Medienspiegel 9. April 2023

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+++SCHWEIZ
Sonntagszeitung 09.04.2023

Kritik an Asylverfahren: Tibet-Flüchtlinge fürchten Chinas Einfluss in der Schweiz
China regiert in Tibet mit harter Hand und drängt selbst Bauern zur Flucht. Doch auch in der Schweiz fürchten die Geflüchteten Pekings Macht, die bis in die Asylbehörde reichen soll.

Cyrill Pinto

Die Tibeterin Tsering Tsamchoe Dratoktsang bricht in Tränen aus, als sie ihre Situation in der Schweiz schildert: «Seit 2016 bin ich hier, 2019 habe ich vor Gericht gegen meinen negativen Asylentscheid Beschwerde eingelegt, seither warte ich auf einen Entscheid.» Es ist die Ungewissheit, welche die 51-Jährige fast verzweifeln lässt. Sie weiss nicht, ob sie in der Schweiz bleiben darf oder das Land wieder verlassen muss.

Dratoktsang wuchs in Tibet auf, in der Provinz Nyalam an der Grenze zu Nepal. Mit ihrem Bruder hütete sie Yaks auf Bergwiesen und half ihrer Mutter bei der Feldarbeit. Zur Schule ging sie nicht lange. Mit 29 heiratete sie, wurde Mutter zweier Kinder. Doch ihr erster Mann starb 2005 an einer Vergiftung. Ihr zweiter Mann wurde 2012 von den chinesischen Behörden verhaftet, nachdem er an einer verbotenen Tempeleinweihung teilgenommen hatte. «Er war mehrere Monate in Haft, wurde geschlagen und befragt», berichtet Dratoktsang. Besonders interessiert seien die chinesischen Polizisten daran gewesen, was der bei der Zeremonie anwesende Dalai Lama zu den Gläubigen gesagt habe.

Hintergrund für die brutale Repression sind die Proteste von 2008, als Tausende Menschen gegen die Zentralregierung auf die Strasse gingen. Danach verstärkte Chinas Regierung die Kontrolle über die autonome Provinz. Ihr Vertreter erklärte öffentlich einen «Kampf auf Leben und Tod mit der Clique des Dalai Lama».

Dratoktsangs Mann wurde nach mehreren Monaten in Haft nach Nepal abgeschoben. «Er musste seine Fingerabdrücke abgeben und ihm wurde gesagt, dass er nie mehr nach Tibet zurückkehren darf», sagt Dratoktsang. Drei Jahre blieb sie über den Verbleib ihres Ehemanns im Ungewissen. 2015 erfuhr sie von Bekannten, dass er nach Nepal abgeschoben worden war und dort in einem Kloster Unterschlupf fand. Unter dem Vorwand, eine Pilgerreise zu unternehmen, besuchte sie ihn. Bei ihm im Kloster bleiben konnte sie nicht. Doch es kam noch schlimmer.

Dank dem Erdbeben von 2015 gelang ihr die Flucht

Die chinesische Polizei erfuhr von ihrer verbotenen Reise nach Nepal. «Ich wurde verhaftet, verbrachte mehrere Wochen im Gefängnis und wurde dort geschlagen und misshandelt», sagt sie. Als sie für kurze Zeit in Freiheit kommt, nutzt sie die Gelegenheit zur Flucht. Zusammen mit ihrem älteren Sohn flüchtet sie über einen Gebirgspass nach Nepal. Mithilfe von Schleppern gelangt sie über Bangkok in die Schweiz, ihr Sohn bleibt in Nepal. In Kreuzlingen reicht sie 2016 ein Asylgesuch ein. Mehrmals wird sie befragt. Eine Sprachanalyse soll ihre Herkunft feststellen. «Obwohl ich chinesische Papiere vorlegte, zweifeln die Behörden an, dass ich aus Tibet sei», sagt sie. Stattdessen behaupten die Experten, dass sie zwar aus Tibet stamme, aber vor allem in Nepal gelebt habe – und demnach auch dorthin abgeschoben werden könne. Dokumente, die dieser Zeitung vorliegen, bestätigen den Vorgang.

