Medienspiegel 20. März 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++SOLOTHURB
Hohe Asylzahlen: Kanton Solothurn setzt einen Fachstab Asyl ein, damit alle Menschen untergebracht werden können
Der Kanton Solothurn rechnet auch für dieses Jahr mit hohen Flüchtlingszahlen. Darauf reagiert er nun mit der Einsetzung eines Fachstabs. Noch nicht aufgeboten wird der Zivilschutz.
https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/unterkuenfte-gesucht-hohe-asylzahlen-kanton-solothurn-setzt-einen-fachstab-asyl-ein-damit-alle-menschen-untergebracht-werden-koennen-ld.2432020


+++ZÜRICH
„Durchgangslager Sonnenbühl ZH: Ahmed Khaalid (22) aus Äthiopien ist gestorben. Anscheinend wurde Khalid am Samstag gegen 16 Uhr im Lager ohnmächtig, ins Krankenhaus gebracht und ohne Behandlung zurückgeschickt. Gestern ist er Tod in seinem Bett aufgefunden worden.“
Mehr: https://twitter.com/3rosen
-> https://www.facebook.com/photo/?fbid=672197341577784&set=a.408348324629355


++++GROSSBRITANNIEN
London will Migranten trotz EGMR-Entscheid abschieben
Die britische Regierung will Medienberichten zufolge unerwünschte Migranten auch dann nach Ruanda und in andere Staaten abschieben, wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) dies kurzfristig untersagt.
https://www.watson.ch/international/grossbritannien/451089144-london-will-migranten-trotz-egmr-entscheid-abschieben


+++MITTELMEER
Menschenrechte von Migrant:innen: Helfer:innen kriminalisiert
Ein UN-Bericht bestätigt: In Griechenland werden Migrantenhelfer:innen systematisch bedroht. Seit 2020 setzt Athen auf illegale Pushbacks.
https://taz.de/Menschenrechte-von-Migrantinnen/!5919981/


Bundesaußenministerin fordert neue EU-Seenotrettungsmission: »Das Sterben im Mittelmeer ist Europas offene Wunde«
Jedes Jahr sterben etliche Menschen beim Versuch, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Außenministerin Baerbock drängt nun auf eine neue EU-Initiative. Auch das europäische Asylsystem müsse reformiert werden.
https://www.spiegel.de/politik/annalena-baerbock-draengt-auf-neue-eu-seenotrettungsmission-im-mittelmeer-a-bf42109b-d8c1-4a46-9ebe-71d271010dd0


+++GASSE
Basler Zeitung 20.03.2023

Randständige machen Radau: Der ganz normale Wahnsinn vor dem Bahnhof SBB

Beim Bahnhofseingang am Centralbahnplatz wird herumgepöbelt und geschlägert. Ladenbesitzer sind besorgt. Die Polizei versucht, die Lage unter Kontrolle zu halten. Ein Rundgang.

Martin Furrer

Die Sonne ist untergegangen. Der Bahnhof Basel SBB strahlt in die Dunkelheit hinaus wie eine Kathedrale. Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Unter dem Vordach neben dem Eingang stehen und liegen Männer und Frauen, vom Leben gezeichnet. Flaschen kreisen. Zigaretten glimmen auf. Ein Mann hat eine Musikbox in Betrieb gesetzt, deren irrer Sound bis zu den Tramhaltestellen zu hören ist. Es riecht nach verschüttetem Bier und Urin. Es riecht nach Elend.

Einer brüllt etwas Unverständliches hinaus in die Nacht. Ein anderer brüllt zurück, ein Dritter beginnt zu schreien. Wenn man abends am Bahnhofsvorplatz vorbeigeht, wirkt der Ort oft wie eine düstere, furchteinflössende Gegenwelt zum Bahnhofsinnern mit seinen hell erleuchteten Geschäften und Cafés.

Andreas Jäggin (53) kennt sich in beiden Bahnhofswelten aus: der Innen- und der Aussenwelt. Er arbeitet seit 1998 bei der Kantonspolizei Basel-Stadt. Seit ein paar Jahren ist er Quartierpolizist im Rahmen des «Community Policing». Diese Abteilung kommt zum Einsatz, wenn sich Anwohner gestört fühlen und es gilt, Konflikte in einem Quartier bürgernah zu lösen. Das heisst: erst mal mit Zuhören und Reden, mit Vermittlungsarbeit statt mit reflexartiger Repression.

«Wir sind in etwa das, was die Hausärzte im Gesundheitswesen sind», sagt Jäggin: «Eine Instanz, die sich eines Problems niederschwellig annimmt, bevor es grösser wird, und bei Bedarf kompetente Spezialisten beizieht oder an diese vermittelt, etwa Quartierorganisationen, soziale Institutionen oder staatliche Stellen.»

An einem Mittwochnachmittag im März ist Jäggin wieder einmal unterwegs in seinem Revier. Es reicht vom Bahnhof über den Dreispitz bis hinunter zum Stadion St. Jakob. Der Himmel ist postkartenblau. Es weht eine schneidende Bise, die auch die Randständigen vor dem Bahnhof für ein paar Stunden vertrieben zu haben scheint.

Jäggin wird begleitet von Ralph Studer. Beide tragen Uniform. An ihren Gürteln hängen Dienstpistole, Reizgas, Schlagstock. Doch ihre Waffen sind in erster Linie der Dialog, das Gespräch. Sie sind zwar Ordnungshüter, die bei Delikten die Handschellen oder den Bussenblock zücken können. Ebenso sehr sind sie aber auch Mediatoren, die auch mal einfach einen Streit schlichten, statt strafend zu intervenieren.

