Medienspiegel 7. Mai 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
Die Asylsozialhilfe im Aargau verstosse nicht gegen Grundrechte, sagt die Aargauer Regierung in der Antwort auf eine Beschwerde. (ab 03:28)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/der-solothurner-amtsschimmel-galoppiert-nach-wangen-bei-olten?id=12383662


+++SCHWEIZ
Mehr jugendliche Asylsuchende – Behörden suchen nach Lösungen für minderjährige Geflüchtete
Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) steigt kontinuierlich. Es fehlt an der nötigen Betreuung.
https://www.srf.ch/news/schweiz/mehr-jugendliche-asylsuchende-behoerden-suchen-nach-loesungen-fuer-minderjaehrige-gefluechtete



NZZ am Sonntag 07.05.2023

Wenn Asylbetreuer ihre Macht missbrauchen

Mitarbeiter von Bundesasylzentren sollen Frauen sexuell belästigt oder missbraucht haben. Mehrere wurden freigestellt.

Ladina Triaca

Es startete mit einem gewöhnlichen Grillabend und endete in einem Albtraum.

Am 9. Oktober 2021 sitzen drei Mitarbeiter eines Bundesasylzentrums mit drei Asylbewerberinnen in einem Garten eines Wohnhauses. Sie grillieren, trinken Moscow Mule, Bier und Wein. Irgendwann tanzen die jungen Menschen am Feuer. Sie sind sich aus dem Asylzentrum vertraut.

Eingeladen hat Felix Wagner, ein Mitarbeiter des Bundesasylzentrums, der wie die anderen Beteiligten eigentlich anders heisst. Sein Mitbewohner arbeitet ebenfalls im Asylzentrum. Nach 22 Uhr stösst Lukas Keller ans Feuer. Er ist als Zivildienstleistender im Asylzentrum tätig. Als der 19-Jährige ankommt, sind die anderen bereits angetrunken. Auch Keller beginnt zu trinken. So erzählt er es später der Polizei.

Irgendwann gehen zwei der Asylbewerberinnen im Haus des Gastgebers zu Bett. Der Zivildienstleistende Lukas Keller und die dritte Asylbewerberin, Zahra Moradi, eine 39-jährige Iranerin, bleiben vorerst draussen. Ab jenem Moment, als die beiden ins Haus treten, gehen die Geschichten, die sie der Polizei erzählen, auseinander.

Zahra Moradi sagt, sie habe ihr Pyjama angezogen, starke Antidepressiva genommen und sich im Wohnzimmer auf ein Sofa gelegt. Keller habe die Schiebetür des Wohnzimmers zugezogen und das zweite Sofa an ihres geschoben. Wegen der Medikamente (und dem Alkohol) habe sie sich gefühlt wie auf einer Wolke. Er habe angefangen, ihren Kopf und ihre Haare zu küssen. Sie habe das nicht gemocht und sich von ihm weggedreht. Er habe sie mit Gewalt zurückgedreht. Sie habe keine Energie mehr gehabt, sich dagegen zu wehren.

Lukas Keller erzählt es der Polizei anders. Er sagt, sie hätten die beiden Sofas gemeinsam zusammengeschoben. Es sei ganz natürlich zum Sex gekommen. Es habe aber nicht lange funktioniert, da seine Erektion nachgelassen habe. Ihm sei bei der Sache nicht ganz wohl gewesen. Mit einer Asylantin Sex zu haben, sei nicht das, was er wolle.

Berühren beim Wecken

Zahra Moradi meldet sich nach dieser Oktobernacht bei Mitarbeitern des Staatssekretariats für Migration (SEM), die die zuständige Kantonspolizei informieren. Sie ist nicht die einzige Frau, die Vorwürfe gegen Betreuer eines Bundesasylzentrums erhebt.

Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) hat 2021 und 2022 17 Besuche in Asylzentren des Bundes durchgeführt. Dabei stiess sie auf vier Fälle, in denen männlichen Betreuern sexualisierte Gewalt gegen weibliche Asylsuchende vorgeworfen wird. Es geht dabei laut einem kürzlich erschienenen Bericht der Kommission um «Mitnehmen nach Hause», «grenzüberschreitende Äusserungen» oder «Berühren beim Wecken». In drei Fällen wurde das Arbeitsverhältnis suspendiert, in einem davon ein Strafverfahren eingeleitet. Mehr will die Kommission zu den Fällen nicht sagen.

Alicia Giraudel ist Menschenrechtsexpertin bei Amnesty International. Sie erhält immer wieder Berichte über Asylsuchende, die von Betreuern sexuell belästigt oder missbraucht worden sind – die Betroffenen sind in der Regel Frauen, manchmal auch LGBTQI+-Personen. «Das Problem ist das grosse Abhängigkeitsverhältnis», sagt Giraudel am Telefon. «Einzelne Betreuer nutzen ihre Machtposition gegenüber den Asylsuchenden aus.» Für die Asylsuchenden hat das zum Teil dramatische Folgen. Viele sind bereits in ihrem Heimatland oder auf der Flucht sexueller Gewalt ausgesetzt. «Wenn sie dann in der Schweiz Ähnliches erleben, kann das zu einer Retraumatisierung führen.»

Gemäss Giraudel beschweren sich längst nicht alle Frauen. Viele fürchten sich, dass eine Anzeige negative Auswirkungen auf ihr Asylverfahren haben könnte. Auch Zahra Moradi, die Frau aus Iran, fragte gemäss Unterlagen bei der zuständigen Staatsanwaltschaft mehrmals nach, ob die Geschehnisse den Ausgang ihres Asylgesuchs beeinflussen würden.

Diese Zeitung konnte auch mit einer ehemaligen Betreuerin eines Bundesasylzentrums sprechen, die anonym bleiben will. Sie erzählt, dass das Klima im Asylzentrum, in dem sie tätig war, generell sexistisch gewesen sei – gegenüber asylsuchenden Frauen, aber auch gegenüber Betreuerinnen: «Die männlichen Betreuer haben oft darüber diskutiert, welche Frauen attraktiv sind und welche nicht. Bei der BH-Ausgabe kommentierten sie jeweils lauthals die Brustgrössen der Frauen.» In einem Fall habe zudem ein Betreuer über mehrere Wochen ein privates Verhältnis mit einer geflüchteten Frau gepflegt – und sie manchmal mit dem Auto zum Zentrum gefahren. «Dieses Verhalten wurde nicht geahndet, obwohl es nicht erlaubt war, und der Mann seine Macht klar missbrauchte.»

Alicia Giraudel von Amnesty International fände es wichtig, dass das Staatssekretariat für Migration (SEM) klarer kommuniziert. «Die Behörden müssten sowohl den Asylsuchenden als auch den Mitarbeitenden deutlicher sagen, dass bei sexueller Gewalt null Toleranz herrsche.»

Auch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter kritisiert die Behörden in ihrem Bericht. Sie habe bei den Besuchen in den Asylzentren ein «uneinheitliches Vorgehen» bei Verdachtsfällen von Gewalt durch Mitarbeitende festgestellt. Es fehle an «klaren, systematischen und detaillierten Vorgaben», an denen sich die Mitarbeitenden orientieren könnten.

Das Staatssekretariat für Migration, das die Bundesasylzentren betreibt, widerspricht. Es seien bereits heute Vorgehensweisen definiert, die bei Vorfällen von sexualisierter Gewalt zur Anwendung kämen, schreibt ein Sprecher. Aber: «Wir werden prüfen, ob die bestehenden Vorgaben insbesondere zur Erkennung, Meldung und dem Vorgehen bei Hinweisen auf sexualisierte Gewalt zu spezifizieren sind.» Und generell schreibt er: «Gewalt in jeder Form toleriert das SEM nicht.»

Betreuer freigestellt

Der Fall aus dem Bundesasylzentrum hatte für die Beteiligten schwerwiegende Konsequenzen. Die zuständige Staatsanwaltschaft entschied, kein Strafverfahren wegen Vergewaltigung gegen den Zivildienstleistenden Lukas Keller zu eröffnen. In einer sogenannten Nichtanhandnahmeverfügung, die der «NZZ am Sonntag» vorliegt, hält die Staatsanwaltschaft fest, dass der Straftatbestand der Vergewaltigung nicht erfüllt sei.

Gemäss geltendem Recht muss ein Vergewaltiger eine Frau bedrohen, unter psychischen Druck setzen oder Gewalt anwenden. Aus Zahra Moradis Schilderungen aber gehe nicht hervor, dass der Beschuldigte «irgendwelche Nötigungshandlungen» vorgenommen habe, schreibt die Staatsanwaltschaft. Moradi gebe lediglich an, sich von ihm weggedreht zu haben. Zudem lägen keine Anzeichen vor, dass die Frau während des Geschlechtsverkehrs «zum Widerstand unfähig war» – trotz den Medikamenten und dem Alkohol, den sie zu sich genommen hatte. Das Parlament will Vergewaltigungen künftig breiter definieren.

Die Asylorganisation Zürich (AOZ), die die Bewohner des Asylzentrums im Auftrag des Bundes betreut, reagierte dennoch: Zwei Personen wurden freigestellt, und die definitive Beendigung ihrer Arbeitsverhältnisse wurde eingeleitet. Nicht wegen sexueller Gewalt, sondern weil sie gegen eine zentrale Regel verstossen hatten: Private Kontakte mit den Asylsuchenden sind für die Mitarbeiter grundsätzlich verboten – solange die Schutzsuchenden in den Bundesasylzentren untergebracht sind.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/wenn-asylbetreuer-ihre-macht-missbrauchen-ld.1736411)
-> https://www.20min.ch/story/mitarbeiter-19-von-asylzentrum-soll-iranerin-39-vergewaltigt-haben-323163358847
-> https://www.blick.ch/schweiz/mitarbeiter-freigestellt-sex-mit-asylbewerberin-oder-missbrauch-id18553430.html



Kantone suchen nach Lösungen für minderjährige Asylsuchende – Rendez-vous
In den letzten Monaten sind deutlich mehr Minderjährige in die Schweiz geflüchtet und haben hier ein Asylgesuch gestellt. Das setzt die Behörden unter Druck. Denn Minderjährige sollen getrennt von den erwachsenen Asylsuchenden untergebracht werden und haben Anspruch auf Bildung und Freizeit. Die Kantone suchen nun nach Lösungen.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/kantone-suchen-nach-loesungen-fuer-minderjaehrige-asylsuchende?partId=12383608


+++NIEDERLANDE
Niederlande: Touristenfähre als Flüchtlingsunterkunft
Eigentlich schippert die Sijla Europa Touristen zwischen Tallinn und Helsinki hin und her. Die Niederlande haben das Fährschiff jetzt aber für etwas ganz anderes gechartert: In Velsen beherbergt sie bis zu 1000 Migrant:innen, die auf ihren Asylbescheid warten. Die finden die Unterbringung meist deutlich besser als in den großen Auffanglagern. Doch nicht alle Anwohner:innen sind einverstanden.
https://www.ardmediathek.de/video/europamagazin/niederlande-touristenfaehre-als-fluechtlingsunterkunft/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2V1cm9wYW1hZ2F6aW4vOTZmOGMyZjQtZjk1My00NDc4LTg5Y2YtNDdmZDFhMTAzNDA2


+++EUROPA
EU: Steigende Flüchtlingszahlen in Europa
Eigentlich erreichen die meisten Flüchtlinge im Sommer Europas Küsten. Doch in diesem Jahr gibt es schon im Frühjahr vergleichbare Zahlen: Allein im März kamen fast 16 Tausend Menschen über die Mittelmeerroute nach Europa. Italien hat deshalb bereits den Notstand ausgerufen.
https://www.ardmediathek.de/video/europamagazin/eu-steigende-fluechtlingszahlen-in-europa/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2V1cm9wYW1hZ2F6aW4vMDhhNmIzYzYtMzMzOS00ZTcwLWJhMDgtZmY1YzYyNzlkODFj


