Medienspiegel 16. Mai 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BASEL
Viele minderjährige Asylsuchende im Bundesasylzentrum in Basel
Im Vergleich zum Vorjahr wohnen im Bundesasylzentrum in Basel drei Mal so viele Menschen. Viele davon sind minderjährig. Sie brauchen besondere Betreuung durch Sozialpädagoginnen und -pädagogen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/viele-minderjaehrige-asylsuchende-im-bundesasylzentrum-in-basel?id=12389401


+++SCHWEIZ
Vorläufig Aufgenommene: Arbeitsweg von zwei Stunden behindert die berufliche Integration.
Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) begrüsst in ihrer Vernehmlassungsantwort grundsätzlich die geplanten Anpassungen für einen einfacheren Arbeitsmarktzugang von Personen mit einer vorläufigen Aufnahme. Allerdings fallen die Bedingungen für den erleichterten Kantonswechsel aus Sicht der SFH noch zu restriktiv aus.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/vorlaeufig-aufgenommene-arbeitsweg-von-zwei-stunden-behindert-die-berufliche-integration


Flüchtlingspolitik vs. Kinderrechte – Wie ernst nimmt es die Schweiz? #stopdublinkroatien
Ein kritischer Blick auf das Schweizerische Flüchtlingswesen anhand des Schicksals meiner 16jährigen Schülerin aus Afghanistan.
https://www.youtube.com/watch?v=NKiH9rtr_0o


+++FRANKREICH
Madjiguène Cissé ist gestorben: Die Anführerin der Sans Papiers
In Frankreich wurde sie als Vorkämpferin für die Rechte papierloser Afrikaner:innen bekannt. Jetzt ist Madjiguène Cissé mit 72 Jahren gestorben.
https://taz.de/Madjiguene-Cisse-ist-gestorben/!5935127/


+++GROSSBRITANNIEN
Großbritannien: Rishi Sunak wirbt für härtere Gesetze gegen illegale Migration
Mit scharfen Gesetzen schreckt Großbritannien Migranten ab und geriet in Konflikt mit dem Europäischen Menschengerichtshof. Dessen Einfluss will der Premier nun mindern.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/grossbritannien-rishi-sunak-migration-menschengerichtshof


+++DEMO/AKTION/REPESSION
Roofer auf dem Bundeshausdach wird zum Fall für das Fedpol
Fedpol und Parlamentsdienste gehen der Frage nach, wie ein Mann am helllichten Tag unbemerkt auf das des Bundeshauses klettern konnte.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/roofer-auf-dem-bundeshausdach-wird-zum-fall-fur-das-fedpol-66495990


Lebensgefährlich und illegal: Hier klettert ein Berner auf das Bundeshaus
Er sei selbst überrascht gewesen, wie einfach er auf das Bundeshaus klettern konnte. Das alarmiert auch Sicherheitspolitiker, denn es ist der zweite Vorfall innert kurzer Zeit. Hat das Bundeshaus ein Sicherheitsproblem?
https://www.telebaern.tv/telebaern-news/lebensgefaehrlich-und-illegal-hier-klettert-ein-berner-auf-das-bundeshaus-151555528
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/lebensgefaehrlich-und-illegal-hier-klettert-ein-berner-auf-das-bundeshaus-151555662
-> https://www.telem1.ch/aktuell/lebensgefaehrlich-und-illegal-hier-klettert-ein-berner-auf-das-bundeshaus-151555263


+++SPORT
Bald Geisterspiele? Luzerner Mitte lanciert Initiative gegen Fan-Gewalt
Die Mitte des Kantons Luzern will der Fan-Gewalt den Riegel schieben. Die Delegierten haben am Dienstagabend in der Stadt Luzern beschlossen, eine Volksinitiative gegen Fussball-Chaoten zu lancieren.
https://www.pilatustoday.ch/sport/fussball/luzerner-mitte-lanciert-initiative-gegen-fan-gewalt-151558605



luzernerzeitung.ch 16.05.2023

Delegierte geben grünes Licht: Mitte arbeitet Initiative zu Fangewalt aus

Die Luzerner Mitte arbeitet eine Initiative aus, um das Problem mit Fussballchaoten in den Griff zu bekommen. Gegen den Entscheid regte sich vereinzelt Widerstand.

Dominik Weingartner

Der emotionalen Diskussion folgte ein klarer Entscheid: Die Parteileitung der Luzerner Mitte hat von ihren Delegierten am Dienstagabend im Zentrum Maihof in Luzern grünes Licht für die Ausarbeitung einer Volksinitiative gegen Fangewalt erhalten. Die Mitte beackert das Thema seit Wochen, jetzt macht sie mit ihrer Drohung Ernst.

Parteipräsident Christian Ineichen begründete den Schritt mit den seiner Ansicht nach zunehmenden Gewaltauswüchsen rund um Fussballspiele. «Hohe Kosten für die Geschädigten, kaum Konsequenzen für die Täter», fasste er das Problem zusammen. Die Parteileitung habe eine Arbeitsgruppe eingesetzt, bestehend aus Juristen sowie ehemaligen und aktiven Polizisten.

Ineichen betonte, man wolle keine «Lex FCL» schaffen, sondern nehme die Fangewalt generell ins Visier. Zudem beschränke man sich auf Sportveranstaltungen. «Wir wollen mit der Initiative geordnete Abläufe vor, während und nach einem Spiel gewährleisten.» Mindestens in den obersten Ligen von Fussball und Eishockey – das betrifft im Kanton Luzern zurzeit nur den FC Luzern.

ID-Kontrollen sowie An- und Rückreisekonzepte

Konkret kann sich Ineichen eine Pflicht von ID-Kontrollen vorstellen. «Wir wollen die Übeltäter aus der Anonymität herausholen.» Zudem soll das Hooligan-Konkordat ins kantonale Polizeigesetz überführt werden, allenfalls sollen «Kann»- in «Muss»-Formulierungen abgeändert werden. Spiele sollen nicht mehr bewilligt werden, wenn kein An- und Rückreisekonzept vorliegt. Weiter fordert die Mitte ein Eskalationsmodell mit raschen Stufen von Verwarnungen bis hin zu Geisterspielen.

Im Saal regte sich gegen diese Pläne zwar nur vereinzelter, dafür umso lauterer Widerstand. Gregor Schnider bezeichnete sich selber als regelmässigen Stadiongänger. ID-Kontrollen würden nichts bringen, sagte er. «Wir haben im Stadion keine Probleme, die sind draussen.» Auch Markus Estermann kritisierte das Vorhaben scharf. «Man setzt auf Schlagworte. Ich bin mir nicht gewohnt, dass die Mitte so kutschiert.» Er war ebenfalls der Meinung, dass die Probleme ausserhalb des Stadions bestünden. Zudem zeigten die Erfahrungen anderer Länder mit der ID-Pflicht, dass diese nichts bringe.

«Wir haben das Problem nicht im Griff»

Dem widersprach Parteipräsident Ineichen: «Wenn ich die Pyros in den Stadien sehe, habe ich meine Zweifel, dass es im Stadion keine Probleme gibt.» Auch Nationalrat Leo Müller machte sich für die Initiative stark. Er ertrage es fast nicht mehr, wenn immer gesagt werde, diese oder jene Massnahme sei nicht möglich. Man diskutiere seit Jahrzehnten. «Wir haben das Problem nicht im Griff. Irgendwann muss es gelöst werden.»

Ähnlich äusserte sich Nationalrätin Ida Glanzmann. Sie habe bereits 2011 ein Postulat zum Thema eingereicht, das dann versandet sei. Die Ausschreitungen würden den Sport kaputtmachen. «Ich bin froh, wenn die Mitte etwas zu diesem Thema macht.» Auf die Frage aus dem Plenum, ob die Parteiverantwortlichen das Gespräch mit dem FC Luzern gesucht hätten, sagte Christian Ineichen, man habe kürzlich mit Vertretern der Fanarbeit gesprochen. «Wir sind dabei nicht in den Glauben versetzt worden, dass dort Besserungsbestrebungen vorhanden sind.»

Philipp Studhalter, ehemaliger FCL-Präsident und jetziger Chef der Swiss Football League, war zudem laut Ineichen vor rund einem halben Jahr Gast bei der Mitte-Fraktion. Dieser habe auf entsprechende Fragen «gefallsüchtige» Antworten gegeben. Ineichen: «Diese Leute wollen gar nichts ändern. Man kann sie nur zur Räson bringen, indem man eine griffige gesetzliche Grundlage schafft.»
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/kanton-luzern-delegierte-geben-gruenes-licht-mitte-arbeitet-initiative-zu-fangewalt-aus-ld.2456816)



luzernerzeitung.ch 16.05.2023

Behörden sperren ganzen Fansektor und drohen mit Folgestrafen – «damit müssen künftig alle Klubs rechnen»

Weil Chaoten des FC Sion in Genf wüteten, dürfen sie beim nächsten Heimspiel nicht ins eigene Stadion. Und: Sie sind ab sofort auf Bewährung – eine neue Strafe, welche Städte und Kantone erstmals verhängten.

Martin Messmer

Am letzten Samstag kam es in Genf rund um das Spiel Servette gegen den FC Sion zu schweren Ausschreitungen. Chaoten aus dem Wallis attackierten die Genfer Polizei; fünf Polizisten wurden dabei verletzt. Dieser erneute Gewaltausbruch rund um Fussballspiele in der Schweiz hat nun Folgen für den FC Sion und dessen gesamte Anhängerschaft.

Es ist für Fussballfans die Höchststrafe, die gegen sie verhängt wurde. Sie dürfen beim nächsten Spiel ihre Mannschaft nicht mehr im Stadion anfeuern, dies beim Heimspiel in Sion am Sonntag gegen YB: «Die Bewilligungsbehörden haben als Reaktion auf die Ausschreitungen in Genf beschlossen, die Fankurve des FC Sion beim nächsten Heimspiel vom kommenden Sonntag zu schliessen», teilte die Konferenz der Kantonalen Justiz- und Polizeidirektorinnen und -direktoren am Dienstag mit. «Die Bewilligungsbehörden der Städte und Kantone tolerieren keine Gewalt an Polizisten», begründet die KKJPD in ihrer Mitteilung.

Den Anhängern der Young Boys, unbeteiligt bei den Ausschreitungen in Genf, sind die Anreise und der Besuch des Spiels im Wallis hingegen gestattet.

«Das ist für die Sion-Fans nun ein Spiel auf Bewährung»

Es ist das erste Mal überhaupt, dass ein neu ausgearbeitetes Kaskadenmodell zur Anwendung gelangt, bestätigte KKJPD-Co-Präsidentin Karin Kayser-Frutschi (Mitte), Regierungsrätin in Nidwalden, gegenüber dieser Zeitung; es sei letzte Woche verabschiedet worden. «Das ist für die Sion-Fans nun ein Spiel auf Bewährung», so Kayser-Frutschi.

Konkret: Wenn beim nächsten Spiel des FC Sion (mit den ausgesperrten Sion-Fans) alles friedlich bleibe, dann dürften die Sion-Fans ihr Team beim übernächsten Spiel wieder vor Ort anfeuern. «Wenn nicht, dann werden sie automatisch für zwei weitere Spiele ausgesperrt.» Dies würde die Spiele am 25. Mai daheim in Sion gegen den FC Luzern und am 29. Mai auswärts gegen den FC St. Gallen betreffen.

