Medienspiegel 6. Juni 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Interpellation Die Mitte: Ehemaliges Jugendheim Prêles endlich sinnvoll nutzen!
https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=7472a49a32504578994c8b10b90d486a


+++BASEL
Erlenmatt-Asylzentrum: «Wir sind parat, die Geflüchteten zu integrieren»
Die SVP will das Erlenmatt-Quartier wegen 25 unbegleiteten minderjährigen Asylbewerbern zum Crime Hotspot stilisieren. Anwohnende protestieren gegen das Framing.
https://bajour.ch/a/clij5o1923602072se0kyea3k9g/asylzentrum-erlenmatt-anwohner-sind-gegen-svp-framing


+++WALLIS
Neue Briger Asylunterkunft soll am 1. November aufgehen.  (ab 13:07)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/misere-bei-cremo-so-will-der-milchverarbeiter-die-wende-schaffen?id=12399550


+++ZÜRICH
Asylhelfer in Dinhard: Eine Gemeinde hilft Geflüchteten im Alltag
Die Gemeinde Dinhard hat nach der hohen Belastung durch Gefüchtete aus der Ukraine, beschlossen die Bevölkerung einzubeziehen. Die Asylhelfergruppe soll ein niederschwelliges Angebot für Alltags- und Behördenprobleme von
https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/asylhelfer-in-dinhard-eine-gemeinde-hilft-gefluechteten-im-alltag-00213846/


+++SCHWEIZ
Ständerat beharrt auf seinem Nein zu Containerdörfern
Der Ständerat stellt sich weiterhin gegen Containerdörfer zur Unterbringung von Asylsuchenden auf Grundstücken der Armee. Er hat es am Dienstag zum zweiten Mal abgelehnt, dafür Geld zur Verfügung zu stellen. Ein Kompromissvorschlag fand keine Mehrheit.
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2023/20230606103415475194158159038_bsd057.aspx
-> https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/staenderat-beharrt-auf-nein-zu-containerdoerfern?partId=12399019
-> https://www.baerntoday.ch/schweiz/staenderat-beharrt-auf-nein-zu-containerdoerfern-auf-armee-grundstuecken-151884197
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/keine-containerdoerfer-staenderat-sagt-erneut-nein-zu-asylnotunterkuenften
-> https://www.watson.ch/schweiz/migration/664805435-staenderat-beharrt-auf-seinem-nein-zu-containerdoerfern
-> https://www.blick.ch/politik/staenderat-sagt-wieder-nein-kein-geld-fuer-asyl-containerdoerfer-id18641557.html
-> https://www.toponline.ch/news/schweiz/detail/news/staenderat-beharrt-auf-seinem-nein-zu-containerdoerfern-1-00213933/
-> https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/kein-geld-fuer-asyl-container?urn=urn:srf:video:061a20a2-4abf-4c2b-9b50-69ef10fd2f9b
-> https://www.tagesanzeiger.ch/der-staenderat-sinkt-auf-einen-populistischem-tiefpunkt-466705147100¬¬¬¬¬¬
-> https://www.tagblatt.ch/schweiz/migration-kompromiss-abgelehnt-der-staenderat-will-keine-asylcontainer-und-benedikt-wuerth-kritisiert-die-haltung-der-kantone-als-sackschwach-ld.2468802


Ständerat stimmt Motionen zu: Damian Müller will abgewiesene Eritreer nach Ruanda schicken
Erfolg für den Luzerner Ständerat Damian Müller: Mit drei Motionen hat er vom Bundesrat Massnahmen verlangt, dass abgewiesene Eritreer und Algerierinnen zurückgeschickt werden können und Italien das Dublin-Abkommen einhält. Die kleine Kammer stimmt denen zu.
https://www.zentralplus.ch/politik/damian-mueller-will-abgewiesene-eritreer-nach-ruanda-schicken-2551455/


Aktualisierter AIDA-Bericht zur Schweiz
Im jährlichen Bericht des Europäischen Flüchtlingsrates ECRE werden die neusten Entwicklungen bezüglich Asylverfahren und -praxis in Europa dokumentiert. Der AIDA-Bericht zur Situation in der Schweiz wurde von der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) aktualisiert und ist ab heute verfügbar.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/aida-bericht-2022
-> Bericht: https://asylumineurope.org/wp-content/uploads/2023/06/AIDA-CH_2022-Update.pdf


+++DEUTSCHLAND
Bericht: Hunderte Grünen-Mitglieder kritisieren Asylkurs
Bei vielen Grünen sorgt der Regierungskurs für Entsetzen: Denn bezüglich der geplanten Asylrechtsreform zeigt sich die Ampel offen für Vorprüfungen an den EU-Außengrenzen. Nun macht ein Brief von der Parteibasis Druck auf das grüne Spitzenpersonal.
https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/erschuettert-gruene-schicken-brief-gegen-asylreform-an-minister,Tg2NDRk
-> https://www.deutschlandfunk.de/berliner-gespraech-diskussion-vor-asylgipfel-der-eu-innenminister-am-donnerstag-dlf-f01b5ca4-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/asyl-eu-reform-gruene-offener-brief-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/gruene-brief-asylpolitik-100.html


EU: Geplante Asylreform wird Menschenrechte von Schutzsuchenden verletzen
Amnesty International fordert die Bundesregierung auf, beim Treffen der europäischen Innenminister*innen am 8. Juni keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes zu schließen und gegen die geplante Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) zu stimmen.
https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/gemeinsames-europaeisches-asylsystem-geas-reform-schutzsuchende-menschenrechte


+++DROGENPOLITIK
nzz.ch 06.06.2023

Bern will den Kokainhandel legalisieren – die Idee ist weniger dämlich und deutlich älter als vermutet

Vor dreissig Jahren wurde ein Projekt zur regulierten Abgabe von Kokain gestoppt. Heute entsprechen solche Experimente dem Zeitgeist. Dass eine repressive Drogenpolitik scheitere, sagt sogar der Bundesrat.

Fabian Vogt

Sollen Drogen legalisiert werden? Die Frage beschäftigt Behörden, Politiker und Stammtische seit Jahrzehnten. Vergangene Woche hat der Berner Stadtrat dem Thema ein Kapitel hinzugefügt: Er hat ein Postulat der Alternativen Linken (AL) angenommen, das einen wissenschaftlichen Pilotversuch für den kontrollierten Verkauf von Kokain zum Ziel hat.

Eva Chen (AL) hat das Postulat im Rat durchgebracht. Sie sagt über ihre Motivation: «Ich will Drogen als Ganzes nicht verharmlosen. Aber die derzeitige Repressionsstrategie ist nicht zielführend.» Bestraft würden damit in erster Linie die Konsumenten und kleinen Dealer, und es gebe keine Möglichkeiten für Präventionsmassnahmen.

Der Vorschlag von Chen trifft den Zeitgeist. Der Bundesrat bilanzierte 2021, dass der Versuch, den Missbrauch von Betäubungsmitteln durch internationale Verbote und eine strikte Kontrolle zu verhindern, «deutlich verfehlt wurde». Er will stattdessen den Weg einer «evidenzbasierten und pragmatischen Drogenpolitik» fortfahren.

Lifestyle-Drogen ersetzen Heroin

Die Schweiz hat damit mehr Erfahrungen als die meisten anderen Länder. Der Platzspitz und der Bahnhof Letten in Zürich wurden in den 1980er und 1990er Jahren zu offenen Drogenszenen und Orten des Elends. Mitten in einer der reichsten Städte der Welt tummelten sich täglich Tausende Heroinsüchtige. Die Zahlen der Aids- und Drogentoten erreichten internationale Höchstwerte.

Die Politik löste das Problem, indem Abgabestellen für Drogen, Programme für den Umtausch von Spritzen und andere Massnahmen eingeführt wurden. Die Heroinsüchtigen wurden von Kriminellen zu Patienten und sind unterdessen aus den Köpfen und den Stadtbildern verschwunden.

Dafür werden unterdessen andere Drogen vermehrt konsumiert. Cannabis, Kokain, LSD oder MDMA beschäftigen die Behörden seit Jahren. Die derzeitige repressive Politik hat dabei kaum Erfolge gebracht und scheint ebenso verfehlt wie vor vierzig Jahren in Zürich, als die Drogensüchtigen von Verboten angelockt statt abgeschreckt wurden. Es braucht neue Ideen.

Ideen wie die Anpassung des Betäubungsmittelgesetzes 2021. Neu sind Pilotversuche mit kontrollierter Abgabe von Cannabis zu «Genusszwecken» möglich.

Derzeit sind dazu in mehreren Schweizer Städten Projekte geplant. In Basel wird Cannabis seit Ende Januar an Testpersonen verabreicht. Das erste Zwischenfazit ist positiv: «Bisher haben die Abgaben von Cannabis zu keinen Polizeimeldungen oder schwerwiegenden Komplikationen geführt», sagt Regine Steinauer, Leiterin der Abteilung Sucht des Kantons Basel-Stadt. Das Projekt läuft bis Mitte 2025.

Das Postulat aus Bern sieht vor, dass auch Kokain im wissenschaftlichen Rahmen kontrolliert abgegeben werden könnte. Hinter Cannabis ist Kokain die meistkonsumierte illegale Droge der Schweiz. 2017 gaben in der Schweizerischen Gesundheitsbefragung 4,2 Prozent der Bevölkerung ab 15 Jahren an, mindestens einmal Kokain konsumiert zu haben. Seither hat der Bund auf Erhebungen verzichtet. Daten aus Abwasserleitungen und zunehmende Anfragen für Therapien lassen aber darauf schliessen, dass heute mehr Kokain genommen wird denn je.

«In Bern stand man immer auf der Bremse»

Die Berner sind mit ihrer Idee nicht allein. Die Stadtzürcher FDP hatte vor gut zwei Jahren eine ähnliche Idee, die aber nicht auf grosse Zustimmung traf. Noch viel früher hatte der Zürcher Psychiater Gianni Zarotti nicht nur ähnliche Gedanken, sondern setzte sie auch um. Im Rahmen des Projekts «Lifeline» verteilte er 1994 Kokainzigaretten an Abhängige, um deren Wirkung, aber auch den Einfluss auf den illegalen Kokainkonsum zu untersuchen.

Der Schlussbericht der Studie wurde dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) zugestellt und liest sich positiv: «Vor dem Hintergrund unserer bisherigen Erfahrungen erachten wir die Abgabe aller medizinisch vertretbaren Substanzen (zu denen auch Cocain (sic) zählt), als sehr wesentlich.»

Zarotti nahm darum an, dass der Bund das Thema weiterverfolgen würde. Aber nichts passierte. Zarotti vermutet, dass das BAG nie wirklich Interesse an diesen Drogenprojekten gehabt habe. In Bern sei man «immer auf die Bremse gestanden». Zu gross sei die Angst vor einer Eskalation gewesen.

Dabei hätten seine Experimente rasch Erfolge gebracht. Allerdings seien sie zu wenig breit abgestützt gewesen, um die Auswirkungen einer regulierten Abgabe effizient testen zu können, sagt Zarotti: «Wir haben nur Zigaretten abgegeben, mit Kokain in kleinen Dosen. Das muss viel breiter gefächert werden, mit mehr Applikationsformen und unterschiedlichen Dosierungen.»

Das BAG widerspricht der Darstellung Zarottis, dass man damals auf die Bremse gestanden sei. Der Bund habe noch vor dem Kanton Zürich Versuche zur heroingestützten Behandlung unterstützt und unter Alt-Bundesrat Flavio Cotti die rechtlichen Grundlagen dazu in einer Notverordnung geschaffen. Warum die Studie von Zarotti damals eingestellt worden sei, wisse man nicht mehr.

Adrian Gschwend, Leiter Sektion Politische Grundlagen und Vollzug beim BAG, begrüsst grundsätzlich Vorstösse wie denjenigen aus Bern. Pilotversuche wie in den 1990er Jahren mit Heroin oder gegenwärtig mit Cannabis seien ein Weg, wie evidenzbasierte Drogenpolitik weiterentwickelt werden könne. Aber der richtige Umgang müsse für jede Droge separat gefunden werden: «Die Heroinkonsumenten hat man zuerst kriminalisiert. Danach wurden sie als Patienten betrachtet. Diese bei Heroin erfolgreiche medizinische Strategie ist bei Gelegenheitskonsumierenden von Cannabis oder Kokain nicht unbedingt richtig.»

Möglicherweise hilft das Berner Postulat, den richtigen Umgang mit Kokain zu finden. Die Berner Regierung wird einen Bericht verfassen, in dem Möglichkeiten und Probleme eines solchen Experiments eruiert werden. Wann dieser finalisiert werden wird, ist nicht bekannt.
(https://www.nzz.ch/panorama/bern-will-kokainhandel-legalisieren-die-idee-ist-weniger-daemlich-als-sie-scheint-ld.1741051)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Klimacamp im Kirchenfeldquartier: Aktivistinnen und Aktivisten besetzen Teile des Gymnasiums Kirchenfeld
Eine Gruppe von Klimajugendlichen hat im Gymnasium Kirchenfeld vier Räume und den Vorplatz in Beschlag genommen. Auch die Jungfreisinnigen besetzen temporär einen Raum.
https://www.derbund.ch/aktivistinnen-und-aktivsten-besetzen-gymnasium-kirchenfeld-925745067042
-> https://www.20min.ch/story/klimaaktivisten-besetzen-gymnasium-kirchenfeld-illegal-737060324516
-> https://rabe.ch/2023/06/06/klimagerechte-bildung-gehoert-in-den-unterricht/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/klimaaktivisten-besetzen-gymnasium-kirchenfeld?id=12398968
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/schulbetrieb-geht-weiter-klimaaktivisten-besetzen-berner-gymnasium
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/schulhausbesetzer-duerfen-vier-schulzimmer-nutzen-151873546
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/210614/
-> https://www.watson.ch/schweiz/bern/388399189-klimaaktivisten-besetzen-berner-gymnasium
-> https://www.nau.ch/ort/bern/bern-klimaaktivisten-besetzen-gymnasium-kirchenfeld-66512141
-> https://twitter.com/JungfreisinnBE
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/misere-bei-cremo-so-will-der-milchverarbeiter-die-wende-schaffen?id=12399550 (ab 01:32)
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/von-der-besetzung-halte-ich-nicht-viel-das-sagen-schuelerinnen-und-schueler-zur-aktion-151873546?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151888314
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/klimaaktivisten-kritisieren-schulsystem-151890946
-> https://www.derbund.ch/nach-dem-malen-und-gaertnern-gingen-alle-brav-nach-hause-739223208937

-> https://endfossil.ch/bern/
-> https://twitter.com/EndfossilCH



hauptstadt.be 06.06.2023

Ein Tag des Lernens

Klima-Aktivist*innen besetzen das Gymnasium Kirchenfeld. Warum haben sie dieses Mittel gewählt? Und wie reagieren Schüler*innen, Politik und der Rektor darauf?

