Medienspiegel 13. Mai 2023

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+++BERN
hauptstadt.be 13.05.2023

Viel Dankbarkeit und einige Schlägereien

Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtenden ist stark gestiegen. Die Stiftung Zugang B, die diese Jugendlichen im Kanton Bern betreut, läuft am Anschlag. Ein Besuch in Huttwil.

Von Joël Widmer (Text) und Marion Bernet (Bilder)

An der Wandtafel hängen grüne Poster. Die Wörter «Boxen», «Tanzen», «Kochen» und «Cricket spielen» sind eingekreist. Darum herum stehen weitere Wörter, die mit den Aktivitäten zu tun haben. Sechs afghanische Jungs sitzen vornübergebeugt an Schultischen und füllen Arbeitsblätter aus. Anhand ihrer Hobbys lernen sie Deutsch. Sie alle sind ohne erwachsene Begleitung in die Schweiz geflüchtet, haben Asyl oder eine vorläufige Aufnahme erhalten und sind nun Teil einer Alphabetisierungsgruppe im Ankunftszentrum auf dem «Campus Perspektiven» in Huttwil.

Das Angebot ist Teil der Tagesstruktur. Aktuell werden im ganzen Kanton 270 Jugendliche an drei Standorten in einer Art Integrationsschule betreut. Sie ist das Herzstück des Angebots, das die Stiftung Zugang B im Auftrag des Kantons Bern für unbegleitete Minderjährige aufgebaut hat. Die «Hauptstadt» konnte in Huttwil hinter die Kulissen der Betreuungsinstitution schauen. Über den Winter wurde die Zahl der Mitarbeitenden im Schnellverfahren verdoppelt. Und noch immer läuft der Betrieb am Limit.

Im vergangenen Jahr ist die Zahl der Minderjährigen, die ohne Begleitung in der Schweiz um Asyl ersuchen, in die Höhe geschnellt. Allein in den Monaten Oktober bis März musste der Kanton Bern 249 Jugendliche von den Bundesasylzentren übernehmen. Sie machen derzeit ein Viertel der in Bern aufgenommen Geflüchteten aus. Die allermeisten Jugendlichen stammen aus Afghanistan, sind männlich und 16 oder 17 Jahre alt. Sie alle dürfen als anerkannte Flüchtlinge oder vorläufig Aufgenommene in der Schweiz bleiben und kommen aufgrund ihrer Kinderrechte in ein intensiveres Betreuungs- und Integrationsprogramm als erwachsene Geflüchtete.

Die Stiftung Zugang B betreut derzeit über 500 junge Menschen. Dabei war der Betrieb gemäss Konzept ursprünglich auf 150 Plätze ausgelegt. In Huttwil hat die Stiftung auf einem Sportgelände eine Tagesstruktur und ein Ankunftszentrum mit aktuell über 50 Jugendlichen eingerichtet. An anderen Standorten betreibt sie acht weitere Wohnheime. Dazu kommen Speziallösungen für besonders vulnerable Jugendliche sowie Platzierungen in Wohngruppen, Pflegefamilien und bei Verwandten.

In der Alphabetisierungsklasse spricht die Lehrerin die Wörter, die die Jungs auf ihre Arbeitsblätter geschrieben haben, immer wieder laut aus und erklärt sie: «Turnen ist das gleiche wie Sport.» Beim einen Jungen, der erst seit drei Tagen in der Klasse ist, lobt sie die schöne, ausgeprägte Schrift. «Er kann wohl schnell in eine nächste Klasse wechseln.» Einer der Jungen schaut kurz zum Fenster hinaus. Draussen auf dem Fussballfeld spielt eine andere Klasse Frisbee.

Die Jugendlichen sind motiviert

Es wird hier mehr Sport unterrichtet als an Regelschulen: Zweimal pro Woche ein halber Tag. «Sport ist sehr wichtig in der Tagesstruktur», erklärt Leiterin Sabine Aeschlimann. «Er beruhigt sehr, sofern er gut angeleitet ist». Für die Sportstunden kommen auch Jugendliche aus den Standorten Wiedlisbach und Münsingen auf den Campus. Früher war sogar noch mehr Sport im Programm der Tagesstruktur. «Aber es wurde zu viel, denn die Jungen wollen ja vor allem Deutsch lernen», sagt Aeschlimann.

Die Jugendlichen seien sehr motiviert. «Sie sagen: ‹Endlich haben wir Schule.› Und sie sind stolz darauf.» Das motiviere auch die Lehrpersonen. Man spüre viel Dankbarkeit bei den Jugendlichen, das zeige sich an der grossen Hilfsbereitschaft. «Die Tafel wird immer geputzt, man muss keine schweren Taschen tragen, die Türe wird uns aufgehalten.»

Die Zeit, in der Aeschlimann und ihre Kolleg*innen die Jugendlichen schulisch bilden und zu deren Integration in der Schweiz beitragen können, ist kurz. Die meisten sind rund 16 Jahre alt, wenn sie ankommen. Sobald sie volljährig sind, werden sie anderen Asylorganisationen übergeben und in andere Unterkünfte verlegt. «Wir versuchen, sie schulisch so schnell wie möglich fit zu machen und geben ihnen Alltagskompetenzen mit», sagt Aeschlimann. Zum Beispiel, wie man sich im Bus verhält.