Gegen den Entscheid des Staatssekretariats für Migration SEM reichte Dratoktsang 2019 Beschwerde beim Bundesverwaltungsgericht ein. «Ich habe mein ganzes Leben in Tibet verbracht und habe kein anderes Land, in das ich zurückkehren könnte», schreibt sie darin. Zuletzt erkundigte sie sich im April 2020 beim Gericht nach dem Stand des Verfahrens. Es sei «die gerichtsinterne Prioritätenordnung zu beachten», teilte man ihr mit. Drei Jahre später ist der Entscheid weiter pendent. Auf Anfrage teilt der Sprecher des Gerichts mit, dass sich bezüglich des Sachverhalts zusätzliche Fragen stellten, welche aktuell weitere Abklärungen erforderlich machten. «Die Dauer des Verfahrens ist in keiner Weise auf die Verfahrensleitung am Bundesverwaltungsgericht zurückzuführen», sagt Sprecher Rocco Maglio.

Tatsächlich werden zurzeit die sogenannten Lingua-Sprach-Analysen in Auftrag des SEM stark in Zweifel gezogen, mehrere Asylverfahren von Tibetern sind deshalb blockiert. Vom Bund beauftragte Sprachexperten beurteilen aufgrund von Sprachaufnahmen und gezielten Fragen die Herkunft der geflüchteten Personen. Bei Personen aus Tibet wird besonders darauf geachtet, ob sie zuletzt in Tibet oder in den Nachbarländern Indien oder Nepal lebten. Die Analysen standen stark in der Kritik, nachdem renommierte Experten die Arbeit der vom SEM beauftragten Experten in einem Artikel des NZZ-Magazins in Zweifel zogen. Die Tibetologin Karénina Kollmar-Paulenz von der Universität Bern sagte mit Blick auf die Arbeit eines Lingua-Experten: «Eine Reihe seiner Aussagen tönt wie die offizielle chinesische Staatspropaganda.» Menschenrechtsexperten weisen darauf hin, dass Reisen für westliche Forscher nach Tibet seit 2008 weitgehend nicht mehr möglich sind. Trotzdem konnte der Sprachexperte laut eigenen Angaben bis 2012 mehrmals ins Land reisen. Eine noch nähere Verbindung zum Land pflegt der vom SEM beauftragte Lingua-Experte mit dem Kürzel TAS09. 1982 in Zentraltibet geboren, lebte er bis 2009 dort. Obwohl er seit 2013 für das SEM tätig ist, steht er regelmässig mit seiner Familie in Tibet in Kontakt.

Keine Flüchtlinge – keine Probleme

Dabei weisen Menschenrechtsorganisationen darauf hin, dass dies seit 2008 praktisch nur noch mit der Unterstützung der herrschenden Kommunistischen Partei möglich ist. Offizielle Politik Chinas ist: Es gibt keine Probleme in Tibet – und damit auch keine Flüchtlinge von dort.

Das SEM weist die Kritik vehement zurück: Die Analysen der Fachstelle Lingua seien von hoher Qualität und ihre Arbeit unterliege regelmässigen Überprüfungen. SEM-Sprecher Lukas Rieder hält fest, dass eine erneute Überprüfung die fachlich gute Arbeit der Lingua-Spezialisten bestätigt habe. Auch eine China-Nähe der Spezialisten weist man zurück: Dem SEM sind keine Beweise für die angebliche Chinafreundlichkeit der sachverständigen Person bekannt, und es zweifelt auch «nach zusätzlichen Abklärungen nicht an ihrer Integrität. Es handelt sich weiterhin um unbelegte Vermutungen.» Die sachverständigen Personen seien zudem der Unabhängigkeit verpflichtet. «Sich von einer persönlichen Motivation leiten zu lassen, würden ihre vertraglichen und gesetzlichen Pflichten verletzen und ginge zudem gegen jegliches wissenschaftliches Ethos», hält Rieder fest.

Gericht will Zweifel in einem Piloturteil ausräumen

Doch inzwischen äusserte auch das Bundesverwaltungsgericht seine Zweifel an den anonymen Experten. In einem Entscheid vom Oktober 2021 trat es auf ein Wiederwägungsgesuch einer Tibeterin ein und wies den Fall an das SEM zurück. Das Amt hatte zuvor ihr Gesuch mit ähnlichen Argumenten wie im Fall von Dratoktsang abgelehnt. Das Bundesverwaltungsgericht hielt fest, «dass die Kritik nicht als haltlos bezeichnet werden kann». Später wird das Bundesverwaltungsgericht in einem weiteren Fall eines Tibeters noch deutlicher: «Die vorliegenden Rügen betreffen die Zuverlässigkeit, Objektivität und Neutralität der sachverständigen Person in grundlegender Weise.» Das Gericht beabsichtige deshalb, «diese Einwände im vorliegenden Verfahren im Sinne eines Piloturteils in grundsätzlicher Weise zu klären», heisst es in einer Zwischenverfügung vom Februar 2022. Noch steht ein Entscheid aus.

