Medienspiegel 28. März 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++MITTELMEER
Küstenwache aus Libyen: Wieder Schüsse statt Rettung
Küstenwache aus Libyen bedroht Seenotretter und Geflüchtete
Die EU-Kommission unterstützt die libysche Küstenwache finanziell und mit Ausrüstung. In mindestens fünf Fällen haben die Einheiten bei Seenotfällen außerhalb ihrer Hoheitsgewässer Schusswaffen eingesetzt.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172048.zentrales-mittelmeer-kuestenwache-aus-libyen-wieder-schuesse-statt-rettung.html


+++EUROPA
Erbarmungslose Misshandlung von Migranten in Libyen: Schwere Vorwürfe gegen die EU
UN-Bericht: Mit ihrer Unterstützung für die libysche Küstenwache leiste die Union Beihilfe zu Straftaten. Steigende Zahlen der Migranten, die über das Mittelmeer aus Libyen und Tunesien nach Italien kommen. Rigides Vorgehen in Italien gegen NGO-Schiff.
https://www.telepolis.de/features/Erbarmungslose-Misshandlung-von-Migranten-in-Libyen-Schwere-Vorwuerfe-gegen-die-EU-8149867.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172054.seenotrettung-kuestenwache-schiesst-scharf.html


Frontex: Knüppel an der Außengrenze
Nach der letzten Änderung ihrer Verordnung erhielt die EU-Grenzagentur Frontex erweiterte Kompetenzen
Mit zwei Verordnungen haben der Rat der Europäischen Union und das EU-Parlament Frontex mit erweiterten Mitteln und Kompetenzen ausgestattet. Seit 2016 darf die EU-Grenzagentur Fahrzeuge, Flugzeuge und Drohnen anschaffen. Die 2019 abermals geänderte Verordnung bestimmt den Aufbau einer als »Ständige Reserve« bezeichneten Einheit mit 10 000 Beamten, die direkt dem Hauptquartier von Frontex in Warschau unterstehen und bis 2027 vollständig rekrutiert sein sollen.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172043.eu-polizei-frontex-knueppel-an-der-aussengrenze.html


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Gemeinsam für eine solidarische Stadt von unten!
Vom 24. März bis 2. April wurde erneut europaweit zu den Housing Action Days aufgerufen.
https://barrikade.info/article/5789


+++MENSCHENRECHTE
Länderbericht Schweiz
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte stellte in der Schweiz einen Verstoss gegen das Recht auf friedliche Versammlung fest. Ein wegweisender UN-Bericht offenbarte systemischen Rassismus in der Schweiz. Ein neues Gesetz über Vergewaltigung wurde debattiert, aber noch nicht verabschiedet. Es wurden Vorschläge zur Reform des Gesetzes über Schwangerschaftsabbrüche vorgelegt. Das Parlament unternahm einen wichtigen, aber unzureichenden Schritt zur Verstärkung der Klimaschutzmassnahmen. Der Krieg in der Ukraine liess die Schwächen des derzeitigen Asylsystems deutlich werden. Ein neuer Gesetzentwurf sah für den nationalen Nachrichtendienst weitreichende Überwachungsbefugnisse vor.
https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/amnesty-report/jahre/2022/laenderbericht-schweiz
-> https://www.blick.ch/schweiz/rassismus-sei-systemisch-amnesty-international-kritisiert-schweiz-in-jahresbericht-id18438551.html


Menschenrechte 2022/23
Der Amnesty International Report 2022/23 zur weltweiten Lage der Menschenrechte betrachtet 156 Länder darunter die Schweiz und beinhaltet eine umfassende Analyse der globalen Menschenrechtstrends im Jahr 2022.
https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/amnesty-report/jahre/2022/amnesty-international-report-2022