Unmittelbar neben dem Eingang zum Ostflügel des Bahnhofs sitzt eine Frau am Boden. Sie ist eingehüllt in bunte Kleidung. Um den Kopf hat sie ein Tuch geschlungen, vor ihr steht ein Becher – eine Bettlerin. Jäggin und Studer gehen auf sie zu. «Ihren Ausweis, bitte!» Die Rumänin hält sich legal in Basel auf, drei Monate darf sie ohne Visum in der Schweiz bleiben. Betteln aber, erklärt ihr Jäggin freundlich, sei nur ausserhalb eines Fünf-Meter-Rayons vom Bahnhof weg erlaubt. Brav sucht sich die Frau einen neuen Platz etwas weiter entfernt vom Eingang.

Immer wieder Schlagzeilen

Nun bevölkern sich die Bänke unter dem Bahnhofsvordach allmählich doch noch. Ein paar Männer rauchen und diskutieren lautstark. «Das sind Rumänen mit einer Jahresaufenthaltsbewilligung», sagt Jäggin. «Ich kenne sie, ich habe auch schon mit ihnen geredet. Es sind etliche arbeitslose Lastwagenfahrer darunter, die in Basel gestrandet sind, von ihnen gibt es derzeit viele.»

Ein Mann, der seinen Hund an langer Leine führt, geht schwankenden Schrittes am Duo vorbei. «Guten Tag!», ruft er. Der leise Spott in seiner Stimme ist unüberhörbar. «Guten Tag», ruft Jäggin zurück. Viele Randständige kennt er persönlich, und sie kennen ihn. «Den Ausdruck ‹Randständige› mögen sie übrigens nicht», sagt Jäggin. «Ich nenne sie ‹Stammkunden›.»

Vor einem Monat beging ein Unbekannter ein Sexualdelikt an einer 46-jährigen Frau in der Toilettenanlage beim Veloparking unter dem Centralbahnplatz. Es geschah am helllichten Tag. Immer wieder macht der Bahnhof SBB Schlagzeilen. «Mann löst durch verbale Drohungen einen Einsatz der Kantonspolizei im Bahnhof SBB aus», hiess es beispielsweise vergangenen Oktober. Und im Juni 2022 meldeten die Medien: «38-jähriger Mann bei Streit vor dem Basler Bahnhof SBB mit Stichwaffe verletzt.»

Ein permanenter Brennpunkt der Kriminalität sei der Bahnhof SBB gleichwohl nicht, betont die Kantonspolizei Basel-Stadt. In der Steinenvorstadt oder vor allem im Sommer an der Flaniermeile am Rhein gehe es oft viel heisser zu und her.

«Schlechte Visitenkarte»

Auch die SBB, Hausherrin im Innenbereich des Bahnhofs, teilen auf Anfrage mit, die Sicherheitslage sei dort «stabil». Von Passanten und Angestellten der Geschäfte im Bahnhof – die weder ihren Namen noch denjenigen ihres Arbeitgebers in der Zeitung lesen möchten – klingt es allerdings ein bisschen anders.

«Die Randständigen auf dem Vorplatz geben eine sehr schlechte Visitenkarte für Basel ab», sagt ein Geschäftsführer, der im Ostflügel des Bahnhofs arbeitet, «viele Schweizer Bahnhöfe sind weit weniger schlimm als derjenige in Basel.» Ein Verkäufer klagt über häufige Diebstähle und Schlägereien. Er sagt: «Ich selber kann mich wehren, aber meine jungen weiblichen Angestellten reagieren verängstigt, wenn sie von den Alkis und Drogenkonsumenten vor dem Bahnhof belästigt werden.»

Eine Verkäuferin, die in Olten wohnt und täglich an ihren Arbeitsplatz im Bahnhof-Westflügel pendelt, konstatiert: «Vor dem Bahnhofseingang ist praktisch immer Radau. Ich fürchte mich nicht vor Unruhestiftern. Aber unangenehm ist die Situation durchaus.» Eine andere Frau sagt: «Ich arbeite seit ein paar Monaten im Bahnhof SBB. Als ich hier anfing, hatte ich ein mulmiges Gefühl, wenn ich an den Randständigen vorbeiging. Mittlerweile habe ich mich daran gewöhnt.»

Eine Dame aus Obergösgen, auf Besuch bei ihrem Vater in Basel, verlässt gerade das Perron. «Die Bier trinkenden Leute auf dem Bahnhofsvorplatz machen mir Angst», sagt sie. «Nachts möchte ich hier jedenfalls nicht unterwegs sein müssen.»

Objektive Sicherheit und subjektives Sicherheitsgefühl klaffen offensichtlich auseinander. Andreas Jäggin hat Verständnis für die Ängste. Er hat auch schon Bussen verteilt und Leute verhaftet, wenn das Gesetz gebrochen wurde. Er sagt aber: «Wir können Menschen auf dem Bahnhofsvorplatz nicht einfach vertreiben, weil sie einer gewissen Gruppierung angehören. Auch sie haben das Recht, sich im öffentlichen Raum aufzuhalten.» Die Randständigen zu vergrämen, sei nicht das primäre Ziel seiner Arbeit. «Laut werden», sagt er, «kann ich aber schon, wenn es sein muss.»