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Basel: «Rache nach 1. Mai» – Linke bringen Riesen-Transparent an Kirchturm an
Die Organisation «Aufbau Basel» hat jetzt nachgeholt, woran sie nach eigenen Angaben am 1. Mai gehindert wurden – seit Sonntag ist an der Elisabethenkirche ein grosses Transparent zu sehen.
https://www.20min.ch/story/rache-nach-1-mai-linke-bringen-riesen-transparent-an-kirchturm-an-216339458403


+++RASSISMUS
Rassismus in der Schweiz – Worte, die hängen bleiben: Aufwachsen zwischen zwei Kulturen
Schwinger Sinisha Lüscher und Autorin Olivia El Sayed erzählen über ihre bikulturelle Herkunft, über Erfahrungen mit Rassismus und was sie heute ausmacht.
https://www.srf.ch/sendungen/unterhaltungssendungen/rassismus-in-der-schweiz-worte-die-haengen-bleiben-aufwachsen-zwischen-zwei-kulturen


+++RECHTSPOPULISMUS
SVP-Glarner weigerte sich, eine Transfrau Frau zu nennen – Zeit für ein paar Fragen
Wann ist ein Mann ein Mann? Die Frage ist alt – aber dringend. Andreas Glarner will sich nichts vorschreiben lassen. Deshalb sprachen wir mit dem Politiker über Rollenbilder und wollten wissen, ob auch er eine eher weibliche Seite hat.
https://www.watson.ch/schweiz/svp/729033823-svp-glarner-weigerte-sich-eine-transfrau-frau-zu-nennen?utm_source=twitter&utm_medium=social-auto&utm_campaign=auto-share


+++RECHTSEXTREMISMUS
#SamuelAlthof
„Lotta muss sich verabschieden. Warum ich aufhöre bei den Betonmalerinnen und was in den letzten Wochen geschah. Ein Thread“
Zur Erinnerung: Vor ca. einem Monat hat das FEXX in der Person von Samuel Althof meinen Vornamen auf Twitter öffentlich genannt. Dies im Kontext seiner Tweets mit Exponenten der rechtsextremen Jungen Tat. Ich bat umgehend das FEXX, meinen Namen zu löschen.
Mehr: https://twitter.com/farbundbeton/status/1655259985457164289


NZZ am Sonntag 07.05.2023

Soll man mit Rechtsextremen reden?

Seit Identitäre sich in die Öffentlichkeit drängen, ist eine hitzige Debatte zum Umgang mit ihnen entstanden. Im Zentrum steht Experte Samuel Althof, der die Nähe zur «Jungen Tat» bewusst sucht.

Sara Belgeri und Mirko Plüss

«Hallo M., Was meinst Du mit Globalismus?». Oder: «Hi T.: also … so gruuusig wie Du Dich hier öffentlich gibst, bist Du bestimmt nicht. Ich nehme Dir das jedenfalls nicht ab. Frage: warum Du Dich so gibst?».

Solche und ähnliche Fragen stellt der schweizweit bekannte Extremismus-Experte Samuel Althof den Mitgliedern der rechtsextremen Gruppierung «Junge Tat» auf Twitter. Althof sucht den Kontakt, immer wieder. Er will mit den jungen Männern ins Gespräch kommen. Und die «Junge Tat»? Die diskutiert mit ihm. Manchmal ernsthaft, vermehrt genervt, und zum Teil macht sie sich auch lustig über ihn.

Seit die «Junge Tat» vor drei Jahren das erste Mal an die Öffentlichkeit trat, ist auch der Umgang mit der Gruppe Thema. Nicht nur auf Social Media, sondern ebenso im realen Leben. Vor wenigen Wochen besuchten mehrere Mitglieder der Gruppe eine Veranstaltung über Rechtsextremismus im Zürcher Debattierhaus Karl der Grosse. Auf dem Podium waren SP-Nationalrat Fabian Molina und mehrere Expertinnen und Experten. Ein Mitglied der «Jungen Tat» stellte eine Frage, sie wurde ihm beantwortet. Die Aktion passt zum neuen Bild, das sich die Gruppe seit einigen Monaten geben will: salonfähig, selbstbewusst, identitär.

Immer drängender stellen sich grundlegende Fragen: Wie soll die Gesellschaft mit der «Jungen Tat» umgehen? Und wie sieht sinnvolle Prävention aus? Samuel Althof hat für sich eine Antwort gefunden. In letzter Zeit schrieb er die jungen Männer in den sozialen Netzwerken fast täglich an.

Das sorgt nun für harsche Kritik in Fachkreisen. Dirk Baier, Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der ZHAW, wurde vor einigen Wochen von einer Assistentin auf Althofs Tweets aufmerksam gemacht. Er sei «erschrocken», erzählt Baier.

«Samuel Althof wird wohl von der naiven Hoffnung getrieben, dass er Mitglieder der ‹Jungen Tat› mit Tweets umpolen kann», sagt Baier, der sich mit Prävention im Internet, politischem Extremismus und Radikalisierung befasst. «Es las sich erst mal wie ein Gespräch unter Kollegen.» Doch ein solches Gespräch setze ja voraus, dass das Gegenüber recht haben könnte. «Für mich gibt es aber gar keine Bereiche, in denen die ‹Junge Tat› mit ihren Positionen im Recht sein könnte.»

Baier bezeichnet Althofs Vorgehen als naiv, und noch schlimmer: als kontraproduktiv. «Wenn man die Kommunikation zu Rechtsextremen nicht abbrechen lassen will, ist das eine Sache», sagt Baier. «Eine ganz andere ist es, wenn man ihnen durch solche Gespräche eine noch grössere Aufmerksamkeit verschafft.»

Auch in der Öffentlichkeit sind Althofs Methoden heftig umstritten. Die linke «WoZ» kam zum Schluss, Althof habe «den Kompass verloren» und verharmlose die Rechtsextremen. «Sonntags-Blick»-Journalist Fabian Eberhard hat beruflich Kontakt mit Althof und recherchiert seit Jahren im rechtsextremen Milieu. Das «teils kumpelhafte Auftreten» von Althof gegenüber gewaltbereiten Rechtsextremen der «Jungen Tat» findet er heikel. Althof sollte sich der Aussenwirkung solcher Konversationen vor Publikum bewusst sein: «Sie bergen die Gefahr, dass die ‹Junge Tat› als Gruppe aufgewertet, verharmlost oder schlimmstenfalls gar legitimiert wird.»

Aber was bezweckt Althof eigentlich mit seinen Konversationen mit Rechtsextremen? «Ich lasse auf Twitter einzig einen Redekanal offen», sagt Althof auf Anfrage dieser Zeitung. Das Ziel sei, die Mitglieder der «Jungen Tat» zum Nachdenken zu bringen. «Auch Rechtsextreme können ihre radikale Gesinnung ändern, dafür muss man aber einen Draht zu ihnen etabliert haben. Solange diese jungen Extremisten noch keine vollständig abgeschlossene Ideologie haben, solange man also überhaupt noch diskutieren kann, lohnt sich ein Austausch.»

    Hoi, Gerne komme ich darauf zurück.
    Wüsste aber nicht welche Relevanz deine jüdischen Wurzeln haben.
    — vorstadtaktivist (@vorstadtaktivi1) March 23, 2023

Die Kritik, der Gruppierung Aufmerksamkeit zu verschaffen, weist Althof von sich: Auf Twitter sei die «Junge Tat» ja sowieso, also könne man dort auch mit ihnen reden. Er räumt ein, einzelne Sätze tönten vielleicht etwas «kameradschaftlich». Doch dahinter stehe immer das Ziel einer umfassenden Prävention. Und was man auf Twitter sehe, sei zudem nur ein kleiner Teil seiner Präventionsarbeit. «Ich bin seit Monaten und teils Jahren mit Extremisten, wie auch Mitgliedern der «Jungen Tat» und auch nahen Verwandten und Bekannten von ihnen im Austausch.» Den Auftrag dazu gab sich Althof selber.

Experte mit eigenwilligen Methoden

Der 67-Jährige ist nicht irgendein Experte. Der gelernte Psychiatriepfleger ist seit Jahrzehnten erste Ansprechstelle für die Redaktionen im Land, sobald es um Extremismus geht. In den neunziger Jahren baute er in Pionierarbeit die Aktion Kinder des Holocaust (AKdH) auf. Althof ist selber Nachfahre von Holocaust-Überlebenden. Mit der AKdH prägte er in den nuller Jahren den Begriff des Internet-Streetworking – er begann schon damals auch online Kontakt zu Rechts- und Linksextremisten aufzubauen. 2012 gründete er die Basler Fachstelle für Extremismus- und Gewaltprävention Fexx.

Althofs Methoden waren schon immer eigenwillig. Mit dem nach Syrien gereisten IS-Jihadisten und ehemaligen Thaibox-Weltmeister Valdet Gashi war er lange via Skype in Kontakt und versuchte, ihn wieder mit seiner Familie zusammenzubringen. Bis Gashi in Syrien ums Leben kam. Althof sagt, er habe einigen Extremisten beim Ausstieg aus der Szene geholfen. Einmal habe ihn sogar eine Bundesrätin eingeladen – nur um von ihm zu lernen, wie man mit Extremisten spricht.

    Ok, – aber wohin werden denn die Schweizer ausgetauscht?
    — Samuel Althof (@samuelalthof) March 28, 2023

Doch wie sehen andere Fachleute diese Gruppierung, mit der Althof immer wieder den Kontakt sucht? Seit längerer Zeit wird die «Junge Tat» vom Nachrichtendienst des Bundes (NDB) beobachtet. Die Gruppierung ging aus der rechten Bewegung Eisenjugend und der Nationalistischen Jugend Schweiz (NJS) hervor. Experten gehen von einem gewaltbereiten Kern aus. Laut Schätzungen zählt die «Junge Tat» etwas weniger als zwei Dutzend Mitglieder. Mit der Verbreitung rechtsextremer Propaganda in den sozialen Netzwerken dürfte sie aber Tausende mehr erreichen, auch international soll sie gut mit anderen identitären und rechtsextremen Gruppierungen vernetzt sein. Ihr Logo ist die Tyr-Rune, ein nationalsozialistisches Symbol, das Absolventen der Reichsführerschulen der NSDAP trugen.

Einer der Anführer flog 2020 von der Zürcher Hochschule für Künste (ZHdK), weil er nationalsozialistisches Gedankengut verbreitete. An einer Online-Vorlesung schrie er unter anderem rassistische Beleidigungen und «Heil Hitler». Zudem sollen führende Mitglieder vorbestraft sein, etwa wegen Rassendiskriminierung, Sachbeschädigungen oder illegalen Waffenbesitzes. Immer wieder fällt die Gruppierung auch mit Aktionen auf. Zum Beispiel, als sie letzten Oktober eine Lesung von Dragqueens für Kinder in Zürich störte oder als sie im November auf dem Basler Bahnhofsdach ein Transparent mit den Worten «Kriminelle abschieben» aufhängte.

Agierte die Gruppierung anfangs noch vermummt, zeigen nun einige Mitglieder der «Jungen Tat» offen ihre Gesichter. Sie bezeichnen sich als Aktivisten und setzen sich in den sozialen Netzwerken gekonnt in Szene. Im Zuge dieses Imagewandels hat sich die Gruppierung wiederholt vom Nationalsozialismus und von Gewalt distanziert. Wie ernst gemeint dieser Wandel sei, bleibe abzuwarten, sagen Beobachter. Sie gehen davon aus, dass die «Junge Tat» salonfähiger werden will.