Täglich um 9 Uhr kommen die Jugendlichen zur Schule, machen von 12 bis 13.15 Uhr Mittagspause und lernen dann weiter bis 16 Uhr. Hauptsächlich Deutsch, ein wenig Mathematik und Fächer wie Kochen, Malen und Nähen.

«Diese Tagesstruktur zu stemmen, ist derzeit ein Kraftakt sondergleichen», sagt Lukas Zürcher. Er ist der Co-Geschäftsführer von Zugang B. Der schulähnliche Alltag sei ein tragender Pfeiler in der Betreuung der Minderjährigen. Das gebe den Jugendlichen Struktur, Sicherheit, Sinn und sie seien abends «rechtschaffen müde». «Auf diese Weise fördert die Tagesstruktur auch das friedliche Miteinander im Wohnalltag», sagt Zürcher. Er meint damit: Fehlt diese Verbindlichkeit, dann steigt die Unzufriedenheit, es kommt zu Konflikten und ab und zu auch zu Schlägereien.

Die Sprache ist für die Arbeit der Betreuer zentral

Hassan Ali, der Leiter der Unterkunft, bespricht im kleinen Betreuerzimmer des Huttwiler Wohnheims mit Kollegen gerade den Schichtwechsel. An einer Magnetwand sind zu allen Bewohnern die wichtigsten Angaben notiert, zum Beispiel die Muttersprache. Oft ist das entweder Paschtu oder Dari.

«Wir schauen aktuell, dass im Betreuerteam immer eine Person anwesend ist, die eine der beiden afghanischen Sprachen spricht», sagt Ali. In der Flüchtlingswelle 2015/2016 habe er selbst sich gut auf Arabisch und Somalisch mit den meisten Jungen unterhalten können. «Heute brauchen wir diese Herren, die afghanische Sprachen sprechen», sagt Ali und deutet auf die drei kräftigen jungen Betreuer. Die neuen afghanischen Betreuer bringen oft Erfahrung mit dem Schweizer Asylwesen mit, sei es persönlich oder im Umfeld.

Die Sprache ist für die Arbeit der Betreuer zentral. In letzter Zeit sei es immer wieder zu Konflikten zwischen Hazara und Paschtunen – zwei grosse Ethnien in Afghanistan – gekommen. «Wenn wir ihre Sprache beherrschen, können wir bei Konflikten schnell reagieren, eine Gruppe auseinandernehmen und ein Interventionsprogramm aufstellen.»

Seit mehreren Monaten sei der ethnische Konflikt in Afghanistan virulenter, ergänzt Zürcher. «Und dann bricht er auch in unseren Strukturen aus, und wir haben hier gewalttätige Auseinandersetzungen.» Besonders während des Ramadan sei die Lage oft angespannt.

«Wir sind froh, wenn die Polizei vor Ort kommt, wenn es sie braucht», sagt Zürcher. Ihre Präsenz könne zur Deeskalation beitragen. In Einzelfällen setzt die Polizei auch ein befristetes Hausverbot durch. Ein solches erhält, wer auch nach wiederholten Verwarnungen noch gegen die Hausordnung verstösst.

Die Einhaltung der Hausordnung ist für das friedliche Zusammenleben in den Wohnheimen zwingend. Regelverstösse führten schnell zur Destabilisierung von Wohnheimen, sagt Zürcher. Wird bei einem Jugendlichen als vorübergehende Massnahme ein befristetes Time-out verordnet, werde darauf geachtet, dass er auch dann ein Bett habe, sei es bei Bekannten oder in einer Notschlafstelle. «Man muss es sich ein Stück weit verdienen, hier im Heim zu wohnen», sagt Zürcher.

Für die Mädchen gibt es einen abgetrennten Bereich

Unruhe entsteht aber nicht nur bei ethnischen Konflikten, sondern auch, wenn es aufgrund der hohen Belegung in Gemeinschaftsräumen und Schlafzimmern eng und laut wird. Rückzugsmöglichkeiten fehlen, der Durchlauf von Jugendlichen in einem Wohnheim ist hoch. «Solche Situationen sind eine Belastung für die Jugendlichen», sagt Zürcher.  Auch der Transfer in andere Wohnheime könne herausfordernd sein. «Bei den Jungen hat schnell jeder unserer Standorte einen spezifischen Ruf. Zudem hätten die Jungen eigene Vorstellungen, mit wem sie künftig zusammenwohnen wollen.

Für die wenigen Mädchen unter den unbegleiteten Minderjährigen – der Anteil liegt bei den Eintritten aktuell bei 4 Prozent – gibt es im Huttwiler Ankunfts- und Triagezentrum einen abgetrennten Bereich direkt neben den Betreuer*innenzimmern. Derzeit würden sie aber im Wohnheim in Belp untergebracht, sagt Zürcher. Dort sei die Trennung trotz hoher Belegung noch besser umsetzbar.

Im Wohnheim Huttwil ist es noch ruhig. Es ist 15 Uhr. In einer Stunde kommen die Jungs aus der Schule. Dann sind die Betreuer gefragt. «Wir begleiten sie von A bis Z», sagt Ali. «Wir wecken sie für die Schule, besprechen persönliche Probleme und begleiten sie zum Arzt oder zu Terminen mit der KESB oder der Beistandsperson.» Jeder Betreuer ist Bezugsperson für 4 bis 5 junge Männer. Die Arbeit sei herausfordernd, aber sie mache auch Freude. «Vor allem auf den Ausflügen und wenn wir sehen, dass es den Jungen gut geht.»

