solle ein niederschwelliger Zugang zu Kunst und Kultur geben, und lokale Kunstschaffende sollten die Möglichkeit erhalten, sich zu vernetzen und zu entwickeln.
Das klingt nicht danach, als ob die Hausbesetzer einen baldigen Auszug in Betracht ziehen würden.
(https://ajour.ch/de/story/98685/kanton-setzt-den-bieler-hausbesetzern-ein-ultimatum-diese-denken-nicht-ans-ausziehen)
+++GASSE
Beschimpfung von Beamten: Reitschülerin vor Gericht
Einmal mehr stand gestern Donnerstag eine Reitschülerin vor Gericht. Das Regionalgericht Bern-Mittelland sprach Lu wegen mehrfacher Beschimpfung, übler Nachrede und Hinderung einer Amtshandlung schuldig. Sie wurde zu einer Geldstrafe von rund 3000 Franken verurteilt, hinzu kommen Verfahrenskosten und eine Aufwandentschädigung von insgesamt fast 7000 Franken.
https://rabe.ch/2023/06/09/beschimpfung-von-beamten-reitschuelerin-vor-gericht/
Notschlafstelle Olten: Der Austausch mit der Nachbarschaft wird gesucht: Verein Schlafguet ist offen für Diskussionen
Der Verein Schlafguet Notschlafstelle Region Olten lud kürzlich zu einer Infoveranstaltung zum Thema Obdachlosigkeit in die Pauluskirche ein. Dabei wurde vor allem eines klar.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/olten/notschlafstelle-olten-der-austausch-mit-der-nachbarschaft-wird-gesucht-verein-schlafguet-ist-offen-fuer-diskussionen-ld.2471153
Warum Suchthilfe Ost nicht Acqua minerale heisst
Die Suchthilfe-Ost-Geschäftsführerin Ursula Hellmüller sinniert in der Kolumne über Namen, unter anderem über jener ihrer Institution.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/olten/mein-olten-warum-suchthilfe-ost-nicht-acqua-minerale-heisst-ld.2469411
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Klima-Aktivisten aufgepasst! Aargau würde Schulbesetzungen von Polizei räumen lassen
Die Klimajugend hätte im Aargau kein leichtes Spiel: Im Kanton Aargau werden Schulbesetzungen nicht toleriert. Sondern notfalls polizeilich geräumt.
https://www.blick.ch/politik/klima-aktivisten-aufgepasst-aargau-wuerde-schulbesetzungen-von-polizei-raeumen-lassen-id18650712.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/lehrermangel-problem-schulen-haben-es-doppelt-schwer?id=12401908 (ab 05:50)
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/aargauer-regierung-wuerde-schulbesetzungen-von-polizei-raeumen-lassen-151940313
Ein Mitglied des Kollektivs Klimastreik St. Gallen war im Studio zu Gast. Das Interview über Entwicklungen und umstrittene Aktionen. (ab 14:17)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/projekt-angepasst-so-soll-die-neue-saentis-bahn-aussehen?id=12401860
Eine Stadt rätselt, wer hinter dieser Aktion steckt
Die Brunnen der Stadt St. Gallen erhielten am Freitagmorgen eine neue Farbe. St. Gallerinnen und St. Galler rätseln, wer hinter der bunten Aktion steckt.
https://www.20min.ch/story/was-ist-denn-da-passiert-269804689648
Benefizkonzert für Angehörige von Terroristen findet im Sedel trotz Kritik statt
Im Luzerner Musikzentrum Sedel ist für Freitag ein Konzert geplant, dessen Einnahmen der Familie des ehemaligen Anführers der griechischen Terrorgruppe EA, Nikos Maziotis, zugutekommen sollen. Die Stadt Luzern äussert Kritik. Der Sedel weist die Vorwürfe zurück.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/luzern-benefizkonzert-fuer-angehoerige-von-terroristen-findet-im-sedel-trotz-kritik-statt-ld.2471163
Absage gefordert: Juso startet Petition gegen Rammstein-Konzerte in Bern
Dem Rammstein-Sänger Till Lindemann wird vorgeworfen, systematisch Frauen bei seinen Konzerten misshandelt zu haben. Die beiden Konzerte der Band in Bern sollen trotzdem stattfinden – einfach ohne «Row Zero». Jetzt hat die Juso eine Petition gestartet, um die Konzerte abzusagen.
https://www.baerntoday.ch/unterhaltung/juso-startet-petition-gegen-rammstein-konzerte-in-bern-151932986
+++REPRESSION DE
Eskalierter Einsatz in der Hafenstraße: Verletzte vor der Vokü
Auf der Suche nach mutmaßlichen Dealern dringt die Polizei in die Hamburger „HafenVokü“ ein. Anwohner:innen protestieren gegen das Vorgehen.
https://taz.de/Eskalierter-Einsatz-in-der-Hafenstrasse/!5939648/
-> Bericht Copwatch Hamburg: https://twitter.com/copwatch_hh/status/1667191412356513794
+++SPORT
Müssen sich FCL-Fans Repression gefallen lassen? – Anwältin kritisiert Kollektivstrafen gegen Fussballfans
Die schweren Ausschreitungen rund um das FC-Luzern-Heimspiel gegen St. Gallen hatten Konsequenzen. So mussten beide Teams wenige Tage danach auswärts vor geschlossenen Gästesektoren spielen. Eine Fananwältin erklärt, wieso derartige Kollektivstrafen Fangewalt nicht verhindern werden.
https://www.zentralplus.ch/sport/fc-luzern/anwaeltin-kritisiert-kollektivstrafen-gegen-fussballfans-2549826/
Die Mitte macht Ernst: Das steht in der Luzerner Initiative gegen Fan-Gewalt
Die Mitte Luzern will eine härtere Gangart gegen randalierende Fans. Jetzt hat sie dafür die Gesetzesinitiative «Gegen Fan-Gewalt» lanciert.
