Medienspiegel 4. Juni 2023

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+++SCHWEIZ
NZZ am Sonntag 04.06.2023

Hilfswerk lässt Asylsuchende allein

Das Heks hat rund 450 von 500 Asylsuchende nicht an wichtige Gespräche begleitet. Mitarbeitende sagen, sie könnten nicht mehr hinter ihrer Arbeit stehen.

Ladina Triaca

Es war der grosse Erfolg von SP-Bundesrätin Simonetta Sommaruga: Im Sommer 2016 stimmten 67 Prozent der Bevölkerung einer Änderung des Asylgesetzes zu. Möglich geworden war dies dank einem Kompromiss: Einerseits wurden die Asylverfahren beschleunigt. Andererseits erhielten die Asylsuchenden eine kostenlose Rechtsvertretung.

Heute, vier Jahre nach dem Inkrafttreten der Reform, sind die Asylzahlen hoch. Und es zeigt sich: Das System funktioniert nicht überall.

In der Kritik steht eine Organisation: das Hilfswerk der Evangelisch-reformierten Kirche Schweiz, Heks. Es ist im Auftrag des Bundes für die Rechtsvertretung der Asylsuchenden in der Nordwestschweiz und in der Ostschweiz zuständig. Wie Recherchen der «NZZ am Sonntag» zeigen, hat das Hilfswerk seine Rechtsvertretung in der Nordwestschweiz in den vergangenen Monaten stark reduziert.

Das sorgt bei den Mitarbeitenden für Unmut: «Das Heks nimmt seine Rolle als Rechtsschutz nicht wahr», sagt eine Person. Eine andere meint: «Wir machen nur noch Massenabfertigung.» In den vergangenen Monaten ist die Situation eskaliert: Zehn Rechtsvertreter und eine Teamleitung haben beim Heks in der Nordwestschweiz in diesem Jahr gekündigt. Diese Zeitung hat mit mehreren ehemaligen und jetzigen Angestellten gesprochen. Sie sind frustriert, ausgebrannt oder können nicht mehr hinter ihrer Arbeit stehen.

Das Problem zeigt sich vor allem bei den sogenannten Dublin-Gesprächen. Das sind jene Gespräche, in denen geprüft wird, welches Land für das Asylverfahren einer Person zuständig ist. In diesem Jahr hat das Heks in der Nordwestschweiz gemäss eigenen Angaben an 449 von 499 Dublin-Gesprächen nicht teilgenommen. Das heisst: Bei neun von zehn Gesprächen war niemand dabei. Im Gegensatz dazu kam dies bei der Caritas bloss dreimal in rund 1600 Dublin-Gesprächen vor. Bei der Berner Rechtsberatungsstelle für Menschen in Not gar nie.

Trotzdem kassierte das Heks für jeden der 499 Fälle Geld vom Bund. Denn das Hilfswerk erhält für jeden zugewiesenen Asylsuchenden in der Nordwestschweiz eine Pauschale von 1950 Franken. Für die 449 Asylsuchenden, die allein an das Dublin-Gespräch gingen, hat die Stiftung also rund 875 000 Franken eingenommen. Heks-Mediensprecher Lorenz Kummer sagt: «Die Teilnahme an den Dublin-Gesprächen macht nur fünf Prozent unseres Gesamtaufwandes für ein Rechtsschutzmandat aus.» Unter die Pauschale fielen auch mehrere persönliche Vor- und Nachgespräche sowie die Übersetzung.

Auf das «Wording» kommt es an

Ein zentraler Grund für die mangelnde Begleitung sind die hohen Asylzahlen. Diese machen dem Heks in der Region Basel schon länger zu schaffen. Wie aus einem Schreiben des Staatssekretariats für Migration (SEM) hervorgeht, teilte das Heks dem SEM Anfang August mit, ab dem 10. August 2022 «auf die Teilnahme an Dublin-Gesprächen (. . .) zu verzichten». Auch bei sogenannten Anhörungen zu den Asylgründen – dabei handelt es sich um jene Fälle, in denen die Schweiz für das Asylverfahren zuständig ist – war das Heks gemäss eigenen Angaben «in wenigen Ausnahmefällen» nicht anwesend.

