Medienspiegel 25. Mai 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++ZUG
Zuger Sozialamt rechnet immer noch: Teure Ukrainer-Autos verkaufen ist schwerer als gedacht
Gemäss Schätzungen hat ein Zehntel der ukrainischen Haushalte in der Schweiz ein Auto zur Verfügung. (Bild: Adobe Stock)
Unter Umständen müssen ukrainische Geflüchtete ihre Autos verkaufen, um weiter Sozialhilfe zu erhalten. Das entschieden die Kantone zuletzt. Doch die Regel umzusetzen, ist ziemlich knifflig. Auch in Luzern und Zug.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/teure-ukrainer-autos-verkaufen-ist-schwerer-als-gedacht-2548123/


+++DEUTSCHLAND
30 Jahre Asylkompromiss: »Hunderttausende waren auf der Straße«
Vor 30 Jahren haben in Deutschland Zehntausende gegen den sog. »Asylkompromiss« demonstriert, um die Änderung des Grundgesetzes zu verhindern. Am 26. Mai 1993 beschloss der Bundestag trotz der großen Proteste, das Asylrecht im Grundgesetz massiv einzuschränken. Günter Burkhardt, Gründungsmitglied von PRO ASYL, berichtet im Interview von der Zeit.
https://www.proasyl.de/news/30-jahre-asylkompromiss-hunderttausende-waren-auf-der-strasse/


30 Jahre »Asylkompromiss«: Ein Grundrecht wird ausgehöhlt
CDU/CSU, FDP und SPD schlossen vor rund 30 Jahren den sogenannten »Asylkompromiss« – trotz aller Proteste aus der Zivilgesellschaft. Eine Rückschau auf die Debatten in den Jahren 1992 und 1993.
https://www.proasyl.de/news/30-jahre-asylkompromiss-ein-grundrecht-wird-ausgehoehlt/


+++TÜRKEI
«10 vor 10»-Serie «Brennpunkte der Migration»: Türkei
Basierend auf einem Abkommen mit der EU hat die Türkei über drei Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Viele Syrerinnen und Syrer fühlen sich allerdings nur halbwegs geduldet, an den Rand gedrängt – und werden nun auch noch zum Spielball in einem erbitterten Wahlkampf.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/10-vor-10-serie-brennpunkte-der-migration-tuerkei?urn=urn:srf:video:3ed3b52b-7105-4bc1-804b-e6f3984fef84


+++GASSE
Der Jubiläums-„Schappo“ geht an die „Gassenküche“
Seit nahezu zwanzig Jahren zeichnet die Basler Regierung das Engagement von Freiwilligen aus. Den 50. „Schappo“-Anerkennungspreis erhält Ende Monat das Team der „Gassenküche Basel“.
https://www.onlinereports.ch/News.117+M55b474b8a50.0.html



bernerzeitung.ch 25.05.2023

Buch über Randständige: «Das Leben in Unsicherheit ist eines der schlimmsten überhaupt»

In einem neuen Buch porträtiert Klaus Petrus fünfzehn Menschen, die am Rand der Gesellschaft leben. Trinker, Freier, Bettlerinnen. Ein Gespräch über Voyeurismus und Feindbilder.

Jessica King

Es sind heftige Geschichten, die Klaus Petrus erzählt. Da ist die alte Frau, die irgendwo in Bümpliz in Armut lebt und in der Stadt Bern Essen aus Abfallkübeln fischt. Da ist der Mann, der in den letzten fünfzehn Jahren rund 1300-mal bei Sexarbeiterinnen war, dafür über 160’000 Franken ausgegeben hat und nichts davon seiner Frau und seiner Familie erzählt. Und da ist der Mann aus Polen, 62 Jahre alt, der auf Seeländer Feldern Rüben oder Kohl pflückt, niemanden in der Schweiz kennt und sich von seiner Familie zu Hause komplett entfremdet hat. Insgesamt fünfzehn Menschen hat der Bieler Autor Klaus Petrus für sein soeben erschienenes Buch porträtiert und fotografiert. Alle leben am Rand der Gesellschaft.

Herr Petrus, warum interessieren wir uns so sehr für Geschichten über Obdachlose, Sexarbeiterinnen oder andere Randständige?

Ich glaube, die Gesellschaft hat einen grossen Drang, sich in ein «oben» und ein «unten» einzuteilen. Dadurch verschaffen wir uns Orientierung: Wir wollen wissen, wo wir uns innerhalb einer Gesellschaft befinden. Und wir benutzen Menschen, die scheitern, als Abgrenzung: So sind wir nicht. Und so wollen wir keinesfalls werden.