https://www.zentralplus.ch/politik/das-steht-in-der-luzerner-initiative-gegen-fan-gewalt-2552234/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/intitiative-gegen-fangewalt-volksinitiative-gegen-fussballchaoten-gestartet-die-mitte-kanton-luzern-drueckt-aufs-tempo-ld.2471046
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/intitiative-gegen-fangewalt-volksinitiative-gegen-fussballchaoten-gestartet-die-mitte-kanton-luzern-drueckt-aufs-tempo-ld.2471046
-> https://www.watson.ch/sport/fussball/255301064-entscheidet-in-luzern-das-stimmvolk-darueber-wer-ins-fussballstadion-darf
+++JUSTIZ
Geschädigte Strafverfolger
Eine Polizistin, die selbst durch eine Tat als Geschädigte i.S.v. Art. 115 StPO infrage kommet, darf ihre Wahrnehmungen zwar rapportieren, ist aber von weiteren Ermittlungshandlungen auszuschliessen. Was sich als offensichtlich anhört, musste die beschuldigte Person aber bis ans Bundesgericht ziehen, das keinen Zweifel an der Ausstandspflicht lässt (BGer 1B_135/2023 vom 09.05.2023):
https://www.strafprozess.ch/geschaedigte-strafverfolger/
Weiterhin DNA-Profile zur Prävention
Das Bundesgericht hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach DNA-Profile trotz Fehlens einer gesetzlichen Grundlage einzig zur Verhinderung künftiger Delikte erstellt werden dürfen (vgl. BGE 145 IV 263). Die Beschwerdebegründung war dem Bundesgericht unter Hinweis auf Art. 42 Abs. 2 BGG zu knapp (BGer 1B_217/2022 vom 15.05.2023):
https://www.strafprozess.ch/weiterhin-dna-profile-zur-praevention/
+++KNAST
Die Arbeit im Gefängnis hat sich stark verändert
Der Kanton Zürich informiert an der Jahresmedienkonferenz über den Job der Fachperson Justizvollzug. Die Arbeit der Aufseherinnen und Aufseher hat sich im Verlauf der Jahre stark verändert.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/dem-kanton-zuerich-fehlen-gefaengnis-aufseher-00214144/
+++BIG BROTHER
Going Dark: EU gründet Arbeitsgruppe gegen Verschlüsselung und Anonymität
Die schwedische Ratspräsidentschaft postuliert ein neues Prinzip „Security-by-Design“, mit dem sie Verschlüsselung und Anonymisierung im Netz angreifen will. Eine hochrangige Expertengruppe soll das Thema bearbeiten. Wir veröffentlichen einen eingestuften Drahtbericht dazu im Volltext.
https://netzpolitik.org/2023/going-dark-eu-gruendet-arbeitsgruppe-gegen-verschluesselung-und-anonymitaet/
+++JENISCHE/SINTI/ROMA
Fahrende sind trotz verstrichener Frist noch auf Hefenhofen-Quälhof
Obwohl die Aufenthaltsbewilligung am 5. Juni auslief, befinden sich noch immer sechs Wohnwagen von Fahrenden auf dem Areal in Hefenhofen TG. Was ist passiert?
https://www.nau.ch/news/schweiz/fahrende-sind-trotz-verstrichener-frist-noch-auf-hefenhofen-qualhof-66513247
+++RECHTSPOPULISMUS
Jetzt wird der Abstimmungskampf gehässig: SVP-Rüegger wirft Parlament «Klima-Terrorismus» vor
Die SVP setzt beim Wahlkampf um das Klimagesetz auf Falschaussagen, nervt sich Mitte-Politker Othmar Reichmuth. Für ihn hat SVP-Nationalrätin Monika Rüegger mit einer Aussage eine Grenze überschritten.
https://www.blick.ch/politik/jetzt-wird-der-abstimmungskampf-gehaessig-svp-rueegger-wirft-parlament-klima-terrorismus-vor-id18649795.html
«Keine 10-Millionen-Schweiz»: SVP lanciert im Juli Nachhaltigkeits-Initiative
Die SVP läutet den Wahlkampf ein. An einem Sonderparteitag Anfang Juli will sie die Nachhaltigkeits-Initiative «Keine 10-Millionen-Schweiz» lancieren.
https://www.blick.ch/politik/keine-10-millionen-schweiz-svp-lanciert-im-juli-nachhaltigkeits-initiative-id18651022.html
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Bekanntheit könnte helfen – Ein Komiker als Zuger Ständerat? Die Chancen des Marco Rima
In einem etwa fünf Minuten langen Video gab Rima am Donnerstag seine Kandidatur bekannt. (Bild: Youtube Screenshot)
Der Zuger Komiker Marco Rima will Ständerat werden. Inhaltlich führt er fort, womit er sich während der Pandemie einen Namen gemacht hat. Doch hat er auch eine Chance?
https://www.zentralplus.ch/politik/ein-komiker-als-zuger-staenderat-die-chancen-des-marco-rima-2552358/
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tagesanzeiger.ch 09.06.2023
Bezirksgericht Winterthur: Freispruch trotz Antisemitismus: Bäckermeister wusste nicht, was er tat
Der ehemalige Besitzer des Grabebeck und des Holzofebeck teilte online Videos über eine jüdische Weltverschwörung. Trotzdem wurde er freigesprochen: Es sei nicht erwiesen, dass er den Antisemitismus darin erkannt habe.
Jonas Keller, Muriel Blum
Urs Gerber ist kein auffälliger Mann: graues kurzes Haar, Jeans und Sneakers, ein goldener Ohrring, eine ruhige Stimme. Erst als der 61-Jährige zu sprechen beginnt, wird klar, warum er an diesem Freitag vor dem Bezirksgericht Winterthur stand: «Es gibt eine Gruppe von Leuten, die überall alles unterwandert hat», sagte Gerber. «Anders kann man sich die Sachen, die in der Welt abgehen, nicht mehr erklären.»
Wen der Bäckereiunternehmer hinter dieser weltweiten Verschwörung vermutet, wird in 18 Videos klar, die er online teilte und wegen derer er sich vor Gericht verantworten musste. Darin geht es über mehrere Stunden darum, wie angeblich eine Gruppe südrussischer Juden – Chasaren genannt – seit vielen Jahrhunderten Teil einer Verschwörung sei. Diese wolle die Weltherrschaft erringen und den Grossteil der Menschheit umbringen. Hinter allen grossen Kriegen und Seuchen der Menschheitsgeschichte stehe diese «Chasaren-Kabale».