Internationales System ungeeignet für Lösung globaler Krisen
Die Invasion Russlands in der Ukraine führte zu zahlreichen Kriegsverbrechen, löste eine weltweite Energie- und Nahrungsmittelkrise aus und zerrüttete ein bereits geschwächtes multilaterales System. Darüber hinaus trat die Doppelmoral westlicher Staaten zutage, die auf den Angriffskrieg des Kremls zwar deutlich reagierten, schwere Menschenrechtsverletzungen anderswo jedoch duldeten oder gar an ihnen beteiligt waren. Diese Schlüsse zieht Amnesty International in der alljährlichen Bewertung der weltweiten Lage der Menschenrechte.
https://www.amnesty.ch/de/ueber-amnesty/publikationen/amnesty-report/jahre/2022/internationales-system-ungeeignet-fuer-loesung-globaler-krisen
-> https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-03/amnesty-international-jahresbericht-menschenrechte-flucht
-> https://www.srf.ch/news/international/menschenrechte-unter-druck-die-globale-menschenrechtslage-schlechter-und-schlechter
-> https://taz.de/Jahresbericht-von-Amnesty-International/!5924423/
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172030.menschenrechtslage-amnesty-international-kritisiert-westliche-doppelmoral.html
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/amnesty-international-menschenrechte-weltweit-massiv-unter-druck?partId=12359098
-> https://www.srf.ch/news/international/bericht-zu-den-menschenrechten-amnesty-chefin-die-freiheit-der-bevoelkerung-schwindet-ueberall



Amnesty International rügt Deutschland: Untätig gegen Racial Profiling
Diskriminierende Personenkontrollen, harte Versammlungsgesetze: Amnesty kritisiert Deutschland. Die Ampel versucht, dagegenzusteuern.
https://taz.de/Amnesty-International-ruegt-Deutschland/!5921738/



nzz.ch 28.03.2023

Ist Klimaschutz ein Menschenrecht? Und verstösst die Schweizer Klimapolitik dagegen?

Am 29. März wird die Beschwerde der Klimaseniorinnen am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg öffentlich verhandelt.

Irène Troxler

Es geht nur zäh vorwärts mit dem Klimaschutz in der Schweiz. Politiker reichen deswegen politische Vorstösse ein. Aktivisten kleben sich auf Autobahnen. Die Klimaseniorinnen verfolgen einen anderen Plan: Sie ziehen nach Strassburg, vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Dort wird am 29. März über ihre Beschwerde gegen die Schweiz beraten. Es ist der erste Klimafall, der in Strassburg vor der grossen Kammer des Gerichts öffentlich verhandelt wird.

Was wollen die Klimaseniorinnen?

Die Klimaseniorinnen werfen der Schweiz vor, sie habe es versäumt, Klimaziele festzulegen, die dem internationalen Klimarecht und den wissenschaftlichen Erkenntnissen entsprächen. Das Land habe sein Ziel, die inländischen Treibhausgasemissionen bis 2020 um 20 Prozent zu vermindern, verpasst. Im Übereinkommen von Paris habe sich die Schweiz aber verpflichtet, das internationale Klimaziel einzuhalten und ihre Treibhausgasemissionen bis 2030 um 50 Prozent gegenüber 1990 zu reduzieren. Zudem müsse sie das 1,5-Grad-Ziel verfolgen. Das bedeutet, dass die Schweiz den menschengemachten globalen Temperaturanstieg auf 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellen Zeit begrenzen müsste.

Weil eine Erwärmung von mehr als 1,5 Grad für die Menschen gefährlich sei, verletze die Schweiz die Bundesverfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention, argumentieren die Seniorinnen. Sie verstosse gegen das Recht auf Leben und Gesundheit und die damit verbundene Pflicht des Staates, diese Rechte zu schützen. Die Klimaseniorinnen berufen sich auf die Europäische Menschenrechtserklärung und sagen, der Klimawandel sei heute die grösste einzelne Bedrohung für die Menschenrechte. Zuvor waren sie am Bundesverwaltungsgericht und am Bundesgericht abgeblitzt mit ihren Forderungen.

Zur Beschwerde der Seniorinnen kommen vier einzelne Eingaben von Frauen im Alter zwischen 78 und 89 Jahren. Sie klagen über gesundheitliche Probleme, die sich während Hitzewellen verschärften. Diese Beschwerden werden gemeinsam behandelt.

Greenpeace zieht die Fäden

Hinter den Klimaseniorinnen steht die Umweltorganisation Greenpeace. Sie hat im Jahr 2016 die Gründung des entsprechenden Vereins angestossen und unterstützt ihn finanziell. Die Beschwerde über die Klimaseniorinnen laufen zu lassen, ist ein schlauer juristischer Kniff, weil bei Menschenrechtsverletzungen wichtig ist, dass man davon «besonders betroffen» ist. Studien zeigen, dass ältere Frauen durch hohe Temperaturen besonders gefährdet sind. Das Durchschnittsalter der Klimaseniorinnen beträgt 73 Jahre. Die juristisch ausgefeilte Argumentation stammt von den Greenpeace-Anwälten. Das Geld ebenso.