Wir brauchen also die Menschen am Rand, um uns sicherer zu fühlen?

Ja. Aber das hat einen Preis: Sie sind für uns oft nur noch Stereotypen, Projektionsflächen. Manchmal auch Feindbilder. Der Trinker, der Freier, die Bettlerin. Mich faszinieren diese Welten genau deshalb, weil wir glauben, sie seien so anders.

Und wenn man genau hinschaut, sind sie normaler als gedacht?

Je wirksamer Vorurteile sind, desto weniger können wir uns vorstellen, dass mehr dahintersteckt. Dass ein alter Trinker mehr ist als nur ein alter Trinker. Die Geschichte des trinkfreudigen Rentners hat mich deshalb so stark beeindruckt, weil er trotz Alkoholkonsum so sehr nach Normalität strebt. Er trinkt immer mehr, will dies aber verbergen und betreibt einen enormen Aufwand, um nicht aufzufallen. Er kennt in Bern und Umgebung alle Filialen, in denen er Alkohol einkauft, und macht sich jeweils Notizen, wo er zuletzt war. Damit ihn die Kassiererinnen und Kassierer nicht erkennen.

Interessieren wir uns nicht auch aus Voyeurismus für solche Geschichten? Weil wir einen Nervenkitzel verspüren, wenn wir schlimme Schicksale lesen?

Das mag sein. Ich denke, uns sind solche Menschen oft unheimlich. Aber sie sind nicht unheimlich, weil sie vom Mars kommen. Sondern weil sie uns so nah sind. Wir fürchten uns schliesslich nur vor Sachen, die uns näher sind, als wir uns wünschen.

Sie schreiben im Vorwort, dass alle Menschen verwundbar seien und abstürzen könnten. Es sei ein unverschämtes Glück, wenn man davonkomme.

Das Leben in Unsicherheit ist eines der schlimmsten überhaupt. Wir haben uns alle Strategien zurechtgelegt, um die Sicherheit für uns herzustellen – oder uns das zumindest einzubilden. Für mich ist die eigene Verwundbarkeit aber auch der Schlüssel zur Empathie. Nur wenn ich glaube, dass mich ein ähnliches Schicksal ereilen könnte, komme ich über die Vorurteile hinaus.

Die Menschen in Ihrem Buch sind grundverschieden und haben doch eine Gemeinsamkeit: Fast alle schämen sich.

Ja, im Grunde ist dieses Buch ein Buch über Scham. Es gibt zwei Arten von Scham. Einerseits ist da das persönliche Gefühl, etwa wenn wir meinen, versagt zu haben, und uns deswegen Vorwürfe machen. Andererseits entsteht Scham, weil wir uns immer wieder durch die Brille der anderen betrachten. Ein eindrückliches Beispiel dafür war für mich die Begegnung mit einer übergewichtigen Frau, die als Kind auf dem Pausenplatz das Gekicher und die Sprüche der anderen gehört hat und danach zu Hause als Erstes vor den Spiegel stand. Da hat sie erkannt: Ich bin für die anderen zu dick – und jetzt auch für mich. Seither sieht sie überall Spiegel, und in jedem Spiegel sieht sie sich als die Dicke.

Sie geizen im Buch nicht mit Details, schreiben schonungslos über Details wie die favorisierten Sexpositionen des Freiers. Spielen Sie da nicht auch mit den Schamgefühlen der Menschen?

Ich habe die Menschen bei den Treffen bewusst nach Details gefragt, weil ich verstehen wollte, wie ihre Welt funktioniert. Weil ich keine Stereotypen bedienen wollte. Lotti, die ältere Frau aus Bümpliz, habe ich etwa gebeten, eine Liste über sich selber zu schreiben. Was sie mag, was sie nicht mag. Beim nächsten Treffen nahm sie drei Seiten voller Notizen mit. Da stand zum Beispiel: Ich mag Kartoffelsalat. Dieses Detail hat mich wahnsinnig berührt. Sie lebt in Armut, muss beim Einkaufen alles auf den Rappen genau abrechnen, kann manchmal das Postauto nicht nehmen, weil es zu teuer ist. Und dann schreibt sie über sich: Ich mag Kartoffelsalat.