Diese Zeitung berichtete im Oktober 2021 über die Videos, die damals von einer Expertin der Stiftung gegen Rassimus und Antisemitismus als voller judenfeindlicher Klischees eingestuft wurden. Die Staatsanwaltschaft nahm daraufhin Ermittlungen wegen einer möglichen Verletzung der Rassismusstrafnorm auf. Im Januar dieses Jahres wurde Gerber wegen Diskriminierung durch das Verbreiten von Ideologien angeklagt. Die Staatsanwaltschaft forderte eine bedingte Geldstrafe von 7200 Franken.
Umsatzeinbruch in den Bäckereien
In Winterthur ist Gerber als Besitzer des Grabebeck und des Holzofebeck bekannt. Wie er nun vor Gericht sagte, musste er seine Bäckereien im Herbst verkaufen und ist dort inzwischen nur noch Angestellter. Aufgrund der Berichterstattung seien viele Kunden weggeblieben, und der Umsatz sei eingebrochen.
Das Gerichtsverfahren ist von daher ein Schlusspunkt unter der Episode, die begann, als Gerber im Jahr 2021 die 18 Videos der Serie «Der Fall der Kabale» auf die Website seines Fotostudios hochlud. Erstellt hat die Videos eine niederländische Anhängerin von QAnon, einem amerikanischen Onlinekult, der an eine weltweite satanistische Verschwörung und an Donald Trump als Erlöser glaubt.
Dass die Videos antisemitisch seien, wollte Gerber vor Gericht weder bestätigen noch abstreiten. «Das ist schwierig zu sagen», antwortete er auf mehrmalige Nachfrage des Richters. Er selbst habe nie etwas gegen Juden gesagt oder gehabt – nur eben gegen jene «Chasaren». Wieder und wieder betonte er: «Es geht mir um die Taten der Chasaren, nicht um ihre Religion.» Für ihn seien die Chasaren auch gar keine richtigen Juden.
Mehrfach versuchte der Richter, durch Fragen herauszuspüren, wie bewusst sich Gerber eigentlich dessen ist, was er verbreitete. «Wie genau haben Sie die Videos angeschaut?», wollte er wissen. Und: «Haben Sie schon davon gehört, dass Juden in Verschwörungserzählungen oft nur verdeckt genannt werden?» Oder: «Glauben Sie nicht, dass alle erfolgreichen Juden riskieren, in diesen Topf geworfen zu werden, wenn prominente Juden so dargestellt werden?» Gerber ging nicht gross darauf ein: «Das kann ich mir nicht vorstellen», antwortete er auf die letzte Frage.
Auf Propaganda hereingefallen?
Wenn er doch mal ins Reden kam, begab sich Gerber auf heikles Terrain. So beschuldigte er vor Gericht zum Beispiel die reiche jüdische Familie Rothschild, den Holocaust finanziert zu haben. Ein anderes Mal erwähnte er ein Interview mit einem amerikanischen Rabbi, der angeblich zugab, dass Juden systematisch nicht jüdische Kinder töten und essen würden. Das Interview ist allerdings eine Fälschung eines amerikanischen Rechtsextremisten.
Mehrmals sagte Gerber, die Macherin der Videos habe sich das alles «ja nicht einfach aus den Fingern gesogen». Er fügte an: «Das stelle ich mir auf jeden Fall so vor.» Gerber, so der Eindruck, den er vor Gericht machte, ist selbst in gewissem Masse Opfer antisemitischer Propaganda geworden. Er habe nie eine böse Absicht gehabt, betonte er. «Im Gegenteil: Ich wollte Hilfe leisten und die Leute zum Nachdenken anregen.»
Sein Verteidiger forderte darum einen Freispruch. Gerber sei ein Menschenfreund, mit einer ausländischen Frau verheiratet und stehe darum nicht im Verdacht, ein Rassist zu sein. Zudem gehe es in den mehrstündigen Videos nur während rund dreier Minuten explizit um Juden – Codenamen wie Chasaren nahm er dabei allerdings aus. Da Zweifel bestünden, dass Gerber bewusst antisemitische Inhalte verbreitet habe, gelte der Grundsatz «Im Zweifel für den Angeklagten».
Zum Schluss eine Belehrung
Dem folgte dann auch das Gericht. Zwar seien die Videos eindeutig antisemitisch und würden die Würde jüdischer Menschen herabsetzen. «Es handelt sich um schreckliche Vorwürfe, die typischerweise gegen Juden gemacht werden», so der Richter. Allerdings: Der Antisemitismus in den Videos sei nicht völlig offen, sondern verschachtelt. «Das macht es nicht besser.» Das Gericht habe aber «erhebliche Zweifel», dass Gerber der Antisemitismus in den Videos wirklich bewusst war. «Sie haben glaubhaft gemacht, dass Sie nicht vorsätzlich Antisemitismus verbreitet haben.» Keine Erwähnung fand, dass Gerber die Videos erneut hochlud, nachdem der erste Artikel dieser Zeitung zu deren problematischem Inhalt bereits veröffentlicht worden war.
Der Richter beendete den Prozess mit einer Belehrung des Freigesprochenen: Er las einen Artikel von Dina Wyler von der Stiftung gegen Rassimus und Antisemitismus vor. Ob dies bei Gerber zu einer Einsicht führte, bleibt offen. Eine entsprechende Frage dieser Zeitung wollte er nach dem Prozess nicht beantworten.
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Kabale und Chasaren – was ist der Unterschied?
Eine Kabale bezeichnet eine Intrige, ein Komplott oder eine im Verborgenen betriebene Machenschaft. So auch im Titel von Friedrich Schillers «Kabale und Liebe»: Das Theaterstück handelt von einer Liebe, die durch niederträchtige Intrigen (Kabale) zerstört wird. Das Wort stammt vom hebräischen Kabbala ab, einer mystischen Tradition des Judentums. Deshalb wird in antisemitischen Kreisen mit «Kabale» auch oft eine Elite von Juden bezeichnet, die heimlich die Weltherrschaft an sich reisst. So auch im Titel der von Urs Gerber verbreiteten Serie «Der Fall der Kabale».