Das sagt die Schweiz

Die Schweiz argumentiert in ihrer Stellungnahme, sie verfolge mit ihrer Klimapolitik durchaus die Ziele des Pariser Übereinkommens. Obwohl das CO2-Gesetz in der Volksabstimmung gescheitert sei, habe die Regierung diverse Massnahmen getroffen, um die Klimaerwärmung zu bremsen, beispielsweise die CO2-Abgabe und das Gebäudeprogramm. Weiter betont sie, im Pariser Klimaabkommen hätten die Vertragsparteien bewusst auf einen verbindlichen Kontrollmechanismus verzichtet. Die Staaten müssten nur periodisch eine Bilanz präsentieren.

Die Schweiz weist darauf hin, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte bloss die Kompetenz habe, die Europäische Menschenrechtskonvention auszulegen und anzuwenden. Er könne nicht die Einhaltung anderer internationaler Verträge gewährleisten. Weiter schreibt das Bundesamt für Justiz, der Einfluss der nationalen Politik der Schweiz auf die globale Klimaerwärmung sei nicht gross genug, um die Gesundheit der Seniorinnen massgeblich zu beeinflussen. Ältere Frauen seien auch nicht die einzige Bevölkerungsgruppe, die besonders unter einer Erwärmung des Klimas leide. Daher verletze die Schweiz die Menschenrechte der Klägerinnen nicht.

Das passiert am 29. März

Das öffentliche Hearing in Strassburg findet am 29. März von 9 Uhr 15 bis 11 Uhr 30 statt. Schon die Anreise am Vortag dürfte zu einem kleinen Happening geraten, da diverse Unterstützerinnen und Medienschaffende mitfahren – natürlich per Zug, sofern die Streiks in Frankreich dies erlauben. Am Morgen vor der Verhandlung ist ein erstes «Cheering» mit Bannern, Blumen und Fähnchen geplant. Im Gericht werden dann die Anwältinnen und Anwälte der Schweiz und der Klimaseniorinnen ihre Argumente vortragen. Danach können zugelassene Drittparteien sich äussern. Auf die Fragen aus dem 17-köpfigen Richtergremium folgt eine zweite Anhörungsrunde. Nach der Verhandlung steht vor dem Gerichtsgebäude das nächste «Cheering» an. Später folgt eine «Aftershow» in einem Pavillon, mit einer Podiumsdiskussion, aber auch mit Basteln und Singen.

Das Urteil des Gerichtshofs für Menschenrechte wird erst per Ende Jahr erwartet.

Wieso ist dieser Fall wichtig?

International gab es schon über 1500 Klimaklagen, besonders viele wurden in den Vereinigten Staaten eingereicht. Etliche richteten sich gegen Unternehmen. Dies ist der erste Fall vor einem Gericht, das beinahe für einen ganzen Kontinent zuständig ist. Zudem geht es um die Grundsatzfrage, ob Klimaschutz ein Menschenrecht ist. Die Klimaseniorinnen feiern es als Erfolg, dass ihre Beschwerde prioritär behandelt und im Plenum des Gerichtshofs öffentlich verhandelt wird. Wie auch immer das Urteil ausfällt, es dürfte Folgen haben für alle 46 Staaten des Europarats und deren Rechtsprechung.
(https://www.nzz.ch/schweiz/die-beschwerde-der-klimaseniorinnen-gegen-die-schweiz-wird-in-strassburg-oeffentlich-verhandelt-ld.1732004)


+++POLIZEI DE
Senatsinnenverwaltung: Vier Fälle tödlicher Polizeigewalt in 2022
Antwort auf schriftliche Anfrage an den Senat zählt Polizeieinsätze mit Schusswaffeneinsatz und mit Todesfolge auf
Wenn Menschen infolge von Polizeieinsätzen umkämen, dann müsse die Öffentlichkeit ganz genau hinschauen, sagt Grünen-Abgeordneter Vasili Franco.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172063.polizeigewalt-senatsinnenverwaltung-vier-faelle-toedlicher-polizeigewalt-in.html