Von Joël Widmer (Text), Marina Bolzli (Text), Simon Boschi (Bilder)

Es ist ein unübliches Bild, Dienstagmorgen früh um 5.30 Uhr auf der Monbijoubrücke. Mehrere kleine Gruppen von Jugendlichen pilgern voll bepackt mit Rucksäcken und Taschen über die Brücke Richtung Kirchenfeld. Es sieht aus, als würden sie an ein Musikfestival gehen. Doch ihr Ziel ist das Gymnasium. Sie sind Teil der Gruppe «End Fossil Bern» und wollen die Schule besetzen, um eine «klimagerechte Bildung» einzufordern.

Aktivistin Judith* wechselt mit ihrer Gruppe kurzerhand die Strassenseite, weil auf dem Trottoir ein Polizeiauto steht. Eine Patrouille kontrolliert eine andere Gruppe von neun Jugendlichen und nimmt Personalien auf. Begründet wird die Kontrolle laut den Aktivist*innen damit, dass die Gruppe lange Bambusstangen mit sich trage. Eine halbe Stunde später steht die Gruppe vor dem Haupteingang des Gymnasiums. Andere Aktivist*innen haben sich schon Zutritt zum Gebäude verschafft und öffnen ihnen die Türe.

Die Gruppe «End Fossil Bern» ist Teil der internationalen Bewegung «End Fossil Occupy», die weltweit Schulen und Bildungsinstitutionen besetzt und der es auch um Bildungspolitik geht. Sie ist nicht deckungsgleich mit dem Klimastreik, jedoch nutzen die beiden Gruppen die gleichen Räume und die gleichen Mailinglisten. Viele Aktivist*innen, so auch Judith, sind in beiden Gruppen aktiv. Die Gruppe «End Fossil Bern», die aus gut 20 Aktivist*innen zwischen 11 und 22 Jahren besteht, tritt erstmals mit einer Aktion in die Öffentlichkeit. Schulbesetzungen gab es in der Schweiz bisher zwei, im Februar in Basel und Zürich.

Geschichtsträchtig und zentral

Die Plakate hängen bereits seit zwei Wochen in den verschiedenen Gymnasien im Kanton Bern. «End Fossil Occupy – besetze mit uns die Schule, 6. Juni Bern». Nur welche Schule ist bis an diesem Morgen noch unklar gewesen. Dass die Besetzung ausgerechnet im Kirchenfeld stattfindet, ist kein Zufall. «Es ist ein geschichtsträchtiges Gebäude und ein zentraler Ort», sagt die 19-jährige Judith.

Trotzdem, der Austausch mit der Schulleitung sei wichtig, beteuert der 15-jährige Moritz*. Darum hätten sie bereits im Vorfeld der Besetzung E-Mails an alle Schulen geschickt, die verkündeten: Ja, es könnte sein, dass diese Schule besetzt wird. Aber man sei friedlich, wolle nicht stören, fordere jedoch Aufmerksamkeit für Themen, die jetzt keine hätten.

«Die meisten von uns verbringen sehr viel Zeit in der Schule», sagt Judith, die letztes Jahr die Matura machte und nach einem Zwischenjahr im nächsten Herbst mit der Ausbildung zur Oberstufenlehrerin beginnen will. «Die Aktionsform kann Aufmerksamkeit schaffen für die Klimakrise.» Und Moritz doppelt nach: «Es geht um den grossen Zusammenhang zwischen Bildungssystem und Klimakrise. Heute werden die Menschen nicht gut genug informiert.»

Kurz nach 6 Uhr öffnet der Hausdienst-Leiter die weiteren Türen des Haupteingangs des Gymnasiums. Er bittet die Aktivist*innen freundlich und bestimmt, sich draussen zu besammeln und die Fluchtwege freizuhalten. Die Schulleitung sei unterwegs und werde sich auf dem Vorplatz mit den Aktivist*innen unterhalten.

Aber ist ein Gymnasium überhaupt der richtige Ort für die Kritik an den Schulen? Schliesslich wird dort nicht bestimmt, wie die Bildungspolitik aussieht, das geschieht viel eher im Berner Rathaus.

Die Schule könne durchaus etwas machen, findet Moritz, der im zweiten Gymerjahr ist. Und zählt auf: Gratis Nachhilfe, sodass Schüler*innen unabhängig vom finanziellen Hintergrund der Eltern ein Gymnasium besuchen könnten, Weiterbildungen für Lehrer*innen bezüglich Klimakrise, Rassismus und psychischer Gesundheit. «Es gibt einen Rahmen, in dem sich eine Schule bewegen kann», fügt er an. Und Judith ergänzt: «Eine Schule kann selber wählen, was in einer Spezialwoche behandelt wird.»

«Wir hoffen schon, dass unsere Forderungen umgesetzt werden», sagen Judith und Moritz unisono. Eine Besetzung sei legitim, solange sie friedlich ablaufe und man niemandem schade, fügt Judith an. Und Moritz holt aus: «Die Klimakrise schreitet voran, wir haben nur noch kleines Zeitfenster, in dem wir handeln können. Wenn wir gewisse Kipppunkte erreichen, ist es zu spät.»

Niemand müsse an die Besetzung kommen, aber alle dürfen. «Schüler*innen, die es stört, dürfen auf uns zukommen und wir können mit ihnen eine Lösung finden», sagt Judith. «Es ist nicht unser Ziel, den regulären Unterricht zu stören.»

Um 06.50 Uhr will sich die Gruppe auf dem Vorplatz des Gymnasiums in einer Plenumsdiskussion besprechen. Just, als sich die Aktivist*innen in einem Kreis versammelt haben, trifft Rektor André Lorenzetti ein. Er setzt sich an einen Tisch neben die Gruppe. Die Aktivist*innen bitten ihn, in der Runde Platz zu nehmen. Doch er sagt, die Gruppe wolle etwas von ihm, daher solle sich die Delegation zu ihm setzen. Lorenzetti, ein Milizoffizier mit Spezialisierung in Krisenkommunikation, deutet an, wer trotz Besetzung Chef im Haus bleibt.

Der Rektor spricht eine halbe Stunde mit vier Aktivist*innen und bezeichnet die Besetzung danach im Gespräch mit der «Hauptstadt» als einen «ungeschickt formulierten Antrag, unsere Infrastruktur zu nutzen». Er sei es nicht gewohnt, dass man in ein noch geschlossenes Schulhaus eindringe. «Normalerweise fragt man, bevor man kommt.» Ob er wegen Hausfriedensbruchs Anzeige erstatten werde, wisse er noch nicht.

Freie Zimmer

Dennoch toleriert er die Anwesenheit der Aktivist*innengruppe und stellt ihnen vier Zimmer bis spätestens 16 Uhr zur Verfügung. Man sei in der Phase zwischen schriftlichen und mündlichen Maturaprüfungen. Ein Viertel der Schülerschaft sei daher nicht im Haus und es gebe freie Zimmer.

Mit diesem Angebot will Lorenzetti eine Eskalation vermeiden: «Mein Auftrag ist es, den Unterricht sicherzustellen und Personen und Infrastruktur zu schützen.» Im Gespräch habe er die Aktivist*innen aber auch an ihr eigenes Awareness-Konzept erinnert, das übergriffiges Verhalten nicht dulde. «Und ich habe ihnen erklärt, dass ihre Aktion bei mir eine kognitive Dissonanz auslöst, denn der Zutritt in ein geschlossenes Gebäude ist übergriffig.»

Ganz unvorbereitet ist Lorenzetti nicht. «Im Sinne eines Krisenmanagements haben wir uns unter den Gymnasien und dem Schulamt im Vorfeld zu solch möglichen Besetzungen abgesprochen.»

Zur Kritik an der Schule sagt der Rektor: «Unser Unterricht ist demokratisch legitimiert und basiert auf dem Mittelschulgesetz und dem Lehrplan des Kantons.» Den an der Besetzung interessierten Schüler*innen kommt Rektor Lorenzetti dennoch ein wenig entgegen. Der Besuch der Workshops gelte zwar nicht als Unterricht. Aber an diesem Tag dürfen sie ausnahmsweise den Antrag für einen Jokerhalbtag auch rückwirkend einreichen. Schüler*innen können pro Schuljahr für Absenzen 5 Jokerhalbtage beziehen und müssen diese nicht begründen.

Auch Jungfreisinnige besetzen Zimmer

Während der Rektor den Medien Auskunft gibt, stellen sich mehrere Jungfreisinnige, die sich schon im Vorfeld empört geäussert hatten, vor das Gymnasium und halten ein Transparenz in die Höhe. Tobias Frehner, der Präsident der kantonalen Jungfreisinnigen, stört sich an der Illegalität der Aktion und daran, dass die Besetzer*innen Platz erhalten.

Daraufhin macht der Rektor den FDP-Jungpolitiker*innen ein Angebot. Sie dürfen ebenfalls Räume beanspruchen und ihre Sicht der Dinge darlegen. Und so werden auch die Jungfreisinnigen zu Besetzer*innen. Das Gymnasium kündigt auf der Infotafel an: «Durch die Jungfreisinnigen besetztes Zimmer: 335»». Dort machen die Jungfreisinnigen am Nachmittag Werbung für ein Ja zum Klimagesetz. «End Fossil Occupy» begrüsst auf Twitter die bürgerlichen Jungpolitiker*innen ebenfalls: «Good News. Die JFBE besetzt mit uns das Gymnasium Kirchenfeld! Für eine klimagerechte Bildung!»

Derweil unterhalten sich in einem Schulzimmer im ersten Stock etwa 40 Jugendliche in kleinen Gruppen darüber, was sie an der Schule ändern würden. Im ersten Workshop des alternativen Unterrichts von «End Fossil Occupy» geht es um die Kritik an der Schule. Am Ende des Workshops stehen unter anderem folgende Sätze an der Wandtafel:

– Mehr Unterricht nach Interessen mitgestalten
– Fächer wie Politik, sozialer Umgang, aktuelle Themen
– Alternativen zum Kapitalismus aufzeigen
– Fach Kritisches Denken einführen
– Schlafrhythmus

Die weiteren Programmpunkte des alternativen Unterrichts am Vormittag sind «Urban Gardening» und «Café revolution». Am Nachmittag werden Workshops angeboten mit den Titeln: «Aktiv sein und bleiben», «Was ist Klimagerechtigkeit» und «Button und Siebdruck».

Unter den Schüler*innen ist Interesse an der Besetzung vorhanden. Rund 100 Jugendliche nehmen an der Information der Aktivist*innen morgens um 8 Uhr teil. Die Schüler*innenorganisation des Gymnasiums Kirchenfeld (SOK) äussert sich auf Anfrage aber zurückhaltend. Sie sei in die Besetzung nicht involviert und habe keine offizielle Positionierung zu solchen Projekten. Die SOK betont jedoch, dass ihr Umweltthemen ein grosses Anliegen seien. «So konnte beispielsweise auch ein Flugverbot für Maturareisen im Kirchenfeld Gymnasium durchgesetzt werden.» Zudem erachte sie politische Bildung als sehr wichtig und sei diesbezüglich im Gymnasium Kirchenfeld an verschiedenen Projekten beteiligt.

Aktivist Moritz zieht Dienstagnachmittag ein positives Zwischenfazit der Besetzung. Die Workshops seien gut besucht worden. «Und über Mittag sprachen uns sehr viele Schüler*innen am Infostand an.» Zur Kritik des Rektors sagt der 15-Jährige: Die Gespräche mit der Schulleitung seien gut verlaufen und man habe Lösungen gefunden, die für beide Parteien akzeptabel seien. So brachten sie den Rektor gar dazu, ihnen für den nächsten Tag nochmal Räume zur Verfügung zu stellen. Im Gegenzug verzichteten sie auf eine Ünbernachtumg im Schulhaus, da abends ein schulischer Anlass geplant ist.

Auch Jungpolitiker Frehner ist zufrieden mit dem Tag. «Die Jungfreisinnigen haben es geschafft, dass sich Vertreterinnen und Vertreter aller politischer Richtungen am Gymnasium äussern können.» So seien nicht nur die Aktivist*innen gehört worden. Auch die Juso habe das Angebot genutzt. «Schülerinnen und Schüler haben sich bedankt, dass auch der Jungfreisinn hier sei», sagt Frehner und räumt seine Flyer wieder in einen Karton.

Was bleibt von diesem Tag mit viel Aktivismus und Politik am Gymnasium Kirchenfeld? Vielleicht liegt die Antwort darauf in Rektor Lorenzettis Fazit zur Besetzung: «Ich sehe das als Prozess, während dem alle Beteiligten etwas lernen können.»

*Judith und Moritz sind von der Gruppe «End Fossil Bern» als Mediensprecher*innen bestimmt worden. Aus Angst vor schulischen Konsequenzen möchten sie nur mit Vornamen auftreten.
(https://www.hauptstadt.be/a/schulbesetzung-kirchenfeld)



bzbasel.ch 06.06.2023

Organisatorinnen der Demonstration vom 14. Juni in Basel: «Wir wollen einen lauten und friedlichen Streik!»

Nach den Vorkommnissen am 1. Mai richten sich die Blicke nun auf den bevorstehenden feministischen Streik am 14. Juni. Im Vorfeld hat Regierungsrätin Eymann für ein Bewilligungsgespräch eingeladen.