Rechtsextremer Wanderklub

Und wie schätzt Althof die «Junge Tat» ein? «Die ‹Junge Tat› ist klar militant rechtsextrem», sagt Althof. Aber: «Viele ihrer Mitglieder sind noch nicht zu 100 Prozent ideologisiert.» Die «Junge Tat» sei momentan vor allem eine Art aktivistischer, rechtsextremer Wanderklub, der sich am Körperkult der Nazis orientiere. Er denkt nicht, dass die «Junge Tat» Zukunft hat: «Sie versucht momentan zwar, wie sogenannte Identitäre in anderen Ländern etwas ‹softer› daherzukommen und will politisch Fuss fassen, aber das wird ihr nicht gelingen.» Althof glaubt auch, dass die Mitglieder der Gruppierung noch erreichbar sind: «Da liegt noch viel drin, wir sind nicht im Jahr 1933.»

    Fitness ist immer gut & Boxen ist ein taktisch spannender Sport
    — Samuel Althof (@samuelalthof) April 5, 2023

Es sind solche Aussagen, an denen sich Gegner von Althof stören. Doch eigentlich entsprechen sie dem, was er immer schon sagte. Bereits 2006 hatte er eine ganz eigene Einschätzung zur rechtsextremen Szene in der Schweiz. Die Medien würden das Thema aufbauschen, sagte der Experte, als am 1. August Neonazis aufs Rütli zogen.

Kritik an Althof und seinen Methoden gibt es also reichlich. Aber wie sollte man es besser machen? Wichtig sei, dass die Präventionsarbeit langfristig gestaltet sei und man sich mit anderen Fachstellen oder sogar mit der Polizei vernetze, meint Dirk Baier. Also gut vorbereitete, direkte Ansprachen statt spontane Twitter-Antworten. Und: «Man darf den Betroffenen nie eine Bühne bieten.»

Allerdings stellt sich die Frage, wer mit Extremisten redet, wenn Althof es nicht tut. Ob andere Fachpersonen einen so direkten Zugang haben, wie Althof ihn hat, ist unklar. Und: Ein auf Bundesebene koordiniertes Ausstiegsprogramm, wie es etwa Deutschland kennt, gibt es hierzulande nicht.

Unklar ist auch, wie lange Althof selber seine Arbeit noch weiterführen wird. Seine Basler Fachstelle Fexx – eine One-Man-Show – ist nur noch bis im Juni finanziert. Geldgeberin war stets eine private Stiftung, die anonym bleiben will. Was macht der Extremismus-Experte ohne Fachstelle? «Weiter», sagt er. «Ich bleibe eine engagierte Person, die sich hier oder da zu Wort meldet.» Schweigen ist nicht Samuel Althofs Ding.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/junge-tat-soll-man-mit-rechtsextremen-reden-ld.1736408)



tagesanzeiger.ch 07.05.2023

Undercover bei Extremisten: «Wir sehen Anzeichen, dass sich die Radikalisierung weiter zuspitzt»

Die Extremismusforscherin Julia Ebner (32) berät Regierungen und Geheimdienste. In Zürich erklärt sie, welche Gefahren von Junger Tat, Linksradikalen und Verschwörungstheoretikern ausgehen.

René Laglstorfer, David Sarasin

Sie recherchieren seit 2015. Wie hat sich die Welt auf Ihrem Forschungsfeld seither verändert?

Extreme Ideen, die ich ursprünglich sehr stark am Rande der Gesellschaft wahrgenommen habe, sind immer mehr bis zur Mitte durchgedrungen. Darum geht es auch in meinem letzten Buch «Massenradikalisierung». Seit Ausbruch der Pandemie ist ein deutlich grösserer Teil der Bevölkerung anfällig dafür geworden und läuft bei Demos Schulter an Schulter mit Neonazis oder Reichsbürgern. Allein die Reichsbürger-Szene ist in Deutschland enorm gewachsen. Laut einer Studie der Konrad-Adenauer-Stiftung vertreten fünf Prozent der Deutschen reichsbürgernahe Ideologien, also antidemokratische Ideen.

Bei welchen extremistischen Bewegungen sind Sie «undercover» eingetaucht?

Darunter waren radikale Nazis, IS-Gruppen, Jihad-Brautgruppen bis hin zu frauenfeindlichen Gruppierungen und Verschwörungstheoretiker-Communitys. Für diese Milieus musste ich über mehrere Monate unterschiedliche Identitäten aufbauen. Dann habe ich offline mit den Undercover-Recherchen weitergemacht und war bei Veranstaltungen und Treffen dabei, zum Beispiel bei einem Neonazi-Rockfestival an der deutsch-polnischen Grenze, bei Anti-Corona-Demos, einem Strategietreffen der Identitären Bewegung oder einem Treffen der islamistischen Hizb ut-Tahrir, die in Deutschland verboten ist.

Wie gehen Sie bei Ihren verdeckten Einsätzen vor, verkleiden Sie sich?

Mittlerweile ist es viel schwieriger geworden, weil ich mehr in der Öffentlichkeit stehe und meine Bücher mir auch in diesen Kreisen Bekanntheit verschafft haben – auch im negativen Sinn mit vielen Hasskampagnen und Drohungen gegen mich. Deswegen musste ich im Laufe der Jahre meine tatsächliche Identität immer mehr verschleiern, um überhaupt hineinzukommen. Zum Beispiel habe ich bei einem Telefoninterview einen anderen Akzent gesprochen, um nicht meinen Wiener Dialekt zu verraten und nicht erkennbar zu sein mit meiner Stimme. Einmal habe ich eine Perücke aufgesetzt und Brillen getragen. Bei radikalen Pro-Putin- und Anti-Corona-Demos habe ich Kappen oder Hüte und Sonnenbrillen getragen.

Am Wochenende fanden gleich drei grössere Vernetzungstreffen von Verschwörungstheoretikern und Corona-Leugnern im Raum Zürich statt. Müsste da nicht langsam die Luft raus sein?

Ich habe mir die Frage immer wieder gestellt, weil die Hauptthemen der Corona-Leugner-Szene keine grosse Rolle mehr spielen – weder im Alltag noch medial. Aber es hat eine Verlagerung gegeben auf andere Themen. Der Ukraine-Krieg hat viel Raum geboten für Verschwörungsmythen. Und auch die Klimakrise, bei der den sogenannten globalen Eliten unterstellt wird, sie wollten unseren Alltag einschränken. Heute werden Hashtags wie «Klima-Lockdown» benutzt, womit bei den Leuten die gleiche Angst getriggert wird wie bei Corona, nur auf die Klimapolitik umgemünzt. Die Bewegungen, die mit Corona entstanden sind, werden Corona überleben und überdauern.

In Zürich geben derzeit auch linksradikale Gruppen zu reden. Woher kommt die Gewaltbereitschaft, wie sie am 1. Mai und 1. April bei Demonstrationen in Zürich zu beobachten war?

Wir sehen, dass die radikalen Ränder in den letzten Jahren an Zulauf gewonnen haben. Es herrscht auf beiden Seiten ein grundlegendes Misstrauen gegen die Politik, die etablierten Institutionen, eine Skepsis gegenüber dem Status quo sowie ein Wunsch nach radikalem Wandel. Durch die verstärkte Ungleichheit und die Wirtschaftskrise im Zuge der Pandemie und des Ukraine-Kriegs sind mehr Ängste, Frustrationen und Wut entstanden. Auch auf der linken Seite des Spektrums ist eine tiefe Wut vorhanden, was den Kapitalismus, die steigenden Wohnpreise und Lebenskosten betrifft.

Sehen Sie eine Gefahr, dass sich das Ganze weiter radikalisieren könnte?

In der Schweiz sieht es so aus, als finde die Radikalisierung sehr stark im linken Spektrum statt, während in den meisten anderen Ländern, die ich beobachte, die sozioökonomischen Frustrationen eher zum Rechtsextremismus führen. Wahrscheinlich haben hier in Zürich linksextremistische Bewegungen mehr Einfluss und sind besser darin, zu mobilisieren, anfällige Menschen anzusprechen und ein Ventil in Gewalt und Vandalismus zu finden.

Sehen Sie einen Unterschied zwischen linker und rechter Gewalt?

Gewaltbereitschaft ist – egal aus welcher ideologischen Ecke sie kommt – immer problematisch. Auf ideologischer Ebene machen wir beim Institute for Strategic Dialogue einen Unterschied zwischen Rechts- und Linksextremismus, weil Rechtsextremismus klar gegen Minderheiten hetzt und sie systematisch dämonisiert sowie entmenschlicht. Das ist ein gravierender Unterschied zur linksradikalen Seite und auch zu Klimaorganisationen. Hier tritt die Gewaltbereitschaft eher in Konfrontationen mit der Polizei oder in Reaktion auf Gegendemonstrationen auf.

Die demokratiefeindliche Szene, die im Zuge der Corona-Krise entstanden ist, ist nach wie vor online präsenter als im echten Leben. Wie ernst muss man diese Gruppen in der Schweiz nehmen?

Oft zeigt sich, dass die Zahl der wirklich aktiven Mitglieder, die auch bereit sind, ihr Gesicht in der Öffentlichkeit zu zeigen, viel kleiner ist als die Zahl der Online-Follower und Sympathisanten. Da sehen wir bei den unterschiedlichsten Gruppen, auch bei der Neuen Rechten, einen gewaltigen Unterschied.

Als wie gefährlich schätzen Sie die Vielzahl an Online-Mitläufern ein?

Die allermeisten sind, was die Gewaltbereitschaft betrifft, nicht gefährlich. Aber manchmal sind es gerade diese Online-Mitläufer, die irgendwann Terroranschläge durchführen. Hier kann die Radikalisierung des Einzelnen so weit gehen, dass es zu Gewaltbereitschaft kommt. Das hat man etwa beim Christchurch-Attentäter gesehen, der das Attentat auf zwei Moscheen (mit 51 Toten und 50 Verletzten, Anmerkung der Redaktion) begangen hat. Er war lediglich ein Sympathisant der Identitären Bewegung, aber war nie festes Mitglied. Studien der Universität Chicago haben gezeigt, dass beim Sturm auf das US-Kapitol nur ein ganz kleiner prozentualer Anteil der Randalierer aktive Mitglieder einer extremistischen Bewegung waren.

Seit einer Weile haben wir es im Raum Zürich mit der rechtsextremen Gruppierung Junge Tat zu tun, die vor allem durch PR-Aktionen auffällt. Was ist der Plan einer solchen Gruppe?

Zunächst sind das nachgewiesene Faschisten, aber sie verschleiern ihre Ideologien hinter einer geschickt angelegten Sprache, die subtiler und anschlussfähiger ist. Das macht sie auch gefährlich.

Erklären Sie bitte.

Diese neueren Gruppen, das zeigte auch die Identitäre Bewegung in Deutschland und Österreich, wechselten von einem offenen Rassismus und Antisemitismus hin zu einem Narrativ des Ethnopluralismus, wonach sich die unterschiedlichen ethnischen Gruppen nicht mehr vermischen sollen. In Wirklichkeit ist es eine weiss-nationalistische Einstellung. Sie wird mit Äusserungen im Bereich des Sagbaren verschleiert. Ihr Ziel ist es, das Sagbare weiter nach rechts zu verschieben. Deshalb sind diese Medienstunts, wie sie sie selbst nennen, auch erfolgreich. Sie generieren Aufmerksamkeit und polarisieren die Gesellschaft.

Dann funktioniert die Junge Tat gleich wie die Identitären in Deutschland und Österreich?

Ich war ja bei einem Strategietreffen der Identitären Bewegung, und es wirkte so, als wäre die Junge Tat sehr ähnlich, was die Taktiken und die Ideen betrifft. Im Zentrum stehen hybride Kampagnen: offline Aufmerksamkeit generieren und diese online mit ansprechend wirkenden visuellen Inhalten anreichern – das kann sehr erfolgreich sein, vor allem wenn die Medien mitspielen.

In der Faschismustheorie steht als finale Eskalationsstufe die Gewalt. Haben Sie auf dem Strategietreffen der Identitären davon etwas mitbekommen?