+++EUROPOL
Europol: Polizei fürs Grobe
Europol koordiniert bewaffnete Spezialeinheiten und jetzt auch Observationstrupps
Mit dem Atlas-Verbund verfügt die EU über ein schlagkräftiges Polizeinetzwerk aus 38 Mitgliedsstaaten. Auf deutsche Initiative kam nun eine »Überwachungsgruppe« hinzu.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1172044.eu-polizei-europol-polizei-fuers-grobe.html


+++RECHTSPOPULISMUS
«Duschen mit Doris»: Berner JSVP sucht nach Nacktdoubles von Altbundesrätinnen
Ähnelst du Doris Leuthard oder Simonetta Sommaruga von hinten, zeigst dich gerne nackt und wolltest schon immer einmal in einem politischen Werbefilm auftreten? Dann bietet dir die Junge SVP Bern DIE Chance. Das Vorhaben stösst auf wenig Begeisterung – wie Kommentare auf Twitter zeigen.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/berner-jsvp-sucht-nach-nacktdoubles-von-altbundesraetinnen-150750763
-> https://twitter.com/NilsFiechter/status/1640430849450450951
-> https://www.20min.ch/story/jsvp-sucht-nackte-doris-leuthard-fuer-video-im-abstimmungskampf-629555380327
-> https://www.blick.ch/politik/sie-sollen-leuthard-und-sommaruga-von-hinten-aehneln-jsvp-sucht-doubles-fuer-nackt-clip-id18439914.html


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Blackfacing bis Winnetou: Problemskizze kulturelle Aneignung
Kulturelle Aneignung, das klingt ziemlich abstrakt. Darum geht’s aber immer wieder in Debatten etwa um Winnetou oder im Fasching bei der Frage: Als was gehst du? Kaum eine Diskussion wird derzeit so erhitzt geführt wie die über kulturelle Aneignung.
https://www.br.de/nachrichten/kultur/was-kulturelle-aneignung-bedeutet-von-blackfacing-bis-winnetou,TZDwHmf


Der Tagi und die Cancel Culture
In insgesamt 144 Artikeln war der Begriff «Cancel Culture» gemäss der Schweizer Mediendatenbank bis zum 24.03.2023 im «Tages-Anzeiger online» aufgetaucht. Und die Zahl ist seit dem vergangenen Freitag noch einmal angestiegen. Aber nicht etwa weil am Wochenende unliebsame Redner:innen ausgeladen, Künstler:innen zensiert oder kurzfristig Veranstaltungen abgesagt worden wären. Nein, allein deswegen, weil die «Tages-Anzeiger»-Redaktion mit einem «Cancel Culture»-Special aufgefahren ist. Ein anderer Anlass für den Anstieg ist schlicht nicht auszumachen.
https://www.woz.ch/zoo/2023/03/28/der-tagi-und-die-cancel-culture


+++HISTORY
«Mohr»-Inschriften in Zürich: Rassistische Relikte oder historisches Erbe?
Gemäss Forschenden der ETH sind zwei «Mohr»-Inschriften in Zürich erst im 20. Jahrhundert angebracht worden. Die Stadt Zürich will die Inschriften abdecken, weil sie rassistisch seien. Der Heimatschutz kämpft dagegen vor Gericht.
https://www.toponline.ch/news/detail/news/mohr-inschriften-laut-studie-nicht-historisch-00208820/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/war-schon-immer-rassistisch-zuerich-und-das-m-wort?id=12359095
-> https://www.blick.ch/politik/streit-um-haus-inschriften-der-zuercher-mohr-kann-doch-weg-id18440003.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/z%c3%bcrich/741668592-umstrittene-zuercher-mohrenkopf-inschrift-ist-gar-nicht-mittelalterlich
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/umstrittene-mohr-inschriften-sind-laut-studie-nicht-historisch-150752778?autoplay=true&mainAssetId=Asset:147149772
-> https://www.stadt-zuerich.ch/prd/de/index/ueber_das_departement/medien/medienmitteilungen/2023/maerz/230328b.html
-> https://www.20min.ch/story/eth-bericht-zeigt-wie-haeuser-mit-m-inschriften-zu-ihrem-namen-kamen-345773668130
-> https://tv.telezueri.ch/news/umstrittene-mohr-inschriften-sind-laut-studie-nicht-historisch-150757547



tagesanzeiger.ch 28.03.2023

Umstrittene Beschriftung in Zürcher Altstadt: Abdecken oder erklären? ETH-Studie liefert neue Argumente

Die «Mohrenkopf»-Inschrift an zwei Zürcher Altstadthäusern sorgt für hitzige Debatten. Eine ETH-Studie zeigt nun: Die Beschriftung ist gar nicht so alt.