Lorenz Kummer vom Heks erklärt die Abwesenheit bei den Dublin-Gesprächen folgendermassen: «In der Region Nordwestschweiz stellt die hohe Falllast aufgrund von administrativen Pendenzen eine enorme Herausforderung für alle Akteure dar.» Die begrenzten Ressourcen würden deshalb vorrangig für die Präsenz bei Anhörungen eingesetzt. «Denn diese Anhörung ist ein komplexer und umfangreicher Verfahrensschritt und für die Asylsuchenden sehr anspruchsvoll.» Die sorgfältige Führung aller Mandate sei jedoch jederzeit gewährleistet.

Sowohl das Heks als auch das SEM betonen, dass Asylsuchende nur dann unbegleitet an ein Gespräch gingen, wenn sie damit einverstanden seien. Die Frage ist: Wie kommt dieses Einverständnis zustande?

Interessant ist in diesem Zusammenhang ein internes Schreiben des Heks, das dieser Zeitung vorliegt. Darin informiert das Hilfswerk die Belegschaft über die Wichtigkeit des «Wording», wenn eine Anhörung ausnahmsweise nicht begleitet werden könne. Im Schreiben heisst es: «Wir als Heks möchten nicht von einer Verzichtsplanung sprechen bei Nicht-Teilnahme aus Kapazitätsgründen.» Sondern: «Wir verzichten nicht auf die Begleitung, sondern beraten die Klient:innen in den Vorbereitungsgesprächen dahingehend, dass sie in geeigneten Fällen aus unserer Sicht auf eine Begleitung von uns verzichten können.» Das heisst: Die Asylsuchenden sollen ermuntert werden, allein an die Gespräche zu gehen.

Viele Rechtsvertreterinnen und Rechtsberater des Heks stören sich stark an dieser Praxis. Die meisten engagieren sich aus idealistischen Gründen im Asylbereich. Sie könnten andernorts deutlich mehr verdienen. Eine Rechtsvertreterin, die anonym bleiben will, sagt: «Wir sollen den Leuten verheimlichen, dass sie eigentlich einen Anspruch auf unsere Begleitung hätten.» Es stresse sie «tödlich», wenn sie ihre Klienten nicht begleiten könne.

Ein anderer Punkt, der viele Mitarbeitende beschäftigt: Die Heks-Leitung hat die Zeit für Vorgespräche vor Anhörungen oder Dublin-Gesprächen gekürzt –gemäss den Mitarbeitenden von 45 auf 30 Minuten.

Für die Rechtsvertreterinnen heisst das: Sie müssen innert einer halben Stunde herausfinden, ob jemand Aussicht auf Asyl hat oder nicht. Weint ein Asylsuchender während des Gesprächs? Dann reicht die Zeit nicht. Kommt jemand zu spät? Dann wird es schwierig. Stammt eine Person aus einem Land, in dem die politische Situation unklar ist? Dann ist der Fall praktisch aussichtslos. Bei der Berner Rechtsberatungsstelle und der Caritas haben die Mitarbeitenden mindestens eine Stunde Zeit für ein Vorgespräch.

Richter müssen entscheiden

Auch Asylsuchende sind unzufrieden. Mehrere haben beim Bundesverwaltungsgericht Beschwerde eingereicht, weil ihre Rechtsvertretung im Gespräch nicht anwesend war. Die Rechtsprechung des Gerichts ist – wie es in einem Urteil selber schreibt – in dieser Frage «nicht einheitlich». In einzelnen Fällen gaben die Richter den Asylsuchenden recht, in letzter Zeit vermehrt den Behörden. Gemäss dem Gericht ist davon auszugehen, dass zu dieser Thematik in nächster Zeit ein wegweisendes Urteil ergehen wird.