Die Zweifel an den Lingua-Spezialisten verzögern auch das Verfahren von Dratoktsang, die in Schaffhausen in einem Imbiss als Küchenhilfe arbeitet. Mit ihren Eltern in Tibet hat sie keinen Kontakt mehr. «Ich würde sie in Gefahr bringen, wenn ich mit ihnen sprechen würde», erklärt sie. Personen, die mit Geflüchteten im Ausland Kontakt haben, werden befragt oder gar verhaftet, sagt Dratoktsang: «In Tibet ist es gefährlich.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/tibet-fluechtlinge-fuerchten-chinas-einfluss-in-der-schweiz-916785716214)



NZZ am Sonntag 09.04.2023

Italien nimmt bis mindestens Anfang Mai keine Flüchtlinge zurück

Der Bund befürchtet, dass die italienische Blockade noch länger dauert. Die Schweiz kann 300 Flüchtlinge nicht überstellen.

Georg Humbel

Die Zahlen verheissen nichts Gutes: In den ersten drei Monaten dieses Jahres haben deutlich mehr Flüchtlinge die gefährliche Überfahrt über das Mittelmeer gewagt: Rund 28 000 Migrantinnen und Migranten sind bis Ende März in Italien gelandet. Das sind mindestens viermal so viele wie in der gleichen Periode des Vorjahres. Schon bald wird das Mittelmeer ruhiger – dann dürften noch viele weitere Boote voller verzweifelter Menschen ankommen.

Und dann haben Europa und die Schweiz ein Problem: Italien hat letzten Dezember das Dublin-Abkommen ausgesetzt. Das Land habe keine Aufnahmekapazitäten, so die rechtspopulistische Regierung von Giorgia Meloni. Seither nimmt Rom keine Flüchtlinge mehr zurück, die Italien als Erstland erfasst hat und wieder aufnehmen müsste. Damit funktioniert das Hauptprinzip der EU-Flüchtlingspolitik ausgerechnet mit einem der wichtigsten Staaten nicht mehr. Und das wird sich nicht so schnell wieder ändern.

Wie Recherchen der «NZZ am Sonntag» zeigen, hat das Staatssekretariat für Migration (SEM) den Kantonen mitgeteilt, dass die Blockade noch länger dauern wird. In einem Rundschreiben an die kantonalen Behörden hat das SEM geschrieben, dass «bis mindestens 2. Mai» keine Dublin-Rückführungen nach Italien möglich seien. Der Sprecher Samuel Wyss bestätigt gegenüber dieser Zeitung: «Wir haben die Kantone per E-Mail angewiesen, bis dann keine Rückführungen zu planen. Wir haben diese Frist so kommuniziert, um administrative Leerläufe zu verhindern.»

Jeder einzelne Fall sei sehr zeitaufwendig und kostspielig. Wyss betont, dass diese Frist eine interne Regelung sei. «Wir haben kein konkretes Datum oder Zeichen aus Italien, wann dieser Aufnahmestopp zu Ende ist.»

Italien spielt auf Zeit

Bei Asylpolitikern im Bundeshaus wächst der Unmut über die italienische Seite. «Es ist unhaltbar, dass Italien seine Verpflichtungen nicht einhält», sagt FDP-Ständerat Damian Müller. Die SP-Nationalrätin Samira Marti findet die italienische Blockade «unschön». Und für Martina Bircher von der SVP ist das Dublin-System «tot». Bircher gibt sich überzeugt, dass Italien auch nach dem 2. Mai keine Flüchtlinge zurücknehmen wird.