Neomi Agosti

DDD: Dialog, Deeskalation und Durchgreifen – so lautet das Credo der Kantonspolizei Basel-Stadt für den Umgang mit Demonstrationen. Am 1. Mai stand das dritte «D» im Vordergrund. Ein Teil der Teilnehmenden wurde stundenlang eingekesselt. Das rigorose Vorgehen der Polizei wurde zum Politikum. Alle Blicke richten sich nun auf den bevorstehenden 14. Juni. Mit dem feministischen Streik steht Basel die nächste Demonstration bevor – und damit auch ein weiterer Polizeieinsatz.

Franziska Stier, Mitglied der Mediengruppe des Feministischen Streiks Basel, beteiligt sich seit 13 Jahren an der Organisation von Demonstrationen. Am Montag führten sie und eine weitere Organisatorin ein Vorgespräch mit Vertretern der Polizei, darunter war auch der Gesamteinsatzleiter. Es habe sich um ein gewöhnliches Demonstrationsbewilligungsgespräch gehandelt, sagt Stier.

Die Vorkommnisse des 1. Mai haben Spuren hinterlassen: Am Donnerstag treffen sich die Bewilligungsstellerinnen mit Stephanie Eymann – das auf Einladung der LDP-Regierungsrätin. «So etwas habe ich in all den Jahren noch nie erlebt», sagt Stier.

Vorgespräche, Forderungen und Demonstrationsroute

Sie wisse nicht, was sie beim Gespräch mit der Basler Justizdirektorin Eymann erwarte, sagt Stier. Bis jetzt sei der Austausch mit den Behörden reibungslos und konstruktiv verlaufen.

Der Gesamteinsatzleiter habe im Gespräch betont, die Absicht der Polizei bestehe darin, in der Durchführung einer friedlichen Demonstration zu unterstützen und diese zu ermöglichen. Vorgesehen sei, dass während der Kundgebung der Gesamteinsatzleiter und die Demonstrationsverantwortlichen miteinander in Kontakt stünden – auch das sei neu, sagt Stier.

Gegenstand der Gespräche war die Routenplanung. Vorgesehen ist, dass die Kundgebung am kommenden Mittwoch um 17.30 Uhr auf dem Theaterplatz startet. Von dort aus geht es via Wettsteinbrücke, Rebgasse, Mittlere Brücke und Schifflände zurück zum Theaterplatz. Noch müsse die Polizei die Strecke offiziell bestätigen, sagt Stier.

Der Mai macht sich immer noch im Juni spürbar.

Der Polizeieinsatz am 1. Mai habe Spuren hinterlassen, sagt Stier. Viele Menschen hätten Angst, darunter etwa Mütter, die sich unschlüssig seien, den Streik mit ihren Kindern zu besuchen. «Sie befürchten einen erneuten Mitteleinsatz seitens Polizei», erzählt Stier. Das sei ein Problem: «Für viele Menschen ist eine Demonstration die einzige Möglichkeit, ihre feministischen Anliegen zum Ausdruck zu bringen.»

Eine Beobachterrolle wollen die Demokratischen Juristinnen und Juristen (DJS) einnehmen. Wie sie das bereits am Tag der Arbeit gemacht haben. Angekündigt hat sich laut Stier auch eine Delegation von Amnesty International. Amnesty hatte den Einsatz von Gummischrot im Rahmen der Demonstration zum Tag der Frau am 8. März in Basel verurteilt.

Ein Mitglied der DJS sagt, ihre Rolle bestehe darin, Polizeieinsätze bei Kundgebungen zu beobachten, um später auf aus ihrer Sicht problematisches Vorgehen hinzuweisen und einen öffentlichen Diskurs zu ermöglichen. Letztlich bestehe das Ziel darin, den Grundrechtsschutz zu stärken.

Am 14. Juni fordert der Feministische Streik unter anderem Lohngleichheit. Im Fokus stehen aber auch der Kampf gegen Gewalt und gegen die Sexualisierung von Frauen. Franziska Stier sagt: «Wir wollen einen lauten und friedlichen Streik!»
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/feministischer-streik-organisatorinnen-der-demonstration-vom-14-juni-wir-wollen-einen-lauten-und-friedlichen-streik-ld.2468897)



Basler Zeitung 06.06.2023

Sinnlos oder dringend nötig? Am Frauenstreik scheiden sich die Geister der Basler Politikerinnen

Grossdemo, Kickboxtraining und politische Forderungen – das erwartet Sie am 14. Juni in der Region Basel.

Julia Konstantinidis, Dina Sambar

Am 14. Juni ist wieder ein grosser schweizweiter Frauenstreik geplant. 2019 gingen in Basel mehr als 40’000 Teilnehmende auf die Strasse. Auch für dieses Jahr haben die Organisatorinnen vom Streikkollektiv Basel Tausende von Demonstrantinnen angekündigt. Eine so grosse Teilnehmerinnenzahl wie vor vier Jahren erwarten sie jedoch nicht. Dafür könnte es mehrere Gründe geben.

Einer davon ist Angst: Laut dem Kollektiv-Mitglied Franziska Stier sorgen sich Menschen um ihre Sicherheit an der Demonstration: «Wir haben Rückmeldungen von Frauen und genderqueeren Menschen, dass sie mittlerweile Angst haben, für ihre Rechte auf die Strasse zu gehen.» Ursache dafür ist wohl das harte Eingreifen der Polizei an der letzten 1.-Mai-Demo und der unbewilligten Demo des Frauenstreiks vor drei Jahren.

Ein zweiter Grund ist, dass bürgerliche Frauen auf nationaler Ebene den Frauenstreik 2023 als linke Aktion wahrnehmen und sich deshalb von ihr fernhalten. Auch Laetitia Block, Vizepräsidentin der SVP Basel, nimmt «selbstverständlich» nicht teil. Über einzelne der Forderungen könne man zwar diskutieren, «die meisten haben aber nichts mit Frauen zu tun». «Über die Jahre wurde der Frauenstreik zu einem sozialistischen Manifest», so ihr Fazit.

Laetitia Block demonstriert grundsätzlich nicht – das bringt laut der SVP-Vizepräsidentin nicht viel: «Das ist der Grund, weshalb ich in der Politik bin.» Ähnliche Gedanken macht sich die Basler GLP-Nationalrätin Katja Christ. Sie hat noch nie an einem Frauenstreik teilgenommen. Auch sie wählt den politischen Weg, um Veränderungen zu bewirken: «Ich will so Vorbild für andere Frauen sein.»

Andrea Strahm, Fraktionspräsidentin der Mitte im Grossen Rat, geht ebenfalls aus Prinzip nicht auf die Strasse. Die Begründung ist in etwa die gleiche wie bei Block und Christ: Sie wolle den Wandel mit politischen Instrumenten erreichen. Ausserdem brauche es, um allen Menschen dieselben Rechte zu gewähren, eine «erweiterte Genderdiskussion», findet Strahm.

Dass sich bürgerliche Politikerinnen nicht am Frauenstreik beteiligen, sei nicht neu, sagt das Streikkollektiv Basel: «Auch 2019 haben die bürgerlichen Frauen gesagt, dass sie nicht streiken, dafür aber einen Aktionstag ausrufen», so Franziska Stier. Zwar sei es wichtig, auch diese Frauen an einigen Punkten dabeizuhaben, um vorwärtszukommen, «aber es liegt an ihnen, sich zu organisieren». Die FDP-Frauen Schweiz etwa tun dies, indem sie am 14. Juni eine Gedenkfeier für Elisabeth Kopp organisieren. Die FDP-Frauen Basel planen keine eigene Aktion.

Auch die befragten linken Politikerinnen legen am 14. Juni ihre Arbeit nicht vollständig nieder. Der Frauenstreik fällt auf einen Sitzungstag der Sommersession. Die Baselbieter Grünen-Ständerätin Maya Graf sitzt deshalb im Bundeshaus: «Aber über Mittag werde ich auf dem Bundeshausplatz an der Landsgemeinde des feministischen Streiks dabei sein», so Graf. Im Basler Grossen Rat macht SP-Präsidentin Lisa Mathys ebenfalls den Spagat zwischen Streik und Parlamentsarbeit. Sie ist mit ihrer Partei an der Organisation einiger Aktionen am Vormittag beteiligt, zum Beispiel die «Kinderwagen-Demo». Ob sie an der Demonstration am Nachmittag teilnehme, hänge vom Ratsbetrieb ab. Sie würde zwar gern von Anfang an mitlaufen, die Abstimmungen im Grossen Rat haben für sie aber Priorität: «Ich werde meine Stimme nicht verfallen lassen.»



Die Forderungen

– Verkürzung der Arbeitszeit bei vollem Lohn und besseren Arbeitsbedingungen. Gleicher Lohn für gleichwertige Arbeit. Mindestlohn und Lohnerhöhungen in «Frauen-Branchen».

– Stärkung der AHV. Zum Beispiel durch 13. AHV-Rente. Langfristig: Ersetzen des 3-Säulen-Systems durch eine einzige solidarische Säule. Rentenerhöhung und eine Senkung des Rentenalters für alle. Auch gratis Care-Aufgaben müssen berentet werden.

– Gesamtschweizerische Massnahmen zur Bekämpfung geschlechtsspezifischer, sexualisierter und häuslicher Gewalt, von rassistischer, fremden-, queer- und behindertenfeindlicher Diskriminierung oder von Bodyshaming.

– Elternzeit für jede Erziehungsperson für mindestens ein Jahr pro Person und Kind.

– Eine einheitliche, öffentliche Krankenkasse, die kostenlose Gesundheitsversorgung für alle gewährleistet, inklusive Schwangerschaftsabbruch. Nationaler Aktionsplan und Massnahmen für Klima und Umwelt.
(https://www.bazonline.ch/am-frauenstreik-scheiden-sich-die-geister-der-basler-politikerinnen-618924353963)



landbote.ch 06.06.2023

Stadtparlament Winterthur: AL will Antworten zum Demo-Kessel

Stadtparlamentarierin Sarah Casutt (AL) will vom Stadtrat eine Stellungnahme zum Verhalten der Polizei am 7. Mai. Diese kesselte Teilnehmende einer unbewilligten Demo ein.

Deborah von Wartburg

Am 7. Mai hatte der parteilose Ex-Kantonsrat Urs Hans zum «Freiluft-Kongress» geladen, um für «Frieden, Neutralität, Souveränität und Freiheit» zu demonstrieren. Gemeint war der Krieg in der Ukraine. Der bekannte Verschwörungsideologe Ken Jebsen war einer der Redner. Linke Gruppierungen riefen zu einer nicht bewilligten Gegendemonstration auf.

An die «Friedensdemo» selbst kamen etwa 250 Leute, weit weniger, als die Veranstalter erwartet hatten. Es waren auch nur wenig mehr als zur Gegendemo, die laut Stadt aus etwa 180 Personen bestand. Die Polizei kesselte letztere im Stadtpark ein und kontrollierte die Teilnehmenden, darunter auch Stadtparlamentarier Roman Hugentobler (AL), der sich nicht zum Vorfall äussern will.

Casutt stellt Polizeiaufgebot infrage

Seine Fraktionskollegin Sarah Casutt (AL) sieht bei diesem Einsatz politischen Klärungsbedarf. Sie stellt dem Stadtrat zwei schriftliche Anfragen zum polizeilichen Vorgehen. Vor allem stellt Casutt das polizeiliche Aufgebot infrage: «Sowohl am 1. als auch am 7. Mai fiel den Demonstrierenden auf, dass viel mehr Polizei vor Ort ist als vor einigen Jahren. Früher hat man vermehrt auf Dialogpolizisten und Dialogpolizistinnen gesetzt.»

Es gehe ihr vor allem um die Frage, ob die Ressourcen der Stadtpolizei richtig eingesetzt würden. «Einerseits sagt die Polizei immer, sie habe nicht genug Personal. Andererseits wird das Aufgebot an den Demos immer grösser.» Casutt sagt, es sei durchaus möglich, dass sich die Intensität von Demonstrationen und Polizeieinsätzen gegenseitig immer mehr hochschaukle. Denn das Polizeiaufgebot nehme momentan schweizweit zu.

Casutt findet: «Wir müssen schauen, dass wir diese Begegnungen wieder deeskalieren können, damit das Recht auf freie Meinungsäusserung weiterhin erhalten bleibt.» Sie erhofft sich vom Stadtrat Antworten, die als Grundlage dienen, deeskalierende Massnahmen zu erarbeiten.

Doch nicht nur zur Anzahl Polizisten selbst, sondern auch zu deren Vorgehen hat Casutt Fragen. So bittet sie den Stadtrat um eine detaillierte Rekonstruktion des Einsatzes am 7. Mai. Insbesondere interessiert sie, ob die Polizei anordnete, den Stadtpark zu verlassen, bevor die Demonstrierenden eingekesselt wurden. Solch eine Vorwarnung sei etwa in Zürich – auch bei unbewilligten Demonstrationen – üblich.

Ihre Anfrage sei denn auch nicht die erste, die darauf abziele, die polizeiliche Kessel-Praxis für die Demo-Teilnehmenden «humaner» zu gestalten. «Dank früherer Vorstösse wurden Kessel zeitlich begrenzt, und Eingekesselte bekommen jetzt Wasser und die Möglichkeit, aufs WC zu gehen», sagt Casutt.

Angst um Personendaten

Schliesslich geht es Casutt auch um den Datenschutz der Demonstrierenden. Die Stadtpolizei habe während des Einsatzes Video- und Fotoaufnahmen gemacht. Casutt will wissen, was der Grund für diese Aufnahmen war und wie lange diese gespeichert werden beziehungsweise ob die Daten ins Polizei-Informationssystem übertragen werden.

Zudem habe ihr ein anwesender freier Journalist gesagt, dass es ihm gelungen sei, von aussen Fotos der IDs der Kontrollierten zu machen. Der Journalist stellte diese geschwärzt auf Twitter. Er wollte damit aufzeigen, dass die Polizei dem Datenschutz der Kontrollierten nicht genug Aufmerksamkeit schenke. Im Mailaustausch zwischen dem freien Journalisten und Polizeisprecher Michael Wirz habe Wirz gesagt, dass «eine äussere Absperrung zwei Dutzend Meter um den Kessel eingerichtet wurde, bevor die Personenkontrollen begannen». Am 7. Mai sei allerdings bereits zuvor damit begonnen worden, wie Aussenstehende laut Casutt berichteten.