Noch ist es an diesem Mittwochnachmittag relativ ruhig vor dem Bahnhof. Stunden später wird sich das ändern: Wenn die Dämmerung einsetzt, machen hier wieder Wodkaflasche und Joints die Runde, es wird gebrüllt, gepöbelt und geschlägert. Jäggins Kundschaft ist dem Ort treu. Resignieren mag der Polizist deswegen nicht, obwohl er Sisyphusarbeit leistet. «In meinem Job braucht man viel Geduld», sagt er, bevor er seine Patrouille mit Ralph Studer fortsetzt.



Sicherheit im und um den Bahnhof SBB

Hausherrin im Bahnhof  – aber nur im Innenbereich – sind die Schweizerischen Bundesbahnen (SBB). Das SBB-eigene Sicherheitsdienstunternehmen Transsicura ist primär für die Durchsetzung der Bahnhofsordnung zuständig, die unter anderem Betteln, Musizieren oder «ungebührliches Verhalten» verbietet. Die Transsicura hat nur beschränkte polizeiliche Befugnisse. Die Transportpolizei der SBB hingegen hat sämtliche polizeilichen Rechte und Pflichten wie die Kantonspolizei: Ihre Mitglieder sind bewaffnet und dürfen unter anderem Personen anhalten, kontrollieren, wegweisen oder vorläufig festnehmen. Transsicura und SBB-Transportpolizei arbeiten eng mit der Kantonspolizei Basel-Stadt zusammen. Im Bahnhof Basel SBB patrouillieren auch Grenzwächter des Bundesamtes für Zoll und Grenzschutz.
Ausserhalb des Bahnhofs, auf dem Centralbahnplatz, ist die Kantonspolizei Basel-Stadt für Ordnung und Sicherheit zuständig.
Notruf Transportpolizei SBB: 0800 117 117, Notruf Kantonspolizei Basel-Stadt: 117 (mfu)
(https://www.bazonline.ch/der-ganz-normale-wahnsinn-vor-dem-bahnhof-sbb-492754830022)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION

ZÜRICH:
CS-Aus: Anti-Erdogan-Demonstranten schliessen sich CS-Kundgebung an
Die Juso rief zur Demo gegen die Verantwortlichen des CS-Aus auf. Schätzungsweise sind 500 Personen auf dem Paradeplatz. Alle News im Ticker.
https://www.20min.ch/story/demo-gegen-cs-aus-teilnehmende-feinden-sich-im-vorfeld-an-837299065131
-> https://www.blick.ch/politik/abzockerei-stoppen-juso-kuendigt-demo-auf-dem-paradeplatz-an-id18416257.html
-> https://twitter.com/RaimondLueppken
-> https://twitter.com/farbundbeton
-> https://twitter.com/sozialismus_ch
-> https://twitter.com/realaydemir
-> https://www.toponline.ch/news/schweiz/detail/news/hunderte-demonstrieren-in-zuerich-gegen-abzockerei-00208251/
-> https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich-news-ticker-wichtigste-news-live-117-251047807335
-> https://www.20min.ch/video/500-leute-machen-ihrem-aerger-ueber-cs-und-boni-kultur-luft-888539725533
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/credit-suisse-hunderte-demonstrieren-auf-dem-paradeplatz-66453425
-> https://www.blick.ch/wirtschaft/live-ticker-zur-credit-suisse-uebernahme-id18412661.html
-> https://www.watson.ch/wirtschaft/schweiz/415074842-news-zur-credit-suisse-anleger-warten-auf-boerseneroeffnung-um-9-uhr
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/mass-voll-rimoldi-mit-eiern-beworfen-polizei-schuetzte-ihn-150628482


Gummischrot oder nicht? Die Bewilligung allein ist nicht entscheidend
Die Basler Regierung beantwortet einen Vorstoss aus dem Grossen Rat zu einem früheren Polizei-Einsatz gegen eine unbewilligte Kundgebung. Die Antworten sind aber auch für die jüngste Eskalation aussagekräftig.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/demonstration-gummischrot-oder-nicht-die-bewilligung-allein-ist-nicht-entscheidend-ld.2431230
-> https://grosserrat.bs.ch/ratsbetrieb/geschaefte/200112177
-> https://grosserrat.bs.ch/ratsbetrieb/geschaefte/200112176


+++SPORT
Keine Priorität für Kantonsrat – Fussball-Chaoten: Die Mitte prüft jetzt eine Initiative
Die Mitte konnte den Kantonsrat nicht von der Dringlichkeit seines Postulats zu Gewalt rund um Fussballspiele des FC Luzern überzeugen. Darum prüft sie nun eine Volksinitiative.
https://www.zentralplus.ch/politik/kantonsrat-fussball-chaoten-debatte-hat-keine-prioritaet-2529753/


+++POLIZEI SO
Klare Regeln für verdeckte Ermittlungen: Nach Kritik des Bundesgerichtes hat die Solothurner Regierung das Polizeireglement angepasst. Nun können die neuen Ermittlungstechniken angewendet werden. (ab 09:04)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/kultur-und-sport-szene-zittert-nach-cs-krise-um-sponsorings?id=12354919