Die Chasaren waren ein nomadisches Volk, das im 7. Jahrhundert im nördlichen Kaukasus ein unabhängiges Reich gründete. In den zwei Jahrhunderten danach konvertierten die Chasaren – so eine populäre, aber umstrittene historische Theorie – teilweise zum Judentum. Die Gründe dafür sind unklar – möglich ist, dass sie an der Schnittstelle zwischen Christentum und Islam neutral bleiben wollten. Laut historisch widerlegten Verschwörungstheorien soll dieses Volk sich später über Europa verbreitet haben und die Vorfahren der europäischen Juden sein, wo ihm schon seit dem Mittelalter Kinderopfer und der Hunger nach Weltherrschaft zugeschrieben werden. Der Begriff «Chasaren» findet zunehmende Beliebtheit unter Antisemiten als Codewort für Juden allgemein. (mub)
(https://www.tagesanzeiger.ch/freispruch-trotz-antisemitismus-baeckermeister-wusste-nicht-was-er-tat-863910221598)
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nzz.ch 09.06.2023
Antisemitische Inhalte verbreitet – der Beschuldigte will sie aber nicht als solche erkannt haben
Das Bezirksgericht Winterthur hat einen 61-jährigen Bäcker vom Vorwurf der Diskriminierung durch Verbreiten von Ideologien freigesprochen, weil ihm der subjektive Tatbestand nicht nachgewiesen werden konnte.
Tom Felber
Im Herbst 2021 geriet ein Winterthurer Bäckermeister in den Fokus von Medienberichterstattungen. Der Mann schimpfte vor Kunden gegen die Corona-Massnahmen und hängte in den Schaufenstern Bildschirme auf, über die impfkritische Aussagen abgespielt wurden. Auf seiner Website hatte er zudem Videos hochgeladen, in denen Verschwörungstheorien verbreitet wurden.
Im Oktober 2021 erstattete ein Rechtsanwalt Strafanzeige gegen den Bäcker. Ein Winterthurer Staatsanwalt untersuchte und erhob im Januar 2023 Anklage wegen des Straftatbestands «Diskriminierung durch Verbreiten von Ideologien». Er verlangt eine bedingte Geldstrafe von 120 Tagessätzen à 60 Franken.
Gegenstand der Anklage bilden 18 Videos einer Serie unter dem Titel der «Untergang der Kabale», die von einer niederländischen Anhängerin des QAnon-Kults produziert wurden. Auf zwei A4-Seiten beschreibt die Anklage Inhalte dieser Videos. Der Beschuldigte habe mutwillig «mit rassistischer Ideologie versehene Äusserungen einer jüdischen Weltverschwörung» weiterverbreitet. Juden würden in den Videos «in einer gegen die Menschenwürde verstossenden Weise» herabgesetzt.
Mit dem Wort «Kabale» ist in den Videos eine Gruppe von Menschen gemeint, die angeblich die Weltherrschaft an sich reissen will. Laut den Videos liegt der Ursprung der Kabale beim Volk der Chasaren, die Angehörige des Judentums und «alles Diebe und Spione und Meister der Täuschungen» gewesen seien. Immer gemäss Anklage, die sich auf die Videos beruft, hätten sie Kinder geopfert, ihr Fleisch gegessen und ihr Blut getrunken.
Die chasarischen Juden hätten sich über ganz Europa verteilt. Das «Endziel» sei die absolute Herrschaft über die Welt, eine neue jüdische Weltordnung, die Nichtjuden zu unterjochen und auszurotten und die Weltbevölkerung auf 500 Millionen Menschen zu reduzieren.
Hierzu benütze die Kabale durch sie ausgelöste Umweltkatastrophen, Hungersnöte, Dürren, Krankheiten, Seuchen, Chemtrails, Elektrosmog oder Impfungen. Ihre stärkste Waffe sei die Einführung von 5G, mit welchen sie massenhaft Menschen töten würden.
Bekannte Vertreter der Kabale sei die Familie Rothschild. Der Zweite Weltkrieg und die Vernichtung von Millionen Juden sei von den chasarischen Juden geplant gewesen, um in das Land Israel auswandern zu können. Adolf Hitler selbst sei ein Enkel von Anselm Salomon Rothschild gewesen.
Umsatzeinbruch und Verkauf der Bäckerei
Bei der Befragung zur Person erklärt der 61-jährige Bäcker, er sei durch die im Herbst 2021 erschienenen Zeitungsartikel ruiniert worden. Er habe viele Kunden verloren, einen massiven Umsatzeinbruch erlitten und schliesslich die Bäckerei verkauft. Vom Käufer habe er sich anstellen lassen und verdiene nun 5000 Franken im Monat. Er habe eine halbe Million Franken Schulden und sei auch schon auf offener Strasse als «huere Dräcks-Nazi» beschimpft worden.
Er sei kein Rassist. In seiner Bäckerei hätten elf verschiedene Nationalitäten gearbeitet. Er habe eine thailändische Partnerin und sei vor drei Monaten wieder Vater geworden, und er bekräftigt: «Ich würde aus jedem Rassisten-Klub hinausgeworfen!»
Während der Pandemie habe er sich gewundert, «was abgegangen» sei. Dann habe er recherchiert und das Gefühl bekommen, dass die Medien nur einseitig berichten würden. Die Videos nennt der Beschuldigte «Dokumentationen». Diese seien «aufklärerisch» und auch «ausserordentlich gut».
Um Juden gehe es dabei gar nicht, sondern um eine Gruppe von Menschen, die Macht über andere ausübe. Dass diese zum Teil Juden seien, spiele keine Rolle. «Wenn es der Wahrheit entspricht, ist es dann antisemitisch?», stellt er dem Richter eine Gegenfrage.
Dass sich die Familie Rothschild bereichert habe, habe nichts mit den Juden, sondern habe nur mit der Familie Rothschild zu tun. Trump sei ja auch Christ. Und wenn jemand Trump kritisiere, sei der Kritiker deshalb ja auch nicht gegen das Christentum.