Lara Hoeft ist Leiterin von Pikett Asyl, einem Verein, der viele Asylsuchende in der Nordwestschweiz bei ihren Beschwerden unterstützt. Sie sagt: «Was asylsuchende Menschen in einem Dublin-Gespräch oder einer Anhörung sagen, bildet die Grundlage für den Entscheid der Behörden. Es gehört zu einer umfassenden Rechtsvertretung und einem rechtsstaatlichen Verfahren dazu, dass die Rechtsvertreterinnen und Rechtsvertreter bei den Gesprächen anwesend sind.»

Kritik kommt auch aus der Politik: «Heks und Co. rufen ständig nach noch mehr Flüchtlingen. Aber selber bringen sie es nicht auf die Reihe, ihren Job zu machen», sagt SVP-Nationalrätin Martina Bircher. Ihre Partei hatte sich schon 2016 im Abstimmungskampf gegen die «Gratisanwälte» gestellt.

SP-Nationalrätin Samira Marti sagt, das Problem sei grösser als das Heks. Der Fall zeige, dass der Bund das System grundsätzlich evaluieren müsse. «Allenfalls wäre es sinnvoll, die Fristen um einige Tage zu verlängern oder die Hilfswerke nicht pauschal pro Fall zu entschädigen.» Klar sei für sie, dass alle Asylsuchenden einen umfassenden Rechtsschutz erhalten müssen. «Das war das Versprechen bei der Asylgesetzreform 2016 – und das wird gerade gebrochen.»



449
Das Heks in der Nordwestschweiz hat 449 von 449 Asylsuchenden nicht an sogenannte Dublin-Gespräche begleitet.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/hilfswerk-laesst-asylsuchende-allein-ld.1740804)
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/interne-untersuchung-bei-heks-rechtsschutz-nordwestschweiz-66509515



Kein Geld für Asyl-Container: Kantone hässig auf ihre Ständeräte
Der Ständerat verweigert den Bau von Flüchtlings-Containerdörfern. Die Kantone, mit der Unterbringung schon heute am Anschlag, haben dafür kein Verständnis.
https://www.blick.ch/politik/kein-geld-fuer-asyl-container-kantone-haessig-auf-ihre-staenderaete-id18635640.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/ringen-um-container-doerfer-fuer-asylsuchende?partId=12398122


An: Kantonale Migrationsdienste
Passbeschaffungspflicht für Eritreer*innen in der Schweiz abschaffen
Die Petition fordert, dass Eritreer*innen in der Schweiz von der Passbeschaffungspflicht befreit werden. Der Grund: Um Pässe auszustellen, stellt die eritreische Botschaft in Genf drei unzulässige und unzumutbare Bedingungen:
1. Selbstbeschuldigende „Reue-Erklärung“: Eritreer*innen müssen unterzeichnen, den sogenannt „nationalen Pflichten“ nicht nachgekommen zu sein und die dafür verhängten Strafen zu akzeptieren.
2. Unzulässige „Diaspora-Steuer“: Eritreer*innen müssen 2% auf ihr bereits in der Schweiz versteuerte Einkommen bezahlen. Diese Steuer unterstützt die Macht der eritreische Diktatur.
3. Sensibler Informationen: Eritreer*innen müssen Informationen über Angehörige, Freund*innen und Bekannte im Ausland und in Eritrea preisgeben, welche diese gefährden.

Warum ist das wichtig?

Eritreer*innen ohne Flüchtlingsstatus, die beispielsweise heiraten oder eine vorläufige Aufnahmebewilligung F in eine Aufenthaltsbewilligung B umzuwandeln wollen, müssen den Schweizer Behörden einen Pass vorlegen. Dafür müssen sie Kontakt mit dem diktatorischen Regime ihres Herkunftslandes aufnehmen. Dies ist eine unzumutbare Anforderung.
In Deutschland entschied das höchste Verwaltungsgericht, dass die sogenannte „Reue-Erklärung“ unzumutbar ist. Seither verzichten die deutschen Behörden bei Eritreer*innen auf die Passbeschaffungspflicht (vgl. https://www.bverwg.de/pm/2022/62).
Niemand darf gezwungen werden, sich selbst zu beschuldigen.
https://act.campax.org/petitions/unzumutbare-passbeschaffungspflicht-fur-eritreer-innen-in-der-schweiz-abschaffen