+++RASSISMUS
Die Schweiz hat ein Rassismusproblem
Die Schweiz hat ein Rassismusproblem: Dies belegt eine Studie, die von der Universität Neuchâtel im Auftrag der Fachstelle für Rassismusbekämpfung erstellt wurde. Die Studie hat verschiedene gesellschaftliche Bereiche auf Rassismus untersucht, wie beispielsweise den Arbeitsmarkt. Dabei wurden fiktive Bewerbungsdossier erstellt, die sich in Puncto Qualifizierung ebenbürtig waren. Der einzige Unterschied: Name und Nationalität. «Die Studien zeigten klar auf, dass Personen aus dem ehemaligen Jugoslavien, Subsahara, Afrika und der Türkei weniger häufig an ein Bewerbungsgespräch eingeladen wurden», erklärt Leonie Mugglin, Co-Autorin der Studie.
Die Studienlage zu Rassismus ist aber im Allgemeinen sehr dünn und liegt im Vergleich zum europäischen Ausland im Rückstand. Das liege daran, dass das Thema Rassismus auf Abwehr stösst, erklärt Leonie Mugglin. «Es braucht eine verstärkte Förderung der Forschung zu Rassismus in der Schweiz.»
https://rabe.ch/2023/03/20/die-schweiz-hat-ein-rassismusproblem/
-> Studie: https://www.edi.admin.ch/edi/de/home/fachstellen/frb/publikationen/KurzfassungStudieStrukturellerRassismus.html


ANTIRA-WOCHENSCHAU: Gute Nachrichten für Sans-Papiers, Bern wird Sicherer Hafen, Aktionstag gegen EU-Türkei-Deal
https://antira.org/2023/03/20/gute-nachrichten-fuer-sans-papiers-bern-wird-sicherer-hafen-aktionstag-gegen-eu-tuerkei-deal/


+++HISTORY
beobachter.ch 14.03.2023

Wer sind die Schweizer Nazi-Opfer? – Jetzt kommt die Datenbank für die Verfolgten des Nationalsozialismus

Mit grosser Verspätung sollen NS-Verfolgte in einer Datenbank erfasst werden. Dabei stellen sich schwierige Fragen.

Von Tina Berg

«In Budapest trug ich den gelben Stern, war monatelang versteckt. St. Gallen war mir zwar fremd, aber ich fühlte mich sicher.» Eva Koralnik erinnert sich gut an ihre Flucht in die Schweiz. Sie war damals sieben.

Als die Deutschen 1944 in Ungarn einmarschierten, schaffte sie es mit ihrer Mutter und ihrer sechs Wochen alten Schwester nur dank der geschickten Intervention des Diplomaten Harald Feller zurück in die Schweiz. Denn ihre Mutter, die Jüdin Berta Rottenberg, hatte wegen Heirat mit einem Ungarn automatisch ihre Schweizer Staatsangehörigkeit verloren. «Viele wurden im Krieg an der Grenze zurück in den Tod geschickt, nur weil die Schweiz ihnen nach der Heirat das Bürgerrecht entzog», sagt Koralnik, die nun in Zürich lebt. «Eine unglaubliche Ungerechtigkeit.»

Für ihre Mutter war es auch nach der erfolgreichen Flucht schlimm: «Sie war eine Paria im eigenen Land. Immer wieder musste sie bei der Fremdenpolizei um eine Verlängerung der Aufenthaltsbewilligung ersuchen, quasi um einen neuen Stempel betteln, und versichern, dass sie sich um eine Weiterreise in ein anderes Land bemühte.»

Ist Berta Rottenberg eine Schweizer NS-Verfolgte, auch wenn die St. Gallerin damals keinen Schweizer Pass mehr hatte? Mit solchen Fragen beschäftigt sich Sabina Bossert vom Archiv für Zeitgeschichte der ETH Zürich. Sie steckt mitten in intensiven Vorbereitungen für eine Schweizer Datenbank für Verfolgte des Nationalsozialismus.

Jetzt ist der Bundesrat dran

In anderen Ländern gibt es längst solche Datenbanken (siehe Beispiele unten) und Gedenkstätten. Hier noch nicht. Die Auslandschweizer-Organisation (ASO) beschloss vor ein paar Jahren, das anzustossen – aufgerüttelt durch einen Beobachter-Artikel über die vergessenen Schweizer Nazi-Opfer. Sie holte das Archiv für Zeitgeschichte sowie andere an Bord und entwickelte ein Konzept für ein Memorial. Mit Erfolg. 2021 beauftragten National- und Ständerat den Bundesrat, ein Denkmal zu schaffen. Noch im laufenden Frühjahr dürfte sich der Bundesrat dazu äussern, wie es weitergehen soll.

Schon jetzt ist klar, dass die Datenbank sicher umgesetzt wird. «Es muss zusätzlich zum Denkmal auch einen Ort geben, wo aufgelistet wird, von wem wir eigentlich sprechen. Wer die Verfolgten waren», sagt Sabina Bossert. «In der Maschinerie des Nationalsozialismus wurden sie wortwörtlich zur Nummer gemacht, die man ihnen eintätowierte. Jetzt müssen wir ihnen ihren Namen zurückgeben.»

Herauszufinden, wer zu diesen Schweizer Opfern zählt, ist erstaunlich kompliziert. Sind es nur Menschen, die einen Schweizer Pass hatten? Gehören auch Ausländerinnen und Ausländer dazu, die in der Schweiz geboren wurden und hier aufgewachsen sind? Und was ist mit Frauen wie Berta Rottenberg? Dass ihre Mutter in der Schweizer Datenbank für NS-Verfolgte erwähnt werden soll, findet Eva Koralnik wichtig. Vor allem, damit das den ausgebürgerten Schweizerinnen angetane Unrecht aufgearbeitet wird.