Der Bäcker beteuert, kein Antisemit zu sein
Auf die Frage, weshalb er die Videos auf seiner Website hochgeladen habe, erklärt er, es sei darum gegangen, den Leuten die Augen zu öffnen, «dass sie sich Gedanken über diese Dinge machen sollten». In den Mainstream-Medien sei während der Corona-Pandemie vieles nicht hinterfragt worden. Ob die Filme rassistisch oder antisemitisch seien, könne er letztlich aber selber nicht beurteilen.
Er habe jedoch einen «Disclaimer» auf der Website gehabt, wonach er nicht zwingend mit allen Inhalten einverstanden sei und die Filme eine Grundlage für die Zuschauer seien, um sich selber Gedanken zu machen.
Immer wieder beteuert der Bäcker, dass er kein Antisemit sei. Er habe auch jüdische Freunde. Die Kabale habe ja nichts mit Religion zu tun. Mittlerweile sei es ein «Klumpen» von ganz unterschiedlichen Menschen. Er selbst finde den Ausdruck «jüdische Weltverschwörung» einen Blödsinn. Es sei aber schon «Wahnsinn», was da abgehe, es habe Hand und Fuss und werde in den Filmen ja erklärt.
Es tue ihm als Person richtig weh, dass die Leute ihn als Antisemiten sähen und dass es ihn wirtschaftlich ruiniert habe.
Sein Verteidiger beantragt einen Freispruch und bestreitet den Sachverhalt. Der Beschuldigte sei «ein Menschenfreund». Die Anklage stelle falsche Behauptungen auf und habe die Filme falsch zitiert. Der Anklagegrundsatz sei verletzt. Bei den Videos handle es sich um eine «geschichtliche Abhandlung». Sie dauere 13 Stunden und 45 Minuten. Nur drei Minuten davon würden von Juden handeln.
Der Beschuldigte habe auch noch andere «zeitkrititische» Berichte veröffentlicht, darunter solche zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Er habe lediglich im Rahmen der Corona-Pandemie zur Aufklärung beitragen wollen.
Der Bäcker habe nicht alle Inhalte überprüfen können und «keinen Antisemitismus mit Wissen und Willen verbreitet» oder dies in Kauf genommen. Er müsse «in dubio pro reo» freigesprochen werden.
Den Antisemitismus in den Videos nicht realisiert
Der Einzelrichter spricht den Beschuldigten tatsächlich frei. Sämtliche Kosten gehen auf die Staatskasse.
In der mündlichen Urteilsbegründung hält der Richter fest, dass der objektive Tatbestand zwar klar erfüllt sei. Inhalte des Videos seien eine Herabsetzung der jüdischen Religionsgemeinschaft im Sinne der Strafnorm und damit antisemitisch. Antisemitismus komme oft nicht offen, sondern nur sehr subtil und verschachtelt zum Ausdruck.
Der subjektive Tatbestand lasse sich aber nicht erstellen. Der Beschuldigte habe gegenüber dem Gericht glaubhaft dargelegt, dass er kein Anhänger von antisemitischem Gedankengut sei. Er habe nicht vorsätzlich antisemitisches Gedankengut verbreitet. Er habe es auch nicht billigend in Kauf genommen. Er habe immer wieder ausgeführt, dass die Kritik an den Personen im Vordergrund stehe und nicht an deren Religion.
Wörtlich zitiert der Einzelrichter eine Aussage des Beschuldigten, wonach man nicht alle Leute in denselben Topf werfen könne, «das wäre ja eine unglaubliche Dummheit».
Er habe deshalb erhebliche Zweifel daran, dass dem Beschuldigten der subtile, verschachtelte Antisemitismus in den Videos bewusst gewesen sei. Deshalb müsse er ihn «in dubio pro reo» freisprechen.
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Urteil GG230001 vom 9. 6. 2023, noch nicht rechtskräftig.
(https://www.nzz.ch/zuerich/antisemitische-inhalte-verbreitet-der-beschuldigte-will-sie-aber-nicht-als-solche-erkannt-haben-ld.1741758)
+++HISTORY
Klinik Barmelweid und die Jugendlichen aus dem KZ Buchenwald
370 jüdische Jugendliche kamen am Ende des Zweiten Weltkrieges in die Schweiz. Sie hatten das Konzentrationslager Buchenwald überlebt. Zehn von ihnen wurden in die Klinik Barmelweid im Aargau überwiesen, wo sie medizinisch behandelt wurden. Später mussten sie die Schweiz wieder verlassen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/klinik-barmelweid-und-die-jugendlichen-aus-dem-kz-buchenwald?id=12401341
Die Unverwüstlichen
Sie ist über 40 Jahre alt, hat die erste Frauenliste der Schweiz ins Leben gerufen und politisiert bis heute aktiv in St.Gallen: die Politische Frauengruppe PFG. Anlässlich des feministischen Streiks am 14. Juni hat Saiten ins Archiv geschaut und sich mit PFG-Frauen über die Geschichte der Partei, die sich nicht als solche versteht, unterhalten.
https://www.saiten.ch/die-unverwuestlichen/
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derbund.ch 09.06.2023
Gedenksteine für NS-Opfer: Sie wurden ausgewiesen, deportiert und ermordet
In der Stadt Bern wird fünf Opfern der Nazis gedacht. Für Historiker Erik Petry ist das ein wichtiges Puzzleteil im Kampf gegen den zunehmenden Antisemitismus.
Marius Aschwanden, Franziska Rothenbühler (Foto)
Es ist ein grausiger Fund, den die Polizisten am 24. April 1942 im Neuenburgersee machen. In drei Milchkannen entdecken sie die zerstückelte Leiche des jüdischen Viehhändlers Arthur Bloch aus Bern. Acht Tage zuvor wurde er von Hitler-Anhängern in Payerne ermordet und im Neuenburgersee versenkt.
Das grausame Verbrechen verschwindet relativ schnell wieder aus dem Bewusstsein der Menschen in der Stadt. Sogar als der Schriftsteller Jacques Chessex den Mord über 60 Jahre später in einem Buch verarbeitet, reagiert Payerne noch mit Ablehnung auf die Aufarbeitung der antisemitischen Vergangenheit.