Sie lassen die Leserinnen und Leser nach 200 Seiten mit einem Gefühl der Ohnmacht zurück. Ging das Ihnen auch so? Waren Sie etwa in Versuchung, Lotti Geld zu schenken?

Nein, ich kann meine Arbeit nur machen, wenn ich in der Rolle des Journalisten bleibe. Aber im Text über Lotti steht etwa, dass sie sich ein Besteck-Set wünscht. Später habe ich tatsächlich von einer Frau ein Paket mit Messern, Gabeln und Löffeln erhalten. Mit der Bitte, das an Lotti weiterzuleiten. Das habe ich getan – aber ich weiss nicht, ob Lotti ganz wohl war dabei.

Warum nicht?

Der Impuls zu helfen ist nachvollziehbar. Aber Hilfe von aussen ist nicht immer das, was die Menschen sich wünschen. Das hat wiederum viel mit den Kategorien zu tun, in denen wir denken: Menschen, denen wir Almosen geben, gelten als Versager. Deshalb habe ich auch nicht den Anspruch, die Situation der Menschen mit meinen Geschichten zu verändern. Ich will höchstens etwas in den Köpfen jener Leute verändern, die sie lesen.

«Am Rand», mit Texten und Fotografien von Klaus Petrus, Christoph-Merian-Verlag. Im Handel erhältlich, ca. 32 Franken. Lesungen am 1. Juni (19 Uhr) in der Kulturküche in Langenthal und am 23. Juni (19 Uhr) im Dock 8 in Bern.



Zur Person

Zuerst hatte der Bieler Journalist und Fotograf Klaus Petrus (55) einen ganz anderen Beruf: Bis 2012 war er Philosophieprofessor an der Universität Bern. Seither arbeitet er als Reporter und Fotojournalist, aktuell ist er Redaktor beim Magazin «Surprise». 2022 gewann er für ein Langzeitprojekt über Migration den Swiss Press Photo Award. (jek)
(https://www.bernerzeitung.ch/das-leben-in-unsicherheit-ist-eines-der-schlimmsten-ueberhaupt-425205737241)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Repression im Botschaftsviertel: Wie die Stadt Bern unbequeme Stimmen zum Schweigen bringt
Wer in Bern vor einer ausländischen Botschaft seine Meinung kundtut, muss mit Bussen rechnen. Das zeigen zwei aktuelle Beispiele.
https://www.derbund.ch/wie-die-stadt-bern-unbequeme-stimmen-zum-schweigen-bringt-961077882179


Einfache Methode, grosse Wirkung: Klima-Kleber ärgern Polizisten mit Finger-Trick
Bei ihren Blockaden gehen die Klima-Kleber der «Letzten Generation» immer trickreicher vor. Eine interne Blockade-Anleitung verrät jetzt einen Finger-Kniff der Aktivisten. So funktioniert er.
https://www.blick.ch/ausland/viel-mehr-aufwand-fuer-die-polizei-auf-diesen-finger-trick-setzen-klima-kleber-jetzt-id18608207.html


+++REPRESSION DE
Razzien gegen „Letzte Generation“: Gemeint ist das solidarische Umfeld
Die Repression soll vor allem Personen einschüchtern, die nicht in der ersten Reihe stehen. Die Entschlossenen werden nicht aufhören. Ziel ist finanzielle Austrocknung der Gruppe.
https://www.telepolis.de/features/Razzien-gegen-Letzte-Generation-Gemeint-ist-das-solidarische-Umfeld-9065247.html
-> https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/extremismus-forscher-warnt-nach-razzia-bei-letzter-generation-vor-radikalisierungen-a-bc17a40c-bbe8-4de7-9d57-174fafce9a2f
-> https://www.tagesspiegel.de/berlin/peinlichstes-interview-des-tages-berliner-justizsenatorin-erntet-irritation-und-hame-mit-tv-auftritt-9876614.html
-> https://www.telepolis.de/features/Letzte-Generation-Noch-gilt-die-Unschuldsvermutung-9064811.html
-> https://taz.de/Razzien-bei-Klimaaktivisten/!5933581/
-> https://taz.de/Protest-gegen-Razzia/!5936862/
-> https://netzpolitik.org/2023/letzte-generation-der-fossile-rechtsstaat-rast-gegen-die-wand/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/451485.klimakrise-das-macht-uns-angst-aber-wir-machen-weiter.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173522.klimaaktivismus-cdu-gegen-letzte-generation-kampfansagen-mit-blamagepotenzial.html
-> https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/letzte-generation-kriminelle-vereinigung-durchsuchungsbeschluss-muenchen-bayern-justiz-razzia/