Hélène Arnet

Seit zwei Jahren läuft in der Stadt Zürich eine zuweilen hitzig geführte Debatte über den Umgang mit zwei Häuserinschriften im Niederdorf: Am Neumarkt 13 ist der Schriftzug «Zum Mohrenkopf» in Stein gemeisselt, an der Niederdorfstrasse 29 «Zum Mohrentanz».

Die Stadt entschied im April 2021 – gegen die Empfehlung des Amts für Städtebau –, die Inschriften abzudecken. Die Begründung: Sie hätten eine rassistische Wirkung. Der Zürcher Heimatschutz und der Stadtzürcher Heimatschutz rekurrierten dagegen und bekamen letzte Woche in erster Instanz recht: Die Hausinschriften bleiben, vermeldeten sie in einer Medienmittelung.

Der Stadtrat schrieb postwendend, dass er gedenkt, den Entscheid weiterzuziehen. Und reicht jetzt eine Studie der ETH nach, die er Ende 2021 in Auftrag gegeben hatte.

Argumente für beide Varianten

Die Studie mit dem Titel «Zürcher ‹Mohren›-Fantasien» beschäftigt sich im Kern mit den beiden umstrittenen Häuserinschriften und ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine «Auslegeordnung», wie sie selbst im Untertitel deklariert. Das heisst: Am Schluss der über 100-seitigen Publikation sind wohl die meisten klüger als zuvor, doch die konkrete Frage «abdecken oder erklären?» beantwortet sie nicht. Das ist und bleibt auch nach dieser  Abhandlung ein politischer Entscheid.

Die Studie liefert Hintergründe und Argumente – für beide Varianten. Bisher nicht klar war, dass die umstrittenen Inschriften an den zwei Hausfassaden «relativ jung» sind, wie das Forschungsteam rund um Ashkira Darman und Bernhard C. Schär am Dienstag den Medien darlegte.

Die heute noch sichtbare Inschrift am Neumarkt 13 ist erst ab 1940 belegt, diejenige an der Niederdorfstrasse war zumindest bei einer Renovation im Jahr 1917 noch nicht vorhanden. Die Fassadenbeschriftung muss also auch später angebracht worden sein, wohl im Zuge einer weiteren Renovation.

Sie entstanden in einem Hergang, der als «Erfindung der Altstadt» beschrieben wird. Damals wurden vielerorts die lange Zeit unpopulären Innenstädte aufgewertet und neu interpretiert. Dabei knüpften manche Häuser aus einer Art Nostalgie heraus an ihre ehemaligen Häusernamen an, welche spätestens seit dem 19. Jahrhundert ihre Funktion verloren hatten. Damals wurden die Häusernummern als Ordnungssystem eingeführt.

Die Studie kommt daher zum Schluss: «Die Beschriftungen sind nicht Teil eines mittelalterlichen und frühzeitlichen Erbes oder einer ungebrochenen historischen Tradition.»

Neun «Mohr»-Liegenschaften in Zürich

In der Stadt Zürich sind neben den zwei erwähnten Liegenschaften, die der Stadt gehören, weitere sieben private Häuser  dokumentiert, die zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert in einer Variante den Begriff «Mohr» im Namen führten.

Aussergewöhnlich ist diese Bezeichnung nicht. In Winterthur, Konstanz und vielen anderen deutschen Städten gab und gibt es Apotheken, welche das umstrittene Wort im Namen tragen.

Auch zahlreiche Gasthäuser, die ihre Tradition betonen wollen, etwa auf der Reichenau, tragen diesen Namen. In der Stadt Bern gab es bis vor einem Jahr eine «Zunft zum Mohren», die aufgrund ähnlicher Diskussionen, wie sie in der Stadt Zürich geführt werden, sich in «Zunft zur Schneidern» umbenannte. Das Hauszeichen, das den Kopf eines Schwarzen Mannes zeigt, wurde bisher aber nicht überdeckt.