So sagte etwa der damalige Gemeindepräsident 2009 vor der Veröffentlichung des Buches, dass er sich nicht «jener schwierigen Zeiten, die man heute kaum verstehen kann», erinnern wolle.
Payernes Umgang mit dem Mord an einem Juden ist symptomatisch für die ganze Schweiz. Jahrzehntelang tat sich die Eidgenossenschaft schwer mit der eigenen Rolle im Zweiten Weltkrieg. Erst mit dem Bericht der Expertenkommission unter der Leitung des Historikers Jean-François Bergier fand um die Jahrtausendwende eine umfassende Auseinandersetzung damit statt.
Das damalige Fazit: Die Schweiz war keinesfalls der lange geglaubte Saubermann, sondern pflegte enge wirtschaftliche Verbindungen zum «Dritten Reich». Antisemitismus war weitverbreitet. Der Bundesrat schreckte nicht einmal davor zurück, Tausende jüdische Flüchtlinge an der Grenze abzuweisen und sie so in den sicheren Tod zu schicken.
Doch auch in den Jahren nach dem Bergier-Bericht schien hierzulande keine echte Erinnerungskultur aufkommen zu wollen. So existiert auch heute noch, bald 80 Jahre nach Kriegsende, kein nationales Denkmal, das den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet ist.
Zwar soll sich dies nun ändern. Aber nach wie vor erinnern in der Schweiz vor allem private Initiativen an den Holocaust, bei dem rund 6 Millionen Juden ermordet wurden. Die grösste solche Initiative sind die Stolpersteine.
Erstmals werden nun am 15. Juni fünf solche Mahnmale in Bern verlegt. Die Namen, die darauf eingraviert sind, lauten:
– Arthur Bloch
– Céline und Simon Zagiel
– Guido Zembsch-Schreve
– Lucien Leweil-Woog
Arthur Bloch (1882–1942)
1000 Franken Belohnung verspricht die Familie von Arthur Bloch jenem, der etwas über das Verschwinden des Viehhändlers sagen kann. So jedenfalls steht es in der Vermisstenanzeige vom 22. April 1942.
Sechs Tage zuvor ist Bloch frühmorgens in Bern in den Zug gestiegen, um am Viehmarkt in Payerne seine Geschäfte zu machen. Dort angekommen, wird er von zwei jungen Männern angesprochen. Sie hätten zwei Kühe zu verkaufen, sagen sie ihm und locken Bloch zu einem Stall unweit des Marktplatzes.
Nichts ahnend folgt er den Männern ins Innere. Dort wird Bloch von hinten eine Eisenstange über den Schädel geschmettert. Sein Urenkel beschreibt 2022 in einem NZZ-Artikel, was danach geschieht: «Röchelnd liegt der stämmige Mann am Boden, ringt nach Luft. Bis ihm ein Revolver an die Schläfe gepresst wird. Die Kugel zerfetzt seinen Schädel.»
Die Männer zerstückeln Blochs Körper, stecken die Teile in drei Milchkannen und versenken sie im Neuenburgersee.
Bereits wenige Tage später wird der Mord aufgeklärt. Die fünf geständigen Täter stammen alle aus Payerne und sind Mitglieder einer lokalen Nazi-Gruppe, angeführt vom protestantischen Pfarrer Philippe Lugrin. Gemäss ihren Aussagen musste Arthur Bloch sterben, nur weil er ein Jude war. Der Mord sollte ein Geschenk an Adolf Hitler sein, zu seinem 53. Geburtstag.
Deutschland, Österreich, Polen, Belgien, Italien, Schweiz. Insgesamt wurden bis heute rund 90’000 Stolpersteine in fast 30 Ländern verlegt. Die Pflastersteine mit goldener Plakette wurden vom deutschen Künstlerpaar Katja und Gunter Demnig 1992 initiiert und gelten als das grösste dezentrale Mahnmal der Welt. In der Schweiz gibt es sie bereits in Zürich, Basel, Winterthur und Kreuzlingen.
Die Steine sollen an das Schicksal von Menschen erinnern, die vom nationalsozialistischen Deutschen Reich verfolgt, ermordet, deportiert oder in den Suizid getrieben wurden. Verlegt werden sie an den letzten freiwilligen Wohn- und Aufenthaltsorten der Opfer – im Falle von Arthur Bloch ist das die Monbijoustrasse 51.
«Wir wollen so erreichen, dass sich die Gesellschaft bewusst ist, dass auch die Schweiz zumindest einen passiven Anteil an manchen Opfer-Biografien hat», sagt Roland Diethelm, Mitglied des Vereinsvorstands. Er ist der Meinung, dass in der Öffentlichkeit nach wie vor ein viel zu positives Bild der Schweiz zu Zeiten des Zweiten Weltkriegs vorherrscht.
Denkmäler könnten Abhilfe schaffen, glaubt Diethelm. Und: Sie würden bei der Erinnerung an Wichtigkeit gewinnen. Denn die letzten Zeitzeugen, die den Holocaust überlebt haben, werden in den nächsten Jahren sterben. «Die Stolpersteine sind der Versuch, das Gedenken an die Opfer des Nationalsozialismus im Alltag aufrechtzuerhalten.»
Der antisemitisch motivierte Mord an Arthur Bloch sollte während des Krieges das einzige Verbrechen dieser Art innerhalb der Schweiz bleiben. Verbale Gewalt und Handgreiflichkeiten gegenüber Juden waren jedoch verbreitet. Und: «Am häufigsten war bürokratische Gewalt, die letztlich dazu geführt hat, dass Tausende Menschen gestorben sind», sagt Diethelm.
Céline (1925–1942) und Simon Zagiel (1921–1984)
Als Céline und Simon Zagiel die Schweizer Grenze in der Ajoie Mitte August 1942 überqueren, glauben sie, dass sie es geschafft haben. Das jüdische Ehepaar ist den Nazis in Belgien entkommen. Sie begeben sich daraufhin nach Bern, wo die beiden auf dem jüdischen Friedhof entdeckt werden.
Vertreter der jüdischen Gemeinde nehmen sie in Obhut und veranlassen Zagiels, sich bei der Polizei zu melden, um ihren Status zu legalisieren. Was die Retter damals nicht wissen: Der Bundesrat hat wenige Tage zuvor beschlossen, die Schweizer Grenze für Flüchtlinge zu schliessen.