«Italien betreibt reine Verzögerungstaktik», sagt sie. Erfahrungsgemäss steigt die Zahl der Überfahrten Anfang Mai. Italien hat die Blockade im Dezember mit fehlenden Aufnahmekapazitäten begründet. «Ich kann mir kaum vorstellen, dass Italien ausgerechnet dann, wenn die Zahlen wieder steigen, mehr Platz haben sollte.»

Die Schweiz war lange Hauptprofiteurin des Dublin-Systems. Der Bund hat im Vergleich zum Ausland schnelle Asylverfahren und hat mehr Flüchtlinge als andere Länder zurückschicken können. Doch jetzt zeigen sich die Folgen der Blockade immer deutlicher: Gemäss dem SEM sind mittlerweile rund 300 Dublin-Fälle hängig, die nicht nach Italien zurückgeführt werden können.

Und mit jedem Monat sinkt die Chance, dass das noch klappen wird. Gemäss Dublin-Abkommen hat ein Land sechs Monate Zeit, einen Flüchtling an das Erstankunftsland zurückzuschicken. Diese Frist läuft, trotz der italienischen Blockade. Weil Italien das Abkommen seit dem 5. Dezember ausgesetzt hat, dürften Ende Mai die ersten Rückführungen verfallen. Für Damian Müller ist das skandalös: «Italien missbraucht gezielt das Dublin-System und schiebt seine Verantwortung an die Schweiz ab.»

Besonders gross sind Sorgen und Ärger im Tessin. Der Mitte-Politiker Marco Romano ist Präsident der für Asylfragen zuständigen Staatspolitischen Kommission. Er rechnet nicht mit einer schnellen Besserung: «Ich denke, dass Italien mittelfristig keine Dublin-Fälle mehr zurücknimmt», so Romano. Noch mehr treibt ihn aber um, dass auch die kurzfristigen Rücküberstellungen nicht mehr funktionieren könnten.

Die Schweiz kann an der Südgrenze aufgegriffene Migranten, die hier kein Asylgesuch stellen wollen, rasch und unkompliziert nach Italien zurückführen. Dieses Verfahren ist in einem separaten Staatsvertrag geregelt und funktioniert heute noch einigermassen. Doch Romano befürchtet, dass die Regierung Meloni auch das stoppt. «Mitten in einer Flüchtlingswelle wäre das für das Tessin eine absolute Katastrophe.» Romano fordert, dass Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider Italien besucht und politische Verhandlungen führt.

Millionen für Italien streichen?

Doch bis heute zeigt sich Giorgia Melonis Regierung gegenüber internationalem Druck ungerührt. Italien nimmt von allen Dublin-Partnern keine Flüchtlinge mehr zurück und hat sich dadurch mit der halben EU angelegt. Das hat Anfang März am EU-Innenministertreffen für undiplomatische Töne gesorgt. Frankreich und Deutschland kritisierten Italien offen. Die Schweiz war als Schengenmitglied ebenfalls eingeladen und hat mit anderen Ländern gemeinsam die Anwendung der Dublin-Regeln gefordert – bis heute ohne sichtbaren Erfolg.

Das ärgert den freisinnigen Ständerat Damian Müller. Er hat einen neuen Hebel entdeckt, den die Schweiz anwenden könnte, um Druck auf Rom auszuüben. Im Rahmen der sogenannten Kohäsionszahlungen an die EU hat sich die Schweiz bei der zweiten Tranche verpflichtet, 200 Millionen Franken für Migrationsprojekte zu bezahlen. 20 Millionen davon sollen nach Italien fliessen.

«Wenn Italien seine vertraglichen Pflichten nicht einhält, sollten wir das Land nicht noch mit Schweizer Steuergeld belohnen», so Müller. Er fordert den Bundesrat auf, dieses Geld zu sperren. «Hier muss die Schweiz unmissverständlich ihre Interessen wahren.» Die SVP-Politikerin Bircher findet das eine gute Idee: «Die SVP fordert schon lange, dass säumigen Ländern Gelder gestrichen werden.»

Diese politische Forderung kommt zu einem heiklen Zeitpunkt. Die EU und die Schweiz sind sich gerade am Annähern. Eine Teilblockade dieser Gelder wäre ein Affront. «Was die FDP da verlangt, ist europapolitisch verantwortungslos», kritisiert die SP-Politikerin Samira Marti. Damit würde die Schweiz einen Kollateralschaden riskieren und «trötzelen» – ohne etwas zu erreichen.