Bei dem Treffen haben sich die Identitären von Gewalt distanziert, weil es strategisch nicht sinnvoll wäre. Da die Junge Tat noch so eine kleine Gruppe ist, die politisch einflussreicher werden will, ist es nicht in ihrem Interesse, auf Gruppenebene zu Gewalt zu greifen – derzeit. Aber natürlich kann sich das ändern, wenn keine anderen Wege als machbar empfunden werden. Wenn sich politische Lösungen nicht mehr als realistisch entpuppen, können Bewegungen gewaltbereit werden. Einzelne können weiterhin zu Gewalttaten inspiriert werden. Diese Gefahr besteht natürlich.

Was ist das langfristige Ziel von Gruppen wie der Jungen Tat?

Das Ziel ist Re-Migration – und da sprechen wir nicht nur von Migrantinnen, die in den letzten paar Jahren gekommen sind, sondern auch von der Abschiebung von Migranten in zweiter und dritter Generation –, mit welchen Methoden auch immer. Ihr Ziel ist eine rein weisse, europäisch geprägte christliche Zivilisation. Im Zentrum steht die Sorge vor dem sogenannten Grossen Austausch. Darin sehe ich auch die Gefahr. Einzelne Attentäter in den letzten Jahren wurden inspiriert von diesen Ideologien. Diese Menschen sahen keinen anderen Ausweg als Terroranschläge gegen eine dämonisierte Feindgruppe.

In der Folge Ihrer Recherchen gab es Hasskampagnen gegen Sie, bis hin zu Morddrohungen. Wie gehen Sie damit um?

Ich versuche, dass das meine Arbeit nicht beeinträchtigt, aber natürlich beeinträchtigt es mich als Mensch. Auf persönlicher Ebene ist es manchmal schwer, sich nicht einschüchtern zu lassen. Es ist aber genau das Ziel dieser Kampagnen, dass Menschen ihre Arbeit aufgeben. Das betrifft nicht nur mich, sondern zahlreiche Journalistinnen, Forscherinnen, Politikerinnen und Aktivistinnen, die zu kontroversen Themen arbeiten. Deshalb nehme ich es mittlerweile an als Teil des Jobs.

Wie sollte man Leuten mit staatsablehnenden Ideologien begegnen?

Es ist enorm schwierig, Menschen zurückzuholen, die ein starkes Misstrauen haben gegen die Institutionen und Verschwörungsmythen in ihre Weltanschauung integriert haben. Deshalb wäre es viel sinnvoller, in der Prävention anzusetzen, damit es gar nicht so weit kommt, dass Leute ihr Vertrauen in die Demokratie aufgeben, ihre Steuern nicht mehr zahlen und sich nicht mehr an Gesetze halten. Wir versuchen, zu verstehen, was die emotionalen und psychologischen Bedürfnisse sind, die sich dahinter verbergen.

In einem Interview sagten Sie, Fakten seien im Umgang mit radikalisierten Menschen der falsche Zugang. Wir müssten versuchen, auf der psychologischen Ebene Anknüpfungspunkte zu finden. Welche sind das?

Begegnungszonen sind wichtig, damit weiterhin ein Kontakt besteht mit Menschen, die oft dämonisiert und als Feinde wahrgenommen werden. Auch Behörden- und Medienvertreter sollten Berührungspunkte suchen, weil eine Konfrontation mit dem wahrgenommenen Feind dazu führen kann, dass Menschen wieder menschlicher erscheinen. Falls man im persönlichen Umfeld jemanden hat, ist es wichtig, sich nicht zu distanzieren, sondern weiterhin den Dialog zu suchen, um diese Menschen nicht der Isolation und ihren eigenen Informationsfilterblasen zu überlassen.

Haben wir den Höhepunkt an Radikalisierung bereits erreicht?

Im Moment sehen wir Anzeichen, dass sich die Radikalisierung weiter zuspitzt. Extreme Ideen – egal ob Frauenfeindlichkeit, Verschwörungsmythen oder Rechtsextremismus – verbreiten sich weiter und gewinnen eventuell auch politisch noch mehr an Einfluss. Wir haben jetzt schon die ersten Anzeichen bei den Wahlen in Schweden und Italien gesehen. Auch in den USA mit den Erfolgen von Trump und DeSantis. Beide Kandidaten würden rechtsextreme Ideologien weiter vorantreiben. Das wird in den nächsten Jahren noch schlimmer werden.

Dann sind Sie gänzlich pessimistisch? In Ihrem Buch skizzieren Sie ja auch Gegenmassnahmen.

Es gibt Grund zur Hoffnung. Alle neuen Technologien wurden in der Vergangenheit zunächst missbraucht und wurden von extremen Bewegungen instrumentalisiert. Wenn man an den Buchdruck denkt oder an die Erfindung des Radios. Ich denke aber auch, dass wir mit der Zeit lernen, mit neuen Technologien umzugehen. Dafür braucht es Regulierungen und gesellschaftliches Bewusstsein.



Zur Person

Julia Ebner wurde 1991 in Wien geboren und lebt in London. Die Radikalisierungs- und Extremismusforscherin berät mehrere Regierungen und Geheimdienste in Europa und Nordamerika, die Vereinten Nationen, die Nato sowie die Weltbank in Fragen des Extremismus. Für ihre Recherchen tauchte Ebner seit 2015 on- und offline in extremistische Bewegungen ein, darunter waren Nazis, Islamisten, Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker und frauenfeindliche Gruppen. Dafür nutzte Ebner verschiedene Identitäten, die sie über Monate aufbaute. Als die 32-Jährige enttarnt wurde, gab es Hasskampagnen sowie Mord- und sexuelle Drohungen gegen sie, aber auch mehrere Auszeichnungen. Ebner schrieb mehrere Bestseller und forscht am Institute for Strategic Dialogue in London. Eben beendete sie ihre Doktorarbeit an der Universität Oxford. Anfang Mai präsentierte sie ihr aktuelles Buch «Massenradikalisierung – Wie die Mitte Extremisten zum Opfer fällt» im Zürcher Kaufleuten. (rla)
(https://www.tagesanzeiger.ch/wir-sehen-anzeichen-dass-sich-die-radikalisierung-weiter-zuspitzt-953567669009)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
«Friedensdemonstration» in Winterthur: Demos in Winterthur: Der Ticker zum Nachlesen
Der «Freiluftkongress» von Urs Hans lockte einige Hundert Zuschauer auf den Neumarkt. Der angekündigte Umzug fiel aus, die Polizei ging mit Grossaufgebot gegen 100 Gegendemonstranten vor.
https://www.tagesanzeiger.ch/winterthur-steht-ein-unruhiger-sonntag-bevor-es-soll-zu-demo-und-gegendemo-kommen-588824771063
-> https://twitter.com/farbundbeton
-> https://twitter.com/RaimondLueppken
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/demo-von-linken-und-rechten-250-menschen-am-freiluft-kongress-in-winterthur-id18554302.html?utm_source=twitter&utm_medium=social&utm_campaign=blick-page-post&utm_content=bot
-> StrickerTV: https://www.youtube.com/watch?v=WvY0hE7JAiU
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/winterthur-zh-250-menschen-am-freiluft-kongress-66489792
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/demo-von-linken-und-rechten-250-menschen-am-freiluft-kongress-in-winterthur-id18554302.html
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/mit-wasserwerfer-und-in-vollmontur-polizei-kesselt-gegendemonstranten-ein-151398186?autoplay=true&mainAssetId=Asset:151401772
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/raimund-rodewald-das-klettgau-ist-ein-erfolgsrezept?id=12383593 (ab 01:53)
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/polizei-in-winterthur-mit-grossaufgebot-00211719/
-> https://twitter.com/janaurka/status/1655174716028600321
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/winterthur-gleicht-einer-festung-151404661



tagesanzeiger.ch 07.05.2023

Demo-Sonntag in WinterthurPolizei verhindert Zusammentreffen von Linksextremen und Jebsen-Fans
Am Sonntag lud Urs Hans zu einem Freiluftkongress, Linksaussen traf sich zur Gegendemonstration. Trotzdem blieb die Lage ruhig.

Gregory von Ballmoos

Auf dem Neumarkt trafen sich, eingeladen von Urs Hans, ehemalige Massnahmenkritiker zu einer Friedensdemonstration, und im Stadtgarten wollten Linksextreme ein Zeichen dagegen setzen. In den jeweiligen einschlägigen Portalen wurde zum Kommen aufgerufen. Doch es kam kaum wer. Weder zum «Freiluftkongress» von Urs Hans noch zur Gegendemonstration der Ganzlinken. Auf dem Neumarkt fanden sich vielleicht 300 Leute ein, im Stadtpark waren es rund 180 Personen.

Weitaus am besten mobilisiert hat die Polizei. Der Neumarkt war auf alle Seiten hin eingezäunt, die Polizei markierte Präsenz in Kampfausrüstung. Um kurz nach 12 Uhr trafen die Freiheitstrychler ein, sie waren auch schon zahlreicher zugegen. Über die Technikumstrasse wurden sie in Begleitung der Polizei und ihres eigenen Sicherheitsteams auf den Neumarkt geleitet. Mit dabei waren auch schwarz gekleidete, kräftige Männer von der WG. Einem Männerclub, der gemäss eigener Aussage ein unpolitisches, antifaschistisches Kollektiv von Menschen verschiedenster Richtungen und verschiedenster Herkunft ist. Das schrieben sie einst auf ihrer Website, diese ist aber aktuell offline.

Das war schon fast der gesamte Auftritt der Trychler, denn einen Umzug gab es nicht. Bereits am Morgen sickerte die Information durch, bestätigt wurde sie «aus polizeitaktischen Gründen» erst später. Um 12.30 Uhr sagte es Organisator Urs Hans seinen Mitstreitern in der Altstadt. Man habe sich aus Sicherheitsgründen gegen einen Umzug entschieden. Buhrufe und Pfiffe ertönten. Statt des Demozugs gab es Musik. Dazu Dosenbier und Pizza.

Polizeikessel im Stadtpark

Fast gleichzeitig begann der Polizeieinsatz im Stadtgarten. Direkt hinter dem Museum Oskar Reinhart zum Stadtgarten hatten sich rund 180 linke Gegendemonstrantinnen und Gegendemonstranten versammelt. Sie trugen ein Banner bei sich mit der Aufschrift «No Nazis, no AFD, no Trychler: Winti bleibt stabil». Die Polizei fuhr kurz vor 13 Uhr mit einem Wasserwerfer vor und kesselte die Demonstrierenden ein. Diese skandierten ihre gewohnten antikapitalistischen und antifaschistischen Parolen. Dann wurde eine nach dem anderen kontrolliert. Im Kessel machten die Demonstrierenden Yoga, um sich die Zeit zu vertreiben. Die Polizei brachte ihnen Wasser in PET-Flaschen und eine Toilette. Der Wasserwerfer kam nicht zum Einsatz. Um 16.21 Uhr konnte die letzte Person den Kessel verlassen. «Im Rahmen der Kontrolle konnten umfangreiches Demomaterial wie Transparente, Handschuhe, Vermummungsmaterial und Schutzbrillen, aber auch mehrere Pfeffersprays sichergestellt werden», schreibt die Polizei in einer Mitteilung.

Antikapitalistische Strömungen gab es auch auf dem Neumarkt. Da behauptete etwa Alec Gagneaux, dass es alle achtzig Jahre einen Krieg braucht, um den Kapitalismus zu finanzieren. Er forderte einen Umbruch – ganz ähnlich wie die Gegendemonstranten im Stadtpark. Organisator Urs Hans sah sich zu einer Einordnung genötigt. «Alec Gagneaux spricht zwar von Revolte, aber er meint das ganz friedlich», sagte er. Friedlich war die Stimmung auch auf dem Neumarkt. Es fehlten die Reibungspunkte für Konflikt. Der Polizei gelang es, die beiden Lager konsequent zu trennen. Einzig bei der Rede trat ein kleines, friedliches Grüppchen an die Absperrungen. «Winti wett eu nöd, gönd hei», hiess es auf dem Kartonschild.