Als sich die jüdische Gemeinde am Vormittag des 19. August 1942 nach dem Ehepaar erkundigt, teilt man ihr mit, die beiden seien am Morgen wieder an die französische Grenze gebracht worden und sie würden sich nicht mehr in der Schweiz befinden.
Erst nach dem Krieg wird bekannt, was anschliessend mit den Zagiels geschah: Sie werden direkt nach der Ausschaffung von deutschen Soldaten aufgegriffen und ins Sammellager Drancy bei Paris gebracht. Am 24. August folgt die Deportation nach Auschwitz.
Simon Zagiel kommt ins Arbeitslager und wird 1945 durch die Rote Armee befreit.
Seine Ehefrau Céline wird gleich bei ihrer Ankunft vergast.
Die erbarmungslose Vorgehensweise im Falle Zagiel wird in der Presse in den Tagen nach ihrer Ausweisung breit diskutiert. Der öffentliche Druck führt dazu, dass der Bundesrat wenige Wochen später bei den Wegweisungen Ausnahmen für Kinder, Familien und ältere Menschen wenigstens zulassen muss.
Die Geschichte des Ehepaars Zagiel zeigt, welch rigorose Flüchtlingspolitik die Schweiz im Zweiten Weltkrieg angewandt hat. Wie viele jüdische Flüchtlinge ab- oder ausgewiesen wurden, ist jedoch nicht genau bekannt. Es wird von Tausenden oder sogar Zehntausenden ausgegangen.
Und: Gemäss der Bergier-Kommission haben die Behörden genau gewusst, dass den abgewiesenen Juden die Deportation und damit der Tod drohte. Möglich machte dieses Vorgehen eine auch in der Schweiz «weitverbreitete» antisemitische Grundhaltung, steht im Bergier-Bericht.
Die Juden als macht- und geldgierige Sündenböcke. Solche antisemitischen Klischees halten sich bis heute hartnäckig in der Gesellschaft. Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus schrieb in ihrem letztjährigen Bericht, dass die Vorfälle seit ein paar Jahren sogar wieder zunehmen. Die Corona-Pandemie und der Ukrainekrieg hätten zu einer grösseren Verbreitung von antisemitischen Verschwörungstheorien geführt. Im Bericht werden aber auch sehr konkrete Vorfälle beschrieben:
– Vor einem Hotel in Davos stehen im April 2022 jüdische Gäste, die aufgrund ihrer Kleider als streng religiös zu erkennen sind. Eine Gruppe mit etwa sechs jungen Männern kommt vorbei und ruft: «Heil Hitler» und «Die Juden gehören in die Gaskammer».
– An einer Schule im Kanton Zürich sagt im Juni 2022 ein Schüler seinem Kollegen: «Hitler hätte alle Juden umbringen sollen.»
Solche Vorfälle kennt auch der Historiker Erik Petry. Der stellvertretende Leiter des Zentrums für Jüdische Studien an der Universität Basel sagt: «Jude ist heute wieder ein Schimpfwort geworden.»
Gerade auch wegen dieser Entwicklung in der Schweiz (aber auch in anderen Ländern) sei die Erinnerung an den Holocaust wichtig. «Nur wenn das Wissen darüber in der Gesellschaft vorhanden ist, kann man auch gegen Frühformen von Antisemitismus vorgehen», sagt Petry.
Die Bilder, die heute über Juden verbreitet werden, sind denn auch nicht neu. «Die gab es schon vor dem Zweiten Weltkrieg. Und wir wissen, was aus dieser Art Antisemitismus entstanden ist.»
Anzeichen dafür, dass sich der Holocaust wiederholen könnte, sehe er im Moment aber nicht. Doch Petry sagt: «Der Antisemitismus ist ein echtes Übel, und nur mit einer Sensibilisierung für die Vergangenheit kann dieses bekämpft werden.»
Guido Zembsch-Schreve (1916–2003)
Guido Zembsch wird von den Nazis verhört, gefoltert und in drei verschiedene Konzentrationslager gesteckt. Doch der Widerstandskämpfer überlebt die Gräuel des Krieges.
Geboren wird Zembsch am 17. Mai 1916 in Bern. Er besitzt die Staatsbürgerschaft der Niederlande, seine Familie befindet sich im Rahmen eines längeren Kuraufenthalts in der Schweiz. Aufgewachsen ist Guido Zembsch dann aber vor allem in der belgischen Hauptstadt Brüssel.
Als der Zweite Weltkrieg ausbricht, flieht er in Richtung Frankreich, 1941 gelingt ihm die Überfahrt in die USA. Als er erfährt, dass in Kanada eine niederländische Armee-Einheit zusammengestellt wird, meldet er sich sofort. In Grossbritannien wird Zembsch daraufhin als Fallschirmjäger ausgebildet und im Frühling 1943 unter dem Namen Pierre Lalande in Frankreich hinter der Front abgesetzt.
Dort unterstützt er den Widerstand gegen die deutsche Besatzung. Ein Jahr später wird er verhaftet und als politischer Gefangener in verschiedenen Konzentrationslagern festgehalten. In den letzten Kriegstagen gelingt ihm zusammen mit Kollegen die Flucht zu den Alliierten.
Guido Zembsch hat die Verfolgung überlebt. Und trotzdem zählt ihn der Verein Stolpersteine zu den Opfern. «Ein Opfer muss nicht zwingend in einem Konzentrationslager oder bei der Deportation gestorben sein. Auch die Überlebenden sind gezeichnete Menschen», sagt Roland Diethelm.
Dass zu den rund 50 privaten Gedenkstätten in der Schweiz nun auch ein nationales Memorial kommen soll, begrüssen sowohl Diethelm als auch Erik Petry explizit. Auch, dass dieses in Bern in der Nähe des Bundeshauses entstehen soll. «Hier hat der Bundesrat schliesslich seine Flüchtlingspolitik damals beschlossen», so Petry.