Wegen Flugblättern im KZ Dachau

Ursula Zellweger wünscht sich, dass ihr Vater Albert Mülli rehabilitiert wird. Er war während der Nazi-Zeit sechseinhalb Jahre inhaftiert, mehrere davon im Konzentrationslager Dachau. Der Zürcher hatte 1938 einen Koffer nach Wien gebracht, im doppelten Boden waren kommunistische Flugblätter versteckt. Der 22-Jährige wurde verhaftet, verurteilt, ins KZ gesteckt – und erst nach Kriegsende befreit.

Österreich hob das Urteil gegen ihn 1955 auf. «Sie anerkannten meinen Vater als Opfer des Nationalsozialismus. Das hat die offizielle Schweiz nie hingekriegt. Das hat ihn sehr verletzt», sagt Zellweger. Er erhielt zwar 40’000 Franken als Wiedergutmachung. Jedoch mit dem Vermerk: «Nazischaden unbestritten, es liegt aber ein grosses Selbstverschulden vor.»

Ein Eintrag in einer offiziellen Opfer-Datenbank wäre ein Schritt hin zu echter Wiedergutmachung, sagt Ursula Zellweger. Und gerade heute zentral: «Mit den aktuellen Angriffen auf die Demokratie ist es wichtig, dass man dieses traurige Kapitel der Schweizer Geschichte reflektiert und daran erinnert.»

Insgesamt wurden 409 Schweizerinnen und Schweizer in Konzentrationslagern interniert. Viele wurden umgebracht. Im 2019 erschienenen Buch «Die Schweizer KZ-Häftlinge» wurden ihre Geschichten erstmals erzählt. Als vom Nazi-Regime Verfolgte zählen aber noch weit mehr Menschen als alle jene, die verhaftet, gefoltert und ermordet wurden. Deshalb habe man für die Datenbank bewusst eine breite Definition gewählt, sagt ETH-Historikerin Sabina Bossert. Dazu gehören auch alle jene, die enteignet wurden und materielle Verluste erlitten. «Eine Verfolgung muss einfach objektiv überprüfbar sein, indem jemand aktenkundig geworden ist.»

Sind sie Täter oder Opfer?

Der Teufel steckt im Detail: Was macht man mit Täterinnen und Tätern? Etwa mit den Schweizern, die sich freiwillig zur Waffen-SS gemeldet haben und später aus irgendwelchen Gründen in einem KZ landeten? Gehören Sie zu den Opfern? Sind sie Täter?

Weil die Datenmenge enorm sei, habe man ein schrittweises Vorgehen beschlossen, sagt Sabina Bossert. Zuerst soll es um die Schweizer NS-Verfolgten im engeren Sinn gehen. Darunter fallen schätzungsweise die Datensätze von 2’000 Personen.

In einem zweiten Schritt könne man den Blick auf jene Verfolgten ausweiten, die an der Grenze abgewiesen wurden. «Dabei geht es vor allem um die internationale Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg und die Verantwortung unseres Landes gegenüber den Menschen, denen wir keinen Schutz boten und die wir vielleicht in den Tod zurückschickten», sagt Bossert. Unter diese Kategorie fallen mindestens 20’000 Menschen.

Die bisher umfassendste wissenschaftliche Arbeit zum Thema stammt von Christina Späti, Professorin für Zeitgeschichte an der Uni Freiburg. Sie sagt, es gebe viel mehr NS-Verfolgte, als bisher gedacht. Weil nicht alle aktenkundig sind, werde man ihre genaue Zahl nie ermitteln können. «Gerade bei Fahrenden vermutet man, dass sie sich – zu Recht – nicht viel von einer Intervention bei den Behörden versprochen haben und sich deshalb nirgends meldeten.»

Die Bandbreite der Verfolgten sei riesig. Viele waren im Widerstand aktiv, versteckten Zwangsarbeiter oder verteilten Flugblätter. Oder Geistliche, die gegen die Nazis predigten. Oder Zufallsopfer wie ein Pfarrer aus Neuenburg, der sich im Wald nahe Frankreich verirrte und aus Versehen die Grenze überschritt. Die Gestapo verhaftete ihn und warf ihm Spionage vor.

Für Christina Späti ist eine Datenbank eine Frage der Gerechtigkeit: «Der Holocaust war ein Verbrechen, das mitten in der Gesellschaft geschah. In den meisten Ländern gibt es Denkmale. Auch die Schweizer Opfer haben ein Recht darauf, dass man ihre Fälle erforscht, ihre Namen nennt und ihrer gedenkt.»



Beispiele von Opfer-Datenbanken

Yad Vashem – Central Database of Shoah Victims’ Names
https://yvng.yadvashem.org/

Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution
https://arolsen-archives.org/

Shoah Memorial Frankfurt
https://www.shoah-memorial-frankfurt.de/

Tschechische Datenbank für Opfer von nationalsozialistischer Verfolgung
https://www.holocaust.cz/en/database-of-victims/

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes
https://www.doew.at/

Tina Berg ist Historikerin und schreibt seit 2018 für den Beobachter. Häufig über Politik, Umwelt und Migration.
(https://www.beobachter.ch/gesellschaft/wer-sind-die-schweizer-nazi-opfer-jetzt-kommt-die-datenbank-fur-die-verfolgten-des-nationalsozialismus-582762



beobachter.ch 16.03.2023

Der unbekannte Flüchtlingshelfer im 2. Weltkrieg: Der Bündner Anton Bühler rettete Juden vor den Nazis

Der Bündner Chefbeamte Anton Bühler rettete das Leben zahlreicher jüdischer Flüchtlinge. Er agierte wie sein Kollege Paul Grüninger in St. Gallen und ignorierte Befehle aus Bern. Jetzt zeigen unveröffentlichte Tagebücher, was damals geschah.