Kracht’s beim Hochrisiko-Spiel FCL gegen St. Gallen, droht die gleiche Strafe

Mit der gleichen drastischen Sanktion, von der jetzt die Sion-Fans betroffen sind, «muss in Zukunft jeder Klub der Schweiz rechnen, dessen Fans bei Ausschreitungen beteiligt sind», sagt Kayser-Frutschi weiter. Die Regeln gelten also auch für die Fans des FC Luzern oder des FC St. Gallen; die beiden Klubs treffen am Samstag ab 20.30 Uhr aufeinander, das Spiel ist offiziell als Hochrisikospiel klassiert.

«Friedliche Fans sollen Chaoten disziplinieren»

Der Luzerner Sicherheitsdirektor Paul Winiker (SVP), Vorsitzender der Bewilligungsbehörden von Städten und Kantonen, bewertet das neue Kaskadenmodell als «Wink an die Fangruppen. Wenn sie weiterhin die Freude am Fussball geniessen wollen, dann müssen sie auch dafür sorgen, dass die Chaoten in ihren Kreisen diszipliniert werden. Das ist also nicht nur einfach ein restriktives Signal, sondern auch ein lenkendes.»

Mit anderen Worten: Weil auch friedliche Fans der Kurve von einer solchen Kollektivstrafe betroffen sind, soll nun vermehrte Sozialkontrolle helfen, Fangewalt zu vermindern. Nicht betroffen sind die Fans in den Stadien ausserhalb der Fankurven von diesen Strafen.

«Wir brauchen sofort Sanktionierungsmöglichkeiten»

Im Übrigen handelt es sich beim erwähnten Kaskadenmodell nicht um das gleichnamige Projekt, das Fussballvertreter und Behörden im März in Ansätzen präsentierten und in den nächsten Monaten «unter Einbezug aller Anspruchsgruppen» konkretisieren wollen, wie es damals hiess. Winiker sagt, warum die Bewilligungsbehörden der Städte und Kantone nun vorgeprescht sind: «Nach den gravierenden Gewaltexzessen in Basel haben wir uns gesagt, dass wir nicht auf dieses Kaskadenmodell warten können, das man derzeit mit dem Fussballverband erarbeitet. Denn bis dieses in Kraft ist, wird es doch wieder bis zur Saison 24/25 dauern. Wir brauchen sofort neue Sanktionierungsmöglichkeiten.»

Gibt es Verletzte, gibt es immer Stadionsperren

Laut Winiker können sich auch die Klubs, deren Fans sich nicht korrekt verhalten haben, nach Vorfällen selbst Vorschläge für Massnahmen bei den Bewilligungsbehörden einbringen. Wenn solche ausbleiben, diese die Behörden nicht überzeugen oder aber es sich um gravierende Vorfälle handelt, «dann sperren wir deren fehlbare Fans künftig für ein bis drei Spiele aus. Und sobald es bei Ausschreitungen Verletzte gibt, sind diese Vorfälle immer und unzweifelhaft als gravierend einzustufen.»
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/nach-krawallen-behoerden-sperren-erstmals-ganzen-fansektor-und-drohen-mit-folgestrafen-damit-muessen-kuenftig-alle-klubs-rechnen-ld.2459356)


+++MENSCHENRECHTE
Zahl der dokumentierten Hinrichtungen auf dem höchsten Stand seit fünf Jahren
Der neue Bericht von Amnesty International zur weltweiten Anwendung der Todesstrafe zeigt für 2022 eine besorgniserregende Zunahme von Todesurteilen und Hinrichtungen. Angesichts einer Hinrichtungswelle im Nahen Osten und in Nordafrika erreichte die Zahl der Hinrichtungen im Jahr 2022 den höchsten Stand seit fünf Jahren.
https://www.amnesty.ch/de/themen/todesstrafe/dok/2023/todesstrafen-bericht-2022-hoechststand-seit-5-jahren
-> https://www.spiegel.de/ausland/amnesty-international-zahl-der-hinrichtungen-so-hoch-wie-seit-fuenf-jahren-nicht-a-aeeb43a7-0d45-46ce-9ae9-ff3ccf759a44
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-05/hinrichtungen-todesurteil-hoechststand-amnesty-international
-> https://rabe.ch/2023/05/16/dramatischer-anstieg-von-hinrichtungen/
-> https://www.watson.ch/wissen/international/830012647-amnesty-international-in-diesen-20-laendern-gab-es-2022-hinrichtungen
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173301.todesstrafe-amnesyt-international-zahl-der-hinrichtungen-stark-gestiegen.html


+++KNAST
Angehörigen-Angebote in den Gefängnissen: Ostschweizer Kantone wollen St. Galler Weg einschlagen.  (ab 03:19)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/buendner-gruenliberale-wollen-nationalratssitz-zurueck?id=12388513


Churer Sennhof: Der einst härteste Knast der Schweiz – Schweiz Aktuell
Enge Platzverhältnisse, Isolationshaft: Das einst berüchtigte Churer Gefängnis Sennhof wird zum Wohnareal mit Ateliers, Läden und Restaurants umgenutzt – und fasziniert auch gerade durch die düstere Geschichte.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/churer-sennhof-der-einst-haerteste-knast-der-schweiz?urn=urn:srf:video:b476fd6f-e068-4cf3-b4c2-23cad3d0b156


Graffitikünstler «Bane» besprayt Gefängniswand
Hohe, graue Wände, die oben mit einem Gitter zugemacht sind. Das war lange die Aussicht der Insassen vom Gefängnis Grosshof in Kriens. Der Kanton Luzern wollte dies ändern und lud dafür den bekannten Graffitikünstler «Bane» ein. Das Ergebnis kostet den Kanton 50’000 Franken und wurde an einer besonderen Vernissage im Gefängnis vorgestellt.
https://www.tele1.ch/nachrichten/graffitikuenstler-bane-besprayt-gefaengniswand-151556073


+++POLIZEI TG
Gutachten: Neues Polizeigesetz im Thurgau ist rechtswidrig – Schweiz Aktuell
Das Polizeigesetz im Kanton Thurgau soll verschärft werden und den Polizistinnen und Polizisten mehr Möglichkeiten und Rechte für präventive Kontrollen geben. Gemäss einem Gutachten ist das Gesetz jedoch rechtswidrig.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/gutachten-neues-polizeigesetz-im-thurgau-ist-rechtswidrig?urn=urn:srf:video:99bca040-7cac-4583-808a-747d92583074


+++POLIZEI DE
Studie zu Polizeigewalt: »Der Staat tut sich schwer, Fehlverhalten der eigenen Bediensteten zu ahnden«
3300 mutmaßlich Betroffene wurden befragt, dazu 60 Polizisten, Richterinnen, Anwälte und Opferberatungsstellen: Ein Forscherteam hat das Phänomen Polizeigewalt untersucht. Nun liegen die Ergebnisse vor.
https://www.spiegel.de/panorama/justiz/studie-zu-polizeigewalt-der-staat-tut-sich-schwer-fehlverhalten-der-eigenen-bediensteten-zu-ahnden-a-9be07edf-9f56-4e59-aefa-aff0269ac474?
-> https://www.tagesschau.de/inland/gesellschaft/polizeigewalt-studie-100.html
-> https://twitter.com/kviapol
-> https://kviapol.uni-frankfurt.de/
-> Buch: https://www.campus.de/buecher-campus-verlag/wissenschaft/soziologie/gewalt_im_amt-17585.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1173248.studie-polizeigewalt-ist-meist-maennlich-und-bleibt-noch-oefter-straflos.html



zeit.de 16.05.2023

Studie zu Polizeigewalt: Viele erstatten gar nicht erst Anzeige

Wer sich gegen Polizeigewalt wehren will, hat laut einer Studie juristisch kaum Chancen. Das sei nicht nur für Betroffene ein Problem, sondern auch für die Polizei.

Von Nina Monecke

Selbst einige aus ihrem engsten Umfeld hätten nicht ihr, sondern der Polizei geglaubt, sagt Sarah N. rückblickend. Irgendwas müsse sie doch gemacht haben. Doch die junge Frau war am 8. Juli 2017 kurz nach Mitternacht nur auf dem Heimweg. Mit den Protesten gegen den G20-Gipfel, der gerade in ihrer Stadt Hamburg stattfand, hatte sie nichts zu tun. Als sie und ihr Freund eine Absperrung passierten, sei sie von Polizisten ohne eine Erklärung vom Rad gerissen worden. An den Händen habe man sie zurück zu einer Kreuzung geschleift und dabei auf sie eingetreten. So erzählte es Sarah N. ZEIT ONLINE.

Fünf Jahre später spürt sie noch die Nachwirkungen des Vorfalls: Immer wieder erlebe sie Panikattacken, leide unter einer posttraumatischen Belastungsstörung. Die Polizisten, die Sarah N. damals verletzt haben, konnten bis heute nicht ermittelt werden. Das Verfahren wurde eingestellt. Dabei hat die Polizei Hamburg 2022 vor einem Verwaltungsgericht sogar anerkannt, dass die Beamten in N.s Fall rechtswidrig körperliche Gewalt angewendet haben.

Was Sarah N. passierte, deckt sich mit dem, was auch andere Betroffene von Polizeigewalt berichten. Das zeigt eine Studie zu Gewalt im Amt durch Polizisten des Kriminologen Tobias Singelnstein, die am Dienstag abschließend vorgestellt wird und ZEIT ONLINE vorliegt.

Demnach werden mehr als 90 Prozent der Strafverfahren zu rechtswidriger Polizeigewalt eingestellt. In gerade einmal zwei Prozent der Fälle wird laut Statistiken der Staatsanwaltschaften überhaupt Anklage erhoben. Eine ungewöhnlich niedrige Quote, die laut den Forschenden nicht nur auf unberechtigte Anzeigen zurückgeführt werden kann. Vielmehr habe sie mit einer oft schwierigen Beweislage und der ambivalenten Rolle von Polizisten in diesen Fällen zu tun: Sie sollen gegen die eigenen Kollegen ermitteln, gegen sie als Zeugen aussagen und schreiben die Berichte, die vor Gericht als Beweise dienen. Auch die institutionelle Nähe zwischen Justiz und Polizei behindere eine neutrale Aufarbeitung.

Obwohl einzelne Fälle immer wieder öffentlich debattiert werden, gibt es zur Polizeigewalt in Deutschland und ihrer juristischen Aufarbeitung bisher kaum systematisch erhobene Daten. Das Forschungsprojekt um Singelnstein liefert hierzu erstmals umfassende wissenschaftliche Befunde. Für die Studie, die seit 2018 zunächst an der Ruhr-Universität Bochum durchgeführt wurde und mittlerweile an der Universität Frankfurt angesiedelt ist, wurden 3.300 Betroffene befragt und mehr als 60 qualitative Interviews mit Polizisten, Richterinnen, Staatsanwälten, Opferberatungsstellen und Rechtsanwältinnen geführt. Ein erster Zwischenbericht wurde 2019 veröffentlicht, ein zweiter mit dem Schwerpunkt Diskriminierungserfahrungen von Betroffenen 2020.

Großes Dunkelfeld bei rechtswidriger Polizeigewalt

Nur wenige Betroffene erstatten laut der Studie überhaupt Anzeige (neun Prozent) – weil sie um die schlechten Erfolgsaussichten wissen, Beweise fehlen, sie die betreffenden Beamten nicht identifizieren können oder Repressionen fürchten. “Sie haben den Eindruck, in einem Strafverfahren keine Chance zu haben”, sagt Singelnstein. Das sei ein “erhebliches Problem”. Ein Drittel der Befragten gab sogar an, nach einem Vorfall selbst von der Polizei angezeigt worden zu sein. Der Großteil der Verdachtsfälle rechtswidriger polizeilicher Gewalt bleibt laut der Studie im Dunkelfeld: Nur 14 Prozent der Befragten berichten, dass in ihrem Fall ein Strafverfahren stattgefunden habe.