Viel Aufmerksamkeit für Jebsen

Das Fazit von Organisator Urs Hans fiel etwas gespalten aus, vor allem, weil sie nicht durch die Strassen ziehen konnten. «Die Drohungen der Linksextremen haben sicher auch einige davon abgehalten zu kommen», meint Hans. Er spricht von 600 bis 700 Besuchern, die Polizei meldet 200 bis 300.

Als Letzter der Sprecher zum Krieg war Kayvan Soufi-Siavash an der Reihe. Soufi-Siavash ist besser bekannt als Ken Jebsen. Ganz in Schwarz gekleidet und mit akkurat getrimmten Bart sprach er – wie immer – schnell und am liebsten über öffentlich-rechtliche Medien und die USA. Beides findet er nicht so gut. Und er forderte die Freilassung von Julian Assange und Videoüberwachungen der Politiker. Die Rede war vorbereitet – samt Pausen für den Applaus des Publikums. Dieser kam nicht immer im richtigen Moment. Es entstanden unangenehme Stillen.

Jebsen bekam aber insgesamt deutlich am meisten Aufmerksamkeit und Applaus. Dass er der Star des Events war, wusste er auch. Am Ende seiner Rede bot er sich für Selfies an, und als um 17.30 Uhr die Freiheitstrychler wieder von dannen zogen, musste Jebsen sein Gesicht immer noch für Selfies hinhalten.
(https://www.tagesanzeiger.ch/polizei-verhindert-zusammentreffen-von-linksextremen-und-jebsen-fans-136993159542)



nzz.ch 07.05.2023

Die Polizei verhindert Krawall-Sonntag in Winterthur: Links- und Rechtsextreme prallen nicht direkt aufeinander

Eine russlandfreundliche Friedenskundgebung mit einem AfD-Redner hat Antifaschisten auf den Plan gerufen.

Marius Huber

Über der Stadt Winterthur braut sich an diesem Sonntag etwas zusammen, so viel scheint klar: Eine Konfrontation von Staats- und Systemkritikern der extremen Linken und der extremen Rechten liegt in der Luft. Die Frage ist nur, ob es der Polizei gelingen werde, ein direktes Aufeinanderprallen beider Lager zu verhindern.

Auslöser war eine Kundgebung, die der ehemalige Kantonsrat und bekannte Impfgegner Urs Hans zusammen mit dem Verein Verfassungsbündnis Schweiz auf die Beine gestellt hatte. Ein «Freiluft-Kongress» für Frieden und Neutralität.

Hans kommt ursprünglich aus dem linken politischen Spektrum, wurde aber aus der Grünen Partei geworfen, weil er während der Pandemie Verschwörungstheorien verbreitete. Sein neues Thema ist der Ukraine-Krieg, genauer: die Kritik an dessen Darstellung in den westlichen Medien. Er scheut sich nicht, dabei das Narrativ des Kremls zu übernehmen, wonach der Westen die Schuld am Krieg trage.
Der ehemalige Grünen-Politiker Urs Hans hat zusammen mit dem Verfassungsbündnis Schweiz die Kundgebung in Winterthur initiiert.
Der ehemalige Grünen-Politiker Urs Hans hat zusammen mit dem Verfassungsbündnis Schweiz die Kundgebung in Winterthur initiiert.
PD

Dass auch diverse Vertreter der extremen Rechten diesen thematischen Schlenker vollziehen, hält Hans nicht zurück. Er selbst habe mit Rechtsextremismus nichts am Hut, sagte er gegenüber dem «Landboten». In Winterthur könne aber jeder mitmarschieren, solange er kein Banner trage.

An die Spitze des Umzugs wollten sich die sogenannten Freiheitstrychler stellen, wie schon bei zahlreichen Corona-Demonstrationen. Dies allein hätte genügt, um die linksextreme Zürcher Szene in Winterthur zu mobilisieren.

Die Freiheitstrychler waren im März bei einer Friedensdemonstration in Bern mit dem alteidgenössischen Harus-Ruf aufgefallen. Diesen hatten sich in den 1930er Jahren mit den Nazis sympathisierende Schweizer Frontisten zu eigen gemacht, in Analogie zum Führergruss.

Linksrevolutionäre Kreise deuteten aber auch die Rednerliste als klares Zeichen, dass der Anlass in Winterthur eine «rassistische und antisemitische Ausrichtung» habe. Sie verwiesen insbesondere auf den deutschen AfD-Politiker und Bundestagsabgeordneten Rainer Rothfuss. In Online-Foren wurde deshalb dazu aufgerufen, sich der Veranstaltung entgegenzustellen.

Der Versammlungsort wird zur Festung umgebaut

Darauf hat sich die Polizei allerdings vorbereitet. Schon am Sonntagvormittag verwandelt sie den Winterthurer Neumarkt, auf dem der «Freiluft-Kongress» stattfinden wird, zu einer Festung. Alle Zugänge werden mit Gittern verrammelt, Menschen nur nach prüfendem Blick durchgelassen. Gleichzeitig postieren sich rund um den Stadtpark, Ausgangspunkt der unbewilligten Gegendemonstration, viele gut gepanzerte Einsatzkräfte.

Deshalb sitzen gegen halb eins, als es losgehen soll, Dutzende schwarzgekleidete, mehrheitlich sehr junge Antifaschisten untätig auf der Wiese. Rauchen, warten und belauern einen Gegner, der ausser Sicht- und Rufweite bleiben wird. Denn auf dem Neumarkt wendet sich im selben Moment Urs Hans an sein Publikum: «Besondere Lage!» Auf den geplanten Umzug müsse nach Absprache mit der Polizei aus Sicherheitsgründen verzichtet werden.

Der «Freiluft-Kongress» wird dadurch zur unfreiwilligen Gated Community. Eine geschlossene Gesellschaft für die paar hundert Verschworenen, die hier ihr Wiedersehen feiern. Man kennt sich. Die Überzeugungen und Gesinnungen trägt man für jedermann sichtbar auf der Brust: Raus aus der WHO, die Panzer bleiben in der Schweiz, das Regime ist korrupt, Wilhelm Tell, Neutralität und Frakturschrift.

Im kleinen Kreis werden Predigten gegen Staatsmacht und Mainstream-Medien vorgetragen, gehalten mit dem Eifer von Wanderpredigern: «Wir machen einfach nicht mehr mit! Du musst das auch nicht!»

Was kurz darauf die Gegendemonstranten im Stadtpark in ein Megafon rufen, ist nicht mehr zu verstehen. Ihre Worte werden geschluckt vom drohenden Brummen des Wasserwerfers, der eine tiefe Spur in die Wiese gepflügt hat, während eine Hundertschaft von Polizisten einen engen Kreis um sie zieht.

«Ganz Winti hasst die Polizei», skandieren die Eingekesselten wütend, unterlassen aber einen Ausbruchversuch. Ohne Personenkontrolle kommt niemand mehr raus, und das dauert. Im Stadtpark beginnt ein quälend langer Nachmittag.

Sind sich beide Lager ähnlicher, als sie denken?

Ähnlich ergeht es vielen Besuchern auf der anderen Veranstaltung, denn dort nehmen die Redner die Sache mit dem Kongress ernst. Während sich ihre Zuhörer in der prallen Sonne die Beine in den Bauch stehen, ergehen sie sich in langen Ausführungen.

Sie erklären, dass in Wirklichkeit die Ukraine den Krieg provoziert habe, um der Nato und später der EU beitreten zu können. Dass alle Medien gleichgeschaltet sind von Regierungen und Konzernen. Dass Kritiker mundtot gemacht würden. Und dass eine Reise nach Russland und ein persönliches Gespräch helfen würden, um aus dieser Blase auszubrechen und wieder klar zu sehen.

Urs Hans ist inzwischen einmal zu oft die Frage gestellt worden, was überhaupt der Zweck des Ganzen sei. Er stellt es deshalb auf der Bühne klar: Friede. Einander zuhören. Er selbst würde mit jedem das Gespräch suchen, sagt er. Sogar mit jenen Linksextremen, die den Anlass verhindern wollten.

Auch ihm mag aufgefallen sein, dass an diesem Sonntag hier wie dort Transparente gegen den Krieg mitgeführt werden und man sich hier wie dort als Opfer einer repressiven Staatsmacht versteht. «Vielleicht haben wir ja ganz ähnliche Ziele», sagt Hans. Applaus gibt es für dieses Friedensangebot aus dem einen eingesperrten Lager ans andere allerdings nicht.

Draussen vor dem Zaun haben sich derweil ein paar junge Menschen mit Schildern versammelt: «Winti will euch nicht.» Mittendrin steht eine ältere Frau, eine Teilnehmerin des «Freiluft-Kongresses». Sie ist in ein Gespräch vertieft mit einem jungen Mann mit Baseballmütze, der offensichtlich dem anderen Lager angehört. Beide lassen sich ausreden, nicken konzentriert, halten dagegen.

Das bleibt an diesem Sonntag, an dem immerhin der grosse Zusammenprall verhindert wurde, jedoch die Ausnahme.
(https://www.nzz.ch/zuerich/konfrontation-von-rechts-und-linksextremen-in-winterthur-ld.1736873)


+++HISTORY
magzin.nzz.ch 06.05.2023

Abgründe eines Clowns: Der Mann, der Hitler zum Lachen brachte

Grock war der grösste Schweizer Künstler seiner Zeit – und ein Liebling der Nazis. Nun kommt sein Nachlass ins Museum. Wie sollen wir uns an ihn erinnern?

Linus Schöpfer

Der Führer war amüsiert. In der Pause – es war im Januar 1934 während einer Aufführung in München – liess Adolf Hitler den Clown in seine Loge bringen.

«Herr Grock», habe Hitler gesagt, «es ist das dreizehnte Mal, dass ich Sie sehe.» Der Diktator habe ihn gelobt: als den einzigen Artisten, «der mich nicht ermüdet». So erinnert sich Adrien Wettach alias Grock in seinen Memoiren. Zu einer späteren Vorstellung habe Hitler dann auch noch Heinrich Himmler und Rudolf Hess mitgebracht. Er habe den beiden die Möglichkeit geben wollen, «einmal richtig auszulachen». Dass sich Hitler und Grock getroffen haben, wurde von der NS-Presse dokumentiert.

Grock war der Lieblingsclown der Nazi-Elite. Das zeigt auch Joseph Goebbels Tagebuch, das diverse Einträge zum Schweizer enthält: «Grock hat uns eine Stunde lang Tränen lachen lassen.»

Frühling 2023, Raymond Naef holt den alten Mantel hervor. Es ist just jener lächerlich lange, lächerlich weite karierte Clownmantel, den Grock während seiner Aufführungen in den 1930ern und 1940ern trug. Naef schlüpft hinein. Er wird so noch ein bisschen mehr zu jenem Mann, dem er nicht nur ähnelt, sondern mit dem er tatsächlich verwandt ist.

Naef ist Grocks Grossneffe. Er hat den Clown noch persönlich gekannt, hat ihn im Zirkus getroffen, in der Villa an der Riviera und an Familienfesten, an denen Grock zur allgemeinen Erheiterung ein wenig zu zaubern pflegte.

Heute verwaltet der 74-jährige Grafiker die Hinterlassenschaften seines Verwandten. In einem Keller bei der Zürcher Langstrasse bewahrt er einen Grossteil davon auf: Sammlungen von Fotos und Briefen, in Kommoden verstaut. Instrumente, in Boxen verpackt. Eine Büste, auf den Schrank gestellt.

All diese Dinge wird er nächsten Dienstag dem Neuen Museum Biel übergeben. Damit wird das Erbe des grössten Schweizer Clowns endlich für Fans, aber auch für Wissenschafter zugänglich.