Ein Patentrezept, um aus der verfahrenen Situation herauszukommen, hat offensichtlich auch im Bundeshaus niemand zur Hand. Und die Zeit drängt: In der letzten Märzwoche landeten über 6000 Flüchtlinge in Italien. Die Asylzentren im südlichen Nachbarland sind überfüllt, und viele Flüchtlinge werden Richtung Norden weiterziehen.
(https://www.nzz.ch/schweiz/italien-nimmt-bis-mindestens-anfang-mai-keine-fluechtlinge-zurueck-ld.1733446)



(…)
Weltpremiere von “Out of Uganda”

Persönlich präsentieren werden auch Rolando Colla und Josef Burri ihre Dokumentation “Out of Uganda”, die als Weltpremiere gezeigt wird. Erzählt wird von vier jungen queeren Menschen in Uganda, deren Leben in ihrer queerfeindlichen Heimat gefährdet ist. Sie flüchten in die Schweiz, wo sie mit neuen Ausgrenzungen konfrontiert werden.

“In enger Zusammenarbeit mit Queer Amnesty International blicken die beiden Regisseure auf die erschütternden Lebensrealitäten geflüchteter queerer Menschen. geben ihnen eine Stimme, dort wo das Schweizer Asylwesen weitere Grenzen auferlegt. Colla und Burri stellen die Fragen, zu Wort kommen die Protagonist:innen und ihre Perspektiven”, heißt es im Katalog. (…)
(https://www.queer.de/detail.php?article_id=45214)


+++ITALIEN
Später schauen
«Orchestra del Mare» – Stimmen aus Flüchtlingsbooten – Tagesschau
In den Wracks der Flüchtlingsboote aus Lampedusa stecken viele Erinnerungen. Unter fachkundiger Anleitung baut das Mailänder Gefängnis Opera Geigen aus diesem Holz: Die «Violine des Meeres» – eine Stimme abseits der lauten Töne in der Politik – leise, aber bestimmt.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/orchestra-del-mare—stimmen-aus-fluechtlingsbooten?urn=urn:srf:video:cdecc75b-10dd-44c5-b9ea-457604596ef5


+++MITTELMEER
Migration: Erneutes tödliches Bootsunglück vor Tunesiens Küste
Auf dem Weg nach Europa ist ein weiteres Migrantenboot gesunken. Mehrere Menschen starben. Bereits am Vortag waren bei einem ähnlichen Unglück viele Migranten ertrunken.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-04/mittelmeer-tunesien-bootsunglueck-migranten-ertrunken


+++GASSE
Eiertütschen beim Kornhaus – «Unglaublich!»: Polizei stoppt traditionellen Berner Osteranlass
Die traditionelle «Eiertütschete» vom Ostersonntag fand heuer ein jähes Ende. Der Betreiber des Restaurants im Kornhaus duldete das bunte Treiben vor seinem Lokal nicht – und holte die Polizei. Die Enttäuschung bei den Anwesenden ist riesig.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/unglaublich-polizei-stoppt-traditionellen-berner-osteranlass-150932383
-> https://tv.telebaern.tv/news/polizei-beendet-traditionelle-eiertuetschete-150937091


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Wald statt Schutt! Rümlanger Wald besetzt!
Die Wohnungskrise mal von hinten aufrollen: Gäbe es keine riesigen Geldmengen, welche von den restlichen Märkten verwahrlost auf der Suche nach stabilen Profitraten in den Immobiliensektor drägen, gäbe es auch keinen perversen Neubauboom, in dessen Folge reihenweise bewohnbare Häuser abgerissen werden. Dann bräuchte es auch keine immer grösseren Areale, um die von intakten Häusern zu Bauschutt verarbeiteten Abfallberge zu deponieren. Dann müsste auch der Wald in Rümlang hinter der Deponie Chalberhau nicht gerodet werden.
Weil dem aber nicht so ist, wurde genau dieses Waldstück gestern besetzt!
https://alleswirdbesetzt.ch/was-passiert/wald-statt-schutt-ruemlanger-wald-besetzt/
-> Medienmitteilung: https://barrikade.info/article/5846
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/waldbesetzer-in-ruemlang-polizei-laesst-sie-gewaehren-150936408