Für die AL-Parlamentarierin, die selbst nicht vor Ort war, besteht die Gefahr, dass der nächste Schaulustige die Daten ungeschwärzt veröffentlicht. Deshalb verlangt sie auch hier vom Stadtrat eine klare Positionierung zu den Regeln einer Kesselung und wie die Stadtpolizei Winterthur diese umzusetzen hat.

Polizei und Stadtrat äussern sich noch nicht

Bei der Stadtpolizei Winterthur selbst will man sich vorerst nicht zur AL-Anfrage äussern, um der Antwort des Stadtrats nicht vorzugreifen. Die Polizei-Stadträtin Katrin Cometta (GLP) verweist ebenfalls auf den behördlichen Ablauf, der keine Kommentierung vorsieht, bevor der Stadtrat das Geschäft behandelt hat.
(https://www.landbote.ch/al-will-antworten-zum-demo-kessel-436871123994)


+++REPRESSION DE
-> https://taz.de/Innenministerium-zu-linken-Fahrgaesten/!5936220/
-> https://taz.de/Polizei-will-Fotos-von-Tag-X-Demo/!5939170/


+++SPORT
Teil 1: St. Galler Fans kritisieren Luzerner Polizei – Knapp an Massenpanik vorbei: Eskalation am Bundesplatz
Im Nachgang zu den Ausschreitungen am Bundesplatz gehen die Erzählungen der St. Galler Fans und die der Luzerner Polizei stark auseinander. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock)
Im Nachgang des FCL-Heimspiels am 20. Mai kam es am Bundesplatz und an der Zentralstrasse zu heftigen Ausschreitungen. Aus Sicht der Gästefans aus St. Gallen trägt die Luzerner Polizei eine Mitschuld am Ausmass der Eskalation. Die Polizei weist die Kritik zurück. Dieser erste Teil des Artikels dreht sich um die Vorgänge am Bundesplatz. Teil 2 folgt im weiteren Verlauf des Tages.
https://www.zentralplus.ch/sport/fc-luzern/st-galler-fans-kritisieren-einsatz-der-luzerner-polizei-stark-2550472/


+++JUSTIZ
Sein DNA-Profil muss gelöscht werden: Ladendieb gewinnt vor Bundesgericht gegen die Baselbieter Justiz
Einfache Ladendiebstähle, auch wenn sie auf bandenmässige Kriminalität hinweisen, genügen nicht, um DNA-Proben zu rechtfertigen. Bundesgericht kippt Baselbieter Urteil.
https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/grundrechte-sein-dna-profil-muss-geloescht-werden-ladendieb-gewinnt-vor-bundesgericht-gegen-die-baselbieter-justiz-ld.2469044


+++MENSCHENRECHTE
Parlament muss Einhaltung der Menschenrechte durch Sportverbände sicherstellen
Es braucht griffige Massnahmen, um sicherzustellen, dass Sportverbände mit Sitz in der Schweiz ihre menschenrechtliche Sorgfaltspflicht einhalten, sagt Amnesty International. Die Menschenrechtsorganisation fordert das Schweizer Parlament gemeinsam mit der globalen Koalition Sport & Rights Alliance auf, zwei politische Vorstösse zu unterstützen, welche Sportverbände als Unternehmensakteure in Einklang mit ihrer Verantwortung zur Achtung der Menschenrechte bringen wollen.
https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2023/parlament-muss-einhaltung-der-menschenrechte-durch-sportverbaende-sicherstellen


+++ANTITERRORSTAAT
Wie kann Gewaltextremismus verhindert werden? – Echo der Zeit
Gewalt-Extremismus und Radikalismus verbreiten sich in der Schweiz immer mehr. Stand vor wenigen Jahren noch der islamistische Terror im Fokus der Prävention, ist das Feld heute deutlich breiter, heisst es beim Fedpol. Trotzdem steht in den kommenden Jahren weniger Geld zur Verfügung für die Prävention.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/wie-kann-gewaltextremismus-verhindert-werden?partId=12400045
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/gewaltpraevention-die-radikalisierung-in-der-schweiz-wird-immer-vielfaeltiger


+++KNAST
Interpellation EVP: Zukunft des Standorts Prêles: ein Ort für Verwahrungen?
https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=038db167a339478e998eb06816dc6330


Kein Klinikplatz für psychisch kranke Gewalttäterin
Eine Frau, die 2020 in Lugano zwei Menschen mit einem Messer angriffen hatte, war zu neun Jahren Haft in einer geschlossenen therapeutischen Institution verurteilt worden. Zwei Jahre nach dem Urteil sitzt sie noch immer in Untersuchungshaft, weil kein Platz in einer Spezialklinik für psychisch kranke Täterinnen und Täter frei ist. Das Beispiel ist kein Einzelfall.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/kein-klinikplatz-fuer-psychisch-kranke-gewalttaeterin?partId=12399055


«Unhaltbare» Zustände im Basler Gefängnis Waaghof: Aufsichtskommission kritisiert Haftbedingungen
Drei Personen in einer Zelle mit offener Toilette: Die Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rates prangerte an ihrer Jahresmedienkonferenz die Situation im U-Haft-Gefängnis Waaghof an.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/kritik-unzumutbare-zustaende-im-basler-gefaengnis-waaghof-aufsichtskommission-kritisiert-haftbedingungen-ld.2466067
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/kommentar-zu-zustaendten-im-waaghof-ld.2469124
-> https://www.baseljetzt.ch/grossratskommission-ruegt-haftbedingungen-im-waaghof/69230
-> https://primenews.ch/articles/2023/06/gpk-rueffelt-waaghof-offene-toilette-fuer-drei-insassen
-> telebasel.ch/sendungen/punkt6
-> GPK-Bericht: https://www.bs.ch/nm/2023-gpk-jahresbericht-zur-staatlichen-taetigkeit-2022-die-geschaeftspruefungskommission-des-grossen-rates-richtet-72-feststellungen-empfehlungen-und-forderungen-an-den-regierungsrat-gr.html



Basler Zeitung 06.06.2023

GPK tadelt Basler Verwaltung Ein offenes WC für drei Gefängnis-Insassen – «Das ist unnötig demütigend»

Bei einer Inspektion des Gefängnisses Waaghof ist die oberste Aufsicht über die Basler Behörden auf «unhaltbare Zustände» gestossen. In ihrem Jahresbericht kritisiert die GPK zudem Finanzdirektorin Soland scharf.

Oliver Sterchi, Sebastian Schanzer

Die Geschäftsprüfungskommission des Grossen Rats (GPK) fungiert als oberste Aufseherin über die kantonale Verwaltung. In ihrem Jahresbericht beleuchtet sie jeweils Missstände im Staatsapparat, die ihr bei ihren Hearings und Untersuchungen aufgefallen sind.

Der aktuelle Bericht für das Jahr 2022, der an diesem Dienstag veröffentlicht und von den Kommissionsmitgliedern vorgestellt wurde, fördert dabei einige brisante Sachverhalte zutage. Nachfolgend eine Übersicht über die wichtigsten Feststellungen der GPK.

Kritik an Finanzdirektorin wegen Messehalle-Deal

Im Frühjahr 2022 machten Recherchen des Basler Onlineportals «Prime News» publik, dass es im Dreieck zwischen Kanton, BVB und Messe Schweiz einen kuriosen Deal rund um die Messehalle 3 im Kleinbasel gibt: So vermietet Immobilien Basel-Stadt die Halle für 100’000 Franken pro Jahr an die Messe Schweiz. Diese nutzt die Halle aber nicht selber, sondern vermietet sie ihrerseits an die Basler Verkehrs-Betriebe weiter, die dort ein Provisorium für ihre E-Busse eingerichtet haben.

Brisant an der Sache ist nun, dass die Messe die Halle zum damaligen Zeitpunkt für über eine Million Franken pro Jahr an die BVB weitervermietete – also rund das Zehnfache von dem, was die MCH ihrerseits an den Kanton abliefert. Die Sache wurde zu einem Politikum, Grossräte schalteten sich ein, im Parlament wurde ein Vorstoss eingereicht. In der Zwischenzeit haben die involvierten Parteien ein Schiedsgutachten eingeholt. Die BVB bezahlen nun «nur» noch 727’500 Franken an die Messe.

«Markantes Missverhältnis»

Das ist immer noch knapp siebenmal mehr als die Hauptmiete, welche die Messe an den Kanton als Eigentümer der Halle abliefert. Die GPK kritisiert dies denn auch als «markantes Missverhältnis», das nach wie vor «unbefriedigend» sei.

Doch nicht nur das: Die Kommission hat sich die Angelegenheit genauer angeschaut und bat zudem die Finanzkontrolle um eine Überprüfung des Sachverhalts. Diese kam in ihrem Bericht offenbar zu Erkenntnissen, die einiges an Zündstoff enthalten.

So schreibe die Finanzkontrolle, dass Immobilien Basel-Stadt (IBS) als Eigentümerin der Halle das oben geschilderte ursprüngliche Verhältnis von 10:1 bei der Haupt- und Untermiete als «unverhältnismässig und eindeutig missbräuchlich» gewertet habe. Mit anderen Worten: Die Messe habe krass übertrieben bei der Festsetzung der Untermiete.

Und weiter: Gemäss GPK-Bericht hat Immobilien Basel-Stadt verlangt, dass die MCH-Gruppe die Messehalle 3 künftig für 150’000 Franken an die BVB weitervermietet, dies unter «Kündigungsandrohung». Allerdings hätten sich die «Parteien» an Immobilien Basel-Stadt vorbei auf die oben erwähnten 727’500 Parteien aus dem Schiedsgutachten geeinigt.

«Dies wird von der Finanzkontrolle kritisiert, da die Departementsleitung FD die Vermieterin, mithin IBS, nicht stützte, sondern zuliess, dass sich die MCH über deren Kündigungsandrohung hinwegsetzte. Die GPK teilt diese Meinung», heisst es in dem Bericht. Die GPK insinuiert damit nichts Geringeres, als dass sich SP-Regierungsrätin Tanja Soland als Vorsteherin des Finanzdepartements über Immobilien Basel-Stadt hinweggesetzt habe. IBS ist dem Finanzdepartement angegliedert, wohlgemerkt. Das dürfte noch für einige Diskussionen sorgen in der Politik.

Unhaltbare Zustände im Waaghof

Ein Gefängnis sorgt naturgemäss selten für positive Schlagzeilen. Auf das Untersuchungsgefängnis Waaghof trifft das noch weniger zu. Zuletzt stand die Institution wegen eines Suizids einer Insassin in der Kritik.

Schon länger bemängelt wird die offenbar unhaltbare Lüftungssituation im Gefängnisbau. So beschwerten sich die Insassen schon mehrfach über die Hitze, die besonders im Sommer im Inneren herrsche. Die GPK liess sich im November 2022 aufgrund der Beschwerden durch das Gefängnis führen und greift diesen Punkt in ihrem Bericht auf. Der GPK-Präsident Christian von Wartburg erklärte am Dienstag vor den Medien: «Wenn wir in der Stadt eine Temperatur von 38 Grad messen, dann herrscht in den Zellen eine Temperatur von 45 Grad.» Das seien Verhältnisse, die er niemandem wünsche – zumal darunter Personen in Untersuchungshaft zu leiden hätten, denen noch keine Schuld nachgewiesen worden ist.

Zur Kenntnis genommen habe man allerdings auch, dass an einer Verbesserung der Lüftungssituation gearbeitet werde. Seitens der Verantwortlichen sei erklärt worden, dass das neue Lüftungssystem bis im Juni 2024 vollständig betriebsbereit sei. «Bis es soweit ist, gehen wir davon aus, dass die Gefängnisleitung bei prekären Verhältnissen entsprechende Massnahmen ergreift – etwa eine Versetzung in ein anderes Gefängnis», so von Wartburg.

Offene Toilette

Gleichwohl hält die GPK in ihrem Bericht fest, dass die Haftbedingungen im Waaghof «für ein Untersuchungsgefängnis nicht dem Standard entsprechen, der erwartet werden darf». Die Zellensituation sei hinsichtlich des Komforts und «insbesondere» der Privatsphäre «ungenügend».

Gemäss GPK-Bericht müssten teilweise drei Personen in einer Zelle mit offener Toilette leben, dies sei aus Sicht der Kommission «unhaltbar und unnötig demütigend». Sie schreibt: «Die GPK erwartet, dass die Haftbedingungen bezüglich der klimatischen Bedingungen und des Rechts auf Privatsphäre verbessert werden.» Erstaunt habe allerdings, dass sich beim Gefängnispersonal offenbar niemand an der offenen Toilette und der fehlenden Privatsphäre der Häftlinge gestört habe, wie GPK-Mitglied Alexandra Dill sagte.

Mangelhafte Amtsführung eines Gerichtspräsidenten

Die GPK schildert auch einen Fall, der eine nicht näher identifizierte Person im Amt eines Gerichtspräsidiums an einem basel-städtischen Gericht betrifft. Demnach erhielt die Kommission bereits im Frühjahr 2021 durch einen Whistleblower Hinweise auf «mögliche Missstände».

Die Vorwürfe an die betreffende Person, welche die GPK in Hearings zusammengetragen hat, betreffen unter anderem «Probleme betreffend die Personalführung, die Zusammenarbeit mit anderen Gerichtsmitgliedern und den Angestellten am Gericht sowie mangelnde Präsenz am Gericht».

Arbeitsaufträge seien via Whatsapp auf private Handys der Mitarbeitenden gesendet worden, «ohne dass die Sicherheit des Kommunikationskanals gewährleistet gewesen wäre.» Zudem sei das Arbeitsklima gegenüber der GPK als «sehr belastet» geschildert worden. Das betroffene Gerichtsmitglied weise sämtliche Vorwürfe zurück. «Die GPK erachtet jedoch die Schilderungen der angehörten Personen für glaubhaft und kommt, auch anhand von eingesehenen Dokumenten, zum Schluss, dass tatsächlich Missstände gegeben waren», heisst es in dem Bericht.