+++MENSCHENRECHTE
Die Schweizerische Menschenrechtsinstitution verändert die Menschenrechtslandschaft
Seit dem 23. Mai hat die Schweiz wie die meisten Staaten der Welt eine nationale Menschenrechtsinstitution. Damit die SMRI die hohen Erwartungen erfüllen kann, braucht es noch viel. Ein Gespräch mit Matthias Hui*, der sich im Namen der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz für die Schaffung der SMRI einsetzte.
https://www.humanrights.ch/de/news/schweizerische-menschenrechtsinstitution-veraendert-menschenrechtslandschaft-interview


++++JENISCHE/SINTI/ROMA
Fahrende auf Quäl-Hof in Hefenhofen TG sorgen für Unmut
Skandalbauer Ulrich K. hat sein Feld in Hefenhofen TG an Fahrende vermietet. Schon früher hat das für Ärger gesorgt– auch jetzt machen sich Anwohner Sorgen.
https://www.nau.ch/news/schweiz/fahrende-auf-qual-hof-in-hefenhofen-tg-sorgen-fur-unmut-66501746


+++RASSISMUS
Unser Name ist Ausländer
Rassismus ist Teil von Deutschland – genauso wie migrantischer Widerstand dagegen. Wir gedenken der Dichterin Semra Ertan, die sich 1982 aus Protest verbrannte.
https://www.zeit.de/zett/2023-05/semra-ertan-hamburg-neonazis



luzernerzeitung.ch 25.05.2023

«Asylant» zu sagen, ist für einen Grossteil der Schweizerinnen und Schweizer kein Problem

62 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer finden den Begriff «Asylant» gemäss einer Umfrage unproblematisch und nutzen ihn im Alltag häufig. Ist die akademische Debatte um heikle Wörter wirkungslos?

Julia Stephan

Die Ergebnisse einer Leserumfrage von «20 Minuten» und Tamedia lassen aufhorchen: Ob «Asylant», «Mohrenkopf» oder «Eskimo»: Viele Schweizerinnen und Schweizer lassen akademische Debatten um problematische Wörter unbeeindruckt an sich vorbeiziehen. So gaben 62 Prozent der 30’754 Teilnehmenden an, sie würden das Wort Asylant häufig verwenden. Weitere 12 Prozent nutzen das Wort in bestimmten Gruppen. Nur gerade mal 11 Prozent lehnen es kategorisch ab, weil sie seine Verwendung als herabsetzend empfinden.

Das überrascht, wenn man bedenkt, dass schon über 40 Jahre über das Wort gestritten wird. Zeitungen (einschliesslich dieser) vermeiden es. Auch kommt der Asylant im Schriftverkehr der Schweizer Behörden nicht vor. Der «Blick» entschuldigte sich kürzlich sogar für eine Schlagzeile, die mit dem Wort titelte. Und der Duden markiert es als herabsetzend, wenn auch nicht nur.

Denn abgesehen von frühen Quellen aus den 1960ern, in denen man den Asylanten auch neutral oder positiv verwendete, wurde er in den 1970ern und 1980ern, als die Migrationsbewegungen aus Ländern ausserhalb Europas zunahmen, in atemberaubender Geschwindigkeit abgewertet. Apokalyptische Bilder wurden kreiert, etwa die Asylantenschwemme. Während es der Asylant 1980 in den Duden schaffte, engagierten sich zeitgleich viele Stimmen gegen das Wort. Seine Endung rücke Asylsuchende in die Nähe schwieriger Charaktere (Simulanten, Querulanten).

Die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus nennt in ihrem Glossar zwei nicht zustande gekommene eidgenössische Volksinitiativen aus jener Zeit (Initiative «für die Begrenzung der Aufnahme von Asylanten» (1988) sowie die Initiative «gegen die Masseneinwanderung von Ausländern und Asylanten» (1990).