Kürzlich sei ein Jugendlicher aufgelöst zu ihm gekommen, erzählt Ali. Seine Mutter sei in der Heimat im Krankenhaus, sie brauche dringend Geld für die nötigen Behandlungen. «Unsere Sorge galt dann vor allem der Stabilität des Jugendlichen, der natürlich durch solche Nachrichten beunruhigt war.» Ali klärte mit ihm, wie sich die Situation für ihn etwas entspannen liesse. «In diesem Fall half auch der Transfer von etwas zusammengespartem Taschengeld.» Laut Ali thematisierten weder Betreuungspersonen noch Jugendliche Fluchtgründe. Wenn, dann sprächen die Jugendlichen eher über die schwierige Flucht und seien froh, nun in der Schweiz zu sein.

Ganz wenige der jungen Afghanen kommen nicht klar in ihrem neuen Leben in der Schweiz und verhalten sich selbst- und fremdgefährdend. Drei solche Jugendliche werden derzeit in einem Sondersetting betreut und stellen den Kanton und die Stiftung vor grosse Herausforderungen. «Die Suche nach geeigneten Plätzen und die Bereitstellung der vorübergehenden Notfallplatzierung binden derzeit enorm viele Ressourcen, sagt Zürcher. Es brauche Sondermassnahmen, damit man den Bedürfnissen dieser Jugendlichen gerecht werde. «Diese Jungs müssten eigentlich in spezialisierte Betreuungssettings.»

Das kantonale Amt für Integration und Soziales sucht nun direktionsübergreifend nach Lösungen. Amtsleiter Manuel Michel sagt: «Für diese Fälle gibt es eine Versorgungslücke.» Es gebe keine Institution, die die Ressourcen habe, diese Jugendlichen aufzunehmen, denn alle psychiatrischen Einrichtungen seien am Anschlag. «Darum haben wir aktuell ein Sondersetting mit der Securitas und Pflegepersonen und bringen die Jungs für die ambulante Behandlung in die UPD.» So könne man den Jugendlichen und der Situation einigermassen gerecht werden.

Michel ist sehr zufrieden mit der Arbeit von Zugang B, obwohl derzeit gewisse Kriterien im Leistungsvertrag nicht eingehalten werden. So konnte die Stiftung mit vielen Neueinstellungen zwar den Betreuungsschlüssel von 1 zu 12 laut Zürcher «weitgehend einhalten». Aber unter den vielen Neueinstellungen hat es zu wenig ausgebildete sozialpädagogische Fachkräfte. «Uns ist bewusst, dass die Stiftung ihren internen Ansprüchen nicht immer gerecht wird und die Anforderungen zum Teil nicht eingehalten werden», sagt Michel. Man sei aber in einem Krisenmanagement. «Angesicht der großen Herausforderungen läuft es gut.»

Aber wer kontrolliert die Arbeit von Zugang B und stellt sicher, dass die Jugendlichen zu ihren Rechten kommen? Er führe jedes Quartal Gespräche mit der Geschäftsleitung von Zugang B, sagt Amtsleiter Michel. Und es gebe vierzehntägliche Austauschsitzungen auf Fachebene sowie regelmässige Aufsichtsbesuche. «Zudem haben alle Minderjährigen eine Beistandsperson und auf fachlicher Ebene ist die KESB involviert», ergänzt er.

Froh ist Michel vor allem über die gute Tagesstruktur der Stiftung. Gemäss Konzept müssen alle volksschulpflichtigen Jugendlichen die Regelschulen besuchen. «Doch die Schulleitungen in der Region sagen: ‹Das schaffen wir nicht›», sagt Michel. Darum braucht es die Tagesstruktur von Zugang B, mit kreativen Lösungen und unkonventionellen Anstellungen. «Zum Glück haben wir nicht nur ausgebildete Lehrpersonen», sagt Schulleiterin Aeschlimann. Sie habe etwa auch mit Quereinsteigern aus handwerklichen Berufen gute Erfahrungen gemacht. «Die können den Pubertierenden sehr glaubwürdig erklären, dass man pünktlich und sauber zur Arbeit erscheinen sollte.»

Doch was kann die Tagesstruktur in Huttwil in der kurzen Zeit, bis die Jungs volljährig sind, an Integration erreichen? «Alles und nichts», sagt Aeschlimann. Einige Jugendliche hätten Mühe, überhaupt täglich in der Schule zu erscheinen. Es gebe aber auch solche, die in Afghanistan nur gearbeitet hätten, um die Familie zu ernähren und hier nach zwei Monaten Deutsch könnten. «Unser Ziel ist es, die Jugendlichen von der Tagesstruktur via regionale Integrationsklassen in die Regelschule oder in das 10. Schuljahr zu bringen, damit sie eine Lehrstelle suchen können.» Viele Jungen wollen Automechaniker werden, sagt Aeschlimann, andere Arzt. «Wichtig ist einfach, dass sie eine Lehre machen», sagt Aeschlimann, danach sei alles offen.