Die Leiterin des Museums freut sich. Der Nachlass sei von grossem Wert, sagt Bernadette Walter. «Einige der Utensilien haben ikonischen Charakter.» Wer sich mit Grock beschäftige, werde künftig in ihrem Museum eine erste Anlaufstelle haben. Neben Naef trägt auch die Zirkusfamilie Knie zur Sammlung bei. Sie überlässt dem Museum einige Kostüme, die sie nach Grocks Tod erworben hat.

Fragt sich, wie man den Clown in Erinnerung behalten soll. Als populärsten Künstler, den unser Land je hervorgebracht hat? Als skrupelloses Genie? Als Hitlers Lieblingsschweizer?

«Aber, aber», sagt Raymond Naef und breitet seine Arme aus, als stünde er in einer Manege – demonstrativ theatralisch und durchaus charmant. «Diese Frage, mein lieber Herr, hat das Publikum doch schon längst beantwortet.» Ein «Opportunist» sei Grock gewesen, erklärt der Grossneffe. Ein «Täter» hingegen – nein, das nicht.

Ein Coup der NS-Propaganda

Berlin, 8. September 1942. Der berühmteste Clown der Welt tritt vor die Presse. Er gibt bekannt, für die nationalsozialistische Organisation Kraft durch Freude auftreten zu wollen. Am selben Tag berichtet der «Völkische Beobachter» von der beginnenden Schlacht um Stalingrad. Die Wehrmacht kämpfe sich gerade zur Stadt vor.

Grocks Engagement ist ein Coup der NS-Propaganda, das Radio dokumentiert seinen Besuch. «Das ist er wieder … das ist Grock … der weltberühmte Musikclown», flüstert ein Reporter. Im Hintergrund ist eine Klarinette zu hören. Sein Gastspiel werde Grock durch Lazarette und Betriebe führen, erklärt der Sprecher. Dann tritt der Schweizer selbst vor das Mikrofon. Es ist offenbar unmittelbar nach einer Aufführung – der Clown ist noch halb Grock und bereits wieder halb Wettach.

Der NS-Reporter fragt nicht, sondern stellt fest: «Wir haben Sie lange nicht gesehen.» Wettach antwortet mit seiner berühmtesten Phrase: «Nicht möööglich!» Dann erklärt er entschuldigend: Er habe sich an die Riviera zurückgezogen, sei eigentlich im Ruhestand. Doch habe er schon in Italien «für unsere braven Soldaten» gespielt. Nun sei er bis Ende Monat in Deutschland unterwegs.

Grock wird später in der NS-Presse so zitiert: «Ich will den deutschen Menschen, die so Schweres durchgemacht haben, Freude bringen.» Von der Organisation Kraft durch Freude habe er einen «glänzenden Eindruck» bekommen. Er werde diese Arbeit fortsetzen, «bis zum Ende des Krieges». Berichtet wird, der Schweizer habe mit seinen Aufführungen «Zehntausende von Verwundeten und Rüstungsarbeitern» erfreut.

Raymond Naef lässt kritische Fragen zu. Zugleich liegt es ihm am Herzen, dass sein Grossonkel als grosser Künstler in Erinnerung bleibt. In seinem Keller packt er eine Kiste aus, darin: eine Bass-Concertina. Dieses etwas plumpe, aus England stammende Instrument, das im Gegensatz zur Handorgel über keine voreingestellten Akkorde verfügt. «Geige oder Saxofon spielen konnten viele», sagt Naef. «Aber die Concertina, das war Grocks Lieblingsinstrument. Er beherrschte es meisterhaft.»

Naef nimmt die Concertina zur Hand und spielt eine kleine russische Melodie. Eine Melodie, ohne die Naef nicht in Besitz des Instruments gekommen wäre. Grocks Schwester Cécile hatte nach dem Tod des Clowns entschieden, dass nur derjenige das Instrument haben sollte, der es auch spielen konnte. Da packte Teenager Naef der Ehrgeiz, er übte jeden Tag, bis er etwas vorspielen konnte – und bekam den Zuschlag. «Das Instrument ist ziemlich schwer. Wenn man in den alten Filmen sieht, wie Grock damit springt und tanzt, dann realisiert man, wie fit er gewesen ist. Der Mann hatte eine unglaubliche Kraft.» Noch als Siebzigjähriger zeigte Adrien Wettach Kunststücke, an denen die allermeisten im Publikum auch in ihren besten Jahren gescheitert wären, etwa den Sprung auf die Lehne eines Stuhls.

Grock starb 1959, seine Frau Ines fünfzehn Jahre später. Der Nachlass ging auf Bianca über, die Stieftochter. Die Pianistin wollte das Erbe sofort zu Geld machen. Sie verkaufte alles, die Villa an der Riviera ebenso wie die Büsten, Instrumente und Kostüme. 1978 starb sie in den USA. Zwanzig Jahre später begann Raymond Naef, der Grossneffe, das in alle Welt verstreute Erbe Stück für Stück wieder einzusammeln. «Über die Jahre wurde ich so zum Grock-Experten.»

Naef war es denn auch, der Grocks Memoiren 2002 mit einer profunden Biografie ergänzte: «Grock. Eine Wiederentdeckung des Clowns». Das Buch und die Ausstellung lancierten eine kleine Grock-Renaissance. Filme über den Clown erschienen, die SBB benannten einen Zug nach ihm.

Der Feuerfresser und die Seiltänzerin

Aber wie wurde Adrien Wettach zum King of Clowns, wie ihn die Engländer nannten? Seine Biografie ist paradox. Zum einen erscheint sein Lebenslauf als chaotischer Irrweg, Wettach als ein vom Schicksal getriebener Mann. Zugleich wirkt seine Karriere zielgerichtet und kalkuliert: Wettach scheint zum Star prädestiniert zu sein.

1880 wird er im jurassischen Dorf Loveresse in eine unstete Familie hineingeboren. Sein Vater ist ein Uhrmacher, der gern Artist wäre, aber notgedrungen zum Beizer wird; das Geld ist immer knapp. Im väterlichen Restaurant hat der kleine Adrien erste Auftritte. Früh macht er sich mit den Rummelplätzen und den Zirkussen vertraut, bald lernt er auf dem Seil zu tanzen und auf der Geige zu spielen, und auch Sprachen versteht er rasch. Alle Anlagen sind da für den polyglotten Musikclown, als der er dereinst in London, Paris und Berlin gefeiert werden wird. Seine Mutter verschafft ihm eine Stelle als Französischlehrer in Budapest, doch zieht es ihn auf die Bühne und in die Manege. Erst stösst er als Geiger zu einem Schrammelquartett, danach wird er zum Clown.

In einem Zirkus tingelt er durch Ungarn und führt ein wildes Leben. So verguckt er sich in eine Seiltänzerin und prügelt sich mit deren Liebhaber, einem Feuerfresser. Leider hätten seine beiden Zirkusgefährten «ein tragisches Ende genommen», erinnert sich Grock in den Memoiren. Überstürzt und noch in der Nacht seien Feuerfresser und Seiltänzerin in einem Pferdeschlitten abgereist – obwohl vor Wölfen gewarnt worden war. «Weit abseits vom Wege fand man ihren Schlitten, die Gerippe eines Pferdes und zweier Menschen.» Auch später, als der Jurassier längst zum Weltstar geworden ist, bleibt er ein Choleriker und ein Erotomane, der ständig Schlägereien anzettelt und das sexuelle Abenteuer sucht.

Grock statt Brok

1903 wird Adrien Wettach in die britische Komikertruppe The Brik’s and Brok’s aufgenommen. Wettach soll den «Brok» spielen, findet «Grock» jedoch den besseren Namen. Nächste Station ist die Schweiz, der Nationalzirkus. Über die Jahre verdichtet Grock sein Repertoire zum Gesamtkleinkunstwerk. Erlebt er auf der Bühne überraschende Lacher oder absurde Zufälle, nimmt er sie auf und verhärtet sie zu garantierten Brüllern. Eine Pointe folgt auf die nächste, das Publikum wird von der ersten bis zur letzten Minute in Bann geschlagen.

Da ist die winzige Geige, die Grock aus einem riesigen Kasten holt. Der viel zu lange Mantel, der viel zu enge Frack. Der Ausruf «Nit mööögli!», der jedes Gespräch auf der Bühne in eine Groteske verwandelt. Der Sprung auf die Stuhllehne. Die Virtuosität an den Instrumenten, für die er Dutzende Melodien komponierte. Die genau getimten Grimassen und die treuherzigen Augenaufschläge. Grock erscheint als grosser Naivling, als erwachsenes Kleinkind. Als ein Wesen, über das man lachen muss. Und zugleich als ein Wesen, das einen anrührt und dem die Sympathien von der ersten Sekunde an zufliegen müssen.

Im Ersten Weltkrieg wird aus dem Rumtreiber ein angesehener Künstler und ein reicher Mann. Seine Auftritte werden in den Feuilletons besprochen, Alfred Polgar und Siegfried Kracauer schreiben über ihn. Grock füllt nun die grössten Hallen. In London verdient er in einer Woche so viel Geld wie ein britischer Handwerker in zwei Jahren.

In Oneglia an der italienischen Riviera lässt er sich eine neobarocke Prunkvilla bauen – ein Monument der Eitelkeit. Seine Maske ist in die Geländer hineinmontiert, als Mosaik im Boden eingelassen, als Blumenmuster im Garten gepflanzt. Grock ist überall.

Adrien Wettach misst sich jetzt mit den ganz Grossen des Showbusiness, mit Charlie Chaplin und den Marx Brothers. Als Letztere in London eine höhere Gage kassieren als er, ärgert ihn das gewaltig. Wie Chaplin will er auch im Kino reüssieren, die Bühne genügt nicht mehr. Also stürzt er sich in ein Filmprojekt, «Grock, das Leben eines grossen Künstlers». Der Film orientiert sich eng an Wettachs Biografie, hat allerdings eine seltsame Volte. Erzählt wird die Geschichte eines erfolgreichen Clowns, dessen deutlich jüngere Frau mit einem Adeligen fremdgeht. Die Frau heisst Bianca, wie Grocks Stieftochter. Mit dieser sollte Wettach später im echten Leben eine intime Beziehung führen. Grock ist dann fünfzig, Bianca zwanzig Jahre alt.

Der Film ist ein kolossaler Flop. Gescheitert ist damit der Versuch, Chaplin auf der Leinwand zu konkurrieren. Und nicht nur das: Adrien Wettach wird bei der Produktion übers Ohr gehauen und verliert sein ganzes Vermögen.

Wieso Goebbels Grock mochte

Doch Grock ist mittlerweile ein Luxusleben gewöhnt und auf hohe Einnahmen angewiesen. Er braucht nicht zuletzt die Bühnen Deutschlands. Er tritt dort weiter auf, auch nachdem die Nazis an die Macht gekommen sind. Die Begeisterung für den Schweizer Clown reicht bis in die Spitze des Dritten Reiches, Hitler und Goebbels besuchen regelmässig seine Vorstellungen. Es sei kein Zufall, dass die Lenker des neuen Staates alte Verehrer Grocks seien, schreibt 1936 die «Neue Mannheimer Zeitung». Mit dem Schweizer Clown habe die «Jazz-Dämmerung» eingesetzt, er sei aus «germanischem Blut» und der «erste Soldat einer erneuerten, reineren Gefühlswelt».

Der Autor stilisierte Wettach so zum Vertreter eines nationalsozialistischen Humors – eine wenig überzeugende These. Es gibt keine Hinweise, dass der Jurassier persönlich von Hitlers Ideen überzeugt gewesen wäre. Dass er sich wegen der Ideologie im NS-Regime engagiert hätte. Zudem war Grock ja bereits in der Weimarer Republik und auch in Frankreich und England zum Star geworden.

Plausibler ist eine andere Erklärung für die Grock-Begeisterung der Nazi-Grössen. Nämlich, dass Hitler und Goebbels den Performer Adrien Wettach als einen der Ihren betrachteten. Auch der Schweizer Clown war ein Magier und Manipulator der Massen. Auch er beherrschte das Spiel der Gesten und der Modulation bis in die feinsten Nuancen. Auch ihm gelang es mit einer auf den Effekt getrimmten Inszenierung, Tausende für sich einzunehmen.