Die Kommission stellt in diesem Fall abschliessend fest, dass es zu wenig «gerichtsinterne Mechanismen» gebe, um Massnahmen bei «Fehlverhalten» oder «unangemessener Amtsführung» zu ergreifen.

Harzige Baubewilligungsverfahren

Auf dem Basler Bauinspektorat stauen sich die Dossiers, die Bewilligungsverfahren dauern teilweise bedeutend länger als die üblichen drei Monate – zum Verdruss von Bauherren und Architekten. Dies ist für die GPK Anlass zur «Sorge», wie sie in ihrem Bericht schreibt. Ein Stau bei den Bewilligungsverfahren sei das letzte, was man derzeit brauchen könne, so von Wartburg. «Was wir hingegen brauchen, sind mehr Wohnungen.»

Nicht nur dauerten die Verfahren zu lange, es werde auf dem Bauinspektorat auch ein «überspitzter Formalismus» praktiziert. Der vorhandene Ermessensspielraum werde «kaum je ausgenutzt», konstatiert die GPK unter Berufung auf Gespräche mit Bauwilligen im Kanton.

«Als weitere Klage vernahm die GPK, dass Entscheidungen oft mit amtsintern bestehenden Weisungen begründet würden, die für Aussenstehende nicht einsehbar und oft auch nicht nachvollziehbar seien», heisst es in dem Bericht weiter. Christian von Wartburg sprach am Dienstag von einer «amorphen Weisungsmasse». Allerdings habe Esther Keller (GLP) als Vorsteherin des Bau- und Verkehrsdepartements gegenüber der Kommission zugesichert, dass sie diesbezüglich eine «neue Denkart» einführen wolle. Sprich: Der Ermessensspielraum solle mehr ausgenutzt werden, Ausnahmen dort gemacht werden, wo sie möglich seien.

Im Bericht wird denn auch festgehalten: «Die GPK erwartet, dass der vorhandene Ermessensspielraum künftig im Sinne verstärkter Kundenorientierung ausgenutzt wird.»

Integrative Schule am Anschlag

Das Prinzip der integrativen Schule steht in Basel-Stadt schon länger in der Kritik. Eine Initiative will zurück zu einem System mit mehr Separation, das Erziehungsdepartement hat seinerseits Entlastungsmassnahmen angekündigt.

Die GPK hält bei diesem Endlosthema den Finger drauf und bestärkt damit die Position derjenigen, die die integrative Schule kritisch betrachten: Es bestehe «dringender Handlungsbedarf», heisst es im Bericht. Die Kommission erwarte, «dass die Massnahmen zur Verbesserung der integrativen Schule zügig zur Umsetzung gelangen und Wirkung zeigen.»
(https://www.bazonline.ch/die-eigene-abteilung-warnte-tanja-soland-vor-messehalle-deal-209307563960)


+++POLIZEI BS
(FB 3 Rosen gegen Grenzen)
Erfahrungsberichte Polizeikontrollen
Kein Respekt für Polizeigewalt
Aymen Amin

“Ich habe denselben Polizisten schon gesehen, wie er auch andere geschlagen hat. Seine Kollegen sind dabei, sie wissen, dass er das tut. Sie alle denken, dass sie das mit mir tun können, weil ich keine Aufenthaltsbewilligung habe. Auch die anderen, die geschlagen wurden, haben für mich so ausgesehen, als ob sie speziell ausgewählt wurden.”

Kein Respekt für Polizeigewalt

Ich wurde schon oft von der Polizei kontrolliert. Ich bin abgewiesener Asylsuchender, kann aber nicht zurück in das Land, aus dem ich hergekommen bin. Die Polizei kontrolliert mich aus irgend einem Grund immer wieder. Es sind rassistische Kontrollen, und es fallen auch immer wieder rassistische Sprüche. So etwas wie vor kurzem ist mir aber noch nie passiert.

Ausgewählt und geschlagen

Ich war im Dreirosenpark mit zwei Freunden. Es war ein schöner Tag, ein normaler Tag. Plötzlich sind drei Polizisten direkt auf uns zugekommen. Einer der drei erschien bereits in aggressiver Stimmung und hat als erstes einen meiner Freunde geschubst. Ich habe gesagt, dass sie uns wie Menschen behandeln sollen. Der Polizist hat geantwortet, dass ich nicht so sprechen und auf den Boden schauen soll. Darauf habe ich gesagt, dass ich das Recht habe, zu sprechen. Er meinte direkt, dass ich zu viel spreche und nun auf den Posten mitkommen muss. Er hat mir Handschellen hinter dem Rücken angelegt und sie sehr eng zusammen zugezogen. Dann hat er mich ins Auto gebracht.

“Ich habe gesagt, dass sie uns wie Menschen behandeln sollen. Der Polizist hat geantwortet, dass ich nicht so sprechen und auf den Boden schauen soll.

Ich habe gefragt, warum er das tut, worauf er antwortete, dass er es tut, weil er es kann.”

Sobald wir im Auto waren, hat er mich in einen Würgegriff genommen und lange Sekunden gewürgt. Ich dachte, ich verliere bald das Bewusstsein, aber ich wollte nicht, damit ich mich noch an alles erinnern kann. Er hat losgelassen und angefangen, mich zu schlagen. Ich habe mich zusammengezogen, um meinen Bauch zu schützen. Das Gesicht konnte ich nicht schützen, da ich in Handschellen war. Immer, wenn Menschen in der Nähe des Autos waren, hat er gestoppt und gewartet, bis sie vorbei gegangen sind.

Nach vielen Schlägen ins Gesicht und in die Seite, hat er die Handschuhe ausgezogen und eine Pause gemacht. Er sagt zu mir, dass er mir nun Respekt beibringen würde. Ich habe gefragt, warum er das tut, worauf er antwortete, dass er es tut, weil er es kann. Nach der kurzen Pause hat er die Handschuhe wieder angezogen. Er hat die Giner in verschiedene Stellen in und um die Augen gedruckt, und auch in die Nasenlöcher. Es hat gewirkt, als ob er gewisse Griffe ausprobiert. Schliesslich hat er mich auch noch mit den Schuhen getreten.

Ich habe gesagt, dass er kein Recht hat, das alles zu tun, und dass ich ihn anzeigen werde. Er hat nur geantwortet, dass mir sowieso niemand glauben wird, da ich keine Aufenthaltsberechtigung habe.

Auf den Boden schauen und nicht reden

Dann sind die anderen beiden Polizisten ins Auto gestiegen, wahrscheinlich waren sie fertig damit, meine Freunde zu kontrollieren. Sie haben mich auf den Clara-Posten gefahren. Auf der Fahrt hat der aggressive Polizist gesagt, dass er mich auf dem Posten weiter schlagen wird. Das haben die anderen beiden nun auch gehört, aber sie haben nicht darauf reagiert. So wusste ich, dass sie Komplizen sind und ich nicht hoffen konnte, dass es nun endet.
Als wir angekommen sind, haben sie mich in ein Zimmer gebracht, in dem keine Kameras angebracht sind. Wir waren alle vier im Zimmer, und der aggressive Polizist hat mich weiter geschlagen. Die anderen beiden standen daneben und haben alles gesehen. Dann musste ich meine Kleider ausziehen.

Als ich dabei war, meine Hosen auszuziehen, hat er mir einen Tritt in den Schritt verpasst. Nochmals habe ich gefragt, warum er das alles macht. Er hat geantwortet, dass ich so Respekt vor der Polizei lernen werde. Ich habe gesagt, dass ich nur eine Frage gestellt habe. Da hat er mich wieder geschlagen und gesagt, ich soll auf den Boden schauen und nicht reden.

Ich musste mich auf den Boden legen und er hat mir mit dem Stiefel auf den Kopf gedrückt. Danach wurde ich in ein anderes Zimmer gebracht, um meine Fingerabdrücke zu nehmen. Als sie mich gehen liessen, haben sie gesagt: “Das nächste Mal, wenn du die Polizei siehst, wirst du Respekt zeigen und deinen Blick senken. Wenn du das nicht machst, dann werden wir dich wieder schlagen, schlimmer als heute.”

Die körperliche Unversehrtheit verloren

Als ich draussen war, habe ich Freunde angerufen, und mich direkt mit ihnen getroffen. Sie haben meine Verletzungen gesehen und sind mit mir auf den Notfall im Krankenhaus gegangen. Ich hatte grosse Schmerzen von all den Schlägen, Tritten und Griffen. Auch jetzt noch, nach einigen Wochen, habe ich Schmerzen im Brustkorb und in den Ohren.

Das ist mir vor wenigen Wochen passiert. Ich merke, dass ich seither mehr zuhause bleibe, dass ich mich in der Öffentlichkeit nicht mehr wohl fühle. Ich gehe kurz einkaufen, und dann schnell wieder nach Hause. Längere Zeit draussen habe ich seither nicht mehr verbracht. Ich merk, dass ich ein Vertrauen verloren habe. Früher war ich gerne unterwegs, habe gerne Menschen getroffen. Jetzt merke ich, dass mich diese selbst erlebte Aggressivität und Gewalt stärker getroffen hat, als ich es zuerst dachte. Ja, ich wurde schon oft kontrolliert, und es war nicht immer gut. Aber ich konnte mich daran gewöhnen, mich darauf einstellen. Nun fühle ich mich ständig bedroht, nicht nur von einer Kontrolle, sondern in meiner körperlichen Unversehrtheit. Ich hoffe, ich werde dieses Gefühl wieder los.

Erzählen, um etwas zu verändern

Ich habe denselben Polizisten schon gesehen, wie er auch andere geschlagen hat. Seine Kollegen sind dabei, sie wissen, dass er das tut. Sie alle denken, dass sie das mit mir tun können, weil ich keine Aufenthaltsbewilligung habe. Auch die andere, die geschlagen wurden, haben für mich so ausgesehen, als ob sie speziell ausgewählt wurden.

Mir ist wichtig, dass die Menschen wissen, was passiert. Solche Geschichten müssen erzählt werden. Die Gesellschaft muss sich damit auseinandersetzen, wie die Polizei mit Migrant*innen umgeht. Ich denke, Polizeigewalt ist ein Weg, um Migrant*innen dazu zu bringen, aus der Schweiz auszureisen. Es ist eine Art, Druck aufzubauen, neben all den anderen Druckmitteln, die wir bereits erleben müssen. Das darf so nicht weitergehen. Was ich erlebt habe, soll niemand anderes erleben. ich hoffe, dass ich meine Geschichte erzähle, hilft, damit so etwas nie wieder passiert.

via No More Komitee
(https://www.facebook.com/permalink.php?story_fbid=pfbid02j8r9w2GrgyzMuUtaeb36vmDYu7F77qR2Q8qijsKgE3b3iQh3P2ftuTmaCUiYTkJzl&id=100063625713191)


+++POLIZEI ZH
Kulturwandel bei der Stadtpolizei Winterthur
Am 1. Februar übernahm Anjan Sartory das Amt als Kommandant der Stadtpolizei Winterthur. Er ist angetreten, um für mehr Diversität und einen Kulturwandel in der Polizei zu sorgen. Spürt man diesen bereits in der Stadt?
https://al-winti.ch/2023/06/05/kulturwandel-bei-der-stadtpolizei/


+++RASSISMUS
Rassismus oder nur Zufall? Armee gerät wegen Zielscheiben ins Visier der Linken
Bei einer Armeeübung Anfang Mai wurden angeblich rassistische Zielscheiben verwendet. Dies behauptet SP-Nationalrätin Brigitte Crottaz – die Armee wehrt sich gegen die Vorwürfe.
https://www.blick.ch/politik/rassismus-oder-nur-zufall-armee-geraet-wegen-zielscheiben-ins-visier-der-linken-id18642156.html


+++RECHTSPOPULISMUS
bzbasel.ch 05.06.2023

Basler SVP-Präsident Pascal Messerli im Interview: «Im Kleinbasel haben wir einen rechtsfreien Raum»

Die SVP Basel-Stadt lehnt Asylunterkünfte in Basler Quartieren ab. Sie fürchtet um die Sicherheit der Anwohnenden. Vor allem im Kleinbasel sei die Sicherheitslage bereits sehr angespannt, sagt der Basler SVP-Präsident Pascal Messerli.

Maria-Elisa Schrade und Patrick Marcolli

Herr Messerli, die SVP Basel-Stadt lehnt ab, dass neben ukrainischen Geflüchteten nun auch Asylsuchende anderer Herkunftsländer die temporären Wohnräume auf dem Erlenmattplatz beziehen sollen. Warum?

Pascal Messerli: Die Sicherheitslage im Erlenmattquartier ist bereits sehr angespannt. Viele Leute sind weggezogen, weil es viel Kriminalität gibt. Eine Kollegin von mir und unserer Vizepräsidentin Laetitia Block wurde fast von drei Männern überfallen. Ein Asylzentrum, in das überwiegend junge Männer ziehen, wird die Sicherheitslage weiter zuspitzen.

Gibt es Zahlen, die belegen, dass es sich im Erlenmattquartier um einen kriminellen Hotspot handelt?

Wenn man sieht, was die Anwohner dort täglich erleben müssen – dass sie sich nicht mehr trauen, rauszugehen, dass ihre Post geklaut wird, dass überall Spritzen herumliegen – dann ist das ein Zustand, den ich beängstigend finde.

In welchem Quartier leben Sie?

Ich wohne in Riehen. Frau Block wohnt direkt neben dem Erlenmattquartier.

Wenn Sie von den Alltagserfahrungen der Anwohnenden im Erlenmattquartier sprechen, beziehen Sie sich also auf die Erfahrungen, die Frau Block dort macht – und ihre gemeinsame Kollegin?

Genau. Und auch auf einen anderen Kollegen, ein ehemaliges Parteimitglied, der ins Baselbiet gezogen ist. Wir erhalten ausserdem einen Haufen Reklamationen. Die Beschwerden der Quartierbevölkerung sind der Hintergrund, warum wir auf diese Problematik aufmerksam machen.