Und die Gemeinde Oberweningen im Zürcher Unterland trägt den Kopf eines Schwarzen Mannes im Wappen, was auch immer wieder Anlass zu Diskussionen gibt. Dieses Wappenbild hat seinen Ursprung möglicherweise im Familienwappen der Zürcher Ritter von Mandach, die dort Grundbesitz besassen.

Allerdings irrt, wer glaubt, dass solche Wappen- oder Hausnamen eine Wertschätzung für Schwarze Menschen ausdrücken, wie die Mittelalter-Historikerin Ashkira Darman an der Medienorientierung erklärte. Es handelt sich vielmehr um Statussymbole, die Reichtum und Überlegenheit signalisierten. So war es nicht unüblich, dass Kreuzritter sich damit schmückten, um zu zeigen, dass sie im «Heiligen Land» für den «wahren Glauben» gekämpft haben.

Immer abwertend

Bernhard Schär, ein ausgewiesener Forscher zur Schweizer Kolonialgeschichte, war erstaunt darüber, wie präsent der Begriff des «Mohren» in der ganzen untersuchten Zeitspanne in der Zürcher Vorstellungswelt war.

Das Autorenteam zeigt am Beispiel Zürich, dass der Begriff historisch durchaus unterschiedlich interpretiert wurde, aber immer – zu allen Zeiten – abwertend verwendet wurde: vom Spätmittelalter bis ins 17. Jahrhundert vor allem religiös und geografisch, vom 18. bis ins 20. Jahrhundert eindeutig rassistisch.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts distanzieren sich demokratische Gesellschaften zunehmend vom Rassismus, die Diskriminierung von Menschen nicht weisser Hautfarbe besteht aber fort. Damit einher geht ein Vergessen der rassistischen Geschichte solcher Begriffe.

Impliziter Rassismus

Wer diese Begriffe verwendet, tue dies meist nicht mit bewusst rassistischen Absichten, sagt Schär. Er spricht von «implizitem Rassismus». Doch erfolge dies stets  aus einer überheblichen weissen Perspektive. In der Fachsprache ist die Rede von «rassenlosem Rassismus» und «kolonialer Amnesie».

«Auf diesem Hintergrund», so lautet das Fazit der Studie, «sind auch die heutigen Debatten über die weitere Verwendung des M-Begriffs zu verstehen.»

Mauch fühlt sich bestätigt

Stadtpräsident Corine Mauch, deren Präsidialabteilung die Studie in Auftrag gegeben hat, fühlt sich durch die Ergebnisse in der Absicht bestätigt, die Inschrift  abzudecken. Nun sei klar belegt, dass der Begriff immer abwertend verwendet wurde und bis heute – oft unbewusst – rassistische Vorurteile bediene.  Es sei eine Klärung nötig, welche in einem nächsten Schritt dem Verwaltungsgericht obliegt.

Mauch gibt aber auch zu bedenken, dass es mit dem Abdecken nicht getan sei. «Es braucht eine breite Auseinandersetzung mit diesem Thema.» Diese Studie helfe dabei, eine oft sehr emotional geführte Diskussion zu versachlichen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/umstrittene-beschriftung-an-zwei-zuercher-altstadthaeusern-ist-nicht-alt-576224694796)



limmattalerzeitung.ch 28.03.2023

Die Mohren-Inschriften kamen erst im 20. Jahrhundert

Ein Streit um Inschriften beschäftigt die Gerichte: Der Zürcher Stadtrat will sie abdecken lassen, weil sie rassistisch seien; der Heimatschutz kämpft dagegen an. Nun sieht sich Stadtpräsidentin Corine Mauch durch eine Studie bestätigt.

Matthias Scharrer

Auf einen Rekurs des Zürcher Heimatschutzes hin untersagte das Zürcher Baurekursgericht kürzlich dem Stadtrat, die Hausinschriften «Zum Mohrenkopf» und «Zum Mohrentanz» abzudecken. Der Stadtrat argumentierte, das M-Wort sei rassistisch. Das Gericht hingegen stützte den Einwand des Heimatschutzes, wonach die Inschriften für das Erscheinungsbild der geschützten historischen Bauten wichtig seien. Es genüge, mit einer Tafel auf den historischen Kontext hinzuweisen. Allerdings räumte das Gericht ein, dass die Herkunft der Hausnamen und deren Geschichte noch nicht abgeklärt worden seien.