Die Ergebnisse sind nicht repräsentativ. Die Größe der Stichprobe und die Bandbreite der geschilderten Fälle lässt den Autorinnen und Autoren der Studie zufolge aber grundlegende Erkenntnisse zu. Dabei können sie jedoch nur erheben, was Betroffene als übermäßige Gewalt empfunden haben. Denn Gewalt durch Polizisten ist nicht per se rechtswidrig: Unter engen Voraussetzungen dürfen sie Gewalt anwenden – zum Beispiel, um polizeiliche Maßnahmen durchzusetzen. Im Polizeijargon wird das “unmittelbarer Zwang” genannt. Polizisten sollen dabei verhältnismäßig handeln. Ein Anspruch, der laut Polizeiforschern in hohem Maße anfällig für Grenzüberschreitungen und Missbrauch ist.

Die Angst der Polizei vor Kontrollverlust

In den Interviews hätten die Beamten stark auf ihre rechtliche Befugnis verwiesen, Gewalt anzuwenden, sagt Singelnstein. Dies könne aber auch von pragmatischen Erwägungen überlagert werden, wie zum Beispiel zuletzt bei Schmerzgriffen gegen einzelne Aktivisten der Letzten Generation. “Aus rechtlicher Sicht dürfen Polizisten nur so wenig Gewalt wie nötig einsetzen.” Das hieße bei einer friedlichen Blockade eigentlich: Wegtragen. “Wenn man den Schmerzgriff anwendet, geht es aber häufig schneller und einfacher.”

Für die Betroffenen spielt es eher eine Rolle, inwiefern die Gewalt durch die Polizei gerechtfertigt war und ob die Beamten ihrem Schutzauftrag nachgekommen sind. Ein Viertel der Befragten gab an, dass das Einschreiten der Polizei ausschlaggebend für die Gewalteskalation war. 17 Prozent sahen den Grund dafür im konkreten Verhalten der Beamten: bewusste Eskalation, Stress oder diskriminierendes Verhalten. 19 Prozent gaben an, dass sie zuvor Anweisungen nicht befolgt hätten. Dazu gehörten bloße Nachfragen nach dem Dienstausweis, aber auch Provokationen und Beleidigungen. Und 15 Prozent der Befragten nannten ihr eigenes Verhalten oder das anderer anwesender Personen als Grund: Vermummungen, das Zünden von Pyrotechnik und das legale Beobachten oder Filmen von Einsätzen.

Von der Polizei wurden in den Interviews unter anderem Zeitdruck, Stress und mangelnde Kommunikation und Personalressourcen als Faktoren genannt, die eine Eskalation begünstigten. Zentral ist aber die Sorge vor einem Kontrollverlust. “Polizeibeamte sind darauf geschult, Situationen zu dominieren”, sagt Kriminologe Singelnstein. “Eine Maßnahme, die einmal angeordnet wurde, wird dann auch durchgezogen.” Es gebe oft keine Idee davon, noch mal einen Schritt zurückzutreten, zu überlegen und die Situation anders anzugehen.

Das könnte auch erklären, warum mitunter bereits ein als respektlos wahrgenommenes Verhalten oder das leichte Stören eines Einsatzes zu Gewalt führe. Das gelte insbesondere dann, wenn Betroffene anders als von den Polizeibeamten erwartet reagieren, etwa im Falle einer psychischen Erkrankung oder bei Alkohol- oder Drogenkonsum. “Situationen werden mit Gewalt behandelt, in denen auch Deeskalation möglich gewesen wäre”, sagt Singelnstein.

Übermäßige Gewalt zu erleben, kann für die Betroffenen massive körperliche und psychische Folgen haben. 19 Prozent der Befragten gaben an, schwere körperliche Verletzungen erlitten zu haben, etwa Knochenbrüche oder Verletzungen an Gelenken und Sinnesorganen. Ein Drittel der Befragten ließ sich medizinisch behandeln. Knapp ein Fünftel berichtet von Schlafstörungen, neun Prozent suchten sich psychologische Hilfe. Die Schwere der Schilderungen kann laut Studienautorinnen aber auch dadurch zustande kommen, dass die Betroffenen massiver Verletzungen womöglich ein größeres Bedürfnis haben, davon zu erzählen.

Vor allem leidet auch das Bild der Polizei: Mehr als 80 Prozent der Befragten sagten, dass sie Wut, Angst oder Unwohlsein verspürten, wenn sie danach wieder auf Polizisten trafen. Die für die Studie interviewten Expertinnen wiesen darauf hin, dass Polizeigewalt zu starken Ohnmachtsgefühlen und zu einem Vertrauensverlust in Polizei und Staat führen könne.

Die Polizei, gerade auf der Führungsebene, tut sich mit öffentlicher Kritik schwer, sagt Singelnstein. Probleme nicht transparent und höchstens intern aufzuarbeiten, ob polizeiliche Gewaltausübung oder Rassismus, funktioniere aber schlicht nicht mehr. “Die Gesellschaft erwartet, dass eine transparente Aufarbeitung stattfindet. Sonst passiert unter Umständen das Gegenteil von dem, was die Polizei erreichen will: Ihre Legitimität wird untergraben.”

Auch Sarah N. aus Hamburg sagt, ihr Vertrauen in Polizei und Justiz sei seit dem Vorfall während des G20-Gipfels beschädigt. Kein Beamter hat sich vor einem Gericht für das, was ihr passierte, verantworten müssen. “Ich hatte nie das Gefühl, dass da irgendjemand vorhat, die Schuldigen zu finden.”
(https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-05/polizeigewalt-studie-tobias-singelnstein-kviapol/komplettansicht)



spiegel.de 16.05.2023

Vorwürfe gegen Beamte: Die Zahl der Ermittlungsverfahren zu Polizeigewalt steigt. Wie ist das zu erklären?

Fälle von mutmaßlich überzogener Polizeigewalt führen immer wieder zu öffentlichen Diskussionen. Doch zu Gerichtsprozessen kommt es selten. Experten aus Politik und Wissenschaft über ein umstrittenes Phänomen.

Von Tobias Lill

Tarik M. ist noch immer fassungslos, wenn er an die Geschehnisse vom Februar 2021 denkt. Er blättert durch einen dicken Ordner, der voll ist mit Schreiben von Staatsanwaltschaft, Polizei, Anwälten, Medizinern – und seinen eigenen Briefen. Sogar Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) hatte er seinen Fall geschildert. »Es geht mir um Gerechtigkeit. Wer Fehler macht, muss dafür gerade stehen«, sagt Tarik M.

Fehler haben aus seiner Sicht mehrere Polizeibeamte gemacht. Klar ist: Am Abend des 9. Februar 2021 war der Taxifahrer am Münchner Hauptbahnhof von der Polizei sehr unsanft zu Boden gebracht worden. Dabei sei Tarik M. in keiner Weise aggressiv gewesen, so jedenfalls berichteten es Zeugen dem SPIEGEL, der Ende 2021 den Fall  aufgriff.

Ein Video einer Überwachungskamera zeigt immerhin, wie die Polizisten zupacken: Ein Beamter scheint M. in einen Würgegriff zu nehmen, bevor der Taxifahrer mit Wucht auf den Straßenboden gerissen wird. Mehrere Polizisten sollen den heute 30-Jährigen dann laut Zeugen am Boden fixiert haben. Einer von ihnen habe den Münchner in den Schwitzkasten genommen, wollen in der Nähe stehende Taxifahrer wahrgenommen haben. Und Tarik M. behauptet, er habe am Boden keine Luft mehr bekommen. »Ich dachte: Da komme ich nicht mehr lebend raus«, sagte er.

Die Staatsanwaltschaft ging nach ihren Ermittlungen später allerdings nicht davon aus, dass M. »im Sinne eines Abschnürens der Atemwege« gewürgt wurde – weder die dokumentierten Verletzungen noch die Zeugenaussagen, die kein Würgen »im engeren Sinne« beschrieben hätten, sprächen dafür. Die Ermittlungsbehörde stellte im Sommer 2022 fest: »Zu einem tatsächlichen Abschneiden der Luft kam es daher nachweislich nicht.«

Staatsanwaltschaft stellt Verfahren ein

Die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren am Ende wegen geringer Schuld ein, konstatierte aber zumindest ein Fehlverhalten der Polizei: Die Polizisten hätten Tarik M. nicht ohne Vorwarnung zu Boden bringen dürfen. Doch gibt die Staatsanwaltschaft am Ende Tarik M. eine Mitschuld an der Eskalation. Er habe, indem er einen Taxifahrer aufgefordert habe, er solle in den Stand fahren, obwohl dieser überfüllt gewesen sei, eine Maßnahme der Polizei »torpediert«, so die Staatsanwältin auch unter Berufung auf von ihr vernommene Zeugen. Zudem habe M. nur oberflächliche Verletzungen erlitten. Die Schuld sei folglich nur »gering« zu werten.

Tarik M. kann die Entscheidung nicht nachvollziehen. Er glaubt nicht mehr, dass Polizeigewalt in Deutschland fair untersucht werde. »Am Ende hast du keine Chance. Die gewinnen immer«, ist er überzeugt. Tarik M. erlitt einem Attest einer Münchner Uniklinik zufolge Prellungen und Schürfwunden. Die seelischen Wunden seien bislang jedoch nicht geheilt, sagt M. Er ist nach eigener Aussage noch immer in therapeutischer Behandlung, bekommt Antidepressiva verschrieben. Er zucke noch immer zusammen, wenn er eine Sirene höre, sei generell ängstlicher geworden. »So ein Erlebnis macht etwas mit dir.«

Die Causa vom Münchner Hauptbahnhof zeigt, wie komplex derartige Fälle sind. Eine Handlung, die ein Betroffener für brutal hält, kann aus Sicht eines Polizeibeamten oder einer Staatsanwältin berechtigt und rechtmäßig sein. Für die Betroffenen wie Tarik M. gehen solche Erlebnisse oft mit Vertrauensverlust in Polizei und Staat einher, das geht auch aus einer Studie des Kriminologen Thomas Singelnstein hervor. Zugleich berichten Polizeibeamte von steigender Aggressivität und Respektlosigkeit, mit denen sie im Alltag umgehen müssten.

Mag im Fall von Tarik M. vor allem aufgrund der unterschiedlichen Bewertung von Zeugenaussagen am Ende der Polizei nur eine fehlende Ansprache vorwerfbar sein, führen Fälle von mutmaßlich überzogener Polizeigewalt ein ums andere Mal zu öffentlichen Diskussionen. Drei Beispiele aus den vergangenen Wochen:

– In Berlin wird derzeit ermittelt, ob der Einsatz eines sogenannten Schmerzgriffs gegen einen Demonstranten der »Letzten Generation« rechtens war. Einen Eilantrag des Klimaaktivisten hat das Berliner Verwaltungsgericht bereits zurückgewiesen.

– Die Berliner Polizei will nach eigenen Angaben auch das aggressive Auftreten von Beamten aus Mecklenburg-Vorpommern bei der 1.-Mai-Demonstration in Berlin untersuchen. Dabei geht es vor allem um ein Video, das zeigt, wie Polizisten am späten Abend durch die Oranienstraße in Kreuzberg gehen, wo viele Menschen feiern, und einen Mann mit Pfefferspray besprühen und heftig zu Boden stoßen.