Von den Anwohnenden wird vor allem moniert, es sei nicht offen über die Belegungspläne kommuniziert worden. Aber auf die veränderte Migrationslage hat die Basler Regierung doch keinen Einfluss.

Erst hiess es, die Unterkünfte seien ausschliesslich für ukrainische Familien bestimmt. Jetzt kommen auch junge Männer, die tendenziell schwieriger zu handhaben sind als Frauen und Kinder. Das ist Salamitaktik.

Bei den jungen Männern, auf die Sie sich beziehen, handelt es sich um unbegleitete minderjährige Asylsuchende. Welche konkrete Bedrohung geht Ihrer Meinung nach von diesen Jugendlichen aus?

Kriminalität ist jung, männlich und tritt in Gruppen auf. Ich sage nicht, dass jeder Flüchtling kriminell ist. Aber es gibt durchaus ein gewisses Risiko, dass vom Asylheim aus Kriminalität entsteht und diese ins Quartier überschwappt. Man muss nur schauen, wie es in anderen Asylzentren im Rest der Schweiz oder in Europa abgeht.

Es ist bekannt, dass die Straffälligkeit bei Männern zwischen 18 und 30 Jahren besonders hoch ist. Das ist ein grosser Bevölkerungsanteil im Quartier. Warum bedeuten 15 weitere Jugendliche auf der Erlenmatt für Sie ein derartiges zusätzliches Sicherheitsrisiko?

Wie ich vorhin bereits gesagt habe, wir haben diese Kriminalität bei den jungen Männern, aber auch eine hohe Ausländerkriminalität, das ist statistisch bewiesen. Man kann überall sehen, dass bei Asylzentren die Kriminalität hochgeht. In Liestal hiess es auch, es gebe keinen kausalen Zusammenhang zwischen den Diebstählen im Stedtli und dem Asylzentrum. Aber das war doch naheliegend.

Wir haben uns die räumliche Verteilung von Straftaten im Statistischen Atlas des Bundesamts für Statistik angeschaut – auch hinsichtlich der Straftaten nach dem Ausländer- und Integrationsgesetz. Dabei fällt auf, dass es mitnichten kriminelle Hotspots um die Asylzentren gibt.

Ich kann diese Statistik auf die Schnelle nicht objektiv auswerten. Was mir aber auf den ersten Blick auffällt: Es geht um Straftaten nach Strafgesetzbuch, das Betäubungsmittelgesetz fällt nicht darunter. In diesem Bereich haben wir eine hohe Kriminalität mit Kügelidealern.

Die Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz sinken im Verhältnis zur Bevölkerung kontinuierlich seit 2015, dem Auftakt der sogenannten Flüchtlingskrise.

Im Kleinbasel haben wir einen rechtsfreien Raum. Die sogenannten Kügelidealer können machen was sie wollen. Kontrollen gibt es praktisch keine mehr, da entspricht eine Statistik gemessen an der Bevölkerungszahl nicht der bitteren Realität im Kleinbasel. Basel ist die kriminellste Stadt der Schweiz. Und: In Basel gibt es ein Asylzentrum.

Wenn Sie die Zahlen der Bezirke vergleichen, in denen Asylzentren liegen und schauen, wo die Bezirke verortet sind, müsste Ihnen auffallen, dass eher regionale Trends über die Kriminalität entscheiden. Basel ist ein urbanes Zentrum, das sich an zwei Ländergrenzen befindet.

Selbstverständlich, es gibt überall gewisse Faktoren. Aber wenn wir sehen, was auf der Dreirosenanlage in den letzten Monaten passiert ist – mehrere Messerstechereien, Drogenhandel – sind das Umstände, die wir nicht dulden müssen. Da können wir uns lange auf irgendwelche Statistiken berufen. Fakt ist, Basel ist seit Jahren die kriminellste Stadt und die Sicherheit schafft es nicht einmal in den Legislaturplan der Regierung. Wir wollen, dass es im Kleinbasel deutlich sicherer wird. Aber davon sehe ich nichts.

Mit Stephanie Eymann haben Sie jetzt wieder eine bürgerliche Vorsteherin, die nach Baschi Dürr eine härtere Linie fährt. Nimmt man im Justiz- und Sicherheitsdepartement die Situation gleich wahr wie in Ihrer Partei?

Mit Stephanie Eymann habe ich noch nicht über dieses Thema gesprochen. Ich stelle aber fest, dass sie sehr engagiert ist und eine Linie fährt, die zur Verbesserung führen könnte. Das Problem im Kleinbasel ist allerdings nicht neu. Man hat in den letzten zehn bis zwanzig Jahren viel zu wenig investiert, um das Kleinbasel sicher zu machen.

Sie haben Kügelidealer erwähnt. Die sind zwischen Greifengasse, Claraplatz, Kaserne und Klybeckstrasse sehr sichtbar. Glauben Sie wirklich, das Problem lässt sich allein durch Repressionen lösen?

Ich glaube, wenn das Angebot eingeschränkt wird, gibt es vielleicht irgendwann auch weniger Nachfrage.

Repression in Genussmittel- und Drogenfragen führt zum Gegenteil. Das zeigt die Geschichte.

Die Repressionen sollen sich nicht gegen die Süchtigen richten, aber Drogenhandel ist verboten. Man muss den kriminellen Banden das Handwerk legen. Wir haben im Kleinbasel auch nicht nur Probleme mit Drogen, Menschenhandel ist hier ebenfalls ein Thema. Wenn wir sagen, da kann man nichts machen, ist das eine Bankrotterklärung.

Sie haben auch die Spritzen im Erlenmatt angesprochen. Das ist ein negativer Nebeneffekt der dort gelegenen Kontakt- und Anlaufstelle.

Richtig. Es stört mich, dass der Staat behauptet, da gebe es kein überwiegendes Problem, obwohl die Bevölkerung reklamiert. Auf diesen Wiesen spielen auch Kinder. Da muss man im Zweifelsfall eben zweimal am Tag durchgehen und die Spritzen wegräumen.

Die Drogenabgabestelle ist aber auch Ausdruck einer sehr fortschrittlichen Drogenpolitik der 90er-Jahre. Drogenabhängige können dort sicher konsumieren. Stellen Sie auch dieses Grundsatzprinzip infrage?

Nein, da bin ich sogar bei Ihnen. In dem Bereich bin ich ein bisschen liberaler als meine Partei. Es geht mir aber darum, dass Drogenhandel grundsätzlich verboten ist und wir diesen Kampf verloren haben.

Zur Dreirosenanlage haben Sie gesagt, Gewalt- und Drogendelikte hätten dort massiv zugenommen.

Ja, beziehungsweise sind sie seit Jahren konstant. Und es ist keine Besserung in Sicht.

Aus der Regierungsantwort zu SVP-Grossrat Lorenz Amiets Interpellation geht aber hervor, dass speziell die Zahl der Gewaltdelikte zurückgegangen ist. Die Antwort haben Sie doch gelesen.

Es ist mir schon klar, dass Gewaltdelikte im Vergleich zu Lärm- oder Drogendelikten von der Zahl her weniger sind. Aber es sind trotzdem viel zu viele. Mit den Messerstecherein kann man doch nicht sagen, wir hätten kein Problem im Kleinbasel.

Das sagt auch niemand. Wir erkennen an, dass es sich um einen Hotspot handelt, wo unterschiedlichste Interessengruppen aufeinandertreffen.

Sie geben also zu, dass es sich um einen Hotspot handelt.

Ja. Aber darum geht es uns nicht. Wir kritisieren, dass Sie behaupten, es gebe einen direkten Zusammenhang zwischen unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden und einem Anstieg von Gewalt- und Drogendelikten.

Und ich habe kritisiert, dass Sie in Ihrer Zeitung behaupten, Herr Amiet und Frau Block betrieben Politik auf dem Rücken der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden. Das stimmt doch nicht.

Herr Messerli, Sie schreiben in Ihrer Interpellation zum Erlenmattplatz, die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden seien an bekannten Hotspots wie beispielsweise der Dreirosenanlage verantwortlich für Konflikte, Gewalt und andere Straftaten.

Ich frage lediglich, wie der Regierungsrat sichergehen kann, dass nicht die unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden dort kriminell sind.

Das wurde doch Herrn Amiet längst beantwortet.

Ja, aber wir haben jetzt einen neuen Zustand, weil die Regierung die Zweckänderung des Asylheims vorgenommen hat.

Die Regierung wird wieder antworten, dass nicht in Bezug auf einen einzelnen Ort so spezifische Daten erhoben werden.

Ich bin gespannt, was der Regierungsrat antworten wird.



Hintergrund

Analyse zum SVP-Diskurs in der Asyl- und Sicherheitspolitik

Diese Zeitung hat vor kurzem eine Analyse publiziert, die der SVP Basel-Stadt vorwirft, sie betreibe Wahlkampf auf dem Rücken der Schwächsten. Die SVP lehnt diesen Vorwurf ab.

Der Hintergrund zur Entstehung der Analyse: Im April reichte der Basler SVP-Fraktionspräsident Lorenz Amiet bei der Regierung eine Interpellation ein, in der er die Dreirosenanlage mit einem «Failed State» vergleicht und aus Sicht unserer Autorin suggeriert, die Zunahme unbegleiteter minderjähriger Asylsuchender (UMA) stehe in direktem Zusammenhang mit einer steigenden Zahl von Gewalt- und Drogendelikten.

Amiet ist nicht der Einzige in der SVP: Als Ende Mai die Regierung bekannt gab, aufgrund der veränderten Migrationslage auf dem Erlenmattplatz unter anderem auch eine Wohngruppe für unbegleitete minderjährige Asylsuchende einrichten zu wollen, schrieb SVP-Vizepräsidentin Laetitia Block auf dem Kurznachrichtendienst Twitter: «Im Erlenmatt ein Provisorium für ukrainische Familien planen und dann mit jungen männlichen Asylanten belegen? So nicht, liebe Regierung, ihr habt ja nicht einmal die aktuelle Sicherheitslage im Griff. Wir werden uns wehren!»

Wenige Tage später reichte SVP-Präsident Pascal Messerli eine Interpellation ein. Darin schreibt Messerli, die Unterkünfte auf dem Erlenmattplatz würden nun entgegen der ursprünglichen Ankündigung der Regierung auch Wirtschaftsmigranten zur Verfügung gestellt. «Hinzu kommt, dass es im Zusammenhang mit den UMA bereits an anderer Stelle – namentlich rund um die Dreirosenanlage – zu erheblichen Konflikten, Gewalt- und Straftaten gekommen ist.» Weiter stellt Messerli die Frage: «Wie wird sichergestellt, dass die UMA dort (Erlenmattplatz, Anm. d. Red.), nicht wie an bekannten Hotspots wie beispielsweise der Dreirosenanlage, verantwortlich für Konflikte, Gewalt und andere Straftaten sind?»
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/reaktion-basler-svp-praesident-pascal-messerli-im-interview-im-kleinbasel-haben-wir-einen-rechtsfreien-raum-ld.2466506)


+++RECHTSEXTREMISMUS
Nazi-Vorwürfe gegen ukrainischen Sänger: Piwowarow tritt nach Absage am Bürkliplatz auf
Hunderte jubeln dem ukrainischen Sänger an einem Protestauftritt zu. Die Stadt Zürich sagte sein offizielles Konzert im Jugendhaus Dynamo ab – wegen Sicherheitsbedenken.
https://www.tagesanzeiger.ch/piwowarow-tritt-nach-absage-am-buerkliplatz-auf-966459156319
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/region-limmattal/zuerichschlieren-auch-der-salmen-in-schlieren-sagt-das-konzert-des-ukrainischen-musikers-artem-pivovarov-ab-ld.2468250


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Befreiungsaktion an Coronademo in Aarau: Gericht verurteilt vier Männer wegen Gewalt gegen Polizisten
Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte: Dafür sind vier Teilnehmer der Coronademo vom 8. Mai 2021 in Aarau verurteilt worden. Die Beschuldigten griffen bei der Befreiung eines Massnahmenkritikers die Polizei an. Die ausgefällten Geldstrafen – in einem Fall unbedingt – wollen die Angeklagten akzeptieren.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/prozess-befreiungsaktion-an-coronademo-in-aarau-vor-zwei-jahren-gericht-verurteilt-vier-maenner-wegen-gewalt-gegen-polizisten-ld.2468680
-> https://www.swissinfo.ch/ger/bezirksgericht-aargau-bestaetigt-geldstrafen-fuer-corona-gewalttaeter/48570232
-> https://www.watson.ch/schweiz/aargau/833537048-geldstrafen-fuer-zuercher-corona-pruegler-von-aarau-urteil-bestaetigt
-> https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/aargau/teilnahme-an-unbewilligter-demo-corona-gewalttaeter-kassieren-geldstrafen-id18642656.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/demo-teilnehmer-wegen-gewalt-gegen-polizisten-verurteilt?id=12399988
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/unbewilligte-demo-in-aarau-gewalt-gegen-polizei-corona-demonstranten-verurteilt
-> https://www.telem1.ch/aktuell/handgreiflich-weil-sie-polizisten-angegriffen-haben-verurteilt-das-bezirksgericht-aarau-vier-corona-demonstranten-151890581
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/angeklagter-wenn-man-eine-ohrfeige-bekommt-gibt-man-eine-zurueck-151888748?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151888286
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/aarauer-gericht-verurteilt-vier-maenner-wegen-gewalt-gegen-polizisten-151883873?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151887063


Daniel Stricker kündet Parteigründung an
Der Corona-Massnahmenkritiker Daniel Stricker hat angekündigt, eine neue Partei zu gründen und stellt eine Kandidatur für die Nationalratswahlen in Aussicht.
https://www.nau.ch/politik/regional/daniel-stricker-kundet-parteigrundung-an-66512362



thurgauerzeitung.ch 06.06.2023

Häuptling Stricker gründet einen neuen Stamm: Thurgauer Massnahmenkritiker will für die Freiheitspartei in den Nationalrat

Mit seinem Internetfernsehen machte sich Daniel Stricker von Tobel aus in der Szene der Coronamassnahmen-Gegner bekannt. Nun erwägt er eine Nationalratskandidatur für die von ihm gegründete Freiheitspartei. Im zürcherischen Volketswil will er eine Bühne bieten für Leute, die anderswo gecancelt werden.