Leider gebe es aber mit 18 Jahren oft einen Bruch. Bei Erwachsenen reduziere sich das Unterstützungsangebot stark. «Mein Wunsch wäre, diesen Bruch zu vermeiden», sagt Aeschlimann. Dann gäbe es wohl noch mehr berufliche Erfolgsgeschichten, so wie die eines jungen Afghanen, der in weniger als zwei Jahren fliessend Berndeutsch sprach und eine Lehrstelle bei der Migros fand.



Kein Gespräch mit Jugendlichen

Den Besuch der «Hauptstadt» beim Beratungsangebots von Zugang B in Huttwil hat das kantonale Amt für Integration und Soziales organisiert. Zum Schutz der Jugendlichen gewähren der Kanton und die Stiftung nur sporadisch Journalist*innen einen direkten Einblick in die Betreuungssituation. Auf Wunsch des Geschäftsführers der Stiftung hat die «Hauptstadt» nicht mit den Jugendlichen, sondern nur mit den Betreuer*innen und Verantwortlichen gesprochen.
(https://www.hauptstadt.be/a/unbegleitete-minderjaehrige-gefluechtete-im-kanton-bern)


++++LUZERN
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg – Sieg für linke Luzerner Anwältin gegen Schweizer Rechtsstaat
Die Schweiz verliert am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg gegen einen 83-jährigen Iraner und seine Luzerner Anwältin. Das Resultat: Der Iraner darf trotz fehlender Papiere und Wegweisung in der Schweiz bleiben.
https://www.zentralplus.ch/justiz/sieg-fuer-linke-luzerner-anwaeltin-gegen-schweizer-rechtsstaat-2544519/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/schweiz/gerichtshof-fuer-menschenrechte-strassburg-rueffelt-die-schweiz-warum-ein-ein-83-jaehriger-iranischer-rentner-nicht-ausgeschafft-werden-darf-ld.2454851 (Abo)


+++SCHWEIZ
«Das ist völliger Stumpfsinn!» – Würth in der Asyl-«Arena» empört über SVP-Vorschlag
In der «Arena» wurde über die Schweizer Asylpolitik diskutiert. Ein Fokus lag dabei auf dem Ausweis F und dessen Problematik. Dazu präsentierte Martina Bircher zwei Lösungsvorschläge, die auf keinerlei Zustimmung stiessen. Im Gegenteil.
https://www.watson.ch/schweiz/review/648840786-in-der-srf-arena-empoert-der-asyl-vorschlag-der-svp-stumpfsinn
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/arena-sp-pult-die-schweiz-ware-ohne-migranten-nichts-66493498
-> Arena SRF: https://www.srf.ch/play/tv/arena/video/asylwesen—ist-die-schweiz-ueberfordert?urn=urn:srf:video:8241a812-d16e-4b52-8be0-1faab64911a6
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/arena-zum-asylwesen-buergerliche-und-linke-zanken-ueber-asylpolitik


+++UKRAINE
Probleme im Ausland – Flucht ist für ukrainische Roma meistens kein Ausweg
Auch Roma flüchten aus der Ukraine. Schätzungen gehen von etwa 100’000 Geflüchteten aus. Doch auf sie warten viele Herausforderungen im Ausland. Auch Rita und ihre Familie musste diese Erfahrung machen.
https://www.srf.ch/news/gesellschaft/probleme-im-ausland-flucht-ist-fuer-ukrainische-roma-meistens-kein-ausweg


+++GASSE
Einblicke in das Leben Sucht- und Armutsbetroffener: Die Luzerner «Gasseziitig» feiert Jubiläum
Seit 25 Jahren gibt es in Luzern die «Gasseziitig». Am Samstag wurden zur Feier Verkäufer und Käuferinnen zusammengebracht.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/die-luzerner-gasseziitig-feiert-jubilaeum-2545375/
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/seit-25-jahren-gibt-die-luzerner-gassenzeitung-randstaendigen-eine-aufgabe-151506992


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
BE:
Swiss Overshoot Day: Greenpeace-Aktivist:innen enthüllen Riesen-Banner
beim Bundeshaus
Seit heute ist die Schweiz pleite: Der 13. Mai ist Swiss Overshoot Day. Wir haben alle Ressourcen aufgebraucht, die uns für dieses Jahres zustehen. Greenpeace-Aktivist:innen haben deshalb an einem Baukran in Sichtweite von Bundeshaus und Schweizerischer Nationalbank ein grosses Banner enthüllt. Sie fordern: «Unser Planet hat Grenzen. Sprengen wir sie nicht».
https://www.greenpeace.ch/de/story/98063/swiss-overshoot-day-greenpeace-aktivistinnen-enthuellen-riesen-banner-beim-bundeshaus/
-> https://www.derbund.ch/umweltaktivisten-klettern-auf-baukran-beim-bundesplatz-588325247822
-> https://www.20min.ch/story/aktivisten-klettern-auf-baukran-am-bundesplatz-547651312247
-> https://www.watson.ch/schweiz/umwelt/103498959-greenpeace-aktivisten-klettern-auf-baukran-beim-bundeshaus
-> https://twitter.com/greenpeace_ch/status/1657306333639589888
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/greenpeace-aktivisten-seilen-sich-von-kran-beim-bundesplatz-ab-151498643?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151499173
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/sechs-unbekannte-klettern-auf-braukran-beim-bundesplatz-in-bern-66494264
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/gefaehrliche-aktion-klima-aktivisten-klettern-auf-baukran-beim-bundeshaus-id18572543.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/protest-auf-baukran-greenpeace-aktivisten-mit-gefaehrlicher-aktion-in-bern