Dies leistet nun eine am Dienstag veröffentlichte Studie, die der Stadtrat bei der ETH Zürich in Auftrag gegeben hatte. Die zentralen Befunde der Historikerin Ashkira Darman und des Historikers Bernhard Schär lauten: Das M-Wort sei schon seit jeher abwertend verwendet worden. Und: Die Hausnamen gebe es seit Jahrhunderten; als Inschriften seien sie jedoch erst im 20. Jahrhundert angebracht worden.

Stadtpräsidentin Corine Mauch (SP) erklärte dazu vor den Medien: «Wir sehen dies als Bestätigung für unsere Haltung, dass wir diese Inschriften abdecken wollen.» Der Stadtrat wolle den Rechtsstreit ans Verwaltungsgericht weiterzuziehen.

Vom «Mohrenkopf» zum «Frisk Fisk»

Die umstrittenen Inschriften befinden sich in der Altstadt: «Zum Mohrenkopf» steht über dem Hauseingang Neumarkt 13, «Zum Mohrentanz» an der Niederdorfstrasse 29. Beide Häuser gehören der Stadt. In letzterem befand sich bis 2019 das Café «Mohrenkopf». Heute ist dort das Restaurant «Frisk Fisk» – Norwegisch für «Frischer Fisch».

An beiden Häusern installierte die Stadt jeweils eine Tafel mit QR-Code und der Aufschrift «Rassismus im Stadtbild». Wer den Code scannt, gelangt nun zu den Resultaten der ETH-Studie.

Der früheste Beleg für den Hausnamen «Zum Mohrenkopf» stammt laut Studie aus einer Verkaufsurkunde des Grossmünsters von 1443. Hausbesitzer sei der Chorherr Jakob Schultheiss gewesen, dessen Familie einen schwarzen Kopf im Wappen trug.

Symbol weisser Adeliger im Kampf gegen Muslime

Solche schwarzen Köpfe seien seit den Kreuzzügen, als christliche Glaubenskrieger zum Kampf gegen Muslime zogen, auf Schildern und Wappen zu finden. Laut Darman dienten sie weissen, christlichen Adligen als Ausdruck der Unterstützung dieses Kampfes. Und: Schon seit der Spätantike seien schwarze Menschen in der christlichen Tradition mit dem Thema Sünde gleichgesetzt worden.

Die wenigen positiv besetzten dunkelhäutige Figuren aus der christlichen Tradition seien dem Anspruch der Kirche auf Weltgeltung geschuldet. Wobei der in diesem Zusammenhang oft genannte heilige Mauritius im süddeutschen Raum, zu dem auch Zürich zähle, nicht schwarz dargestellt werde.

Weisse Europäer hätten Schwarze immer wieder als Andere an der Grenze zur Barbarei dargestellt, sagte Schär. Er wertete im Rahmen der Studie in Zürich über die Jahrhunderte gedruckte Texte aus, in denen das Wort Mohr vorkommt.

Der Hausname «Zum Mohrentanz» ist erstmals 1682 belegt. Er stand laut Darman für einen Tanz, der in jener Zeit von schwarzen, schwarz geschminkten oder schwarz gekleideten Leuten aufgeführt wurde – mit übertriebenen Bewegungen, die teils ins Lächerliche gezogen wurden.

«Die Altstadt wurde zum Sehnsuchtsort von Heimat»

Laut der Studie sind die beiden umstrittenen Inschriften erst ab dem 20. Jahrhundert nachweisbar. Weder auf älteren Fotos noch in detailreichen früheren Quellentexten kämen sie vor. Erste fotografische Belege stammen laut Darman aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Die Historikerin erklärt dies damit, dass ab den 1940er-Jahren als Gegenpol zur Modernisierung eine Bewegung zum Erhalt der Altstadt aufkam. 1958 beschloss der Zürcher Stadtrat, eine städtische Denkmalpflege einzurichten. «Die Altstadt wurde zum Sehnsuchtsort von Heimat», heisst es in der Studie. Dabei habe man auf alte Hausnamen wie «Zum Mohrenkopf» und «Zum Mohrentanz» zurückgegriffen.
(https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/rassismus-debatte-mohren-inschriften-kamen-erst-im-20-jahrhundert-ld.2436198)