+++DEUTSCHLAND
Vor Treffen der EU-Innenminister: Ampelparteien uneins über EU-Asylreform
Die EU will den Asylanspruch bereits an den Außengrenzen prüfen. Die Bundesregierung pocht vor den anstehenden Beratungen auf weitere Ausnahmen für Kinder und Familien. Das stößt auf Widerspruch – auch von Seiten der FDP.
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/asylpolitik-eu-innenminister-debatte-100.html
-> https://taz.de/EU-Reform-Asylrecht/!5935895/


+++BALKANROUTE
Schande EUropa – Wie die Europäische Union flüchtende Menschen auf der Balkanroute quält
Journalist Michael Bonvalot und der Filmemacher Niels Pfeiffer waren in Bosnien, Kroatien und Serbien. Sie haben mit flüchtenden Menschen und mit ihren Helfer:innen gesprochen. Sie dokumentieren die Schande EUropa!
https://www.youtube.com/watch?v=THX0CyF6aUI


+++MITTELMEER
Seenotrettungen: «Wir haben 10 Tage gewartet, bis unser Rettungsschiff anlegen durfte»
Sarah Konrad war im letzten Sommer als Pflegefachkraft auf einem Rettungsschiff im Mittelmeer unterwegs. Sie berichtet von ihrem Einsatz auf hoher See und dem politischen Kalkül der Behörden im Umgang mit Seerettungen im Mittelmeer.
https://sozialismus.ch/international/2023/seenotrettungen-wir-haben-10-tage-gewartet-bis-unser-rettungsschiff-anlegen-durfte/


+++FREIRÄUME
Leerstand ist kein Zustand
Das seid 10 Jahren leerstehende EWZ-Gebäude, das im letzten Herbst kurz besetzt und dann geräumt wurde, steht wieder und noch immer leer. Leerstand wird verteidigt, eine sinnvolle, kulturelle Nutzung für alle scheint unerwünscht.
Auch bei der am Freitag besetzten, ehemaligen Post in Wipkingen zeichnet sich die gleiche unverständliche Priorität von Firmen wie EWZ und Post ab.
https://alleswirdbesetzt.ch/was-passiert/leerstand-ist-kein-zustand/


+++GASSE/SOZIALES
Wohnungsnot: «Jeden Morgen weine ich» – Elena (28) ist mit ihren zwei kleinen Kindern obdachlos
Wohnraum wird knapper und die Mieten steigen. Nun muss eine Familie sogar auf der Strasse schlafen. Seit Monaten haben Elena*, ihr Partner und ihre zwei kleinen Söhne, ein und drei Jahre alt, kein Dach mehr über dem Kopf. Seither leben sie bei Familie und Bekannten. Die junge Familie musste aber auch schon zwei Nächte auf der Strasse übernachten. Im Video erzählt Elena* von ihrer prekären Wohnsituation.
https://www.20min.ch/video/jeden-morgen-weine-ich-elena-28-ist-mit-ihren-zwei-kleinen-kindern-obdachlos-747902816361?version=1685888685599


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Sicherheit und Rücksicht: Das wünschen sich Velofahrerinnen an der Jubiläums-Demo in Zürich
Vor 50 Jahren fand in Zürich die erste Velo-Demo statt. Die Anliegen sind heute noch die gleichen wie damals: Velofahrende wünschen sich sichere Velowege.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/sicherheit-und-ruecksicht-das-wuenschen-sich-velofahrerinnen-an-der-jubilaeums-demo-in-zuerich-151852277