Von Yves Demuth

Der Anruf kam aus dem Unterengadin. Ein Grenzwächter war am Apparat, er forderte von Anton Bühler einen schnellen Entscheid. Dürfen die vier 18-jährigen Burschen aus Wien, die in Martina schwarz über die Grenze gekommen waren, in der Schweiz bleiben?

Departementssekretär Anton Bühler sass hinter seinem Schreibtisch im Regierungsgebäude in Chur. Sollten die Burschen zurückgeschafft werden nach Österreich, wo sie von den Nazis als Juden verfolgt wurden? Oder sollte er sie hereinlassen, entgegen den Direktiven aus Bern? Anton Bühler hatte die Wahl zwischen Karriere und Herz. Zwischen Dienst nach Vorschrift und Zivilcourage.

Es war der 30. September 1938, als Anton Bühler vor diese Wahl gestellt wurde. Der Wiener Gymischüler Michael Samek und seine drei Freunde haben an diesem Tag die Grenze überschritten. «Wir präsentierten uns am Zoll mit sehr viel Mut. Wir sagten: Hier sind wir. Wir sind auf dem Weg nach Amerika und möchten in der Schweiz bleiben, bis wir unsere Visa erhalten haben. Es war ein Gefühl der Hoffnung, gemischt mit etwas Angst.»

So erinnerte sich Samek Jahrzehnte später in einem Filmbeitrag des rätoromanischen Fernsehens. «Es gab in Wien nichts anderes als ‹Heil› und die ständige Frage: Wer wird als Nächstes verhaftet? Das war sehr schwierig und sehr traurig.»

1938 war das letzte Friedensjahr vor dem Zweiten Weltkrieg. Europa taumelte einem Gewaltexzess entgegen. Die Tschechoslowakei war soeben zerstückelt worden, um Hitlers Kriegsdrohung abzuwenden.

Der Staat Österreich hatte ein halbes Jahr vorher aufgehört zu existieren. Nach der Machtübernahme hatten die Nazis dort 70’000 österreichische Bürgerinnen und Bürger verhaftet, weil sie jüdisch waren. Hunderte wurden ins Konzentrationslager Dachau bei München verschleppt. Der Völkermord an den europäischen Juden hatte zwar noch nicht begonnen, doch Menschenleben zählten bereits wenig.

«Ausgesuchte Gräueltaten»

Der Chef der Schweizer Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, schrieb im August 1938 dem Bundespräsidenten: «Nach allem, was mir aber bis jetzt über die unmenschliche, ausgeklügelt grausame Behandlung der Juden in Deutsch-Österreich zu Ohren gekommen ist, glaube ich es nicht verantworten zu können, die Flüchtlinge ihren Peinigern wieder auszuliefern.»

Rothmund berichtete von «ausgesuchten Gräueltaten», die keine «Hassmärchen» seien. Wenn die Schweiz die Flüchtlinge zurückweisen würde, wäre sie mitverantwortlich für die «Schande, die über das ganze deutsche Volk kommt». Seinen Worten folgten jedoch keine Taten.

Die Schweiz schloss keine zwei Wochen später ihre Grenzen, sie wollte keine weiteren jüdischen Flüchtlinge mehr aufnehmen. Wie die meisten anderen Nachbarstaaten Deutschlands. Rothmund sprach von einer möglichen «Verjudung» der Schweiz. Hunderte Verfolgte versuchten dennoch, über die Schweiz den Nazis zu entkommen.

In dieser Welt, die aus den Fugen geraten war, entschied sich der 48-jährige Jurist Anton Bühler, die Vorschriften zu missachten. Der oberste Beamte des Justiz- und Polizeidepartements des Kantons Graubünden liess die vier jüdischen Burschen trotz Grenzsperre einreisen.

Er bestellte sie zur Einvernahme auf sein Büro nach Chur. «Meint ihr, man könne einfach ohne weiteres die Grenze überschreiten?», fragte er das Quartett. «Wenn Sie uns zurückschicken wollen, dann können Sie uns auch gleich hier erschiessen», antworteten sie laut Samek.

Nach einer kurzen Pause habe Bühler gesagt: «Das können wir nicht. Unsere Kanone wird zurzeit bei Manövern in den Bergen gebraucht.» Dann habe Bühler gelächelt. «Und wir realisierten, dass unsere Lage viel besser war, als wir befürchtet hatten. Es war ein wunderbarer Moment.» Anton Bühler schrieb in seinem Tagebuch: «Man sollte seine Pflicht tun u. ist doch kein Henker.»

Die unveröffentlichten Tagebücher von Anton Bühler geben einen intimen Einblick in eine Zeitenwende. Der Beobachter konnte erstmals die Notizbücher, die in Familienbesitz sind, vollumfänglich auswerten. Es sind Tagebücher eines katholisch-konservativen Familienvaters, den die Ereignisse in Deutschland aufwühlten.