BS:
„Schlappe für Stawa! Cabrera forderte zunächst 10 Monate unbedingt, musste dann weil er „in der Zeile verrutscht war“ auf 8 Monate korrigieren. Gestern sprach das Gericht den Genossen in einigen Punkten frei, verhängte jedoch 180 Tagessätze bedingt. Hier die Prozesserklärung“
Mehr: https://twitter.com/basel_nazifrei/status/1657312359600332800



ZH:
Erneut eskaliert Demo an der Langstrasse: Vermummte greifen Polizisten an
Am späten Freitagabend ist es bei einer unbewilligten Demo an der Zürcher Langstrasse zu Ausschreitungen gekommen. Vermummte attackierten die Polizei. Der gewalttätige Vorfall ist nicht der erste der vergangenen Wochen.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/erneut-eskaliert-demo-an-der-langstrasse-vermummte-greifen-polizisten-an-151495501?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151495770
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/mit-glasflaschen-und-pyros-beworfen-vermummter-mob-attackiert-zuercher-polizisten-id18572842.html
-> https://www.20min.ch/story/unbewilligte-demonstration-an-der-langstrasse-polizei-vor-ort-791337033715
-> https://www.stadt-zuerich.ch/pd/de/index/stadtpolizei_zuerich/medien/medienmitteilungen/2023/mai/vermummter_mob_greiftstadtpolizistenan.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/schwerer-unfall-am-love-ride-in-bruettisellen-polizei-nimmt-67-jaehrige-mutmassliche-drogendealerin-fest-schwerer-verkehrsunfall-in-weisslingen-251047807335
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/polizisten-wahrend-unbewilligter-demo-angegriffen-66494074
-> https://www.nau.ch/ort/zurich/zurich-mehrere-dutzend-vermummte-greifen-stadtpolizisten-an-66494294


Zürch Bahnhofstrasse: Nackte Tierschützer demonstrieren vor «Grieder»-Filiale
Die Tierrechtsaktivistinnen und -aktivisten wollen mit einer Demo gegen Pelz-Produkte im Sortiment der Bou-tique protestieren. Die Aufmerksamkeit war gross, als sich am Samstagnachmittag die Tierschützerinnen und Tierschützer splitternackt auszogen.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/nackte-tierschuetzer-demonstrieren-vor-grieder-filiale-151503371?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151503365
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/blutt-und-blutverschmiert-an-der-bahnhofstrasse-151506688


+++SPORT
Fussballchaoten: Luzerner Mitte plant Initiative gegen Fangewalt
Die Luzerner Mitte will Fangewalt den Riegel schieben: Ende März stellte sie der Regierung ein Ultimatum: Entweder ergreife diese griffige Massnahmen – oder die Partei lanciert eine Volksinitiative. Nun stellt der Parteivorstand den Delegierten den Antrag, eine Initiative zu lancieren.
https://www.zentralplus.ch/politik/luzerner-mitte-plant-initiative-gegen-fangewalt-2545318/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/fussballchaoten-luzerner-mitte-macht-ernst-parteivorstand-lanciert-initiative-gegen-fangewalt-ld.2457121 (Abo)


+++RECHTSPOPULISMUS
Das bürgerliche Feindbild-Defizit
Der Rechtspopulismus ist weiterhin im Aufwind. Das hat auch mit der Schwäche der rechten Traditions¬parteien zu tun. Wie erklärt sich die?
https://www.republik.ch/2023/05/13/binswanger-das-buergerliche-feindbild-defizit


Wie Tamedia den Backlash befeuert. Ein Anschauungsbeispiel
Forscherinnen der Universität Zürich veröffentlichen eine Untersuchung zur Frage, wie die Dynamik universitärer Karriereverläufe von Geschlecht und Studienfach abhängt. Die SonntagsZeitung aus dem Haus Tamedia instrumentalisiert die Resultate, um den Geschlechterbacklash anzuheizen. männer.ch hat die Originalstudie analysiert und zeigt, wie mit verzerrter Dateninterpretation Geschlechterrollen von gestern zur Normalität von heute stilisiert werden.
https://www.maenner.ch/wie-tamedia-den-backlash-befeuert



aargauerzeitung.ch 13.05.2023

Importierter Kulturkampf: Die Anti-Gender-Kampagne von Andreas Glarner ist unschweizerisch

Werden Schülerinnen und Schüler in Stäfa ZH mit einer gefährlichen linken Ideologie indoktriniert? Nein. Warum behaupten das dann prominente SVP-Exponenten? Weil sie in der Schweiz einen Kulturkampf führen wollen, wie es die US-Republikaner tun.

Christoph Bernet

Ungeheuerliches soll sich zutragen in der Zürcher Gemeinde Stäfa, glaubt man rechten Social-Media-Accounts und prominenten SVP-Vertretern. In einer obligatorischen Schulveranstaltung werde die gefährliche «Gender-Ideologie» gepredigt. Unschuldigen Sekschülerinnen und Sekschülern soll beigebracht werden, dass Buben nicht mehr Buben und Mädchen nicht mehr Mädchen sein dürften.