Communiqué zur Besetzung des Cheddite-Areals in Liestal
In der Nacht vom Samstag, den 8. April auf Sonntag, den 9. April haben wir das Cheddite-Areal in Liestal besetzt. Wir wollen damit diesen Raum beleben, der schon seit vier Jahren leer steht.
https://barrikade.info/article/5848
-> https://www.20min.ch/story/ehemalige-sprengstofffabrik-besetzt-polizei-vor-ort-614143766962
-> https://www.baseljetzt.ch/aktivisten-besetzen-cheddite-areal-in-liestal-erneut/42891


++++KNAST
Gitterbettchen hinter Gitter – Wenn Mutter und Kind im Gefängnis sind
Rund 460 Plätze gibt es für Frauen in den Schweizer Justizvollzugsanstalten. Davon sind neun Plätze für Mütter mit Kindern. Mutter und Kind im Gefängnis? Eine seltsame Vorstellung, die aber der Realität entspricht.
https://www.baerntoday.ch/schweiz/gitterbettchen-hinter-gitter-wenn-mutter-und-kind-im-gefaengnis-sind-150781542


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
«Ich will ins Bundeshaus»: Mass-voll-Rimoldi kandidiert für den Nationalrat – und seine Chancen stehen gut
Corona-Skeptiker treten in mehreren Kantonen zur Wahl an. Mass-voll spannt mit den Freunden der Verfassung zusammen – und bläst zum Sturm aufs Parlament. In Zürich kandidiert Nicolas Rimoldi. Seine Chancen auf einen Nationalratssitz sind intakt.
https://www.blick.ch/politik/ich-will-ins-bundeshaus-mass-voll-rimoldi-kandidiert-fuer-den-nationalrat-und-seine-chancen-stehen-gut-id18473152.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/629136719-mass-voll-rimoldi-kandidiert-fuer-den-nationalrat-in-zuerich
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/corona-skeptiker-ich-will-ins-bundeshaus-nicolas-rimoldi-von-mass-voll-bewegung-kandidiert-fuer-nationalrat-ld.2440752
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/mass-voll-praesident-nicolas-a-rimoldi-will-nationalrat-werden-150936475
-> https://www.telem1.ch/aktuell/mass-voll-praesident-nicolas-a-rimoldi-will-nationalrat-werden-150936666
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/rimoldi-will-in-den-nationalrat-150936705
-> https://www.derbund.ch/mass-voll-tritt-mit-rimoldi-zu-nationalratswahlen-an-985990303596



magazin.nzz.ch 08.04.2023

Alles, nur nicht die Wahrheit: Ein Abend unter Verschwörungstheoretikern

Daniele Ganser, Schweizer Historiker und Ikone der Verschwörungstheoretiker, füllt in Deutschland die Säle – dieses Mal in der Rolle des Putin-Verstehers. Wieso glauben die Menschen, was nur ein Gerücht oder nachweislich falsch ist?

Dennis Frasch (Text), Bernd Hartung (Bilder)

Und dann betritt er die Bühne, der Pop-Star, Daniele Ganser. Vor ihm eintausendneunhundert Augenpaare und 15 Scheinwerfer, die ihn fixieren. Jubel. Klatschen. Standing Ovations. Auch der hinterste Tribünenplatz der Stadthalle in Offenbach am Main ist besetzt.

Ganz vorne erhebt sich eine Frau mit schwarzem Hijab, ein paar Reihen hinter ihr sitzt ein katholischer Priester in Talar und Römerkragen. Sie alle sind gekommen, um einem Schweizer Historiker zuzuhören.

Rund 60 000 Euro werden an diesem Abend an Eintrittsgeldern eingenommen.

Daniele Ganser hebt die linke Hand und lässt sie gleich wieder in der Hosentasche seines Anzugs verschwinden. In der rechten hält er einen Pointer, mit dem er durch die Folien seiner Präsentation zappen kann.

Noch flimmert eine weisse Taube über die Leinwand. Bald sind es Verschwörungstheorien.

Ob in Hannover, Dortmund oder Offenbach: Der Schweizer Historiker füllt mit seiner Vortragsreihe «Warum ist der Ukraine-Krieg ausgebrochen?» derzeit die Hallen in Deutschland. Ende April kommt er ins Stadtcasino Basel – die Tickets sind längst ausverkauft.