Der Asylsuchende ist der neue Asylant

Wenn in der Parteienlandschaft heute von Asylsuchenden die Rede ist und nicht von Asylanten, dann zeigt das: Sprache wandelt sich doch, wenn auch mit grosser zeitlicher Verzögerung, die grössere Bevölkerungsgruppen erst spät mit einschliesst. In Bundesbern würden Texte, die von Ratsmitgliedern eingereicht werden, keine sprachliche Überprüfung durchlaufen, sagt Karin Burkhalter, Mediensprecherin der Parlamentsdienste. Man verwende gemäss aktueller Gepflogenheiten das Wort Asylsuchender. Das schlägt sich auch im Wording der Parteien nieder. Grünliberale, SP, Mitte und FDP geben auf Anfrage an, das Wort Asylsuchender im Schriftverkehr zu nutzen. Die Grünen verwenden etwas häufiger «Geflüchtete» oder «Flüchtende».

Auch in Vernehmlassungsantworten der SVP taucht der «Asylsuchende» neben dem «Arbeitsmigranten» auf. Selbst wenn SVP-Generalsekretär Peter Keller erklärt, es gebe «keine Verpflichtung, linksideologische Begriffe zu verwenden», kann sich auch seine Partei dem Sprachwandel nicht entziehen. Auf der Website der SVP, die zur Wählerschaft gerne in der Sprache des Volkes spricht, gibt es ihn noch, den «kriminellen Scheinasylanten». Das Beispiel zeigt: Das Wort ist in der sprachlichen Abwertungsspirale mittlerweile auf der untersten Stufe angelangt. Viele andere Wörter davor, etwa das «Weib», teilen mit ihm dasselbe Schicksal.
(https://www.luzernerzeitung.ch/kultur/sprachdebatte-asylant-zu-sagen-ist-fuer-einen-grossteil-der-schweizerinnen-und-schweizer-kein-problem-ld.2463213)


+++RECHTSPOPULISMUS
Die Lügen der Klimaschwurbler
«Wollen wir uns wirklich von amerikanischen Milliardären bevormunden lassen?» fragte mich meine Nachbarin besorgt, nachdem sie den A4-Zettel des ominösen «Komitee Rettung Werkplatz Schweiz» aus dem Briefkasten gefischt hatte.
Zwei Wochen nach dem Energie-Extrablatt der SVP sorgt ein weiterer Zettel in allen Schweizer Briefkästen für Verwirrung. Die Strategie des Autors und SVP-Klimaschwurblers Kurt Zollinger ist klar: Mit Lügen auf Biegen und Brechen sollen die Wähler:innen soweit verunsichert werden, dass sie aus lauter Zweifeln Nein stimmen zum Klimaschutzgesetz.
https://www.greenpeace.ch/de/story/98696/die-luegen-der-klimaschwurbler/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Russischer Neonazi mit Link zur Schweiz kämpft in Russland gegen Putin
Die russische Region Belgorod ist Schauplatz von heftigen Gefechten: Die russische Armee kämpft gegen aus der Ukraine eingedrungene russische Kämpfer, darunter auch fragwürdige Freiwillige.
https://www.20min.ch/story/russischer-neonazi-mit-link-zur-schweiz-kaempft-in-russland-gegen-putin-595141107149


+++HISTORY
Ein Zeichen gegen das Vergessen
Der Kanton Bern erinnert an die Zeit fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen. Am 25. Mai hat Regierungspräsidentin Christine Häsler das Berner «Zeichen der Erinnerung» vorgestellt. Es besteht unter anderem aus einer Plakatausstellung, die von rund 170 bernischen Gemeinden und Kirchgemeinden gezeigt wird, Erinnerungstafeln und Unterrichtsmaterialien für Schulen.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=8a439045-d099-4dec-92f2-00daebe0ce4e
-> https://zeichen-der-erinnerung-bern.ch/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/verdingkinder-so-erinnert-der-kanton-bern-an-die-betroffenen?id=12393727 (ab 07:48)
-> https://www.derbund.ch/kanton-bern-erinnert-an-duesteres-kapitel-seiner-geschichte-836453567635
-> https://www.blick.ch/politik/erinnerungstafel-fuer-verdingkinder-kanton-bern-erinnert-an-duesteres-kapitel-seiner-geschichte-id18609486.html
-> https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-05-25 (ab 03:39)
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/kanton-bern-setzt-zeichen-der-erinnerung-151702273



ajour.ch 25.05.2023

Geschichte entdecken

Ausstellung zu Verdingkindern in Biel: Die Erinnerung schmerzt wie ein Reissnagel

Nicht einmal im Stall durfte der Verdingbub Fred Ryter schlafen. Seine und weitere Geschichten sind derzeit vor dem Neuen Museum Biel zu entdecken.