– In Köln wurden Anfang April fünf Beamte wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung im Amt angeklagt. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, ohne hinreichenden Anlass und in unverhältnismäßiger Weise Gewalt gegen einen 59-Jährigen angewendet zu haben. Dem Mann sollen durch den Polizeieinsatz zwei Rippen gebrochen worden sein.

Daten von Bundesbehörden zeigen eine Zunahme mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt in den vergangenen Jahren. So wies die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) im Jahr 2017 insgesamt 1466 Verdachtsfälle von Körperverletzung im Amt auf, im vergangenen Jahr waren 2106 registriert. Ein Anstieg von 44 Prozent in nur fünf Jahren – höher als 2022 lag der Wert in der PKS zuletzt im Jahr 2009.

Zahl der erledigten Verfahren steigt ebenfalls spürbar

Im vergangenen Jahr wurden laut PKS in rund zwei Dritteln der Fälle von mutmaßlicher Körperverletzung im Amt ein oder mehrere Tatverdächtige ermittelt. Die Ermittlungen richteten sich gegen knapp 2400 Personen. Zwar sind in der Polizeistatistik unter den Körperverletzungen im Amt auch mutmaßliche Delikte anderer Staatsdiener erfasst – etwa von Feuerwehrleuten oder Lehrern. »Das sind aber nur sehr wenige Fälle, nach Schätzungen nicht einmal jeder zehnte«, sagt Rafael Behr, Professor für Polizeiwissenschaften an der Akademie der Polizei Hamburg. Klar ist: Seit 1998, als Körperverletzung im Amt in der PKS erstmals gesondert genannt wurde, wurde noch nie gegen so viele Staatsdiener deswegen ermittelt wie im vergangenen Jahr.

Allerdings nennt die Polizeistatistik nicht, in wie vielen Fällen die Beamten tatsächlich von der Justiz belangt wurden. Die Staatsanwaltschaftsstatistik des Bundesamts für Statistik weist immerhin die Zahl der Ermittlungsverfahren aus. Auch sie zeigt seit einigen Jahren wieder einen spürbaren Anstieg: So legte die Zahl der durch die Staatsanwaltschaften erledigten Verfahren aus dem Bereich »Gewaltausübung und Aussetzung durch Polizeibeamte« von 2018 bis 2021 deutschlandweit kontinuierlich von 2126 auf 2790 zu, also um ein gutes Drittel. Bereits 2020 hatte die Zahl der erledigten Verfahren mit exakt 2500 den höchsten Stand überhaupt seit der Einführung dieser Statistik im Jahr 2009 erreicht. Zahlen für das vergangene Jahr erscheinen voraussichtlich erst im Sommer.

»Die Beamten werden öfter angegriffen oder gar angepöbelt«

Über die Gründe für den Anstieg der Ermittlungsverfahren sagen die Statistiken allerdings nichts. Der Polizeirechtler Markus Thiel sieht »in den sich in den vergangenen Jahren häufenden gesellschaftlichen Konflikten eine mögliche Ursache«. Der Professor für Öffentliches Recht an der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster-Hiltrup sagt: »Wenn es zu mehr gewaltsamen Aufeinandertreffen der Polizei mit radikalen Gruppen kommt, nehmen in der Folge verbale und körperliche Auseinandersetzungen mit Einsatzkräften zu.« Folglich komme es zu mehr Fällen von Polizeigewalt. Er verweist etwa auf die Corona-Proteste. Der Jurist vermutet, dass auch der nachlassende Respekt in Teilen der Bevölkerung eine Rolle spiele. »Die Beamten werden öfter angegriffen oder gar angepöbelt«, sagt Thiel.

Thiel hält es zudem für plausibel, dass die Sensibilität für möglicherweise rechtswidrige Polizeigewalt bei vielen Menschen zugenommen habe, da in den vergangenen drei Jahren vermehrt über das Thema berichtet wurde. Insbesondere der Fall von George Floyd, der in den USA bei einem Polizeiumsatz ums Leben kam, habe dazu beigetragen. Zeugen oder mutmaßliche Opfer würden heute eher Anzeige erstatten als noch vor einigen Jahren, vermutet Thiel.

Polizeiwissenschaftler Behr sieht eine mögliche Ursache für das Plus an Anzeigen darin, dass es immer öfter Videos von Einsätzen gebe. »Stehen allein die Aussagen des mutmaßlichen Opfers gegen die der Polizei, hat es meist keine Chance – existieren etwa Handyaufnahmen, kann es schon ganz anders aussehen«, sagt Behr. Daher könnten sich nun mehr Opfer trauen, eine Anzeige zu erstatten. Der Soziologe hält es ebenfalls für gut möglich, dass zumindest ein Teil des Anstiegs »auf die verstärkte öffentliche Debatte über rechtswidrige Polizeigewalt zurückgeht«.

Wie groß ist das Dunkelfeld?

Der Kriminologe Tobias Singelnstein geht von einer hohen Zahl an nicht angezeigter möglicherweise rechtswidriger Polizeigewalt aus. Der Professor für Strafrecht an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt forscht seit Jahren zu dem Thema. In seiner Zeit an der Ruhr-Uni in Bochum haben Singelnstein und sein Team im Rahmen einer Studie mehr als 3300 Menschen befragt, die angegeben hatten, solche Übergriffe erlebt zu haben. Auf deren Grundlage gehen die Forscher von einem hohen Dunkelfeld aus. Singelnstein hält es angesichts des Anstiegs an Ermittlungsverfahren für möglich, dass ein kleiner Teil dieses Dunkelfelds nun sichtbar geworden ist. Er rechnet aber damit, dass es noch immer vier- bis fünfmal so viele Verdachtsfälle gebe, wie offiziell registriert seien.

Ein wesentlicher Grund für die tatsächlich weit niedrigere Zahl an Anzeigen ist aus Expertensicht, dass die Anzeigen in der Regel kaum Erfolgsaussichten hätten. Klar ist: Nur sehr selten landen Beamte vor Gericht – zuletzt stieg deren Zahl allerdings ebenfalls. Dies geht aus einer Detail-Auflistung zu mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt hervor, die das Bundesamt auf Anfrage übermittelt. Die Zahl der Fälle, in denen die Staatsanwaltschaft Anklage erhoben hat, stieg demnach von 2018 bis 2021 kontinuierlich von 23 auf 37. Der Wert schwankte in den Jahren zuvor – hat nun jedoch den höchsten Wert seit 2012 erreicht. Auch die Zahl der Anträge auf einen Strafbefehl legte von 2018 bis 2021 auf geringem Niveau von 17 auf 24 zu.

Der Großteil der Fälle angezeigter mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt wird jedoch eingestellt. In fast neun von zehn Fällen sahen die Staatsanwälte keinen für eine Anklageerhebung erforderlichen hinreichenden Tatverdacht.

»Polizeiaussagen gelten oft als besonders glaubhaft«

Dass es 2021 letztlich nur in 61 Fällen von mutmaßlicher Polizeigewalt zu einer Anklage oder einem Antrag auf Strafbefehl kam, hält Singelnstein für »bedenklich«. Im Vergleich zu anderen Delikten sei die Anklagequote bei mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt »ungewöhnlich gering«. Oft mangle es an objektiven Beweisen und Aussage stehe gegen Aussage, so der Kriminologe.

»Polizeiaussagen gelten oft als besonders glaubhaft«, sagt der Rechtswissenschaftler und Rechtsanwalt Benjamin Derin, der an der Goethe-Uni in Frankfurt unter anderem zum Thema rechtswidrige Polizeigewalt forscht. Auch komme es in der Praxis nur selten vor, dass Polizisten gegen Polizisten aussagen. Derin führt dies auf einen falsch verstandenen Korpsgeist bei Teilen der Einsatzkräfte zurück. Ein weiteres Problem ist Derin zufolge auch die »fehlende oder mangelnde Kennzeichnung von Beamten«. Nicht wenige Ermittlungen der Staatsanwälte liefen deshalb ins Leere.

Derin und Singelnstein sehen große strukturelle Probleme bei der Aufklärung von Polizeigewalt. Singelnstein hält es für problematisch, wenn Polizisten gegen Polizisten ermitteln. Auch zwischen Staatsanwaltschaft und Polizei bestehe eine große institutionelle Nähe. »Beide arbeiten im Alltag eng zusammen, sind aufeinander angewiesen. Dies führt zu Abhängigkeiten«, sagt Singelnstein. Derin kritisiert ebenfalls »eine zu große Nähe«, die einer lückenlose Aufklärung von Polizeigewalt im Wege stehen könne.

Singelnstein wünscht sich unabhängige Stellen für Ermittlungen gegen Polizisten: »Klassische Strafverfahren haben sich als Instrument für die Aufarbeitung rechtswidriger polizeilicher Gewaltausübung nicht bewährt«, sagt er. Soziologe Behr bemängelt: »Viele Menschen wissen gar nicht, wohin sie sich wenden können, wenn sie Gewalterfahrungen mit der Polizei machen – außer an die Polizei selbst.« Betroffen seien etwa viele Menschen mit Migrationshintergrund. Er fordert »einen komplett unabhängigen Polizeibeauftragten«, der mit staatsanwaltschaftlichen Befugnissen ausgestattet werde. So wie es ihn in manchen Ländern wie Dänemark oder Großbritannien bereits gebe. »Das schließt persönliche Befangenheit oder gar Manipulationen aus«, so der Experte.

Unterstützung kommt von der Linken. Deren stellvertretender Bundesvorsitzender Ates Gürpinar sagt: »Die Anzahl an gewalttätigen Übergriffen ist beängstigend.« Er spricht von einem »strukturellen Problem, das konsequent aufgearbeitet werden muss«. Für ihn ist klar: »Wir brauchen dringend eine unabhängige Beschwerdestelle.«

Bayerns Innenminister lehnt unabhängige Beschwerdestelle ab

Bayerns Innenminister Joachim Herrmann sieht hingegen keine Notwendigkeit für die Einrichtung eines Polizeibeauftragten. »Bürgerinnen und Bürger haben umfassende Möglichkeiten, ihre Beschwerden vorzubringen oder Anzeige gegen Polizisten zu erstatten.« Der CSU-Politiker verweist darauf, dass der Freistaat die Ermittlungen gegen Polizisten in einem Sonderdezernat im Bayerischen Landeskriminalamt ausgelagert hat. In Bayern werde jeder Verdacht akribisch geprüft, so Herrmann. Er sagt, Wissenschaftler wie Singelnstein und Behr sollten »sich besser mit tatsächlich vorhandenen Problemen beschäftigen«. So würden »immer mehr Polizisten angegriffen und verletzt«.

Mehrere Bundesländer wie Berlin haben zwar bereits einen Polizeibeauftragten oder wie Sachsen-Anhalt die Schaffung einer solchen Institution zumindest beschlossen. Kritiker bemängeln jedoch, dass diese entweder zu wenig Kapazitäten hätten oder oft nicht wirklich unabhängig seien, weil sie etwa der Landesregierung unterstehen.

Auf Bundesebene hat die Koalition aus SPD, Grünen und FDP zwar im Koalitionsvertrag festgelegt, dass man »eine unabhängige Polizeibeauftragte bzw. einen unabhängigen Polizeibeauftragten für die Polizeien des Bundes als Anlaufstelle beim Deutschen Bundestag mit Akteneinsichts- und Zutrittsrechten« einführen werde. Vor allem die Grünen drängen darauf. Doch die Einführung zieht sich offenbar hin. Ein Sprecher des SPD-geführten Bundesinnenministeriums teilt lediglich mit, die Umsetzung dieses Vorhabens werde »derzeit im parlamentarischen Raum diskutiert«.