Nichts davon ist wahr.

Der sogenannte «Gender-Tag» in Stäfa hätte dieses Jahr zum zehnten Mal stattfinden sollen. Im Rahmen der Veranstaltung sollten geschlechterspezifische Rollenbilder thematisiert, Fragen zu Beziehungen, Liebe und Sexualität diskutiert werden.

Die Schule kommt damit ihrem Auftrag nach: Der Lehrplan verlangt, dass junge Menschen sich kritisch mit diesen Themen auseinandersetzen können. Die bisherigen neun Ausgaben in Stäfa verliefen reibungslos. Weder die Schülerschaft noch die Eltern hatten etwas einzuwenden.

Weshalb dann die Aufregung?

Ausgelöst worden ist sie von einem Einladungsbrief, der in Chatgruppen und sozialen Medien die Runde machte. Der Aargauer SVP-Nationalrat Andreas Glarner teilte ihn mit seinen 15’000 Followern bei Twitter und Facebook. «Wer greift durch und entlässt die Schulleitung?» fragte Glarner. Sein Zürcher Parteikollege Roger Köppel witterte in seiner Youtube-Sendung «Weltwoche Daily» eine «Ideologisierung und Versexisierung» des Schulunterrichts.

Die Folge: Drohungen gegen Leib und Leben der verantwortlichen Lehrkräfte und Behördenmitgliedern, Aufrufe zu einer Störung der Veranstaltung. In Absprache mit der Polizei sagte die Schule den Gender-Tag ab.

Ein ungeheuerlicher Vorgang: Gewählte Politiker befeuern Hetze gegen Sozialarbeitende und Lehrkräfte. Eine Veranstaltung, bei der vom Lehrplan vorgeschriebene Inhalte vermittelt werden sollen, kann nicht stattfinden.

Bemerkenswert: Zwei ortsfremde SVP-Männer betreiben «Cancel Culture» gegen die Schule Stäfa. Also Vertreter jener Partei, die sonst besonders lautstark den Verlust von Meinungsfreiheit, Föderalismus und Gemeindeautonomie beklagt.

Weshalb tun sie das?

Die Kampagne gegen den Gender-Tag in Stäfa kann nicht isoliert betrachtet werden. Sie fügt sich in eine weltweit zu beobachtende rechte Erzählung. Wladimir Putin, Viktor Orbán und Donald Trump: Sie alle inszenieren sich als Vorkämpfer für die angeblich bedrohten, traditionellen Familienwerte.

Der SVP dient insbesondere der Kulturkampf von rechts durch die US-Republikaner als Vorbild. Roger Köppel, ein aufmerksamer Beobachter der amerikanischen Politik, sprach erst vergangene Woche an einem Anlass des konservativen US-Thinktanks CPAC in Budapest. Er geisselte dort die «Woke»- und «Gender»-Ideologie.

Rechte US-Medien wie Fox News berichten fast pausenlos über angebliche Auswüchse dieser Ideologie an Unis, Schulen oder im Kulturbetrieb. Einzelfälle finden auch in deutschsprachigen Medien viel Raum. Bei näherer Betrachtung sind sie oft vielschichtiger und weniger eindeutig, als sie in der medialen Empörung erscheinen.

Darüber geht vergessen: Hinter der Agitation der US-Republikaner stehen weitergehende Ziele. Sexuelle Minderheiten sollen an den Rand der Gesellschaft gedrängt und Frauen soll das Recht auf Abtreibung genommen werden.

Hierzulande mischen SVP-Exponenten bei Volksinitiativen mit, die das Abtreibungsrecht aushöhlen wollen. Und machen Stimmung gegen Transsexuelle. Die Rücksichtnahme auf Minderheiten ist Teil der DNA der Schweiz mit ihren vielen Sprachen und Konfessionen. Der Versuch der SVP, den rechten Kulturkampf aus den USA zu importieren, ist unschweizerisch.

Und er wirkt bemüht. Als SVP-Programmchefin und Gastwirtin Esther Friedli in einem Interview nach konkreten Beispielen für die «Woke»- und «Gender»-Ideologie gefragt wurde, fielen ihr genau zwei Sachen ein: In einigen Schulen müssten Buben und Mädchen neuerdings aufs selbe WC. Und manche Gäste in ihrem Restaurant seien verunsichert, ob sie noch Mohrenkopf sagen dürften. An diesen Problemchen wird die Schweiz nicht untergehen.
(https://www.aargauerzeitung.ch/schweiz/wochenkommentar-das-gender-gespenst-geht-um-die-perfide-masche-des-anti-patrioten-andreas-glarner-ld.2457328)
-> https://www.tagesanzeiger.ch/der-gender-shitstorm-koennte-fuer-die-svp-zum-bumerang-werden-708183774375


+++VERSHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Grosse SRF-Bühne für Mass-voll-Chef: «Arena» lädt Nicolas Rimoldi ein – Berset schwänzt
In der Abstimmungssendung zum Covid-19-Gesetz steht der umstrittene Massnahmengegner ganz vorne. Zu einem Duell mit dem Gesundheitsminister wird es aber nicht kommen.
https://www.blick.ch/politik/grosse-srf-buehne-fuer-mass-voll-chef-arena-laedt-nicolas-rimoldi-ein-berset-schwaenzt-id18573468.html