Tobias Graden

Hätte er doch wenigstens im Stall bei den Tieren schlafen können, erzählte Fred Ryter, dann wäre wenigstens von ihnen ein bisschen Wärme für ihn abgefallen. Mehr noch: «Ich hätte meinen Seelenschmerz mit den Tierchen teilen können. Ich hätte vielleicht mit einem Kälbchen geredet.»

Aber nicht einmal das war ihm vergönnt. Ryter hatte im Tenn zu übernachten, alleine, auf dem Boden.

Bis 16 war er eine Art Sklave

Fred Ryter war ein sogenanntes Verdingkind. Als er sieben Jahre alt war, wurde er an einen Bauernhof abgegeben, wo er als billige Arbeitskraft zu dienen hatte, einem Sklaven gleich. So ging das, bis er 16 war.

Ryters Geschichte wurde 2020 verfilmt, und sie ist dieser Tage in einer Kurzversion auf einer Plakattafel zu lesen, die auf dem kleinen Kiesvorplatz beim Neuen Museum Biel steht. Die Tafel ist Teil der Ausstellung, die im Rahmen der kantonsweiten Aktion «Zeichen der Erinnerung» in den nächsten zwei Wochen auf die Geschichte von Verdingkindern, administrativ Versorgten und Fremdplatzierten aufmerksam macht – ein dunkles Kapitel der Schweizer Geschichte, das noch nicht lange zu Ende ist (wir berichteten).

Die Ausstellung ist an mehreren Orten im Kanton zu sehen, für Biel hat NMB-Direktorin Bernadette Walter zwölf der insgesamt 20 Tafeln ausgewählt. Auf jeder Tafel führt ein QR-Code zur Website der Aktion und dort sind zu jeder Station umfangreiche weiterführende Inhalte zu finden. Im Falle der Geschichte von Fred Ryter zum Beispiel zum Film, einem SRF-Beitrag dazu, aber auch zu Materialien einer Ausstellung, die sich vor einigen Jahren dem Thema widmete.

Eine Vergangenheit, die quält

Gleich gegenüber der Ausstellung sind am Geländer der Schüss die eigentlichen «Zeichen der Erinnerung» angebracht: Fix installierte Plaketten, die an die Zeit der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen vor 1981 erinnern. Dies wiederum mit einem QR-Code, aber auch mit dem grafischen Abbild eines Reissnagels, der Aufmerksamkeit erregt. Die Gestaltung von Claude Kuhn hat einen doppelten Sinn: Erinnerungen, etwa Postkarten aus den Ferien, lassen sich mit einem Reissnagel an einer Pinnwand befestigen – ein Reissnagel kann aber auch ungemein schmerzen, wenn man unbeabsichtigt auf ihn tritt. Und so ist es mit der Erinnerung an dieses Thema: Es schmerzt zu erfahren, wie bis weit in die Nachkriegszeit hinein in der Schweiz mit Menschen umgegangen wurde, die aus armen Verhältnissen kamen (zum Beispiel Waisenkinder), nicht der Norm entsprachen (früh schwanger gewordene Frauen) oder Minderheiten angehörten (Jenische und Sinti).

Die Schweiz tue sich mit solchen Erinnerungen oft schwer, sagt dazu Biels Stadtpräsident Erich Fehr (SP). Die Tafeln sollen nun dazu beitragen, eine Erinnerungskultur zu begründen, die hierzulande nicht sehr üblich sei. Denn: «Eine unbewältigte Vergangenheit wird eben nicht Vergangenheit.» Sie vermag weiter zu quälen wie der unbeabsichtigt liegen gelassene Reissnagel am Fussboden.

Fragen an die Gegenwart

Ohnehin geht es bei den «Zeichen der Erinnerung» nicht allein um die Vergangenheit, sondern ebenso um die Gegenwart und die Zukunft. Auf den Tafeln der Ausstellung regen direkt an die Betrachtenden gerichtete Fragen zum Nachdenken an. Und die Ausstellung als Ganzes behandelt nicht nur die Vergangenheit, sondern befragt auch die Gegenwart: Wie gehen wir heute mit Menschen am Rande der Gesellschaft um? Ist dieser Umgang so, dass nicht in ein paar Jahrzehnten wiederum Erinnerungstafeln aufgestellt werden müssen?

Fred Ryter jedenfalls hatte in der Rückschau bilanziert: «Das Schlimmste waren nicht die Schläge und der Hunger. Das Schlimmste war, dass ich als Person, als Mensch nicht wahrgenommen wurde.»