Nach der Reichspogromnacht im November 1938, in der mehrere Hundert Juden ermordet worden waren, verlor Bühler die Fassung. Er, der gleich neben dem Bischöflichen Schloss in Chur wohnte, erfuhr von seinen kirchlichen Vertrauensleuten von den Vorgängen: «Abends Besprechung mit Generalvikar. Erfahre von ihm von der ‹Kristallwoche› in Deutschland. Man möchte dreinschlagen. Kann nachher bis nach 24h nicht einschlafen.»

Er verschwieg seine guten Taten

Bühler registrierte, wie Gewalt den Weltenlauf zunehmend bestimmte. Er bemerkte wohl, wie die Kirche, die ihm als gläubigem Katholiken wichtig war, kaum mehr mässigenden Einfluss hatte.

Als die Schweizer Bischöfe am Eidgenössischen Bettag 1938 ein letztes Mal die Naziideologie verurteilten und forderten, dass «Achtung, Gerechtigkeit und Liebe über den engen Kreis der Rasse hinausreichen» müssen, änderte das nichts daran, dass der Antisemitismus auch in der Schweiz immer alltäglicher wurde. Die Bischöfe warnten: «Jeder, nicht nur der Volks- und Rassegenosse, ist ‹der Nächste›.»

Nach dem Krieg schwieg Anton Bühler jedoch über sein couragiertes Handeln als kantonaler Bevollmächtigter für Flüchtlinge. Als er 1973 starb und im Familiengrab neben der Churer Kathedrale beerdigt wurde, sprach niemand von seiner Hilfe für die Flüchtlinge.

Anton Bühler wurde als ehemaliger Major der Schweizer Armee zu Grabe getragen, der das Land im Aktivdienst verteidigt hatte. Als engagierter Katholik und einstiger Präsident des Katholischen Volksvereins Graubünden. Als angesehener Chefbeamter und Vater von fünf Kindern.

Dass er Flüchtlingen geholfen hatte, verheimlichte Bühler zwar nie. Doch an die grosse Glocke wollte er es nicht hängen – vermutlich auch deshalb, weil das in der Nachkriegsschweiz schlecht angekommen wäre. Einzig die Blumen, die Fremde immer wieder auf seinem Grab niederlegten, erinnerten daran, dass hier ein heimlicher Wohltäter lag.

Hätte Michael Samek, der Flüchtling von Martina, im Jahr 2001 nicht dafür gesorgt, dass Anton Bühler posthum von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem als «Gerechter unter den Völkern» geehrt wurde, wären seine Taten wohl für immer vergessen gegangen. Es gäbe heute keinen Bühlerweg in Chur zu seinen Ehren.

Der Schweizer Historiker Thomas Maissen hat präzise formuliert, weshalb Anton Bühlers Handeln mutig war: «Der gesunde Menschenverstand befiehlt uns doch in der Regel, Befehle zu befolgen, vor allem wenn sie aus Bern kommen.

Um so unsere Karriere und den Broterwerb nicht zu gefährden.» Doch Bühler habe eben gerade nicht nach dem «gesunden Menschenverstand» gehandelt, sondern «mit Herz». «Das ist nicht alltäglich, und darauf kommt es schliesslich an.»

Dies sagte Thomas Maissen vor 20 Jahren anlässlich der Premiere des Fernsehbeitrags des rätoromanischen Fernsehens. Und dabei bleibt Professor Maissen auch heute: «Dass Bühler als Flüchtlingshelfer aktiv wurde, war eine Gewissensentscheidung», sagt er dem Beobachter.

Es habe viele Schweizerinnen und Schweizer gegeben, die die Grenzschliessung von 1938 einfach hingenommen hätten. «Wie wir heute etwa den Angriff auf die Ukraine», sagt Maissen. «Also nicht als etwas Gutes, vielleicht sogar als etwas, was Spenden und Empörung provoziert, aber doch als etwas, was so weit weg ist, dass man sich ansonsten nicht stärker engagieren will.»

Wer das nicht einfach hinnehme, sei von moralischen Überzeugungen getragen, die ihn handeln liessen. Solche Überzeugungen habe damals vielleicht eher jemand gehabt, der wie Anton Bühler von allgemeinverbindlichen religiösen Werten ausgegangen sei, als jemand, für den das Überleben der eigenen Nation im Zentrum gestanden habe.

Er suchte Rat bei der Kirche

Hat Anton Bühler also nur deshalb jüdischen Flüchtlingen geholfen, weil er an Gott glaubte? Kaum. Um Flüchtlingshelfer zu werden, brauchte man nicht gläubig zu sein. Aber man konnte. Bühlers Tagebuch gibt jedenfalls Einblick in eine Welt, in der der Katholizismus übermächtig war. Und das zu einem Zeitpunkt, als die Kirche noch den Nationalsozialisten widersprach.

Zumindest ein bisschen. Zumindest in der Schweiz. Und zumindest wussten das jene, die täglich morgens um halb sechs in die Churer Kathedrale zum Gottesdienst gingen wie Anton Bühler. Er suchte dort immer wieder Rat.

Er wollte von den katholischen Würdenträgern wohl den Segen für seine illegale Nächstenliebe: «Nach dem Mittagessen Spaziergang mit Kanzler Dr. Furrer. Emigrantenfrage», schrieb er zwei Monate nach der Grenzschliessung. Und weitere zwei Monate später, im Dezember 1938, als Flüchtlinge noch immer Einlass begehrten: «Längere Unterredung auf der Strasse betr. Emigranten mit Vikar.»