+++HISTORY
Ralph Lewin, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds: «In der Schweiz braucht es immer Druck von aussen»
Für die Opfer des Nazis soll in der Schweiz eine Erinnerungsstätte entstehen. Ralph Lewin, Präsident des Dachverbands der Schweizer Juden, hat sich dafür eingesetzt. Im Interview erklärt er, wieso es das Memorial braucht, es so spät kommt und wie es aussehen soll.
https://www.blick.ch/politik/ralph-lewin-praesident-des-schweizerischen-israelitischen-gemeindebunds-in-der-schweiz-braucht-es-immer-druck-von-aussen-id18571012.html?utm_source=twitter&utm_medium=social&utm_campaign=blick-page-post&utm_content=bot


Jüdisches Leben in der Schweiz Zwischen gestern und morgen
In Zürich könnte bald ein Eruv, ein symbolischer Zaun, entstehen. Das Arbeitsverbot am Schabbat lässt sich so einfacher einhalten. Das zeigt auch: Jüdische Religion, Tradition, Identität und Geschichte haben in der Schweiz einen festen Platz.
https://www.deutschlandfunk.de/zwischen-gestern-und-morgen-juedisches-leben-in-der-schweiz-dlf-a7d7e791-100.html


„Erziehung zur Arbeit“: Schweizer Zwangsarbeit im Wirtschaftsboom
Bis Mitte der 1970er-Jahren gab es Zwangsarbeit in der Schweiz – mit Erziehungsauftrag. Profitiert haben auch Schweizer Industriefirmen.
https://www.swissinfo.ch/ger/-erziehung-zur-arbeit—schweizer-zwangsarbeit-im-wirtschaftsboom/48482338



tagesanzeiger.ch 13.05.2023

Aus für Zürcher Traditionslokal: Das Coopi schliesst

Der Treffpunkt der italienischen Antifaschisten und der SP, in dem es nach Geschichte riecht, macht nach 118 Jahren zu. Ob es eine Neuauflage des Cooperativo gibt, ist unklar.

Pascal Unternährer, Claudia Schmid, Sabina Bobst(Fotos)

Eine Portion Tomatenspaghetti mit Thon und Oktopus für 14.50 Franken, Risotto mit Krautstiel für 20 Franken inklusive Salat: Die Küche im Restaurant Cooperativo, von allen Coopi genannt, war für Zürcher Verhältnisse nicht nur unverschämt günstig, sie war auch gut.

Menù-del-Giorno-Gerichte kann man sich an der St.-Jakob-Strasse 6 allerdings nur noch bis kommende Woche gönnen: Am 20. Mai schliesst das geschichtsträchtige Restaurant, das in den letzten 118 Jahren an wechselnden Orten im Kreis 4 beheimatet war.

Das Cooperativo war 1905 an der Zwinglistrasse als Genossenschaftsküche eröffnet worden. Initiantin war die Società Cooperativa Italiana Zurigo gewesen, eine Gruppe italienischer Sozialdemokraten. Grund für die baldige Schliessung sind keine roten Zahlen oder gar ein drohender Konkurs, wie Società-Präsident Andrea Ermano am dunkelbraunen runden Tisch im Lokal beim Stauffacher erklärt.

Es stand eine Verlängerung des Pachtvertrags an, und das Coopi wollte die Bedingungen des Vermieters, eines Privatmanns, nicht akzeptieren. 700’000 Franken hätte die Società bis 2028 garantieren sollen, abzuzahlen in Monatsraten. Zusammen mit den steigenden Nebenkosten wären es über 12’000 Franken im Monat gewesen. Nicht viel mehr als heute, doch die Zeiten seien zu unsicher, so Ermano. Pandemie, Krieg, Inflation – «wir wollten das Risiko nicht eingehen». Zudem hätte renoviert werden müssen.

Sicherer Ort für linke Emigranten

Auch wenn der Abschied auf der emotionalen Ebene schwierig sei, fügt der Präsident einen anderen Aspekt hinzu. Früher sei das Coopi ein wichtiger Treffpunkt gewesen. Es gab eine Schule, eine Bibliothek, Veranstaltungen, Kultur. Da war das Lokal bereits an der Militärstrasse 36. Es war der Zufluchtsort für vom Faschismus Verfolgte, ein Refugium für linke Italienerinnen und Italiener. «Das Cooperativo war ein Werkzeug für unsere politische Arbeit», sagt Ermano. Heute sind andere Zeiten. Und es gibt neue Werkzeuge. Der Newsletter der Società-Zeitschrift «L’Avvenire dei Lavoratori» geht an 22’000 Adressen, davon sind nur 3000 in der Schweiz. Die Bloggerin der Genossenschaft wohnt in Neuseeland.

Trotzdem möchte die Società den Gastrobereich nicht endgültig abschreiben. Sie ist auf der Suche nach einem Ersatzlokal. Dieses will sie aber kaufen, nicht mieten, wie Vorstandsmitglied Maria Satta sagt. Lieblingsstandort wäre der Kreis 4, in dem die Piazza Cella an die jahrelange Coopi-Wirtin Erminia Cella und ihren Sohn Ettore erinnert, der als Schauspieler und Regisseur Karriere machte. Doch da seien die Preise hoch. Wohl zu hoch. Deshalb erweitern die Verantwortlichen den Radius. In der Stadt möchten sie aber bleiben.