1939 nimmt Wettach vermeintlich Abschied von den deutschen Bühnen. Der Anlass wird im Radio aufgezeichnet, Ort ist die Berliner Scala, die grösste Theaterbühne des NS-Regimes. Eingeführt wird der Schweizer vom Radiosprecher als «Komiker von Genies Gnaden». Grock treibt den Bühnenpartner mit seiner Begriffsstutzigkeit in den Wahnsinn, das Publikum brüllt vor Lachen.

In seinen Memoiren erzählt Wettach, wie sich an jenem Abend die NS-Elite in seine Garderobe gedrängt habe: erst Goebbels, dann Hitler mit Hess und Himmler. «Sie sehen, ich bin schon wieder gekommen, um über Sie zu lachen», habe der Diktator gesagt. Joseph Goebbels habe ihn einige Tage später in eine Bar eingeladen und versucht, ihn vom Rücktritt abzubringen: «Wird es Ihnen nicht vielleicht doch bald leidtun?» Fünf Monate später überfallen die Nazis Polen.

Die nervöse Ex-Sängerin

Fürs Erste bleibt Grock beim Rücktritt. 59-Jährig zieht er sich in seine Villa an der Riviera zurück. Berlin hält den Kontakt jedoch aufrecht. Schon im Sommer 1940 schreibt ein Assistent von Goebbels, wie gerne man – und zumal der Propagandaminister persönlich – ihn wieder auftreten sähe. Bereits in Italien spielte Grock für Soldaten der Achsenmächte, und im Herbst 1942 reist er nach Berlin für seine Kraft-durch-Freude-Auftritte.

Eingefädelt hat das Engagement offenbar Inga Ley, die Gattin von Robert Ley. Ein ungleiches Paar: hier die nervöse Ex-Sängerin, dort der grobschlächtige KdF-Reichsminister. Grocks Verhältnis zu Inga Ley ist eng, sehr eng. Kennengelernt haben sie sich bereits 1940 in San Remo. Für Raymond Naef ist klar, dass sein Grossonkel einzig ihretwegen nach Deutschland gereist ist.

Wettach beschreibt Ley als «bezaubernde» Erscheinung und als «eine der schönsten Frauen, die mir begegnet sind». Inga Ley besucht Vorstellungen des Schweizers und unternimmt mit ihm längere Spaziergänge. Dabei habe sie ihm ihr Herz ausgeschüttet, erzählt Wettach in seiner Biografie. Während des KdF-Engagements habe sie ihn in der Garderobe besucht und ihm gedankt für den Trost, den er den Deutschen spende: «Sie sind ein Mensch für viele, ein Mensch ohne Schuld». Kurz darauf habe sie ihm ein Telegramm geschickt, mit Grüssen für das neue Jahr 1943.

Das Telegramm an Hitler

War das Telegramm an den Schweizer Clown ihr letztes Anliegen, bevor sie sich umbrachte? Diese Interpretation legt Wettach in seiner Biografie nahe. Wie er später erfahren habe, habe Ley habe sich vom Portier bestätigen lassen, dass das Telegramm an ihn tatsächlich abgeschickt worden sei. Danach «habe sie lächelnd mit dem Kopf genickt und sei wieder auf ihr Zimmer gegangen. Den Schuss hat man im ganzen Hause gehört.» Inga Ley erschiesst sich am 29. Dezember 1942. Wettach selbst hat Hitler fünf Tage zuvor eine Karte in die Berliner Reichskanzlei geschickt: «Herzlichste Wünsche zu Weihnachten und zu Neujahr sendet der Ihnen stets ergebene Grock.»

Das Telegramm gelangte erst vor drei Wochen über das etablierte Auktionshaus Hermann Historica an die Öffentlichkeit. Bei Kriegsende, erklärt ein Sprecher, habe ein Soldat zwei Ordner mit Dankes- und Glückwunschschreiben an Hitler erbeutet – darunter auch das Grock-Telegramm. Der Sohn des Soldaten habe die Ordner dann vor fünf Jahren dem Auktionshaus zur Versteigerung übergeben. Von uns befragte Experten schätzen das Dokument als authentisch ein.

Raymond Naef sagt, wenn er in den 1990er Jahren bereits von diesem Telegramm gewusst hätte, hätte er vermutlich kein Buch über seinen berühmten Verwandten geschrieben.

Wieso Grock fürs Dritte Reich aufgetreten ist, lässt sich nicht abschliessend klären. War es aus Liebe zur schönen NS-Diva Inga Ley? Lagen ihm die deutschen Soldaten am Herzen? Oder tat er es doch wegen der extravaganten Gagen, für die Kraft durch Freude berühmt war?

Grock selbst sagte später, er habe für die Auftritte kein Geld genommen. Dies stünde allerdings im Widerspruch zu seinem legendären Geschäftssinn. Und nicht nur das: In einer Notiz der Schweizer Bundespolizei ist vermerkt, dass Grock offenbar während des Krieges eine Anfrage der Schweizer Armee abgelehnt hat, weil ihm die Entlöhnung als zu gering erschienen ist.

Flucht in die Schweiz

Im Februar 1943 wird die Wehrmacht in Stalingrad definitiv besiegt. Grock ist zu diesem Zeitpunkt bereits wieder zurück in Italien, wo er allerdings nicht mehr wohlgelitten ist: Seine Nähe zu den Nazis hat sich herumgesprochen. Die Alliierten kämpfen sich derweil langsam in den Norden des Landes vor. Bombergeschwader bilden die Vorhut, auch das Anwesen des Clowns wird getroffen.

Im Spätsommer 1944 flieht Grock in die Schweiz: erst zu Raymond Naefs Eltern nach Zürich, dann zur Schwester nach Luzern. Doch seine Vitalität ist ungebrochen, Anfang 1945 tritt er bereits wieder auf. Darauf erscheinen in der Presse einige kritische Artikel. Der Clown schreibt in einem Leserbrief: «Wäre ich in Frankreich gewesen, hätte ich dasselbe für die Franzosen gemacht.»

In Basel werden Grock-Plakate mit Hakenkreuzen verschmiert, kurzzeitig tritt der Clown unter Polizeischutz auf. In seinem Buch verteidigte Naef seinen Grossonkel noch gegen die Vorwürfe: «Dass Grock für das Dritte Reich öffentlich Stellung bezogen oder bewusst Propaganda für die Nazis gemacht hätte, lässt sich jedoch durch nichts belegen.» Eine Einschätzung, die heute angesichts der gut dokumentierten, propagandistisch verwerteten KdF-Auftritte mehr als zweifelhaft erscheint.

Ein triumphales Comeback

Grocks Ruhm schadet die Kontroverse nicht. Seine Tourneen nach dem Krieg sind Triumphzüge, die Vorstellungen sofort ausverkauft. «Die Menschen haben ihm sehr schnell verziehen», sagt Raymond Naef. Finanziell steht Grock ebenfalls gut da: Ein Vertrag mit Daimler-Benz, geschlossen in den 1930ern, läuft auch nach dem Untergang des Dritten Reichs weiter. In Stuttgart darf er sich jeweils das neuste Cabrio aussuchen, im Tausch gegen sein altes Auto und ein neues Werbefoto.

Ins Filmgeschäft wagt er sich ebenfalls nochmals vor, erneut wählt der Clown einen autobiografischen Stoff: Er lässt seinen Lebenslauf als Revue verfilmen, als Werbespot für die nächste Tour. «Au revoir, Mr. Grock» ist ebenfalls ein Flop, wenn auch kein ruinöser. Im Herbst 1954 gibt Adrien Wettach in Hamburg seine letzte Vorstellung als Grock, weinend verlässt er die Manege. In seiner Biografie schreibt er: «Der Kreis hatte sich vollendet, denn Lachen und Weinen sind ja erst das ganze Herz des Menschen.» Nun zieht er sich endgültig in seine Villa zurück. Grocks Tod 1959 vermeldet die «Bild» auf ihrer Titelseite.

Der linke Grossneffe

Raymond Naef hat den Clown kurz davor nochmals aus der Nähe erlebt. Seine Familie verbrachte ihre Ferien in der italienischen Villa. Die anfängliche Bewunderung für den Grossonkel verwandelte sich in den folgenden Jahren in Skepsis. Naef bezeichnet sich als Linken und Alt-68er, für die SP hat er viele Plakate entworfen. Grocks Nähe zu den Nazis habe ihn als jungen Mann abgestossen. Doch dann habe er allmählich realisiert, dass sich im Leben seines berühmten Verwandten und seiner Familie das ganze 20. Jahrhundert gespiegelt habe. «Mir ist Weltgeschichte zugeflogen.»

Zugleich ist Naef überzeugt, dass Grock als Clown nicht vergessengehen wird. «Für Zirkusleute wird er immer eine Referenz bleiben.» Tatsächlich gehörte etwa Dimitri zu Grocks leidenschaftlichsten Verehrern. «Er war mein Idol», schrieb der Tessiner Clown einmal, «fast schicksalshaft» fühle er sich Grock verbunden. Dessen Nähe zu den Nazis sei für seine Bedeutung als Clown nicht entscheidend.

Das verschollene Foto mit Hitler

Die Leiterin des Bieler Museums sieht der Musealisierung des grossen, zwielichtigen Grock derweil mit Spannung entgegen. Auch die Verbandelung mit dem Naziregime werde thematisiert, sagt Bernadette Walter. Das gehöre zur Einordnung selbstverständlich dazu. «Die allermeisten Museumsbesucher dürften bei uns zum ersten Mal davon hören.» Grock werde einen fixen Platz im Museum erhalten. Jetzt müsse man sein Erbe aber erst einmal nach Biel transportieren und Inventur machen.

Dass im Nachlass beträchtliche Lücken klaffen, ist jetzt schon klar. Das künstlerische Werk ist nur teilweise erhalten, Raymond Naef vermisst verschollene Manuskripte mit Grock-Kompositionen. Verschwunden ist auch das handsignierte Foto des Führers, das Wettach in seiner Villa an der Riviera erst auf- und dann wieder abgehängt hat. Gar nie in die Öffentlichkeit gelangt ist das gemeinsame Foto von Hitler und Grock, das im Januar 1934 gemacht worden ist und das der Clown in seiner Autobiografie erwähnt.

«Es ist eigenartig, dass ich dieses Foto nie gefunden habe», sagt Grossneffe Raymond Naef. «Gut möglich, dass es jemand vernichtet hat.» Aber auch alltägliche, dabei nicht minder aussagekräftige Dokumente fehlen. Mysteriös bleibt etwa Grocks Buchhaltung: wie er zum angeblich bestbezahlten Entertainer Europas wurde, wie er beinahe bankrottging, in welchem Vertragsverhältnis er mit den Nazis stand. All das bleibt offen. Für Bernadette Walter gehört die Schliessung solcher Lücken und die weitere Erforschung der NS-Vergangenheit Adrien Wettachs künftig zu den Aufgaben ihres Museums.

Grock war der grösste Clown seiner Zeit. Er hatte auf den grössten Bühnen gespielt, die verrücktesten Tricks gezeigt. Dem Schatten seiner Kollaboration mit Hitler zu entwischen – dieses Kunststück jedoch gelang ihm nicht.
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/der-schweizer-clown-der-hitler-zum-lachen-brachte-ld.1733902)



luzernerzeitung.ch 06.06.2023

Richard Wagner – genialer Komponist, der gerade in Luzern auch als Antisemit wütete

Richard Wagner (1813–1883) zählt zu den innovativsten Komponisten. Aber er verbreitete auch judenfeindliche Ideologie. Dies erreichte seinen Höhepunkt just während seiner Zeit in Luzern. Doch hier wird dies nach wie vor nur als Randnotiz behandelt. Auch in der neuen Museumsausstellung, wie unser Gastautor findet.