Daniele Ganser ist die Galionsfigur der Putin-Versteher. Wenn er in Videos Zweifel an der russischen Verantwortung für das Massaker von Butscha sät, weil der russische Propagandasender RT Deutsch dies dementiert, hören ihm Menschen aus allen Schichten zu. Warum überzeugt sie, was entweder ein verzerrtes Gerücht oder nachweislich falsch ist?

Vor der Veranstaltung stehen die Menschen vor der Offenbacher Stadthalle Schlange bis zur Strasse. Von weitem sehen sie aus wie aufgereihte Dominosteine. Unter ihnen ist Sara, 25 Jahre alt, Wirtschaftsingenieurin, ihr Lächeln so breit wie der Rhein. Ihren Nachnamen behält sie für sich. Sie wollte Ganser schon in ihrer Heimatstadt Karlsruhe sehen, sie verfolge ihn schon lange, aber die Tickets waren ausverkauft. Sie glaubt, die Regierung lüge sie an. Daniele Ganser hingegen könne alles beweisen, was er sagt.

Daniele Ganser sei ein Antisemit, es gebe kein Recht auf Nazipropaganda, schallt es aus einer Lautsprecheranlage, die für eine mittelgrosse Technoparty reichen würde. Am Mikrofon: Hinrich Garms.

Er ist Mitglied von «Offenbach Solidarisch», einer Initiative, die sich vor allem um sozial Schwache in der Stadt kümmert, und spielt auf Gansers Vergleiche von Corona und Holocaust an. Vor dessen Auftritt hatte die Gruppe einen offenen Brief an die Stadt geschickt und gefordert, die Veranstaltung zu verbieten. Doch die Stadt lehnte ab. Mit der Begründung, dass die Stadthalle für alle Veranstaltungen offen stehe – ausser für parteipolitische.

Familie Maul steht an einem Stehtisch im Foyer und trinkt Bier. Paul, Christina und Sohn Kilian. Banker, Tagesmutter, Schüler. Sie sind Fans von Gansers Podcast. Sie sagen, Daniele Ganser sei ein smarter Typ, der die Dinge verständlich erklären könne.

Victor, Mitte 30, Geschäftsführer einer Betreibungsfirma, sitzt schon im Saal. In einer der hinteren Reihen, obwohl weiter vorne noch Platz wäre. Als Fan bezeichnet er sich nicht. Die 30 Euro für das Ticket hat er trotzdem ausgegeben. Ob er Ganser wirklich gut findet, will er nach der Show entscheiden. Er sagt: «Ich will ihn erst mal live sehen.»

Die Skepsis gegenüber Staat und Medien, das sagen fast alle, hat bei Corona begonnen.

Ganser trägt weisse Sneaker zum Anzug, er könnte auch das neuste iPhone präsentieren. Die ersten 30 Minuten seines Vortrags verbringt er damit, dem Publikum sein Gehirn zu erklären. «Wir alle haben 100 Milliarden Nervenzellen im Gehirn», sagt Ganser. «Und die Verknüpfungen innerhalb dieser Zellen entstehen durch Wiederholung.»

Was er daraufhin immer wieder wiederholt: Die Medien manipulieren uns alle. «Biden, Selenski, Biden, Nato, Nato, Selenski, Biden – irgendwann glaubt man es», sagt Ganser. Die Neuronen verknüpfen sich. Konditionierung. Das Publikum klatscht.

Den Rest des Abends muss er nur noch sagen: 100 Milliarden Neuronen – und zack! – alle erinnern sich: Die bösen Medien, wir werden manipuliert.

Trick eins der Ganserschen Rhetorik: Die Medien sind schuld. Abgehakt.

Ganser drückt auf seinen Pointer, Zinedine Zidane erscheint. «Wer kennt den noch?», fragt er. Die Menge lacht baritonal. WM Finale 2006: Materazzi beleidigt Zidanes Schwester, Zidane verpasst Materazzi einen Kopfstoss. Der Schiedsrichter zieht die rote Karte. Einfaches Prinzip.

Dieses Prinzip, sagt Ganser, wende er nun auch in seinem Vortrag an. Die Weltpolitik ist der Fussballplatz, Ganser der Schiedsrichter. Schön einfach. Dass Fussball und internationales Völkerrecht nur bedingt vergleichbar sind, sagt er nicht.