Info: Ausstellung bis 8. Juni, vor dem Neuen Museum Biel, Eintritt frei. Weiterführende Inhalte unter www.zeichen-der-erinnerung-bern.ch.
(https://ajour.ch/de/story/88438/ausstellung-zu-verdingkindern-in-biel-die-erinnerung-schmerzt-wie-ein-reissnagel)



tagblatt.ch 25.05.2023

Jüdische Fluchthelferin statt antisemitischer Bankgründer: Raiffeisenplatz soll bald «Recha-Sternbuch-Platz» heissen

Geschichtslektion auf dem Roten Platz: Eine Gruppe um den Historiker Hans Fässler verlangt vom St.Galler Stadtrat die Umbenennung des Raiffeisenplatzes. Anstelle des judenfeindlichen Bankgründers soll er eine couragierte jüdische Frau ehren.

Marcel Elsener

Der mit rotem Gummigranulat überzogene Platz rund um den Schweizer Hauptsitz der Raiffeisen-Bank in der St.Galler Innenstadt ist als «Roter Platz» bekannt. Der Architekt Carlos Martinez und die Künstlerin Pipilotti Rist hatten ihn als «Stadtlounge» gestaltet, eine Art Wohnzimmer im öffentlichen Raum, das international Aufsehen erregte. Zuletzt machte er schweizweit Schlagzeilen als Ausgangsort coronamüder Jugendlicher aus der ganzen Ostschweiz, die im Frühling 2021 in den «Osterkrawallen» gipfelten.

Dass der Platz offiziell «Raiffeisenplatz» heisst, wissen die wenigsten. Die Stadt hatte ihn auf Begehren der Raiffeisen-Genossenschaft so benannt und eine Tafel aufgestellt, die Friedrich Wilhelm Raiffeisen (1818–1888) als «Pionier des genossenschaftlichen Bankenwesens» würdigt.

Raffeisengründer war ein prononcierter Antisemit

Doch mit dem Raiffeisengründer gibt es ein Problem: Der Mann war ein Antisemit, wie ein 2018 erschienenes Buch zu seinem 200. Geburtstag erstmals einem grösseren Publikum bekannt machte. Das habe man bei der Platzbenennung noch nicht wissen müssen, sagt der Historiker Hans Fässler, aber inzwischen sei die Judenfeindlichkeit des Bankenpioniers belegt: «Er war ein derart prononcierter Antisemit, dass die Nazis ihn 1938 anlässlich seines 50. Todestags als einen der ihren gefeiert haben.» In einer damaligen Ehrenrede freute sich ein Gauleiter, dass Raiffeisen «das deutsche Bauerntum aus den Klauen der jüdischen Zinswucherer» befreit habe.

Folglich verlangte Fässler im Juni 2021 mit einer Gruppe Gleichgesinnter die Umbenennung des Raiffeisenplatzes: Statt dem Antisemiten solle der Ort die prominente jüdische Frau Recha Sternbuch (1905-1971) würdigen, die lange in St.Gallen lebte und zahllose Menschen vor der Vernichtung durch die Nationalsozialisten gerettet hat. Ihren Brief an die Stadtregierung machte die Gruppe nicht öffentlich, um der Stadt und Raiffeisen Zeit zu geben, sich mit der «komplexen, aber auch ganz einfachen Materie zu befassen», wie Fässler am Donnerstag vor Ort sagte: «Diese Zeit ist nun abgelaufen.»

«Diesen Platz hätte sie schon lange verdient»

Der Stadtrat begrüsse das Anliegen, doch die Bank wolle, «nicht begeistert», aber wohl einlenkend, bis 2024 warten und die Sache durch historische Fachleute aufarbeiten lassen, erklärte Fässler das Ende der Geduld. Angebote der Gruppe, das Vorgehen mit der Stadt und der Bank zu besprechen, seien allesamt abgelehnt worden. «Uns scheint, Raiffeisen spiele auf Zeit und hoffe, die Umbenennung doch noch verhindern zu können.» Misstrauisch mache die Forderung, die Stadt solle eine «umfassende Analyse» machen und sich dabei nicht einseitig auf die Person des Raiffeisengründers fokussieren; die an fünf Fachleute vergebenen Aufträge würden sich prompt nur auf die Raiffeisen-Bewegung Schweiz beziehen.