Im Jahr 2021 kamen zu den 61 beantragten Strafbefehlen und Anklagen noch 46 Fälle hinzu, in denen die Staatsanwaltschaften zwar Verfehlungen sahen, die Verfahren wegen mutmaßlicher rechtswidriger Polizeigewalt aber gegen Auflagen wie eine Zahlung an eine gemeinnützige Organisation einstellten – so viele wie seit 2012 nicht mehr.

Eingestellt wegen Geringfügigkeit

Jahr für Jahr verfolgen Staatsanwaltschaften in Deutschland zudem mehrere Dutzend Fälle von mutmaßlich rechtswidriger Polizeigewalt wegen Geringfügigkeit nicht weiter – 53 waren es im vergangenen Jahr. Hier wird zwar eine mögliche Schuld des Beamten festgestellt, von einer Strafverfolgung jedoch abgesehen; weil die Schuld gering sei und weil das öffentliche Interesse fehle.

So auch im Fall von Tarik M. Die Staatsanwaltschaft München I ermittelte gegen drei Polizeibeamte wegen des Verdachts der Körperverletzung im Amt. Gegen einen von ihnen wurden die Ermittlungen wegen fehlendem hinreichendem Tatverdacht nicht weiterverfolgt. Bei einem weiteren Polizisten sowie einer Polizistin wurde das Verfahren wegen Geringfügigkeit eingestellt.

Bei dem Einsatz sei »bei der Wahl der konkreten Maßnahme« gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen worden – »wenn auch nur in geringem Umfang«, heißt es im Einstellungsbeschluss. Auch bestehe »kein öffentliches Interesse« an der Strafverfolgung.

Experten uneins

Strafrechtsexperte Derin sagt unabhängig vom Einzelfall, Körperverletzung im Amt sei »immer von öffentlichem Interesse«. »Schließlich hat der Staat das Gewaltmonopol.« Auch Kriminologe Singelnstein betont, rechtswidrige polizeiliche Gewaltausübung sei »praktisch immer von öffentlichem Interesse und kann deshalb kaum wegen Geringfügigkeit eingestellt werden«. Dem widerspricht sein Kollege Thiel: »Natürlich ist zu berücksichtigen, dass Polizisten das Gewaltmonopol haben, aber es zählt immer die persönliche Schuld.« Und nicht alle Delikte von Polizisten seien von öffentlichem Interesse – selbst wenn eine breite Medienberichterstattung erfolge.

Beim Polizeipräsidium München heißt es auf Anfrage, man kommentiere prinzipiell keine Entscheidungen der Justiz, die Bundespolizei ließ eine Anfrage zunächst unbeantwortet. Die Staatsanwaltschaft München I teilt mit, die gesetzlichen Regelungen zur Einstellung wegen mangelnden öffentlichen Interesses würden »keine Unterscheidung nach bestimmten Fallgruppen« treffen. Jede mutmaßliche Tat müsse einzeln geprüft werden.
(https://www.spiegel.de/panorama/justiz/polizeigewalt-die-zahl-der-ermittlungsverfahren-steigt-wie-ist-das-zu-erklaeren-a-5553f63d-ed48-48b6-af94-61d649388d07)


+++FRAUEN/QUEER
Queer im Wallis: Eine Bombe in allen Farben des Regenbogens
Luna Sophia Fux stösst als trans Mensch in ihrem Heimatkanton Wallis oft auf Ablehnung. Wie Fux auf Queerhass, den die SVP schürt, antwortet? Mit einem Kulturfestival.
https://www.woz.ch/2320/queer-im-wallis/eine-bombe-in-allen-farben-des-regenbogens/!Y5A3XS1BBD44


+++RASSISMUS
Beschriftete Spiegel: Gekritzel in Stadthaus-Ausstellung verhöhnt Rassismus
Eine Ausstellung im Zürcher Stadthaus will ein grösseres Bewusstsein für die kolonialen Verflechtungen Zürichs schaffen. Auch setzt sie sich mit Rassismus auseinander. Manche Besucherinnen und Besucher ziehen das Thema jedoch ins Lächerliche.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/gekritzel-in-stadthaus-ausstellung-verhoehnt-rassismus-151547559


+++RECHTSPOPULISMUS
Polizei muss Kinder an Dragqueen-Lesung beschützen – nun spricht der Veranstalter
Am Samstag findet in der Zürcher Pestalozzi Bibliothek der Event «Drag Story Time» statt. Am Anlass für Kinder zwischen drei und acht Jahren lesen Dragqueens aus Büchern vor. Der Veranstalter hat dafür Sicherheitsvorkehrungen getroffen.
https://www.20min.ch/story/angst-vor-stoerenfriede-draqueen-lesung-fuer-kinder-benoetigt-polizeischutz-775853496287
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/dragqueen-lesung-in-zuerich-benoetigt-polizeischutz-151549770?autoplay=true&mainAssetId=Asset:149247441


«Politische Kultur verludert» – Gender-Tag gibt im Kantonsrat zu reden
Nach einem Shitstorm hat die Schule Stäfa ihren Gender-Tag abgesagt. Nun äusserten sich die Parteien im Kantonsrat dazu.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/kanton-zuerich/politische-kultur-verludert-gender-tag-gibt-im-kantonsrat-zu-reden-151544413


Rechte Hetze: Kulturkampf für die bestehende Ordnung
In Stäfa wurde der lehrplankonforme «Gendertag» abgesagt. Erneut steht auch eine Drag-Lesung unter Druck. Das zeigt: Die Rechten schrecken vor wenig zurück – und kommen damit viel zu weit.
https://www.woz.ch/2320/rechte-hetze/kulturkampf-fuer-die-bestehende-ordnung/!E9YQEPGPB5PZ


+++RECHTSEXTREMISMUS
tagblatt.ch 16.06.2023

Kampf mit Flugblättern: Antifaschistische Recherchegruppe greift Uznacher Sektenschule an

Eine antifaschistische Gruppierung warnt mit Flugblättern vor einer Privatschule. Diese verbreite rechtsesoterisches Gedankengut und stehe mit der Neonazi-Szene in Verbindung. Die Schule hat Anzeige erstattet. Doch die Vorwürfe sind nicht aus der Luft gegriffen.

Enrico Kampmann

Nach den Medien und der Politik warnt nun auch eine linke Gruppierung vor einer Privatschule in See-Gaster. Wie die «Linth Zeitung» schreibt, tauchte vergangene Woche in Uznach ein Flugblatt auf, das auf «faschistische Motive» der Schule «Lernraum zum Eintauchen» hinweist. Es ruft die Bevölkerung dazu auf, sich gegen die Niederlassung von «rechtsesoterischen Gruppen im eigenen Dorf» zu wehren.
-> https://www.linthzeitung.ch/news/ermittlungen-laufen-radikale-kaempfen-mit-flugblaettern

Auf dem Flyer ist unter anderem ein Schulbuch mit der Aufschrift «Völkische Esoterik: Rassismus für Kleine» abgebildet, sowie eine Siegrune, die während des Nationalsozialismus als Symbol der Schutzstaffel (SS) genutzt wurde.

Hergestellt und verteilt wurden die Flugblätter von einer antifaschistischen Gruppe, die sich «Recherchegruppe Ost» nennt. Der Schulleiter der Privatschule hat Anzeige erstattet, wie die Staatsanwaltschaft des Kantons St.Gallen bestätigt. Diese prüft nun, ob tatsächlich etwas «strafrechtlich Relevantes vorgefallen ist». Mit welcher Begründung die Schule die Anzeige eingereicht hat, ist unklar. Eine entsprechende Anfrage blieb unbeantwortet. Klar ist jedoch, dass die Verortung der Schule als rechtsesoterisch keineswegs aus der Luft gegriffen ist.

Elf Jahre Mathematik in zehn Tagen

Wie die Wochenzeitung (WOZ) im vergangenen Sommer publik machte, bezieht sich die Schule gemäss einem Flyer in ihrem Lernkonzept auf die aus Russland stammende sogenannte Schetinin-Pädagogik. Diese ist nach Ansicht von Sektenexperten stark mit der Anastasia-Bewegung verflochten, einer völkisch-esoterischen Siedlungsbewegung, deren Ideologie eindeutig braune und weltverschwörerische Züge trägt.

Im selben Flyer verspricht die Schule «durch den Kontakt des bioenergetischen Feldes» den Mathematikstoff der ganzen Mittelschule in nur zehn Tagen zu vermitteln. «Also auf elf Jahre geteilte Mathematik, in zehn Tagen». Belege dafür finden sich auf dem Flyer keine.

Gemäss der WOZ hat die Anastasia-Bewegung Verbindungen ins Lager der Neonazis und Reichsbürger. Bekannte Mitglieder dieser Szene seien regelmässig an Anastasia-Veranstaltungen anzutreffen. So wundert es nicht, dass die Schule in einem unter Reichsbürgern beliebten Telegrammchat beworben wurde.

In besagtem Chat werden fieberhaft verschwörungsideologische Inhalte geteilt: Darunter Einladungen zu Veranstaltungen zum «richtigen Verhalten im Umgang mit Staat, Behörden, den Schulen, dem Gesetz und der Polizei» sowie die aktuellste «UN-Agenda 2021-2030». Letztere umfasst angeblich das Errichten einer «Ein-Welt-Regierung», «endlose Pflichtimpfungen» und «eine gechippte Gesellschaft».

Im September 2022 wurde im St.Galler Kantonsparlament ein Vorstoss betreffend die zwei Jahre gültige provisorische Bewilligung für die Privatschule eingereicht. Die Regierung antwortete im November, dass gemäss den mit dem Bewilligungsgesuch eingereichten Unterlagen «keine Ablehnung oder gar Verletzung der Rechtsordnung» erkennbar sei, «weshalb die Bewilligung erteilt werden musste.» Nun hat die antifaschistische Recherchegruppe das Zepter offenbar selbst in die Hand genommen.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/uznach-kampf-mit-flugblaettern-antifaschischtische-recherchegruppe-greift-uznacher-sektenschule-an-ld.2459348)
-> https://www.woz.ch/2228/kanton-st-gallen/amtlich-bewilligte-sektenschule


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Querdenker-Kongress in Zürich: Redner wird ausgeladen – Linke drohen mit Massnahmen
Ende Mai soll im Volkshaus, dem einstigen Lokal der Zürcher Arbeiterklasse, ein Kongress von Verschwörungstheoretikerinnen und Esoterikern stattfinden. Die Linken drohen mit Gegenmassnahmen.
https://www.watson.ch/schweiz/z%c3%bcrich/575795228-querdenker-kongress-in-zuerich-ausgeladene-redner-und-linke-drohungen
-> Gegendemo-Aufruf: https://barrikade.info/article/5960
-> https://www.tagesanzeiger.ch/umstrittener-redner-darf-nicht-in-zuerich-auftreten-143292514622
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/esoterik-kongress-im-volkshaus-laedt-redner-nach-drohungen-wieder-aus-145130875



nzz.ch 16.05.2023

Ende Mai findet im Zürcher Volkshaus ein Kongress der Esoteriker und Verschwörungstheoretiker statt. Linke Kreise drohen Gegenmassnahmen an – nun wird ein Redner ausgeladen

Der ausgeladene Redner aus Österreich wirbt für die völkische Anastasia-Bewegung. Diese propagiert laut Kritikern antisemitisches Gedankengut.