Thomas Wunderlin

Bekleidet wie der Indianerhäuptling in der Verfilmung von Karl Mays Romanen singt der 52-jährige Daniel Stricker aus Tobel: «Make die Schweiz Winnetou again.» Mit dem professionell gemachten Video kündigt der ehemalige Inhaber einer Videothek in Wil die Gründung einer eigenen Partei an. «Am 11. Juni erhält die Schweiz mit der Freiheitspartei eine neue Stimme an der Schnittstelle von Politik und Kultur», schreibt Stricker in einer Medienmitteilung.

Die Freiheitspartei habe das Ziel, den Bürgern Freiheit zurückzugeben. Sie lehne weitere Gesetze und höhere Abgaben ab. «Wir vertreten die einfachen Leute, die genug haben von der Plünderung durch Politik und Behörden», erklärt Stricker und teilt mit, dass er eine Nationalratskandidatur erwäge.

Nur der Häuptling allein würde kandidieren

Trotz des satirischen Auftritts sei die Parteigründung «sehr ernst gemeint», versichert Stricker auf Anfrage. Sein Ziel sei es, dass die Partei bis August eine vierstellige Mitgliederzahl erreiche. Er habe schon eine Anzahl Interessenten in diesem Bereich. Die Partei werde einen Mitgliederbeitrag in «üblicher Höhe» verlangen, im Bereich zwischen 150 und 200 Franken pro Jahr.

Sollte er für den Nationalrat kandidieren, würde er es im Thurgau tun. Die Freiheitspartei solle aber schweizweit tätig werden. Im Thurgau würde er 15 Prozent Wählerstimmen für einen Sitz benötigen, was «kurzfristig schwierig» wäre. Er suche keine weiteren Kandidaten für seine Liste: «Als Häuptling muss ich nicht andere an Bord nehmen. Ich bin allein genug.» Und kündigt «einen tollen Wahlkampf an, wie ihn der Thurgau noch nie gesehen hat».

Die ehemalige Autopartei war von 1994 bis 2009 unter dem Namen Freiheits-Partei aufgetreten. Er habe von ehemaligen Exponenten das Namensrecht und die Domain abgekauft, sagt Stricker.

Auch die FDP könne ihm die Freiheit nicht streitig machen. Sie kümmere sich nicht mehr darum, sondern «nur noch um Wetter und Steuererhöhungen». Damit macht Stricker deutlich, dass ihm der Kampf gegen den Klimawandel kein Anliegen ist: «Ich freue mich auf Palmen am Bodensee.»

Für ein Ja braucht es eine Zweidrittelmehrheit, sonst heisst es Nein

Die Freiheitspartei werde konsequent neue Gesetze ablehnen: «Wir werden zu allem Nein sagen.» Allerdings lässt Stricker die Möglichkeit offen, dass seine zukünftige Partei trotzdem eine Ja-Parole beschliesst. Dafür würde es aber parteiintern eine Zweidrittelmehrheit brauchen. «Bei 52 Prozent Ja ist es doch ein Nein.»

Winnetou verkörpert für ihn das «Beste im Mensch». Der Indianerhäuptling stehe «für Freiheit, Ehre, Erdverbundenheit, für Freundschaft über kulturelle Grenzen hinweg, für die gute alte Zeit».

Stricker wurde während der Pandemie als Massnahmenkritiker mit seinem Stricker-TV bekannt, das er von seiner Küche in Tobel übers Internet verbreitete. Zum Stichwort Corona sagt er heute: «Es wird wohl wieder mal ein Pfnüsel kommen. Es wird immer neuer Mist kommen, der uns entrechtet und verarmt.» Dazu zählt er «die unnötige Unterstützung für einen Krieg, der uns nichts angeht».

Die Freiheitspartei ist laut Stricker auch ein Kulturverein, der im Dancing Pasadena im zürcherischen Volketswil «allen eine Bühne bieten werde, die anderswo gecancelt werden». Dazu zählt er sich selber. Auf seiner Tour im Frühjahr habe er beispielsweise in Winterthur von 11 Veranstaltungsorten Absagen erhalten; nur einer habe zugesagt.
(https://www.thurgauerzeitung.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/youtuber-haeuptling-stricker-gruendet-einen-neuen-stamm-thurgauer-massnahmenkritiker-will-fuer-die-freiheitspartei-in-den-nationalrat-ld.2468061)



Herisau AR: Flyer von Verschwörungstheoretikern sorgt für Aufsehen – Anzeige erstattet
In der Gemeinde Herisau AR wurden in den letzten Tagen Flugblätter mit verschwörungstheoretischem Inhalt verteilt, die laut der Gemeinde haltlose Thesen über die Behörden aufstellen. Die Gemeinde hat nun Anzeige gegen Unbekannt erstattet.
https://www.20min.ch/story/haltlose-thesen-in-flyer-gemeinde-erstattet-anzeige-895212534496



tagblatt.ch 06.06.2023

Missbräuchliche Verwendung des Logos: Gemeinde Herisau zeigt Staatsverweigerer an

Staatsverweigerer und mutmassliche Reichsbürger-Sympathisanten haben Herisau mit einem Flugblatt eingedeckt, auf dem sie der Gemeinde heftige Vorwürfe machen. Diese geht nun rechtlich gegen die Verantwortlichen vor.

Ramona Koller

Am Freitag fanden diverse Herisauerinnen und Herisauer einen kuriosen Flyer in ihrem Briefkasten. Mit Gemeindelogo und Herisauer Wappen sieht das Flugblatt aus, wie ein Dokument der Gemeinde. In Wahrheit stammt es aber von einer anonymen Gruppierung.

Der Flyer, auf dem gross die Adresse der Website www.herisau.info prangt, wirft neben dem Kanton und dem Bund auch der Gemeinde Herisau vor, eine private Firma statt einer öffentlichen Institution zu sein. Die Behauptungen, die auf der dazugehörigen Website verbreitet werden, lehnen sich an die Erzählungen sogenannter Reichsbürger an. Diese sind vor allem in Deutschland beheimatet und behaupten, dass es die Bundesrepublik Deutschland gar nicht gebe und deshalb auch ihre Organe nicht befugt seien, staatliche Funktionen wahrzunehmen.

Staatsverweigerer gibt es nicht wenige

Der Soziologe und Kriminologe Dirk Baier ging in einem Interview mit dem SRF-Regionaljournal im März diesen Jahres auf die Szene in der Schweiz ein. Er sagte, eine Reichsbürger-Szene mit dem Deutschen Reich als Bezugspunkt ist in der Schweiz eher selten. «Es sind meist deutsche Übergesiedelte, die von der Schweiz aus aktiv sind. Eine deutlich grössere Gruppe sind die Staatsverweigerer, die mit irgendwelchen Motiven das Schweizer Rechtssystem und die politische Ordnung infrage stellen. Davon gibt es nicht wenige in der Schweiz», so Baier.

Wer nun denkt, dass sich nur Herisau mit einem Vorwurf dieser Art konfrontiert sieht, hat weit gefehlt. Auch in Wittenbach, im Kanton Basel-Land und in Glarus wurden Websites wie herisau.info aufgeschaltet. Die Texte, beispielsweise der Wittenbacher und der Herisauer Seite, ähneln sich im Wortlaut dabei stark und sind teilweise sogar dieselben. Auf der Herisauer Version steht zudem an zwei Stellen Wittenbach respektive Wittenbacher, statt Herisau.

Die Annahme liegt also nahe, dass es sich bei den Personen hinter dem Flyer und der Website um eine schweizweit tätige Gruppierung von Staatsverweigerern handelt. Eine Anfrage der «Appenzeller Zeitung» an die auf der Website als Kontakt angegebene Mailadresse blieb bislang unbeantwortet. Während die anderen betroffenen Gemeinden laut Medienberichten massenhaft mit Briefen eingedeckt werden, blieb die Gemeinde Herisau bislang davor verschont. «Wir haben nur vereinzelt Rückfragen von Bürgerinnen und Bürgern erhalten», sagt Johannes Wey, Kommunikationsverantwortlicher der Gemeinde.

Die Gemeinde reagierte am Dienstag schliesslich mit einer Medienmitteilung. Darin spricht sie von «haltlosen Thesen über die angeblich im Geheimen erfolgte Privatisierung der Gemeindebehörden.» Die nicht namentlich bekannten Urheber der Website wurden von der Gemeinde laut der Mitteilung dazu aufgefordert, das missbräuchlich verwendete Gemeindewappen, das Gemeindelogo sowie weiteres Bildmaterial der Gemeinde von ihrer Website zu löschen. Des Weiteren hat die Gemeinde Herisau Anzeige gegen unbekannt erstattet. Die Gemeinde Herisau trifft zudem weitere rechtliche Abklärungen.



Staatsverweigerer in der Schweiz

Staatsverweigerer zweifeln die Legitimität der Gemeinden, der Kantone, des Bunds und der Behörden an und vermuten dahinter privat geführte Firmen. Sie bezahlen deshalb oftmals keine Steuern und lehnen sich gegen Behörden wie die Polizei auf. Es gibt Seminare und Veranstaltungen von Staatsverweigerern für interessierte Bürgerinnen und Bürger. Die Bewegung entstand aus der deutschen Reichsbürger-Bewegung, welche die Bundesrepublik Deutschland anzweifelt.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/appenzellerland/flugblatt-missbraeuchliche-verwendung-des-logos-gemeinde-herisau-zeigt-staatsverweigerer-an-ld.2467972)


+++HISTORY
Ärger über neue Ausstellung – Der Antisemit Richard Wagner: Linke fordern Aufarbeitung
Dass Richard Wagner ein Antisemit war, sei in der Forschung unbestritten, finden die Grünen und die SP in der Stadt Luzern. Die neue Ausstellung über den Komponisten berücksichtige das zu wenig.
https://www.zentralplus.ch/geschichte/der-antisemit-richard-wagner-linke-fordern-aufarbeitung-2551434/


+++KNAST 2
ajour.ch 06.06.2023

Festgenommen auf Verdacht: Verhaftet und nach wenigen Stunden im Bieler Gefängnis tot – wie kann so etwas passieren?

Todesfall im Regionalgefängnis Biel: Hat das Personal alles unternommen, um das zu verhindern? Kritiker meinen: Man hätte mehr tun können. Das Kantonale Justizamt wehrt sich.

Brigitte Jeckelmann

Mann in Zelle tot aufgefunden.Dritteinwirkung ausgeschlossen.Die Todesursache wird untersucht. Aktuelle Erkenntnisse deuten auf Suizid hin.» Solche Mitteilungen über Todesfälle in Schweizer Gefängnissen versenden die Staatsanwaltschaften schweizweit jedes Jahr bis zu 30 Mal an die Medien.

Jüngst geschah es im Regionalgefängnis Biel, wo das Aufsichtspersonal einen 58-jährigen Schweizer nur wenige Stunden nach der Festnahme am folgenden Morgen leblos aufgefunden hatte. Die Kantonspolizei Bern schreibt auf Anfrage: Eine «Selbsthandlung» dürfte als Todesursache im Vordergrund stehen.

329 Menschen fanden in den letzten zehn Jahren im Freiheitsentzug den Tod. Fast die Hälfte von ihnen nahm sich das Leben. Mehr als jeder Zweite davon befand sich in Untersuchungshaft. Das zeigen die Zahlen des Bundesamtes für Statistik. Wie kann so etwas überhaupt passieren? Und warum gerade in der Untersuchungshaft?

Bedingungen unmenschlich

Für den Berner Strafverteidiger Julian Burkhalter liegen die Gründe auf der Hand: «Die Bedingungen in der Untersuchungshaft sind unmenschlich.» Sie sind rigider als jene im Strafvollzug. Das ist paradox. Denn ein Mensch in Untersuchungshaft gilt als unschuldig. Noch hat zu diesem Zeitpunkt keine Verhandlung vor Gericht stattgefunden, kein Richter ein Urteil gesprochen. Burkhalter: «Die Menschen werden aber bereits zu Schuldigen gestempelt, das ist inakzeptabel.»

Betroffene verbringen nicht selten Tage, Wochen, manchmal sogar Monate oder gar Jahre in der Untersuchungshaft in einer winzigen Einzelzelle. Und dies oft 23 von 24 Stunden. Einzig kurze Spaziergänge im Gefängnishof sind gestattet. Besuche von Angehörigen und dem Anwalt sind auf ein Minimum beschränkt.

Und wenn, steht eine Trennwand zwischen ihnen. Den Menschen in der Untersuchungshaft wird weder ihr Handy noch der Computer gelassen. Dies, um eine eventuelle Verdunkelungsgefahr zu verhindern.

Im Vollzug dagegen sind die Häftlinge nicht alleine. Sie gehen einer Beschäftigung nach, ihr Alltag ist strukturiert. Julian Burkhalter ist nicht erstaunt, dass sich so viele Menschen in Untersuchungshaft das Leben nehmen. Man müsse sich nur schon mal den Ablauf bewusst machen:

Jemand erstattet Anzeige gegen eine Person. Dann rückt die Polizei aus und nimmt diese fest. Aus heiterem Himmel, ohne Vorwarnung. Sie entzieht der betroffenen Person damit die persönliche Freiheit, legt sie in Handschellen.

Burkhalter: «Für jemanden, der zuvor noch nie im Gefängnis war, ist das ein brutaler Schock.» Das Vorgehen bezeichnet er als hochproblematisch. Denn gegen den Beschuldigten bestehe zu diesem Zeitpunkt lediglich eine Tathypothese.

Um eine Person in Untersuchungshaft zu versetzen, verlangt das Gesetz einen dringenden Tatverdacht für ein besonders schwerwiegendes Delikt. Die Praxis zeige jedoch ein anderes Bild: Der dringende Tatverdacht sei ein dehnbarer Begriff, sagt Burkhalter.