+++REPRESSION DE
DEMOS LEIPZIG/PROZESS_ANTIFAOST_LINAE
-> https://twitter.com/copwatch_le
.> https://twitter.com/luna_le
-> https://twitter.com/platznehmen
-> https://twitter.com/HRMRKR
-> https://www.zeit.de/politik/deutschland/2023-06/tag-x-leipzig-krawalle-abend-morgen-connewitz-polizei-ausschreitung
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/erneute-gewaltsame-proteste-in-leipzig,TgBLBZS
-> https://www.srf.ch/news/international/linksextreme-gewalt-krawalle-in-leipzig-auch-in-der-nacht-mehrere-beamte-verletzt
.> https://www.spiegel.de/panorama/leipzig-proteste-wegen-lina-e-gehen-auch-in-der-nacht-zu-sonntag-weiter-a-d99cc008-c7dc-4045-b049-f65a811bf728?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter#ref=rss
-> https://twitter.com/Simmerl19
-> https://taz.de/Leipzig-nach-dem-Tag-X/!5938332/
-> https://twitter.com/Simmerl19/status/1665052807165009920
-> https://twitter.com/blaulichtzecke
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173717.lina-e-tag-x-in-leipzig-kein-protest-moeglich.html
-> https://twitter.com/lzo_media
-> https://twitter.com/simon_brgr
-> https://www.deutschlandfunk.de/linksextremismus-sicherheitsexperte-felix-neumann-ueber-deradikalisierung-dlf-561984d5-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/lepizig-demonstration-polizei-linksextremist-lina-e-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/demonstrationen-leipzig-liveticker-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/leipzig-demonstrationen-krawalle-haftbefehle-100.html
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/leipzig-linksextremismus-verfassungsschutz-kramer-lina-e-100.html
-> https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/leipzig-krawalle-tag-x-104.html
-> https://taz.de/Polizeieinsatz-in-Connewitz/!5935868/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/452027.staatsgewalt-kesseltreiben-in-leipzig.html
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/krawalle-in-leipzig?urn=urn:srf:video:92917efd-0a08-423f-84e4-27e29833b45f
-> https://taz.de/Soli-Demo-fuer-Lina-E/!5935934/


+++KNAST
Jurist Thomas Galli: „Der institutionelle Gefängnisgedanke macht keinen Sinn“
Sachsens Justizministerin will den Strafvollzug modernisieren. Ex-Gefängnisdirektor Thomas Galli, der mittlerweile als Anwalt die Rechte von Häftlingen vertritt, geht einen Schritt weiter. Wir müssen die Gefängnisidee überwinden, fordert er.
https://www.deutschlandfunk.de/gefaengnisreform-jurist-thomas-galli-ueber-eine-gesellschaft-ohne-knast-dlf-93066b4f-100.html


+++POLIZEI DE
Olympiade der Polizeimänner
Internationale Spezialeinheiten messen sich in Nordrhein-Westfalen
Teams aus 48 Ländern sollen Mitte Juni in »Schaum, Schlamm, Schweiß und Wasser« zueinanderfinden. Als intellektuelle Herausforderung gab es schon Sudoku-Rätsel.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173711.gsg-olympiade-der-polizeimaenner.html


+++FRAUEN
Queerfeindliche Angriffe – Kann man Lehrer und Dragqueen sein?
Michel von Känel ist Lehrperson und macht einmal im Monat Drag. Er steht doppelt in der Schusslinie, wie er im Gespräch erzählt. Davon lässt er sich aber nicht unterkriegen.
https://www.srf.ch/news/gesellschaft/queerfeindliche-angriffe-kann-man-lehrer-und-dragqueen-sein


+++RASSISMUS
Rassismus im Netz: Hass gegen Schwarzes Empowerment
Nach einer reißerischen „Spiegel“-Geschichte wird die Berliner Organisation Empoca mit rassistischem Hass und Drohungen überzogen.
https://taz.de/Rassismus-im-Netz/!5937967/


+++RECHTSPOPULISMUS
Interpellation SVP: Umgehung des Ausländerrechts durch die Stadt Bern – Wie stellt sich der Regierungsrat dazu?
https://www.gr.be.ch/de/start/geschaefte/geschaeftssuche/geschaeftsdetail.html?guid=dcdb09f667b24489963ea8c52991f979