Robin Bäni, Tobias Marti

Das Zürcher Volkshaus war einst zentraler Treffpunkt der Arbeiterbewegung. Wladimir Iljitsch Lenin, der russische Revolutionsführer, hielt dort 1917 eine Rede – wenige Monate vor der Machtergreifung in Russland.

Nun aber plant eine andere Klientel die geschichtsträchtigen Räumlichkeiten zu nutzen. Am 27. und 28. Mai veranstalten Verschwörungstheoretiker und Esoterikerinnen im Volkshaus einen Kongress. Titel: «Vision des Guten und das Manifest der neuen Erde».

Wer dabei sein will, zahlt im Minimum 189 Franken. Für die erste Reihe sogar 777 Franken.

Während zweier Tage trifft sich das Who’s who der esoterischen Szene. Mit dabei sind auch Figuren wie Daniele Ganser, der russische Kriegsverbrechen in der Ukraine anzweifelt. Oder Christina von Dreien, die von ihren Anhängern als Medium verehrt wird und unter anderem die Theorie vertritt, dass intelligente Dinosaurier in unterirdischen Höhlensystemen leben.

Am zweitägigen Anlass wollen sich die Teilnehmer über das «Manifest der neuen Erde» unterhalten. Darin wird gefordert, die Demokratie durch eine Regierung von Weisenräten zu ersetzen und eine Gesellschaftsform zu etablieren, die Kritiker als «Esokratie» bezeichnen. Esoterische Lehren hätten den Rang von Dogmen, Parteien wären verboten, und die Weisenräte besässen weitgehende Vollmachten.

Sowohl Daniele Ganser als auch Christina von Dreien haben das Manifest unterschrieben und werden auf dessen Homepage bis in den Februar 2023 als Weisenräte geführt.

Über das esoterische Stelldichein im Volkshaus zeigen sich insbesondere linke Kreise empört. Ein anonymes Kollektiv namens Reclaim Volkshaus setzte eine Online-Petition auf, die mittlerweile über 3000 Personen unterschrieben haben. Darin verlangen sie vom Stiftungsrat des Volkshauses, den Event abzusagen. Falls dies nicht geschieht, drohen sie unverhohlen mit einer «Gegenmobilisierung».

Was das schlimmstenfalls bedeuten könnte, zeigen Vorfälle in der Vergangenheit. Als 2019 der Psychologe Jordan Peterson im Volkshaus auftrat, marschierten Demonstrantinnen und Demonstranten auf. Ein Security wurde damals von ihnen am Kopf verletzt.

Das Volkshaus hält am Anlass fest

Bisher blieb die Forderung der linken Aktivistinnen und Aktivisten zum Visions-Kongress ohne Folgen. In einer ersten Stellungnahme des Volkshaus-Stiftungsrates von vergangenem April hiess es: «Wir teilen die Inhalte der Veranstaltung in keiner Weise und lehnen Verschwörungstheorien aller Art dezidiert ab.» Allerdings werde die Meinungsfreiheit in diesem Fall höher gewichtet und daher am Anlass festgehalten.

Wie sich nun aber zeigt, geht das Volkshaus zumindest teilweise auf die Forderung der Petition ein. Kaspar Bütikofer, Präsident des Stiftungsrates, teilt der NZZ mit: «Wir haben mit dem Veranstalter vereinbart, Ricardo Leppe als Redner auszuladen.» Zu diesem Entscheid sei die Betriebskommission gekommen, nachdem sie sich mit Relinfo und Infosekta ausgetauscht habe. Beides sind Fachstellen für religiöse und weltanschauliche Bewegungen.

Bei Ricardo Leppe handelt es sich um einen selbsternannten Bildungsexperten und Zauberkünstler aus Österreich. Im deutschsprachigen Raum unterstützt er fragwürdige Schulprojekte.

Laut Georg Schmid, Leiter von Relinfo, wäre Leppe die problematischste Gestalt gewesen, die am Anlass hätte teilnehmen sollen. Beim Rest der Referentinnen und Referenten handle es sich um Personen, die zum Teil immer wieder im Volkshaus auftreten.

Der Religionsexperte Schmid findet es richtig, dass Leppe ausgeladen wurde: «Er passt nicht zum Leitbild des Volkshauses, da er die Anastasia-Buchreihe empfiehlt. Kritiker werfen der Anastasia-Bewegung vor, sie sei rassistisch, antisemitisch und propagiere problematische Heilmethoden.» Gemäss Schmid empfiehlt Leppe unter anderem die «Neue Germanische Medizin», die in der Vergangenheit zu Todesfällen geführt habe.

Schulmedizin sei eine Erfindung der Juden

Die Anastasia-Bewegung, die ihren Ursprung in Russland hat und völkische Siedlungsprojekte verfolgt, wird unter anderem in Österreich vom Verfassungsschutz beobachtet. Auch in den neuen deutschen Bundesländern warnen Verfassungsschützer vor der Bewegung. Die «Neue Germanische Medizin» wiederum lehnt die Schulmedizin ab, unter anderem mit der Begründung, sie sei eine Erfindung der Juden, wie der Begründer der Methode propagierte.

Auf eine Anfrage der NZZ teilte eine Sprecherin Leppes mit, die Vorwürfe seien immer dieselben, und verweist auf ein Video, welches der Ausgeladene vor einem Jahr aufgezeichnet hatte. Darin thematisiert dieser den Antisemitismus der Anastasia-Bewegung allerdings nicht explizit und sagt lediglich, er finde auch nicht alles in der Bewegung gut.

Der Esoterik-Kongress wird von einer Organisation namens die Quelle veranstaltet. Der Co-Geschäftsführer Jean-Pierre Zehnder teilt auf Anfrage der NZZ mit: «Wir distanzieren uns von jeglicher Diskriminierung.» Ihr Leitmotiv sei: Bewusstsein schafft Frieden. Und das wolle man fördern.

Als Veranstalter hätten sie dem Wunsch des Volkshauses entsprochen und Leppe ausgeladen. Zehnder sagt weiter: «Als Mieter richten wir uns nach den Vorgaben des Volkshauses.» Schliesslich würden sie seit mehr als zehn Jahren zusammenarbeiten.

Zu den Anschuldigungen gegenüber Leppe sagt der Veranstalter: «Ich wusste nichts von antisemitischen und rassisch-völkischen Vorwürfen.» Zudem begegne er Zeitungsartikeln «mit einer gesunden Portion Misstrauen». Er habe schon viele Unwahrheiten gelesen.

Wegen der Drohungen steht der Veranstalter nun in Kontakt mit der Stadtpolizei und einer Sicherheitsfirma. Aus einsatztaktischen Gründen könne man sich jedoch nicht weiter dazu äussern.

Die Kritik von linken Kreisen habe zudem bewirkt, dass der Stiftungsrat des Volkshauses sein Leitbild überdenken wolle, voraussichtlich aber erst nach den Sommerferien, meint Stiftungsratspräsident Kaspar Bütikofer. Er sagt: «Ich gehe davon aus, dass es allenfalls zu Anpassungen kommt und wir unser Leitbild konkretisieren.»

Wichtig sei letztlich, dass die Richtlinien praktikabel seien. Und darin stecke die grosse Herausforderung. Bütikofer sagt: «Jährlich finden im Volkshaus über 2700 Veranstaltungen statt. Wir können nie wissen , wer alles auftritt und was die erzählen.» Zudem müsse das Leitbild so verfasst sein, dass es für alle Events gelte.

Grundsätzlich solle das Volkshaus für alle offen sein, solange diese nicht gegen die Leitlinien verstossen. Damit gemeint sind antisemitische, demokratiefeindliche, frauenverachtende oder rassistische Aussagen sowie Aufrufe zu Gewalt.

Das linke Kollektiv Reclaim Volkshaus fordert indes weiterhin eine Absage der Veranstaltung. Auf die Anfrage, ob sie sonst eine Gegenmobilisierung starten würden, schreiben die Aktivistinnen und Aktivisten: «Wir halten Wort!» Mit Störaktionen muss also gerechnet werden.
(https://www.nzz.ch/zuerich/esoteriker-kongress-volkshaus-zuerich-laedt-redner-aus-nach-kritik-ld.1738141)



Bezirksgericht Zürich: Corona-Skeptiker Daniel Stricker wird von Gericht freigesprochen und erhält 2000 Franken Entschädigung
Der 52-jährige Ostschweizer hat im Mai 2020 in Zürich an einer unbewilligten «Anti-Lockdown-Demo» teilgenommen, obschon Kundgebungen mit mehr als fünf Personen untersagt waren. Stricker wurde angezeigt. Gegen den Strafbefehl erhob Stricker Beschwerde.
https://www.20min.ch/story/corona-skeptiker-daniel-stricker-muss-sich-vor-einzelrichter-verantworten-259883421228
-> https://www.blick.ch/schweiz/verstoss-gegen-verordnung-corona-skeptiker-daniel-stricker-steht-vor-gericht-id18581368.html
-> https://www.swissinfo.ch/ger/daniel-stricker-fordert-freispruch-vor-gericht/48516856
-> https://www.watson.ch/schweiz/z%C3%BCrich/628541227-wegen-teilnahme-an-corona-demo-massnahmengegner-vor-gericht
-> https://www.swissinfo.ch/ger/bezirksgericht-zuerich-spricht-daniel-stricker-frei/48516856



tagesanzeiger.ch 16.05.2023

Aus dem Bezirksgericht Zürich: Freispruch für Covid-Massnahmen-Kritiker Daniel Stricker

Damit hat selbst der bekannte Corona-Skeptiker nicht gerechnet: Freispruch vom Vorwurf, an einer illegalen «Anti-Lockdown-Demo» teilgenommen zu haben.

Thomas Hasler

Ja, wer oder was ist er denn nun, dieser Daniel Stricker, 52-jährig? Ein «Corona-Massnahmen-Gegner» oder «Corona-Skeptiker», wie ihn Blick oder Nau zurückhaltend nennen? Ein «Corona-Verharmloser», wie ihn die NZZ sieht? Oder trifft doch eher zu, was Watson diagnostiziert: ein «Corona-Leugner, Impfgegner, Verschwörungstheoretiker»?

Stricker selbst bezeichnet sich als «Bürgerrechtler und Journalist». Er lässt in seinem «Buch der Schande» die «Psycho-Clowns der Lügenpandemie» zu Wort kommen, gibt dazu auf der «Tour der Schande» improvisierte Comedy zum Besten und unterhält sich in der «ultimativen Konversation» mit Herrschaften wie Gölä, Roger Köppel oder Andreas Glarner.

Fünf Freiheitstrychler sorgen für Lärm

Und im Indianerkostüm erscheint er vor Gericht, weil er seine «Freiheitsrechte ausleben» will. Begleitet und unterstützt wird er von etwa dreissig Personen, darunter sind fünf Freiheitstrychler sowie Nicolas Rimoldi, der Chef der Mass-voll-Bewegung, der im Herbst in den Nationalrat will. Die Truppe gibt sich gesittet. «S isch gnueg Heu dune!» ist das einzige schüchterne Plakat.

Selbstverständlich, wie könnte es anders sein, hat die Verhandlung mit Corona und Covid zu tun, mit den Massnahmen im Jahr 2020 und mit den damaligen Reaktionen kritischer Bevölkerungskreise darauf. Stricker war einer der prominenten Kritiker. Er habe, so der Vorwurf, am 23. Mai 2020 auf dem Zürcher Sechseläutenplatz zusammen mit etwa 65 weiteren Personen an der unbewilligten Demonstration «Anti-Lockdown» teilgenommen.