Wo das Memorial genau erstellt wird und wie es aussehen könnte, ist allerdings noch nicht klar. Stadtpräsident Alec von Graffenried könnte sich aber beispielsweise eine Gedenkstätte in der Grösse des Zähringerdenkmals bei der Nydeggkirche vorstellen, wie er auf Anfrage sagt. Klar ist, dass dieses auf den drei Pfeilern Erinnern, Vermitteln und Vernetzen basieren soll.
Deshalb, so von Graffenried, wurde auch diskutiert, das Politforum Käfigturm einzubeziehen. «Wir müssen dafür sorgen, dass man demokratiefeindliche Tendenzen frühzeitig erkennt und eine Sensibilisierung für das Thema hinkriegt», sagt auch der Stadtpräsident. Entsprechend könnte er sich etwa auch Diskussionsveranstaltungen zur Faschismusbekämpfung als Teil des Memorials vorstellen.
Der Bundesrat hat bereits 2,5 Millionen Franken für die Konzeption, den öffentlichen Wettbewerb und die Realisierung der Gedenkstätte gesprochen. Gemäss von Graffenried soll diese innert zwei bis drei Jahren erstellt werden.
Während die Schweiz vom Ausland immer wieder dafür kritisiert wurde, dass sie noch kein nationales Denkmal hat, findet Historiker Petry dies nachvollziehbar. «Jahrzehntelang herrschte das Selbstbild vor, dass die Schweiz ein neutrales Land war. Deshalb erfolgte die wissenschaftliche Aufarbeitung der eigenen Rolle erst um die Jahrtausendwende», sagt er. Diese sei als Grundlage für Diskussionen über ein Denkmal aber zwingende Voraussetzung.
Beim Kampf gegen Antisemitismus reichten Denkmäler alleine allerdings nicht aus. «Auch in den Schulen oder an den Universitäten muss das Wissen über den Holocaust aufrechterhalten und gegen die Vorurteile und Zuschreibungen gegenüber von Juden vorgegangen werden», sagt Historiker Petry.
Lucien Leweil-Woog (1896–1943)
Lucien Leweil-Woog wird am 20. November 1943 mit dem Convoi 62 vom Internierungslager Drancy bei Paris nach Auschwitz deportiert. Dort angekommen, werden 241 Männer und 45 Frauen von den insgesamt 1181 Menschen als arbeitsfähig eingestuft. Von diesen 286 Personen sind am Kriegsende im Mai 1945 noch 29 am Leben.
Lucien Leweil-Woog gehört weder zu den Überlebenden noch zu den Arbeitsfähigen. Er wird fünf Tage nach seiner Ankunft im Vernichtungslager in einer Gaskammer ermordet.
Viel ist über das Leben von Leweil-Woog nicht bekannt. Daniel Gerson, der als Dozent für jüdische Geschichte an der Universität Bern für den Verein Stolpersteine die Biografien der fünf Betroffenen zusammentrug, fand nur wenige Hinweise.
Klar ist, dass Lucien Leweil-Woog am 19. Mai 1896 in Bern geboren wird. Er ist zwar Franzose, doch sein Vater und weitere Verwandte sind Mitglieder der jüdischen Gemeinde Berns. Wann Leweil-Woog nach Frankreich übersiedelt, ist nicht bekannt. Er wird dort aber 1923 von einer mit ihm verwandten reichen Witwe adoptiert.
Nach dem Einmarsch der Deutschen flieht er nach Südfrankreich, wo er Mitte Oktober 1943 verhaftet und nach Drancy gebracht wird.
Nummern, keine Namen. Sofort nach der Ankunft in einem Konzentrationslager erhielten die Insassen eine Häftlingsnummer. Ihr Name spielte von da an keine Rolle mehr.
Deshalb sind Fälle wie jener von Lucien Leweil-Woog typisch. Aufgrund von Dokumenten ist zwar bekannt, dass in den Konzentrationslagern rund 1000 jüdische Personen ermordet worden sind, die einen Bezug zur Schweiz haben, sagt Roland Diethelm. «Häufig kennt man von ihnen aber nur den Namen, den Geburtsort und den Todesort – mehr nicht.»
Dass die Biografien so gut bekannt sind wie jene von Arthur Bloch, dem Ehepaar Zagiel oder Guido Zempsch-Schreve, sei die Ausnahme. «Das war eben auch Teil der Vernichtungsmaschinerie im Dritten Reich: Ganze Biografien wurden ausgelöscht», sagt Diethelm.
Deshalb unternehme der Verein Stolperstein jeweils eine enorme Nachforschungsarbeit, um möglichst viel über die Personen herauszufinden. Diethelm: «Wir wollen den Opfern wenigstens ein Stück ihrer Identität zurückgeben.»
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Carte blanche Fotografie
In der Rubrik Carte blanche zeigen Fotografinnen und Fotografen von Tamedia jeden Monat Bildergeschichten. Diesmal hat sich Franziska Rothenbühler mit den fünf Opfern des Nationalsozialismus auseinandergesetzt, derer in Bern mit einem Stolperstein gedacht wird. Sie hat sich auf eine Spurensuche begeben und Wohnorte, Tatorte oder Grenzübergänge fotografiert. Nicht immer sind es genau jene Orte, an welchen die Opfer tatsächlich waren. Franziska Rothenbühler ging es auch ums Vermitteln von Stimmungen und von einem Gefühl dafür, wie es heute dort aussieht, wo im Zweiten Weltkrieg Schweizer Brennpunkte waren. Die so entstandenen Fotos finden Sie zusammen mit historischen Bildern bei jedem Opfer in einer eigenen Bildstrecke. (mab)
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Stolperstein-Setzung in Bern
Die fünf Stolpersteine in der Stadt Bern werden am 15. Juni öffentlich verlegt. Sie werden an den Wohn- oder Geburtsadressen der Opfer installiert. Für das Ehepaar Zagiel wird der Stein an der Genfergasse 22 angebracht, wo sich der Eingang zum damaligen Bezirksgefängnis befindet. Ab 18.15 Uhr findet im Zentrum Paul Klee zudem eine öffentliche Gedenkveranstaltung statt mit Grussworten etwa von Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider und Reden von François Loeb sowie Josef Lang. (mab)
(https://www.derbund.ch/sie-wurden-ausgewiesen-deportiert-und-ermordet-708466601305)