Trick 2 der Ganserschen Rhetorik: Rote Karte verteilen. Wir sind dran.

Es folgen 14 Sekunden der Überraschung: Die erste rote Karte geht an Wladimir Putin. Dass Russland in die Ukraine einmarschiert sei, «das ist einfach illegal». Ganser russlandfreundlich? Pha.

In den verbleibenden 89 Minuten und 15 Sekunden zeigt Ganser Olaf Scholz, Bill Clinton, George W. Bush, Barack Obama, Joe Biden und Wolodimir Selenski die rote Karte.

Olaf Scholz, weil Deutschland hätte neutral bleiben können, aber zwei Tage nach Kriegsbeginn die ersten Waffen lieferte. Bill Clinton, weil er das mündliche Versprechen an Russland brach, die Nato nicht nach Osten auszudehnen und den Frieden in Europa gebrochen habe. George W. Bush, weil er der Ukraine 2008 zusicherte, sie könne der Nato beitreten. Rote Karte. Rote Karte. Rote Karte.

Pause.

Bier wird nachgefüllt, vielleicht ein Wildberry Lillet für acht Euro. Sabine von Kleist, 54 Jahre alt und selbständig, ist begeistert. «Die Politiker in Deutschland sind wie Fähnchen im Wind», sagt sie. Sie wünscht sich wieder Persönlichkeiten in der Politik. Wie Daniele Ganser. Der bleibe seiner Linie treu. Der hinterfrage die Dinge. So wie sie selbst. So wie sie es auch ihrer Tochter beibringe.

Ganser war mal ein seriöser Historiker, Doktor der Philosophie, Senior Researcher an der ETH Zürich. Jetzt rät er zu alternativen Medien («die verknüpfen die Neuronen neu!»), erzählt, dass er sich nicht impfen liess (riesiger Applaus) und empfiehlt, im Wald spazieren zu gehen, wenn die Medien einem mal wieder zu viel Angst machen. Dabei stützt er sich lässig mit dem linken Unterarm auf das Rednerpult, als ob er mit einem Freund bei einer Tasse Kaffee plaudern würde.

Dann der Höhepunkt des Abends: der angebliche Putsch 2014 in Kiew, der mit der Flucht des ehemaligen Präsidenten Wiktor Janukowitsch endete. Ganser sagt, das Ganze sei eine von amerikanischen Geheimdiensten gesteuerte Verschwörung gewesen. Und der wahre Grund für den Krieg in der Ukraine.

Ganser wiederholt an diesem Abend, was Historiker längst als falsch erkannt haben. Etwa Nada Boškovska, Professorin für Osteuropäische Geschichte an der Universität Zürich. «Es gab damals eine grosse Unzufriedenheit in der ukrainischen Bevölkerung, vor allem im Westen des Landes», sagt sie. Dort sei eine grosse Mehrheit gegen den damaligen prorussischen Präsidenten gewesen. «Der Euromaidan genoss westliche Sympathie und Unterstützung, aber er war kein ausländischer Putsch.»

Die Fangemeinde im Saal sieht das anders. Sie klatscht frenetisch, als auch Biden und Obama die rote Karte gezeigt wird.

Dann ist die Rede plötzlich vorbei. «Wir sind alle Teil einer Menschheitsfamilie», sagt Ganser noch zum Abschluss. «Wir sollten Konflikte gewaltfrei lösen.» Daniele Ganser, der Versöhner und tapfere Ankläger aller Kriegsverbrecher.

Trick 3 der Ganserschen Rhetorik: Er will doch nur Frieden. Perfekt.

Familie Maul steht in der kalten Offenbacher Abendluft, die Augen rot unterlaufen. Sohn Kilian sagt, er fühle sich in seinen Ansichten bestätigt. Christina Maul sagt, sie finde es schön, dass Ganser für den Frieden einstehe.

Und Victor, der Unentschlossene in der letzten Reihe? Was dachte er? «Wie können Sie mich das noch fragen? Haben wir den gleichen Vortrag gesehen?», fragt er den Reporter zurück und zieht seinen Blazer an. Er scheint jetzt restlos überzeugt und verabschiedet sich: «Das wird nicht mein letzter Ganser-Vortrag gewesen sein.»
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/ein-abend-mit-verschwoerungstheoretiker-daniele-ganser-ld.1733138)