Prozess acht Tage vor der Verjährung

Dabei seien politische Kundgebungen mit mehr als fünf Personen verboten gewesen, damals. Der 52-Jährige habe an der Demo aber nicht nur teilgenommen, sondern auch die polizeilichen Anordnungen missachtet, indem er sich «trotz mehrmaliger Aufforderungen mittels Lautsprecherdurchsagen nicht von der Örtlichkeit entfernte», wie im Strafbefehl steht, der Stricker 22 Monate nach dem Vorfall ins Haus flatterte.

Wegen Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung und wegen Teilnahme an einer nicht bewilligten Kundgebung sollte er eine Busse von 800 Franken und Gebühren von 550 Franken bezahlen. Stricker dachte nicht im Traum daran. Er erhob Einsprache, die nun genau acht Tage vor der Verjährung verhandelt wurde.

Der Vorwurf sei falsch, sagte Stricker. Er sei damals als Journalist vor Ort gewesen, habe in einem Livestream von den Ereignissen berichtet. Überhaupt habe er damals praktisch täglich über alles berichtet, was zu dem Thema in der Schweiz vor sich gegangen sei. Etwa 1500 Videos habe er in zweieinhalb Jahren produziert. «Kein Journalist hat das Thema so umfassend behandelt.» Etwa 10’000 Personen seien ihm auf seinen sozialen Kanälen gefolgt.

Er sei damals 16 bis 18 Stunden pro Tag unterwegs gewesen, anlässlich des ersten Lockdown «selbst in Schweden, um zu zeigen, dass die Menschheit nicht ausstirbt». Auf dem Sechseläutenplatz sei er von der Polizei nicht nur widerrechtlich aufgefordert worden seine Kamera abzuschalten. Er sei auch weggewiesen worden. Und er habe gehorcht. «Das ist der Preis, wenn man nicht regierungstreu berichtet», sagte er.

Ein Anrecht auf Berichterstattung

In einem lauten und weitschweifenden Plädoyer, in dessen Feinschliff er offenbar dreissig Stunden investiert hatte, bemühte der Verteidiger jeden einigermassen brauchbaren Artikel der Bundesverfassung oder der Europäischen Menschenrechtskonvention, um zu erklären, warum Stricker nicht verurteilt werden könne. Entscheidender aber war, was er dem Einzelrichter sonst zu lesen und zu hören gab – nämlich 79 Seiten journalistische Arbeiten Strickers und – vor allem – das Video, dass der 52-Jährige damals auf dem Sechseläutenplatz produziert hat.

Und daraus ging laut dem Einzelrichter klar hervor, dass Stricker nicht Teilnehmer der Demo, sondern dessen journalistischer Beobachter war. Die Aufforderung der Polizei, den Platz zu verlassen, habe den Demonstrierenden gegolten, nicht den Medienschaffenden. Stricker sei als «massnahmekritischer Journalist» vor Ort gewesen. Aber auch solche Medienschaffenden hätten ein Anrecht auf eine Berichterstattung.

«Ich habe wenig Hoffnung in das Gericht», hatte Stricker vor der Urteilseröffnung gesagt. «Aber ich lasse mich gerne positiv überraschen.» Das Statthalteramt kann den Freispruch ans Obergericht weiterziehen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/freispruch-fuer-covid-massnahmen-kritiker-daniel-stricker-460356400772)



nzz.ch 16.05.2023

Daniel Stricker erscheint im Indianerkostüm vor Gericht und wird freigesprochen

Der Massnahmenkritiker war laut dem Bezirksgericht Zürich nicht als Teilnehmer, sondern als Journalist an einer unbewilligten Corona-Demonstration.

Tom Felber

Vor dem Bezirksgericht Zürich marschieren Freiheitstrychler mit grossen Kuhglocken in ihren bekannten «Kutteli» auf. Auch der Beschuldigte ist kostümiert: Der 52-jährige schweizweit bekannte Impfgegner Daniel Stricker galoppiert mit einem Steckenpferd zwischen den Beinen an, auf dessen Holzstab ein rosaroter Pferdekopf steckt. Er trägt einen klischierten beigen Indianer-Anzug mit Federschmuck und hat eine «Friedenspfeife» und ein Beil in der Hand.

Stricker hat sich während der Pandemie mit seinem Youtube-Kanal StrickerTV unter Massnahmen-Skeptikern und Impfgegnern schweizweit eine Führungsrolle erarbeitet. Er hat einen Strafbefehl angefochten: Das Statthalteramt des Bezirks Zürich verurteilte ihn am 24. März 2022 wegen Widerhandlung gegen die Covid-19-Verordnung 2 zu einer Busse von 800 Franken.

Er soll vor fast drei Jahren, am Samstag, 23. Mai 2020, an einer nicht bewilligten Kundgebung unter dem Titel «Anti-Lockdown» gegen die Covid-Massnahmen auf dem Zürcher Sechseläutenplatz teilgenommen haben.

Laut dem Strafbefehl waren rund 65 Personen anwesend, obschon politische Kundgebungen mit mehr als 5 Personen damals untersagt waren. Die Teilnehmer hätten mehrere Lautsprecher-Aufforderungen der Polizei, sich von der Örtlichkeit zu entfernen, missachtet.

Der Beginn der Verhandlung verzögert sich um eine halbe Stunde, weil die Platzzahl im Gerichtssaal beschränkt ist und die Ausweise von angemeldeten Zuschauern einzeln kontrolliert werden.

Am Schluss drängen sich rund 40 Leute im kleinen Saal an der Wengistrasse, darunter auch Mass-voll-Chef Nicolas Rimoldi. Während der Verhandlung sind immer wieder Kommentare aus dem Zuschauerraum sowie zustimmende oder ablehnende Geräusche zu hören. Mehrmals applaudiert das Publikum auch, worüber der Einzelrichter jedes Mal sein Missfallen äussert.

In der Rolle eines Kämpfers für die Medienfreiheit

Stricker gibt vor Gericht als Beruf «Journalist» an und nimmt damit auch gleich seine Verteidigungsstrategie vorweg. Er positioniert sich als einsamer Kämpfer für die Medienfreiheit. Er sei unabhängig, freiberuflich und in keiner Organisation. Einkünfte erziele er nur aus journalistischer Tätigkeit, monatlich zwischen 3000 und 40 000 Franken.

Der hohe Betrag resultiert daraus, dass er von seinem im Eigenverlag erschienenen Werk «Das Buch der Schande», das 49 Franken kostet, inzwischen 10 300 Exemplare verkauft haben will.

Warum er ein Kostüm trage, möchte der Einzelrichter wissen. Als Indianer mache es ihm «eine besondere Freude, Freiheitsrechte auszuleben», erklärt Stricker. Die Busse sei ein Missverständnis, er sei nicht als Teilnehmer, sondern als Journalist an der Demonstration gewesen. Er habe vom Sechseläutenplatz live gestreamt.

Er sei gerade mitten in einem Interview gewesen, als ihn die Polizei weggewiesen habe. Er sei überrascht gewesen, weil er nicht gedacht habe, dass die Anordnung auch für Journalisten gelte. Er habe sich der Anordnung dann aber auch nicht widersetzt und sei gegangen. Deshalb verstehe er überhaupt nicht, weshalb er zwei Jahre dafür gebüsst worden sei.

Sein Verteidiger stellt ihm viele Ergänzungsfragen. Auf die Frage, ob er «der Star der Corona-Skeptiker» sei, antworte Stricker: «Rimoldi wäre wohl empört, wenn er hört, dass ich der Star sein soll.»

Er habe nie aktiv an einer nicht bewilligten Corona-Demonstration teilgenommen. Journalist sei seit drei Jahren sein Hauptberuf. Er arbeite 16 Stunden am Tag und habe Leute wie Marco Rima, Gölä, Roger Köppel, Andreas Glarner und Stefan Angehrn interviewt.

Der Verteidiger hält ein rund zweistündiges Plädoyer über 30 Seiten und beantragt einen Freispruch. Man sehe «vom Schiff aus», dass Stricker kein Teilnehmer gewesen sei. Er nennt den Beschuldigten «schweizweit den einzigen kritisch über die Corona-Massnahmen berichtenden Journalisten».

Er reicht das Video mit dem Live-Stream vom 23. Mai 2020 und einen 79-seitigen Printausdruck mit den journalistischen Werken Strickers als Beweismittel ein. Das Video sei ein «wirklich wertvolles Zeitdokument», das den Widerstand dokumentiere. Andere Journalisten seien von der Polizei an der Kundgebung auch nicht behelligt worden.

Der Anwalt listet auch zahlreiche weitere Argumente auf, zitiert Bundesgerichtsentscheide, das Epidemiegesetz, die Verfassung und Menschenrechts-Entscheide aus Strassburg. In seiner späteren Urteilsbegründung nennt der Einzelrichter all diese Argumente allerdings «irrelevant».

Das Gericht spricht Stricker Journalisten-Status zu

Der Richter spricht Stricker schliesslich von allen Vorwürfen frei. Er kritisiert den Beschuldigten zwar dahingehend, dass er beim Statthalteramt jegliche Aussage verweigert habe und das Argument, er sei als berichtender Journalist am Sechseläutenplatz gewesen, ganz neu und erstmals vor Bezirksgericht eingebracht worden sei.

Er, der Einzelrichter, habe das vor dem Prozess nicht gewusst und Stricker nicht gekannt. Er habe das Gefühl, Stricker habe den Prozess und die Öffentlichkeit «gesucht».

Das Gericht sei aber tatsächlich der Meinung, Stricker sei nicht als Teilnehmer, sondern als Journalist am Sechseläutenplatz gewesen. Es spiele dabei keine Rolle, ob er regierungs- und massnahmenkritisch sei. Jeder Journalist dürfe berichten und müsse gleich behandelt werden. Die Anordnung der Polizei habe sich an Teilnehmer und nicht an Journalisten gerichtet.

Ausführungen zur Definition des Begriffs «Journalist» und zur Abgrenzung Strickers von anderen Youtubern macht der Einzelrichter allerdings nicht.

Die Kosten des Verfahrens gehen auf die Staatskasse. Dem Verteidiger spricht der Einzelrichter allerdings lediglich eine Entschädigung von 2000 Franken zu. Für eine Übertretung mit einer Busse von 800 Franken sei ein 30-seitiges Plädoyer «absolut unangemessen».

Urteil GC230038 vom 16. 5. 2023, noch nicht rechtskräftig.
(https://www.nzz.ch/zuerich/gericht-zuerich-corona-verharmloser-stricker-im-indianderkostuem-ld.1738359)


+++FUNDIS
Basler Steiner-Schule bleibt wegen Drohungen geschlossen
Aus Sicherheitsgründen bleibt die Privatschule am Dienstag zu. Gegen die Rudolf-Steiner-Schule Basel gab es Drohungen. Darüber wurden die betroffenen Eltern am Montagabend per Mail informiert. (ab 01:27)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/basler-steiner-schule-bleibt-wegen-drohungen-geschlossen?id=12388663
-> https://www.bazonline.ch/unterricht-an-steiner-schule-basel-faellt-wegen-drohungen-aus-377742946784
-> https://www.20min.ch/story/basel-steinerschule-nach-anonymer-drohung-geschlossen-964373597276
-> https://primenews.ch/news/2023/05/wegen-drohung-kein-unterricht-der-rudolf-steiner-schule


+++HISTORY
Die Erfindung des Rassismus in Farbe | Doku HD | ARTE
Die Reise des Fotografen Robert Lohmeyer ist eine Pioniertat, die jahrzehntelang das Bild Afrikas prägt und die fotografischen Grundlagen des Rassismus legt. Er fotografiert zwischen 1907 und 1909 die deutschen in Afrika – erstmals in Farbe. Er soll auf dem Höhepunkt des Imperialismus die Begeisterung für die fernen Besitzungen anstacheln.
https://www.youtube.com/watch?v=OKrRIbTxiEI



derbund.ch 16.05.2023

Sexismuskritik statt Strassenkampf: Berns linksautonome Szene in der Identitätskrise

Nach der Randale der Linksextremen Ende April löste die Aktion sogar intern viel Kritik aus. Ist das eine Zeitenwende?