Dave Schläpfer*

«Wohin ich mich aus meinem Hause wende, bin ich von einer wahren Wunderwelt umgeben. Ich kenne keinen schöneren Ort auf dieser Welt, keinen heimischeren als diesen.» So äusserte sich Richard Wagner über seinen Wohnort von 1866 bis 1872, das von einem Park umgebene und direkt am See gelegene Landhaus Tribschen in Luzern.

«Eintauchen in Wagners Welt»

Dies lässt sich unmittelbar nacherleben. So fungiert das herrschaftliche Gebäude seit 1933 als von der Stadt Luzern betriebenes Museum. Nun wurde die Dauerausstellung mit einem Sonderkredit von 670’000 Franken erneuert (diese Zeitung berichtete). Der restaurierte Salon mit seiner «Nachahmung der Einrichtung wie zu Wagners Zeiten ermöglicht das Eintauchen in dessen Welt», wie es auf der Museum-Website heisst.

Dabei handelt es sich um eine Welt luxuriöser Inneneinrichtung und edler Stoffe. Mit Tribschen habe Richard Wagner «viele schöne Erinnerungen» verbunden und im «Familienglück» gelebt. «Zudem arbeitete er intensiv an seinem monumentalen ‹Ring des Nibelungen›, vollendete seine Oper ‹Die Meistersinger von Nürnberg› und schrieb sein ‹Siegfried-Idyll›.» Produktiv – und dies lässt das Museum an dieser Stelle unerwähnt – war der sogenannte Dichterkomponist in seiner Luzerner Zeit allerdings auch in ganz anderer Hinsicht: So überarbeitete er hier seinen Essay «Das Judenthum in der Musik» (damals mit «th» geschrieben) und erweiterte diesen um das Doppelte. Während die erste Fassung 1850 in Zürich unter einem Pseudonym «K. Freigedank» erschien, stand Richard Wagner in Luzern nun offen mit seinem Klarnamen für seine in der Schrift zum Ausdruck kommenden, nun noch verschärften Positionen ein – judenfeindliche, antijudaische, (früh-)antisemitische und -rassistische.

Was ist der Inhalt, und was alles kam in Luzern, wo damals gegen hundert Jüdinnen und Juden (0,7 Prozent der Bevölkerung) lebten, hinzu? Wagner startet mit der Behauptung, dass die «Persönlichkeit und das Wesen der Juden» für «uns» etwas «unwillkürlich Abstossendes» hätten. Es sei an der Zeit, offen über diesen «instinktmässigen Widerwillen» zu sprechen. Mittlerweile sei es regelrecht zu einer jüdischen «Herrschaft» gekommen; ein «Befreiungskampf» tue Not. Auch den öffentlichen Kunstgeschmack hätten die Juden «zwischen ihre geschäftigen Finger gebracht». Richard Wagner diagnostiziert – eine Wortneuschöpfung – eine «Verjüdung» des Kunstbetriebs.

«Nachplappern und nachäffen»

Stossend sei das Sprachliche: Denn der Jude spreche die Sprache jeder Nation nur als «Ausländer» und habe als «Heimatloser» der Entwicklung der europäischen Kunst und Kultur nur «kalt, ja feindselig» zugesehen. Auch komme das Jiddische mit seinem «zischenden, schrillenden, summsenden und murksenden» Klang «unerträglich verwirrtem Geplapper» gleich – und gesungen sei es schlicht «davonjagend»: Synagogen-Gesänge mit ihrem «Gegurgel und Gejodel» weckten «widerwärtigste Empfindung». Fazit: «In der deutschen Sprache und Kunst kann der Jude nur nachsprechen, nachkünsteln, nicht wirklich redend dichten oder Kunstwerke schaffen.»

Nur «Nachplappern und Nachäffen» sei möglich; alles vom «Musikjuden» Geschaffene habe die «Eigenschaft der Kälte, der Gleichgültigkeit, bis zur Trivialität und Lächerlichkeit». Die erste Fassung endet mit der in der Forschung unterschiedlich interpretierten Feststellung, demzufolge «gemeinschaftlich mit uns Mensch werden» für den Juden so viel bedeute wie «aufzuhören, Jude zu sein» – und dies «kostet Schweiss, Not, Ängste und Fülle des Leidens und des Schmerzes». Wagner ruft, ohne konkret zu werden, dazu auf, «rücksichtslos teilzunehmen an diesem durch Selbstvernichtung wiedergebärenden Erlösungswerke». Dies sei einzig, die Legenden-Figur des «Ewigen Juden» hineinbringend, durch «den Untergang» zu erreichen.

Jüdische Verschwörung behauptet

Im in Luzern verfassten Teil gibt der Komponist an, zunächst aus Furcht vor jüdischen Repressalien unter einem Pseudonym publiziert zu haben. Nichtsdestotrotz sehe er sich seither, ohne konkrete Belege dafür zu nennen, einem «System der Verleumdung» und «Verfolgungen von Seiten der Juden» ausgesetzt. Die ihm zufolge «von den Juden dirigierte Presse» habe alles dafür getan, um ihm und seiner Karriere zu schaden. Letztlich bleibe ihm nur ein «vollständiger Sieg des Judentums auf allen Seiten» zu bezeugen – der «geistreiche» Jude habe entschlossen, «nicht nur mit uns, sondern in uns zu leben».

Richard Wagner spricht gegen Schluss von einem «Zerfall unserer Kultur»; «ob dieser durch eine gewaltsame Auswerfung des zersetzenden fremden Elementes aufgehalten werden könne, vermag ich nicht zu beurteilen, weil hierzu Kräfte gehören müssten, deren Vorhandensein mir unbekannt ist», so die es bei Andeutungen belassende, in der Forschung verschieden interpretierte Formulierung. Falls man sich hingegen für eine gelingende «Assimilation» entschiede, seien die Schwierigkeiten auf dem Weg hin zu dieser «aufs Offenste aufzudecken».

«Verhängnisvolle Aufwertung» des judenfeindlichen Gedankenguts

«‹Das Judentum in der Musik› ist ein zentraler Text des europäischen Antisemitismus», konstatiert der mittlerweile emeritierte deutsche Professor Jens Malte Fischer in seiner kommentierten Ausgabe des Texts aus dem Jahr 2000. Dies, da Richard Wagner 1850 den damaligen Frühantisemitismus konsequent auf sein eigenes Wirkungsgebiet, die Kunst, übertragen habe. 1869 komme hinzu, «dass zum ersten Mal ein europaweit berühmter Komponist und ein Musikdramatiker-Genie eine Geisteshaltung zu erkennen gibt und diese wortreich verteidigt, die auf keinen Fall die Achtung intellektueller Kreise genoss». Das judenfeindliche Gedankengut habe dadurch eine «verhängnisvolle» Aufwertung erfahren.

Umso schwerer wiege, dass dies ausgerechnet in der bis anhin «ruhigsten und positivsten Phase der Emanzipation der Juden in Deutschland» erfolgt sei – so wurden hier die Juden 1871 per Gesetz gleichberechtigte Bürger und Bürgerinnen. Richard Wagner habe, so Fischer, der zehn Jahre später ausbrechenden Antisemitismuswelle «eine Art Anschubfinanzierung» gegeben. Entsprechend bezeichnet er die auf Tribschen entstandene Fassung, die massiv wirkungsmächtiger war als die erste Version, als «Sündenfall». Zwar führe keine «schnurgerade Einbahnstrasse» zum späteren Nationalsozialismus und Wagner-Verehrer Hitler, doch sei eine Berufung antisemitischer Autoren auf Richard Wagner «ungebrochen bis ins ‹Dritte Reich› hinein» feststellbar.

«Anfang» für sich beansprucht

Richard Wagners Antisemitismus zeigt sich unter anderem auch in Tagebuch-Einträgen seiner Frau Cosima und in den von ihm begründeten «Bayreuther Blättern» – Fischer spricht von einer «zentralen Obsession». Zwar war das Verhalten des Komponisten bisweilen auch widersprüchlich, doch zumindest auf das «Judentum» bezogen, blieb der eingeschlagene Kurs bestehen: So nahm Wagner selbst den Essay in seine «Gesammelten Schriften» auf. Und 1879, wenige Jahre vor dem Tod des Musikers, schrieb Cosima Wagner, dass sie gerade «eine sehr gute Rede über das Judentum» von Adolf Stoecker (1835–1909), eine Schlüsselfigur im Kontext der sich damals ausbreitenden antisemitischen Bewegungen, gelesen und mit ihrem Mann darüber gesprochen habe: «Richard ist für völlige Ausweisung. Wir lachen darüber, dass wirklich, wie es scheint, sein Aufsatz über die Juden den Anfang dieses Kampfes gemacht hat.»

Ein Augenschein im erneuerten Museum auf Tribschen, das seine Besuchenden mit der Inschrift «Willkommen in Wagners Idyll» begrüsst, zeigt: Zwar findet sich «Das Judentum in der Musik» (neben diversen anderen Publikationen) ausgestellt, zwar geht es in einer von notabene total 20 Stationen eines neuen, an sich gut gelungenen Audioguides um Wagners Antisemitismus, zwar ist in diesem Herbst eine Führung zum Thema angekündigt – doch eine wirklich substanzielle Auseinandersetzung mit diesem hochproblematischen und nach wie brandaktuellen Aspekt am Ort des Geschehens fehlt noch immer. Auch zu einer kritischen Aufarbeitung der Museumsgeschichte selbst ist es bis anhin nicht gekommen.

Hinweis
* Dave Schläpfer hat Germanistik studiert, ist Doktorand der Kulturwissenschaften und stv. Leiter Universitätskommunikation an der Uni Luzern.



Museum verweist auf Audioguide und Führungen

Im nach historischen Quellen verführerisch schön erneuerten Richard Wagner Museum kann man eintauchen in Wagners «Tribschener Idyll». Die Problemzonen, die das Idyll trübten, werden dagegen weitgehend ins Rahmenprogramm ausgelagert. Das Pamphlet «Das Judenthum in der Musik» könnte man im einzig verbliebenen Vitrinenraum glatt verpassen. Ausgeblendet werden auch die Misstöne rund um Wagners Familiengründung  mit Cosima, damals noch Gattin des gehörnten Hans von Bülow, der ebenfalls auf Tribschen zu Gast war.

Wieso erfährt man davon in der neu gestalteten Dauerausstellung praktisch nichts? «Die problematischen Seiten wollen wir nicht in den Vordergrund stellen, aber auch nicht verdrängen», begründet Museumsleiterin Monika Sigrist, wieso der Fokus vor allem darauf liege, eine vergangene Zeit wieder aufleben zu lassen. Und sie verweist darauf, dass beides, Wagners Antisemitismus wie auch die komplizierten Familienverhältnisse, im Audioguide und späteren Führungen behandelt werden.

Dass das Wagner-Museum, das bei der Vermarktung von Luzern als Musikstadt eine prominente Rolle spielen kann, solche Aspekte nicht in den Vordergrund rückt, ist ebenfalls verständlich, zumal beides durch Publikationen aufgearbeitet worden ist. Wie man aber Problemzonen auch in einer Ausstellung Präsenz geben kann, hatten zuletzt diverse, kritische Sonderausstellungen im Museum gezeigt. Und man kann sich gut vorstellen, dass etwas von dieser Relevanz und Lebendigkeit im Haus dennoch Platz findet, zum Beispiel wenn im Obergeschoss die aktuelle Dokumentation des Umbau geräumt wird.

Hinweis: Buch über die Intrigen gegen Wagners auf Tribschen geborene Tochter Isolde und den Schweizer Wagnerzweig: Verena Naegele, Sibylle Ehrismann: Die Beidlers; rüffer & rub.
(https://www.luzernerzeitung.ch/kultur/zentralschweiz/klassik-richard-wagner-genie-und-antisemit-auf-tribschen-ld.2452699)