+++RECHTSEXTREMISMUS
Zürich: Nach Rechtsextremismus-Vorwürfen – Dynamo prüft Auftritte von Sängern
Im Juni stehen gleich zwei Sänger aus der Ukraine im Dynamo auf der Bühne. Die Stadt Zürich geht nun Hinweisen wegen angeblicher Verbindungen zu Rechtsextremen nach.
https://www.20min.ch/story/nach-rechtsextremismus-vorwuerfen-dynamo-prueft-auftritte-von-saengern-216434211720
-> https://www.blick.ch/schweiz/vorwurf-von-rechtsextremismus-umstrittener-ukraine-saenger-soll-bald-im-zuercher-dynamo-auftreten-id18636698.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Protestaufrufe über Grossalarm.ch: Massnahmengegner haben ihre eigene Alarmorganisation
Die Bewegung von Corona-Skeptikern und Freiheitstrychlern ist auf ein kleines Grüppchen geschrumpft. Um für Proteste Gleichgesinnte aus der ganzen Schweiz aufzubieten, setzen die Aktivisten auf eine Website.
https://www.tagesanzeiger.ch/massnahmengegner-mobilisieren-ueber-eigene-alarmorganisation-499967921066


+++SPORT
NZZ am Sonntag 04.06.2023

«Fussball ohne Gewalt ist illusorisch», sagt der Fan-Experte Gunter Pilz

Um Ausschreitungen in den Griff zu bekommen, wirbt der Sportwissenschafter Gunter Pilz für den Einsatz von Konfliktmanagern und gute Kommunikation. Personalisierte Tickets und eine Sitzplatzpflicht hält er für sinnlos.

Matthias Venetz

In den vergangenen Wochen kam es in Luzern, in Genf und an weiteren Orten zu Gewalt im Umfeld von Fussballspielen. Hat der Fussball ein Gewaltproblem?

Der Fussball hat ein Gewaltproblem, genauso wie die Gesellschaft auch. Gewalt ist ein gesellschaftliches, kein fussballspezifisches Problem. Im Fussball bündeln, konzentrieren sich diese Probleme einfach am deutlichsten. Er ist wie ein Brennglas.

Warum ist es immer der Fussball?

Das hat mit seiner hohen gesellschaftlichen Relevanz zu tun. Er zieht mehr Leute an als andere Sportarten, und er bildet eine Art Gefäss. Wo sich früher junge Männer an Dorffesten prügelten, gibt es heute Derbys. Manche Soziologen sagen zudem, wegen des Fussballs bleibe es unter der Woche friedlicher. In der Tat kann man sich fragen: Was würde geschehen, wenn der Fussball wegfiele und die ganzen Emotionen statt im Stadion in der Gesellschaft ausgelebt werden würden? Der Fussball hat in dieser Hinsicht auch kathartische Effekte.

Für Sie ist Fussball ohne Gewalt also eine Illusion?

Das ist genauso illusorisch wie eine gewaltfreie Gesellschaft.

Im Eishockey würde kein Spieler dem Schiedsrichter ins Gesicht schreien. Ist der Fussball nicht einfach gewalttätiger als andere Sportarten und fördert das auch unter den Fans?

Wenn im Handball ein Schiedsrichter pfeift, reagieren die Spieler sofort. Tun sie das nicht, erhalten sie eine Zeitstrafe. Im Fussball wird lamentiert, werden Bälle weggeschlagen, Rudel gebildet. Man kann sich also fragen, warum die Fifa nicht auch härtere Regeln einführt. Wahrscheinlich denken manche, Emotionen beleben das Geschäft. Und tatsächlich schaukeln sich Emotionen im Stadion immer wieder hoch. Aber die grossen Gewaltprobleme haben wenig mit dem Spiel zu tun.

Erklären Sie.