Michael Bucher, Quentin Schlapbach

In der Nacht auf den 30. April brannte im Berner Lorrainequartier «die Luft». Aus der «Tour de Milidance» genannten Spontandemo heraus steckten Linksextreme Müllcontainer in Brand, zertrümmerten Scheiben und versprayten Wände, darauf folgten heftige Scharmützel mit der Polizei. Der gewaltsame Umzug beendete damit eine lange Phase, in der sich die linksautonome Szene eher ruhig verhielt; seit Beginn der Corona-Pandemie ist es das erste Ereignis dieser Dimension.

Tags darauf geschah dann etwas, was vor wenigen Jahren noch undenkbar war: Auf der linksautonomen Szeneplattform «barrikade.info» äusserte eine interne Stimme öffentlich Kritik. Bereits im ersten Satz brachte die Kommentatorin auf den Punkt, was dem Vernehmen nach viele in der Szene dachten: «Die ‹Tour de Milidance› war ein absoluter Reinfall – das wissen wir alle.»

Das publik gemachte interne Zerwürfnis wirkt wie eine Art Zeitenwende. Nun stellt sich die Frage, wie es weitergeht. Kommt die Gewaltspirale wieder in Gang? Oder hat sich Berns linksautonome Szene tatsächlich gewandelt?

Wer Antworten auf diese Fragen sucht, hat es nicht leicht. In der Szene herrscht ein breites Misstrauen gegenüber den «bürgerlichen Medien». Trotzdem waren einige Szenekenner und Direktbeteiligte bereit, anonym mit uns zu reden. Andere verwiesen wiederum auf bereits veröffentlichte Stellungnahmen von Kollektiven, die auch ihre Sichtweise wiedergeben sollen.

Von Gewaltausbruch überrascht

Was genau geschah am 30. April, das für so viel Unmut innerhalb der Szene sorgte? Die globalisierungskritische Veranstaltung «Tour de Lorraine» zieht an diesem Abend Kapitalismusgegner aus der ganzen Schweiz nach Bern. Ein kleiner Kreis von Eingeweihten kapert den Moment für eine politische Aktion.

Vordergründig geht es bei der «Tour de Milidance» um mehr Freiräume. Was sie erwartet, wissen aber offenbar viele Leute nicht, als sie sich auf der Schützenmatte dem Umzug anschliessen. «Die meisten wollten einfach nur tanzend durch die Stadt ziehen», heisst es im Statement, welche die Aktion später als «verantwortungslos und unsolidarisch» kritisiert. Zu diesem Schluss kommt auch ein Szenekenner, der an diesem Abend vor Ort war. «Es war viel junges Partyvolk dabei», sagt er. «Viele liefen mit, weil sie dachten, ‹cool, eine spontane Demo für mehr Freiräume!›». Sie alle wurden heftig überrascht, als es zur Strassenschlacht mit der Polizei kam.

Die anonymen Demo-Organisatoren nahmen am Tag nach der Eskalation ebenfalls Stellung. Es sei sichtbar geworden, dass Militanz im Kampf um mehr Freiräume ein «essenzielles Mittel» darstelle, schreiben sie im Communiqué. «Zu beobachten ist auch, dass genau diese Militanz von vielen TINFA*-Personen ausgeübt und getragen wurde.»

Laut Insidern sorgte diese Behauptung in der Szene für Unverständnis. Unter dem Begriff TINFA* sind Trans-, Inter-, nicht binäre Menschen, Frauen und Personen ohne Geschlechtsidentität gemeint – also alles Personengruppen, die aus Sicht der linksautonomen Szene besonders unter dem «repressiven System» leiden.

Dass ausgerechnet sie ein Dönerlokal versprayt und Mülltonnen in Brand gesteckt haben sollen, wie von den Veranstaltern suggeriert, konnten einige nicht einfach so hinnehmen. Das zeigt das Statement, welche die Aktion kritisiert. «Die eskalierende Gewalt ging anscheinend allem voran von weissen Macker*innen ohne wirklichen politischen Hintergrund aus», heisst es da.

«Mackertum» hat ausgedient

Dieser Streit zeigt exemplarisch, welchen Wandel die linksautonome Szene in Bern zuletzt durchgemacht hat. Während es «woke» Anliegen in der Politik nach wie vor schwer haben und teilweise sogar belächelt werden, sind sie für viele Linke zum nicht verhandelbaren Dogma geworden.

Obwohl die ausserparlamentarische Linke Hierarchien seit jeher ablehnt, war es über Jahre jedoch insgeheim so, dass vor allem weisse, heterosexuelle Männer in der Szene den Ton angaben. Die queerfeministische Bewegung hat diese Machtstrukturen nicht nur infrage gestellt, sondern sie zum Einstürzen gebracht.

Das zeigen etwa die Vorgänge bei der «Revolutionären Jugend Gruppe Bern» (RJG) und der «Anarchistischen Gruppe Bern» – zwei Kollektive, die noch vor wenigen Jahren die Stadt regelmässig in Aufruhr versetzten. Die RJG hat sich Ende 2020 aufgelöst. «Wir sind all die Jahre massiv gescheitert, eine Basis für feministische Politik zu schaffen», heisst es im Schlussstatement selbstkritisch. Auch die «Anarchistische Gruppe Bern» hat laut eigenen Angaben mit sexistischen und rassistischen Verhaltensmustern zu kämpfen. Über Jahre seien diese durch «Schweigen, Wegsehen, Angst vor sozialen Konsequenzen und Hierarchien» ermöglicht worden, heisst es in einem Schreiben vom Oktober 2022.

Der Stadtberner Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) spricht von einem Generationenwechsel, der in der Szene stattgefunden habe. «Viele vertreten die Haltung, dass Militanz nicht immer hilfreich ist.» Dass Themen wie Feminismus und Sexismusbekämpfung eine immer wichtigere Rolle einnehmen, ist auch ihm nicht entgangen. Veranschaulicht hat diesen Wandel etwa der Antifa-Umzug vom Herbst 2022, wo viele queerfeministische Parolen und lilafarbene Frauenstreik-Fahnen zu sehen waren.

Aus der Szene klingt es ähnlich: «Das ‹Mackertum› war bei uns früher viel ausgeprägter», sagt ein Insider. Gewalt werde zwar von vielen nach wie vor als legitimes Mittel erachtet. «Aber es wird viel mehr hinterfragt und reflektiert, wann sie zur Anwendung kommt.» Früher hätten bei solchen Aktionen auch Personen teilgenommen, welche die politischen Ideale gar nicht teilten, sondern einfach den Adrenalinrausch gesucht hätten.

Der Corona-Konflikt

Was die linksautonome Bewegung ebenso stark durchgerüttelt hat, war die Corona-Pandemie. Das bestätigen alle Gesprächspartner. Die Rede ist von einer tiefgreifenden Spaltung. Auffallend war, wie schon fast gespenstisch ruhig es in jener Zeit in der Szene war. Obwohl eigentlich alle Ingredienzen da gewesen wären, um anarchistische Kräfte auf die Strasse zu treiben: Die Mächtigen schränken die Freiheiten massiv ein – sogar das Recht, zu demonstrieren.

«Als Anarchist, der jede Form von Hierarchie ablehnt, befand auch ich mich in einer ambivalenten Situation», sagt einer der Szene Angehöriger, um sogleich anzufügen: «Ich kam jedoch meist zum Schluss, dass ich wohl auch so entscheiden würde, wenn ich Bundesrat wäre.» Das daraus entstandene Protestvakuum füllten neu formierte Kräfte: die Corona-Skeptiker und Impfgegner. Phasenweise zogen sie im Wochentakt durch Berns Gassen.

Weil zum Teil auch zwielichtige Personen mit rechtsradikalem Hintergrund mitmarschierten, fühlten sich viele Linksautonome verpflichtet, ihnen entgegenzutreten. Die vereinzelten Gegendemos blieben jedoch überschaubar. Was für zusätzliche Irritation sorgte: Plötzlich waren es rechte Kreise, die für Demonstrationsfreiheit und gegen Polizeigewalt kämpften und dafür auch noch urlinke Slogans wie «Wo Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht» auf Transparente pinselten.

«Man konnte sich nicht einigen, wie man sich positionieren soll», sagt ein Szenekenner. Findet man es nun gut, wenn die Polizei mit Gummischrot die «rechten Schwurbler» vertreibt? Oder gehört repressives Vorgehen immer verurteilt? «Diese Frage polarisierte in höchstem Mass», meint er.

Laut Reto Nause waren jedoch die Fronten nicht so klar, wie von der linksautonomen Szene kolportiert. «Bei den Demos liefen keineswegs nur ‹rechte Schwurbler*innen› mit, sondern auch Leute vom linken Rand», sagt er. Dass dies zu heftigen internen Diskussionen geführt hat, bestätigen auch die anonymen Insider. «In der linken Szene gab es schon immer Anhänger von Verschwörungstheorien», meint einer. Diese seien während Corona zu «Schwurblern» geworden und hätten die Szene verlassen. «Auch die Impffrage spaltete die Szene», betont ein anderer Insider.

Nause bleibt skeptisch

Was zudem vorgebracht wird: Die Polizei als sorgsam gepflegtes Feindbild bot in den vergangenen Jahren weniger Angriffsfläche. Seit der Einkesselung von über 200 Personen bei der Afrin-Demo 2018 und den heftigen Scharmützeln vor der Reitschule im selben Jahr kam es zu keinen gröberen Konflikten mehr.
Im April 2018 löste die Kantonspolizei in Bern eine unbewilligte

Diese Tatsache wird auch im kritischen Statement zum Umzug durch die Lorraine angetönt: «In letzter Zeit hatten wir in Bern das Glück, dass viele Demos und Aktionen relativ unbehelligt geduldet wurden», heisst es dort. Mit dem Anzünden von Containern sei das entspannte Verhältnis einmal mehr aufs Spiel gesetzt worden, «ohne dass damit ein politisches Anliegen auch nur ein bisschen vorangebracht wurde».

Corona, Sexismusdebatte, Gewaltkritik: Wie nachhaltig ist der Wandel, der in der Szene geschieht? Reto Nause bleibt trotz all der Vorzeichen vorsichtig: «Das Gewaltpotenzial ist nach wie vor gross.» Es sei zu befürchten, dass die Ruhe während Corona nur vorübergehend war. Das hätten auch die jüngsten Krawalle in Basel oder Zürich gezeigt.

Ein Insider glaubt derweil zu wissen, wie die Szene aus ihrer Identitätskrise kommen könnte. «Es bräuchte wieder einmal eine Anti-Reitschule-Initiative der SVP. Das würde wieder mehr Leute mobilisieren und die Szene zusammenrücken lassen.»
(https://www.derbund.ch/berns-linksautonome-szene-in-der-identitaetskrise-199813530626)