Nun soll die öffentliche Wirkung die Realisierung beschleunigen, bis spätestens 2024 soll der Platz umbenannt sein. Nebst Fässler unterstrichen das dringliche Anliegen Paul Rechsteiner, ehemaliger Ständerat und Präsident der Paul-Grüninger-Stiftung, Hanno Loewy, Direktor des jüdischen Museums Hohenems, Batja P. Guggenheim-Ami seitens der Jüdischen Gemeinde St.Gallen, Stefan Keller, Historiker und Autor des Grüninger-Buchs, und Pipilotti Rist als Platzgestalterin. Zur Gruppe gehören ausserdem die evangelische Theologin Karin Scheiber und Dinah Ehrenfreund, Sammlungskuratorin am Jüdischen Museum Basel.

Dass ein derart prominenter städtischer Platz und «Ort mit nationaler Ausstrahlung noch immer einem notorischen Antisemiten» gelte, sei «unerträglich», sagte Paul Rechsteiner. Mit Recha Sternbuch hingegen würde eine mutige Frau geehrt, die «diesen Platz wirklich schon lange verdient», meinte Stefan Keller. Als Fluchthelferin scheute sie weder Mühe noch Kosten, holte die Leute teilweise selber an der Grenze ab und brachte sie in ihr eigenes Flüchtlingsheim (an der Leonhardstrasse), unterhielt ein Schleppernetz im Rheintal und vertraute auf Polizeihauptmann Paul Grüninger, nach dessen Verhaftung sie ebenfalls inhaftiert, wenn auch nicht verurteilt wurde.

Pipilotti Rist nimmt Bank in die Pflicht

Dankbar, dass sie an der Umbenennung beteiligt werde, zeigte sich die Künstlerin Pipilotti Rist. Mit einem Denkmal für Recha Sternbuch werde an die Geschichte des Antisemitismus in der Schweiz erinnert («damit sich das nicht wiederholt») und bezeugt: «Wir müssen Zivilcourage schützen, pflegen und selbst leisten.» Sie wünsche sich von der Bank, dass sie sich der erinnerungspolitischen Debatte stelle, «wie das heute normal ist».

Den stimmigen Ort für die Ehrung der couragierten jüdischen St.Gallerin betonte Batja P. Guggenheim-Ami – er liegt an der Schnittstelle der (1951 abgebrochenen) ostjüdischen Synagoge, dem Betsaal der Familie Sternbuch und der heute noch bestehenden Synagoge von 1881, historisch passend auch der Bezug zu den im Bleicheliquartier erbauten jüdischen Textilfabriken. Schliesslich nennt die Gruppe weitere Gründe für die Namensehrung: Mit Recha Sternbuch würde eine Frau gewürdigt, welche Familienarbeit mit sechs Kindern und politisches Engagement zu verbinden vermochte – dies entspräche der in der Stadt bereits erhobenen Forderung, dass «Frauen und ihre Leistungen im Alltag gleich sichtbar sein müssten wie Männer». Und es gebe in der Schweiz nur sehr wenige Erinnerungsorte (Strassen, Plätze, Gebäude), welche nach bekannten Jüdinnen oder Juden benannt sind.

Für die lokale jüdische Gemeinde bedeutete der neu benannte Platz «Verneigung und Dankbarkeit» gegenüber der Retterin vieler Menschenleben und ihr Gedenken «Trost für die unfassbaren Schrecknisse». Und er wäre «gerade in einer Zeit des zunehmenden Antisemitismus ein wichtiges Zeichen der interreligiösen Solidarität».

Das mögliche Schild für Recha Sternbuch hängte die Gruppe am Donnerstag provisorisch hin. Es war nicht die erste Umwidmung: Fässler hatte bereits im Sommer 2018 einen Schilderprotest veranstaltet, damals aus Ärger über die Verfehlungen des Ex-Raiffeisen-CEO Pierin Vincenz, die den Bankgründer «im Grabe umdrehen» würden lassen. Just Vincenz sei 2005 die Adresse «Raiffeisenplatz 1» für den neuen Sitz «sehr wichtig» gewesen, weiss Fässler: «Er wird sich umgewöhnen müssen, falls das für ihn noch eine Rolle spielt.» Tatsächlich eröffnet sich der Raiffeisenbank die Chance, «eine schwierige Vergangenheit hinter sich zu lassen», wie Rechsteiner bemerkte – durchaus doppeldeutig.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/juedische-fluechtlingsretterin-statt-antisemitischer-genossenschaftsbankgruender-ld.2463167)