Gewalttätige Vorfälle finden oft vor oder nach dem Spiel statt. Verabredete Prügeleien zum Beispiel. Da liegen gesellschaftliche Probleme zugrunde. Allerdings muss man auch sagen, dass nicht alle Profis ihrer Vorbildfunktion nachkommen. Trainer wie Jürgen Klopp, Thomas Tuchel oder Christian Streich würden von mir als Schiedsrichter in jedem Spiel auf die Tribüne verwiesen werden. Im Amateurbereich nehmen körperliche Angriffe auf Schiedsrichter ebenfalls zu. Das hat auch damit zu tun, dass Profitrainer die Schiedsrichter permanent anschreien und anpöbeln.

Sie sprechen von schlechten Vorbildern, aber auch vom Pöbeln im Stadion als Katharsis. Wie viel Grenzüberschreitung ist in Ihrem Modell denn erlaubt?

Gelegentlich heisst es, das Stadion sei ein rechtsfreier Raum, wo man pöbeln und Dinge tun dürfe, die ausserhalb nicht möglich seien. Dem ist nicht so. Es gelten Regeln. Die Grenzen beginnen da, wo das Gesetz zu greifen anfängt und wo Menschen diskriminiert werden.

Bestehende Gesetze und Massnahmen reichen nicht aus, sagen derzeit viele Stimmen in der Schweiz. In den letzten Wochen wurden Sektoren gesperrt, personalisierte Tickets und eine Sitzplatzpflicht gefordert.

Diese Massnahmen sind albern. Sektorsperrungen sind nicht sinnvoll. Es hat sich seit Jahren bewährt, gegnerische Fans möglichst weit voneinander im Stadion zu platzieren und sie gegenseitig abzuschirmen. Schliesst man die Sektoren, steigt das Risiko für gewalttätige Auseinandersetzungen. Bei den Sitzplätzen sehe ich das ähnlich. Ob ein Gewalttäter ein Ticket für einen Sitzplatz oder einen Stehplatz kauft, ist irrelevant, weil die Gewalt meistens ohnehin abseits des Spiels stattfindet. In England, wo seit Jahren reine Sitzplatzstadien die Regeln sind, geht man inzwischen dazu über, wieder Stehplätze zuzulassen. Vor allem weil die Stimmung in reinen Sitzplatzstadien leidet.

Und die personalisierten Tickets?

Wenn man durch personalisierte Tickets einzelne Täter zur Verantwortung ziehen kann, ist das sinnvoll. Allerdings sind sie mit einem hohen Aufwand verbunden.

Die personalisierten Tickets wurden von der St. Galler Kantonsregierung unlängst in Kombination mit der Sitzplatzpflicht gefordert, um einzelnen Personen konkrete Straftaten nachzuweisen.

In Deutschland sind personalisierte Tickets zum Teil bereits Tatsache. Es zeigt sich, jemandem beispielsweise den Einsatz von Pyrotechnik nachzuweisen, ist immer noch schwer. Die Fans verstecken sich hinter grossen Blockfahnen, wechseln ihre Kleider, zünden dann, verschwinden wieder und tauchen in anderen Kleidern wieder auf. Das erschwert eine Identifikation. Man sollte sich also in der Schweiz fragen, was die Kosten und was der Nutzen dieser Massnahme wäre.

Sie lehnen viele etablierte Massnahmen ab. Welche schlagen Sie vor?

Die grössten Probleme haben wir mit Konfrontationen von Fans und Polizei. Es lohnt sich der Blick auf das Hannover Modell. Jede Fanszene einer Gastmannschaft erhält in Hannover rund zwei Wochen vor einem Spiel Informationen der Polizei. Darin steht, mit welchen Massnahmen die Polizei auf sie zukommt, was die Fans dürfen und was nicht. Wenn die Gästefans dann ankommen, werden sie am Bahnhof nicht von einer schwer ausgerüsteten Hundertschaft empfangen, sondern von sechs bis zehn polizeilichen Konfliktmanagern. Die begleiten die Fans dann zum Stadion, zeigen den Personen mit Stadionverbot, wo sie sich das Spiel in einer Bar ansehen können. Zwischen Polizei und Fans wird permanent kommuniziert, Tage vor dem Spiel und auch am Spieltag. Und das ist wichtig.