Karl Marx und James Schwarzenbach

Eine Zäsur wird es dennoch. Wieder müssen die Bilder von Maler Mario Comensoli abgehängt werden – sie waren bereits die Wahrzeichen, als das Coopi noch am Werdplatz war (1970 bis 2007). Das Restaurant ist wohl das einzige auf der Welt, in dem fast nebeneinander Abbilder von Karl Marx und James Schwarzenbach hängen. Zu Marx’ Bild gibt es eine Anekdote. Schriftsteller Bertolt Brecht hatte es bei einem Coopi-Besuch erspäht und das Personal gefragt, weshalb Lenin und Stalin fehlten. «Wir dulden keine Diktatoren», erhielt er zur Antwort. «Auch nicht an den Wänden.»

Aber warum Schwarzenbach, der die Italiener vor mehr als 50 Jahren mit seiner Überfremdungsinitiative aus dem Land schaffen wollte? Das Gemälde ist ein ironisches Comensoli-Werk. Abgebildet ist neben dem umstrittenen Politiker ein nackter Italiener, der zwei Schweizer Frauen verführt – ein Angstklischee der damaligen Zeit.

Lenin soll übrigens 1917 seine letzte Zürcher Mahlzeit im Coopi eingenommen haben. Danach machte er sich im versiegelten Zug auf nach St. Petersburg, wo er die russische Revolution startete. Vier Jahre zuvor hatte auch Benito Mussolini im Coopi gegessen. Damals war er noch Sozialist und hatte gerade als Chefredaktor der Zeitung «L’Avanti» eine 1.-Mai-Rede in Zürich gehalten. Viele Jahre später, als faschistischer Diktator, liess Mussolini seinen Geheimdienst die italienischen Antifaschisten im Cooperativo ausspionieren und meldete sie, so erzählten es die Betroffenen, den Schweizer Ämtern. Manch Italiener bekam darauf Probleme mit den Behörden.

In den Nachkriegsjahren fand eine Annäherung zur Zürcher Linken und zu hiesigen Gewerkschaften statt. Später kamen Vertreterinnen und Vertreter der Jugendbewegungen von 1968 und 1980 dazu. Oder Studenten und Anwälte wie der spätere Bundesrat Moritz Leuenberger.

Hier feierte die SP

Wahlsiege und Abstimmungsschlappen feierte die SP während Jahrzehnten wie selbstverständlich im Coopi. Höhepunkte waren stets die Auftritte von Neugewählten – etwa als 1990 SP-Überraschungssieger Josef Estermann dem Freisinnigen Thomas Wagner das Zürcher Stadtpräsidium entriss. Auch Gerhard Schröder war da, als er noch SPD-Kanzler war.

Estermanns Nachnachfolgerin Corine Mauch feierte 2008 ebenfalls am Werdplatz, doch da waren die Coopi-Leute nicht mehr da, und das Lokal hiess Certo. Die SP feierte irgendwann nur noch im Volkshaus und neuerdings im Café Boy.

Erholung nach schwierigen Zeiten

Trotz des Coopi-Endes sagt Andrea Ermano: «Ich fühle mich erleichtert.» Damit spielt er auf schwierigere Zeiten an. In den 1990ern stand die Società vor dem Abgrund, sie hatte über eine halbe Million Schulden. Es herrschte Rezession, und es kam die Liberalisierung des Gastgewerbes. Die Anzahl Gastrobetriebe explodierte, die Konkurrenz machte dem etwas angestaubten Traditionslokal zu schaffen. Die Löhne des Coopi-Personals wurden gekürzt, irgendwann gabs nur noch den Mindestlohn, die Gewerkschaften tobten.

Doch der Turnaround gelang. Auch die städtische SP unter Koni Loepfe hatte geholfen. Mit der Aktion SP pro Coopi trieb die Partei über 150’000 Franken auf. Heute sei die Società gesund, sagt der Präsident. Wichtig ist jetzt auch, dass alle Coopi-Angestellten eine Anschlusslösung haben. Nun verlässt das Coopi das Lokal an der St.-Jakob-Strasse, das ihnen 2007 Gastrokönig Rudi Bindella vermittelt hatte. «Damit verabschiedet sich ein Ort der politischen Vernetzung und Diskussion, der zu einer respektierten Institution für die hiesige Linke geworden war, aus dem Quartierbild Aussersihls», schrieb die linke Zeitschrift P.S.

Ein Coopi-Stuhl gefällig?

Der 20. Mai wird an der St.-Jakob-Strasse ein – wohl emotionaler – Abschiedstag mit Auftritten verschiedener Rednerinnen und Redner aus der Schweiz und Italien, unter anderem mit Migrationshistoriker Toni Ricciardi. Ein paar Tage später soll ein Flohmarkt stattfinden. «Vielleicht», so sagt Maria Satta, «hat ja jemand Lust, sich noch ein Stüehli aus dem Coopi zu sichern.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/das-coopi-schliesst-470203637672)