Anti-Folterkommission eingeschaltet

Die Bedingungen in der Untersuchungshaft in Schweizer Gefängnissen stehen schon lange in der Kritik. 2015 hat ein Team von Rechtswissenschaftlern im Auftrag der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) die menschenrechtlichen Standards und die Umsetzung in einer breit angelegten Studie analysiert und im letzten Jahr aktualisiert.

Federführend war Jörg Künzli, Professor für Staats- und Völkerrecht am Institut für öffentliches Recht der Universität Bern. In Bezug auf die Prävention stellt die Studie der Schweiz ein schlechtes Zeugnis aus. Vor allem zu Beginn der Haft sollten gemäss Künzli gefährdete Personen bei einem entsprechenden Verdacht rund um die Uhr bewacht werden. Das sei gerade in kleineren Gefängnissen mit wenig Personal oft nicht möglich.

Aber gerade die ersten Stunden und Tage sind ausschlaggebend. «Ein Suizid kurz nach der erstmaligen Inhaftierung erfolgt häufig im Affekt und in Zusammenhang mit einem ‹Haftschock›», sagt Künzli. Um dieser Gefahr vorzubeugen, sei eine möglichst baldige medizinische Untersuchung besonders wichtig. Nur so liesse sich das Risiko für einen Suizid erkennen. Zudem mildere die Aufmerksamkeit den Schock.

Staat in der Verantwortung

Das Gesetz sagt: Sobald der Staat einer Person die Freiheit entzieht und sie einsperrt, hat er eine Fürsorgepflicht. Der Staat muss alles unternehmen, damit die Person nicht zu Schaden kommt. In der Zeit zwischen der Festnahme und seinem Tod befand sich der 58-jährige Bieler in Polizeigewahrsam, der sogenannten vorläufigen Festnahme. Man hatte ihn laut Auskunft der Kantonspolizei Bern bereits in eine Zelle im Regionalgefängnis überführt. Am Folgetag hätte ihm die Staatsanwaltschaft die Haft eröffnet.

Die Strafprozessordnung sieht vor, dass die Betroffenen innerhalb von 24 Stunden entweder freikommen oder vor den Staatsanwalt gelangen. Maximal 48 Stunden nach der Festnahme muss der Staatsanwalt beim Zwangsmassnahmengericht einen Antrag auf Untersuchungshaft gestellt haben. Dieses muss seinen Entscheid innert zwei Tagen treffen.

So oder so: Ob Untersuchungshaft oder Polizeigewahrsam; es gelten dieselben Regeln. Der Staat hat eine Person in seine Obhut genommen und trägt somit die Verantwortung für deren Wohlergehen.

Keine Hinweise auf Suizid

Hat das Regionalgefängnis Biel in diesem Fall alles unternommen, um einen Suizid zu verhindern? Weder die Polizei noch das Gesundheitspersonal im Regionalgefängnis hätten Hinweise auf eine Suizidgefährdung festgestellt, sagt Olivier Aebischer, Medienverantwortlicher beim Kantonalen Amt für Justizvollzug. Deshalb habe man den Mann so überwacht wie alle anderen eingewiesenen Personen auch.

Aebischer ist überzeugt, dass man dem Regionalgefängnis diesbezüglich keine Vorwürfe machen könne: «Trotz ausführlichen Präventionskonzepten, entsprechender Ausbildung des Personals und speziellem Mobiliar ist eine absolute Selbstverletzungs- und Suizidprävention nicht möglich.»

Wie Aebischer sagt, verfügt das Regionalgefängnis Biel über ein Sicherheitskonzept mit einem Merkblatt über die Prävention von Suiziden. Zudem gehöre das Thema zur Grundausbildung, welche die Mitarbeitenden am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Justizvollzug absolvieren.

In den letzten zehn Jahren hatte es laut Aebischer am Regionalgefängnis keinen Suizid gegeben. Zumindest vor zwei Jahren war es aber fast dazu gekommen, als ein Häftling trotz Videoüberwachung die Arrestzelle in Brand stecken konnte und sich dabei lebensgefährlich verletzt hatte. Das Obergericht hat den Mann kürzlich der vorsätzlichen Brandstiftung schuldig gesprochen. Der Fall liegt jetzt beim Bundesgericht.

Wie die Kantonspolizei Bern auf Anfrage schreibt, hatte man beim 58-Jährigen keinen Arzt aufgeboten. Das ist auch nicht vorgeschrieben, sagt Benjamin Brägger. Der Fachspezialist ist seit über 30 Jahren im Strafvollzug tätig. Unter anderem war er Leiter eines Amts für Justizvollzug, hat Strafanstalten geführt, lehrt am Schweizerischen Kompetenzzentrum für Justizvollzug und an Universitäten.

Arzt nur bei Verdacht

Laut Brägger gilt in der Schweiz: Eine medizinische Untersuchung durch eine Gesundheitsfachperson – zum Beispiel eine Pflegefachfrau – muss innerhalb von 24 Stunden nach der Festnahme stattfinden. Dabei kläre man den Zustand eines Menschen ab, ob er Medikamente brauche, kontrolliere Puls und Blutdruck. Zudem führe man ein Gespräch, bei dem man auch nach dem seelischen Befinden frage.

Brägger: «Es ist schwierig, festzustellen, ob jemand suizidgefährdet ist, denn manche Menschen öffnen sich nicht.» Aber bei Verdacht würden die Gesundheitsfachleute sofort reagieren und einen Arzt beiziehen. In einem ersten Schritt sei dies ein Allgemeinmediziner, falls nötig auch ein Psychiater.

Reicht das? Nein – das finden sowohl der Strafverteidiger Julian Burkhalter als auch der Berner Verein humanrights.ch. Dieser setzt sich für die Rechte von Menschen im Freiheitsentzug ein und führt ein Beratungstelefon. Juristin Alexandra Hansen spricht Klartext: «Unwürdige Haftbedingungen können Menschen, die psychisch labil sind, in den Tod treiben.» Todesfälle müssten zwingend in jedem Fall und unabhängig aufgeklärt werden.

Wie Burkhalter fordert auch humanrights.ch eine routinemässige und professionellere Abklärung der psychischen Verfassung bei Menschen, die in U-Haft versetzt werden sollen. Auf seiner Website beschreibt der Verein die Missstände rund um die Untersuchungshaft ausführlich und übt harsche Kritik am Rechtsstaat. Dem Grundsatz, dass eine Person während eines Strafverfahrens in Freiheit bleibt, werde kaum Rechnung getragen.

Die besonders restriktive Praxis der Schweiz zeigt sich auch darin, dass 2019 fast die Hälfte aller inhaftierten Personen in Untersuchungshaft waren. In Europa ist das ein Spitzenwert. Besonders problematisch ist die Einzelhaft. Die Isolation kann nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu einer Zerstörung der Persönlichkeit führen. Dies komme einer unmenschlichen Behandlung gleich und stelle eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention dar, heisst es im Artikel auf humanrights.ch.

Wider die Grundrechte

Die Haftbedingungen sind in den Kantonen unterschiedlich geregelt und können auch von Institution zu Institution anders sein. Verbesserungen kamen erst in Gang, seit sich die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) des Themas angenommen hat.

Das kann Maurizio Albisetti Bernasconi bestätigen. Der Bundesstrafrichter ist Mitglied der NKVF. Er kritisiert die Missstände mit deutlichen Worten: «Mit Blick auf die Unschuldsvermutung ist die Kommission der Ansicht, dass Zelleneinschlüsse von mehr als zwanzig Stunden für Personen in Untersuchungshaft grundrechtswidrig sind.»

Dennoch treffe die Kommission immer wieder auf Personen, die 23 Stunden in ihren Zellen eingeschlossen seien. Die Kommission empfehle, den Gruppenvollzug in Untersuchungshaft zu fördern.

Als gutes Beispiel nennt er den Kanton Zürich, der 2017 eine Reform eingeleitet hat. Seither sind dort die Zellentüren tagsüber geöffnet, die Häftlinge dürfen sich bis zu acht Stunden täglich bewegen. Zudem können sie sich weiterbilden und Besuche sind sowohl abends als auch an Wochenenden erlaubt.

Eine menschliche Behandlung der Untersuchungshäftlinge fördere die Wiedereingliederung in die Gesellschaft, was letztlich das Ziel sei, sagt Albisetti Bernasconi. Für ihn ist klar: «Ein Untersuchungshäftling muss wie ein Unschuldiger behandelt werden.» Zumal Menschen in einer solchen Situation im Ausnahmezustand seien. Gerade dann brauchten sie Verständnis und Aufmerksamkeit.

Eine zentrale Rolle spiele dabei das Gefängnispersonal. Es sollten genügend Ressourcen vorhanden sein, um die Menschen betreuen zu können. Zudem müsse das Personal gut geschult sein, was aber nicht immer der Fall sei.

Dem stimmt Vollzugsspezialist Benjamin Brägger zu: Wie er feststellt, sind Gefängnisse und Vollzugsanstalten in der Schweiz in den letzten Jahren mehr und mehr sensibilisiert auf das Thema Suizid. Vielerorts werde das Personal speziell ausgebildet.

Dennoch: Man könne einen Suizid nicht in jedem Fall verhindern. Wenn man das wolle, müsse man die Menschen anketten und permanent per Video überwachen. Brägger: «Das lassen sowohl das Gesetz als auch die Menschenwürde nicht zu.»

Die Vorstellung, dass man alle Möglichkeiten für einen Suizid aus dem Weg räumt, indem man den Häftlingen etwa die Schnürsenkel und den Hosengurt abnimmt, gilt gemäss Brägger längst nicht mehr. Das habe er früher beim Militär noch erlebt, wenn man Soldaten mit Arrest bestraft habe. Für diese sei es erniedrigend gewesen, mit schlecht sitzenden Schuhen und rutschenden Hosen im Gefängnishof spazieren gehen zu müssen. Das sei nicht verhältnismässig, sagt Brägger.

Ob jemand in Untersuchungshaft kommt oder nicht, entscheidet das Zwangsmassnahmengericht. Die Anordnung dazu trifft der Staatsanwalt. In seinen Händen liegt die ganze Macht. Das Gesetz sagt: Im Grundsatz soll der Beschuldigte in Freiheit verbleiben. Untersuchungshaft ist die Ultima Ratio. Daneben gibt es Alternativen wie zum Beispiel ein elektronisches Monitoring, die Hinterlegung eines Geldbetrags (Kaution) oder ein Rayon- und Kontaktverbot.

Doch die Zahlen in der Studie von Jörg Künzli zeichnen ein anderes Bild: Die Gerichte entscheiden sich zu fast hundert Prozent für die Untersuchungshaft. Warum das so ist, kann sich Benjamin Brägger erklären: Bei einer U-Haft seien die Beschuldigten ständig vor Ort verfügbar, somit sei dies für die Staatsanwaltschaften bequemer. Auch er plädiert für weniger einschneidende Haftformen.

Es kann jeden treffen

Etwa drei Viertel aller Untersuchungshäftlinge sind Ausländer, die Hälfte von ihnen ohne Aufenthaltsbewilligung. Es kann aber jeden treffen. Das verdeutlicht Strafverteidiger Julian Burkhalter an einem Beispiel aus seiner Praxis: Nach über 40 Ehejahren verhaftete die Polizei einen 68-jährigen Mann.

Seine Frau hatte ihn angezeigt, weil sie sich angeblich von ihm bedroht fühlte. Das Ehepaar war in Trennung, der Mann blieb in der gemeinsamen Wohnung, «seine Frau wollte ihn dort raushaben», erzählt Burkhalter.

So sei der Mann in Untersuchungshaft gekommen, zuckerkrank und zudem übergewichtig. Die medizinische Versorgung bezeichnet Burkhalter als mangelhaft. Der Mann habe auch deswegen einen Herzinfarkt erlitten. Ganze 87 Tage verbrachte er alleine in einer winzigen Zelle, abgeschnitten von der Aussenwelt.

Am Ende habe sich herausgestellt, dass die Frau übertrieben und sie sich gar nicht wirklich bedroht gefühlt habe. Nun stehe ein Freispruch bevor. Burkhalter: «Aber das nützt ihm nichts mehr, er hat seine Würde verloren, die Ehre ist ruiniert, das Leben zerstört.»

Es sind solche Überlegungen, die nach der Erfahrung von Vollzugsexperte Benjamin Brägger dazu führen, dass sich Untersuchungshäftlinge das Leben nehmen. In der Fachsprache nenne man das einen Bilanzselbstmord.

Brägger: «Der Häftling kommt zum Schluss, dass sein ganzes Leben gescheitert ist und ihm kein Ausweg bleibt.» Womöglich gingen auch dem 58-Jährigen im Bieler Regionalgefängnis ähnliche Gedanken durch den Kopf. Es wird sein Geheimnis bleiben.

Gesetz eine Bedrohung?

Die Regeln für die Untersuchungshaft gelten seit der Einführung der eidgenössischen Strafprozessordnung im Jahr 2011. Für Verbesserungen bräuchte es eine Änderung dieses Gesetzes.

Vor fünf Jahren haben drei Zürcher Juristen ein Buch über die Untersuchungshaft veröffentlicht. Im Vorwort zieht der Freiburger Strafrechtsprofessor Marcel Alexander Niggli ein bedenkliches Fazit:

Das Strafprozessrecht solle sicherstellen, dass kein Unschuldiger verfolgt und bestraft werde. Es scheine, als sei es zum Instrument mutiert, das sicherstellen solle, dass kein Schuldiger freikomme. Wenn das aber zutreffen sollte, so stelle der Strafprozess für die Unschuldigen, also letztlich für uns alle oder doch die ganz grosse, überwiegende Mehrheit, eine handfeste Bedrohung dar, der man eben gerade nicht dadurch entkommen könne, dass man unschuldig sei. Niggli schliesst: «Unschuld alleine, so scheint es fast, reicht heutzutage nicht mehr aus.»

Das Buch «Untersuchungshaft – ein Leitfaden für die Praxis» ist erhältlich bei den Autoren: https://www.u-haft.ch/buch
(https://ajour.ch/de/story/96148/verhaftet-und-nach-wenigen-stunden-im-bieler-gef%C3%A4ngnis-tot-wie-kann-so-etwas-passieren)