Warum?

Kommt es in diesem Modell zu Vorfällen, welche die Polizei nicht tolerieren kann, stürmt nicht gleich eine Hundertschaft in einen Fanblock mit mehreren tausend Personen hinein. Zunächst kommen die Konfliktmanager und sagen, wenn in einer vorgegebenen Frist ein Problem nicht gelöst wird, dann kommt die Polizei in den Block und tut es. In 80 Prozent der Fälle reicht in Hannover diese Aufforderung bereits. Noch wichtiger aber ist, was in den anderen Fällen passierte: Die Fans haben Platz gemacht und die Polizei ihren Job machen lassen.

Wie das?

Wenn die Polizei normalerweise einen Block stürmt, hat man das Problem einer riesigen Solidarisierung unter den Fans. Friedliche Fans stellen sich vor die gewaltbereiten. In Hannover nicht. Weil die Fans wussten, was die Polizei machen wird und welche Gründe sie dafür hat. Sie konnten der Polizei nicht unterstellen, dass sie willkürlich handelt oder Schikane betreibt.

Dieses Modell ist aus Ihrer Sicht auch auf die Schweiz übertragbar?

Kommunikation ist der Schlüssel. Es ist ein Unterschied, ob Fans am Bahnhof von einer Hundertschaft oder von wenigen Beamten in Leuchtwesten mit der Aufschrift «Polizeiliches Konfliktmanagement» stehen. Bei polizeilichen Interventionen ist es genauso. Viele Fans sagen nach Ausschreitungen, dass sie das eigentlich nicht unterstützen. Wenn die Polizei aber mit einer Hundertschaft in einen Fanmarsch eingreift, sagen dieselben Fans, das sei überzogen. Sie solidarisieren sich mit den wenigen Tätern. Und urplötzlich stehen der Polizei nicht 50 Chaoten gegenüber, sondern mehrere tausend Fans. Gute Kommunikation kann solche Eskalationen und Solidarisierungen verhindern. Selbst bei Hochrisikospielen, wo früher 800 bis 1500 Polizisten eingesetzt wurden, ist die Polizei mit 400 Polizisten ausgekommen.

Angenommen, die Strategie der Polizei sieht keinen Fanmarsch vor, weil er am Fanlokal der Heimmannschaft vorbeiführt, ähnlich wie jüngst in Luzern. Die Gästefans beharren jedoch darauf, durch die Stadt zu ziehen. Was kann Prävention dann leisten?

Gästefans laufen auch in Hannover jedes zweite Wochenende durch die Innenstadt. Begleitet werden sie von Konfliktmanagern, die ihnen ganz klar mitteilen: Ihr seht zwar keine Hundertschaft, die ist aber da. Und wenn es Probleme gibt, wird sie eingreifen.

Und das funktioniert?

Ja, wenn das Konfliktmanagement den Gästefans klar kommuniziert, dass aufgrund von Platzverhältnissen eine Route angepasst werden muss. Funktioniert es nicht, steht die Hundertschaft einsatzbereit da. Mit einem Unterschied: Die Fans können der Polizei keine Willkür mehr vorwerfen, sondern haben klare Vereinbarungen gebrochen. Die Polizei ist damit auf der sicheren Seite. An dieser Kommunikation führt kein Weg mehr vorbei, sie ist in Deutschland Teil aller neuen Konzepte.



Gunter A. Pilz

Der Fan-Experte ist 1944 in Baden-Baden geboren. Er studierte in Freiburg, München und Zürich Soziologie, Psychologie und Volkswirtschaftslehre. Ab 1975 forschte er am Institut für Sportwissenschaften der Universität Hannover zu den Themen Sport und Gewalt, Fussball-Fankultur und Rechtsextremismus im Sport. Pilz erhielt verschiedene Ehrungen, darunter das Bundesverdienstkreuz. Er lebt in Niedersachsen, ist verheiratet und hat vier Kinder.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/sport/gunter-pilz-interview-ld.1740354)