Das Drama hatte bereits im März 1938 begonnen. Viele Österreicher flüchteten vor den Nazis mit der Eisenbahn wie Touristen. Andere benutzten abgeschiedene Bergwege: «Auf dem Büro am Nachmittag wieder einen österreichischen Flüchtling, der über Gravalada hereingekommen ist», notiert Bühler am 4. April 1938.Gemeint ist eine abschüssige Geröllhalde im Unterengadiner Grenzgebiet zu Österreich. «Hinkt stark, da er im Freien übernachtet u. einen Fuss erfroren. Ist Kommunist u. Jude. 18.26 mit Fahrschein nach Basel abgereist.»

Im Mai 1938 lagen in Bern die Nerven blank angesichts des Zustroms jüdischer Flüchtlinge. Der Schweizer Botschafter in Berlin schlug vor, eine Visumpflicht für «nichtarische» Personen einzuführen – obwohl das den rechtsstaatlichen Grundsätzen der Schweiz eigentlich widerspreche, wie er schrieb.

Die Deutschen bevorzugten hingegen den Judenstempel. Sie schlugen vor, alle Pässe mit dem berüchtigten «J» zu stempeln, was vier Monate später umgesetzt wurde. Der Schweizer Botschafter liess in Berlin ausrichten: «Unerwünscht sei überhaupt eine weitere Zuwanderung von österreichischen Juden, auch wenn diese in persönlicher Hinsicht in jeder Beziehung makellos seien und deshalb zu Ausweisungsmassnahmen keinen Anlass geben.»

Zur selben Zeit ging Anton Bühler in Chur an eine «Andacht für den Frieden». Diese hatte der Bischof verordnet, weil hoher Besuch mit schlechten Nachrichten eingetroffen war. Bischof Maximilian Kaller aus Ostpreussen war angekommen. In Kallers Bistum waren Geistliche und Laien von den Nazis verhaftet worden. Anton Bühler beobachtete den Ostpreussen durch das Fenster seiner Wohnung abends beim Spazieren.

Je länger der Sommer 1938 andauerte, desto mehr Flüchtlinge kamen. Die meisten versuchten, im St. Galler Rheintal bei Diepoldsau über die Grenze zu gelangen. Das war dort relativ einfach möglich. «Im Rheintal seien 70 auf einmal hereingekommen», notierte Bühler am 15. August. In Chur kamen gemäss den Tagebuchnotizen zu diesem Zeitpunkt lediglich vier bis sieben Flüchtlinge pro Tag an.

Zwei Tage später bestieg Bühler um 4.08 Uhr den Zug nach Bern. Fremdenpolizeichef Heinrich Rothmund hatte alle Kantone zur «Besprechung der Frage der Flüchtlinge aus Deutsch-Österreich» gerufen. Der berühmte Flüchtlingshelfer Paul Grüninger, Polizeihauptmann aus St. Gallen, sagte an der Sitzung: «Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht.

Wir müssen viele hereinlassen.» Eine vollkommene Abriegelung der Grenze sei unmöglich. Die Vertreter von Basel und Schaffhausen argumentierten ähnlich.

Anton Bühler sagte: «Die Ausführungen von Polizeihauptmann Grüninger sind richtig. Vollständige Abriegelung der Grenze ist einfach unmöglich. Die ersten Flüchtlinge kamen noch im Winter, bei hohem Schnee, über die Berge.» Laut den handschriftlichen Notizen des Protokollführers fügte Bühler an: «Solche Schneetouren unternimmt man nicht ohne Grund zur Flucht!» Bisher seien in Chur 173 Flüchtlinge «vorbeigekommen», die meisten seien nun in Frankreich.

Tags darauf wurden auf Rothmunds Befehl hin die Grenzen dichtgemacht. Das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement forderte die Grenzpolizeiposten per Kreisschreiben auf, alle zurückzuschicken, die kein gültiges Visum hatten. Auch in Graubünden befolgte man den Befehl.

«Hptm. Mäder ist ganz deprimiert u. berichtet mir über die Flüchtlingsrückweisungen», notierte Bühler eine Woche nach der Grenzsperre. Die Härte im Umgang mit den Verfolgten währte jedoch nur kurz. «Am Nachmittag macht mir ein Flüchtling auf dem Büro eine furchtbare Verzweiflungsszene», schrieb Bühler am 26. August. «Bis morgen kommt Rat.»

Offenbar entschied er sich in dieser Nacht, die Grenzschliessung zu missachten. Ab September war im Tagebuch immer wieder von neuen Flüchtlingen die Rede, die einreisen durften. Über einen Mann schrieb Bühler: «Ist ganz verzweifelt. Fragt mich, ob ich an Gott glaube. Rede zu ihm.»

Bühler hielt in den folgenden Wochen immer wieder «Emigranten-Sprechstunden» ab und kümmerte sich persönlich um die Probleme der Flüchtlinge. «Gehe mit ihm in den Konsum Lebensmittel einkaufen, da sie sonst fast nichts zu beissen haben», schrieb er im Oktober über einen «Kommunisten».

Als Flüchtlinge ihre Verwandten nach Martina an der Grenze lotsten, liess Bühler sie ebenfalls einreisen. Michael Samek etwa besuchte Bühler auf dem Büro, um ihm seinen Vater vorzustellen, «der auf der Durchreise nach Palästina» war.

Nach der «Reichskristallnacht» im November versuchten besonders viele Juden zu flüchten. «Alle wollen nach Chur u. haben ihre Fürbitter hier», schrieb Bühler. «In Deutschland vermehrte Judenverfolgung. Die deutsche ‹Kultur› ist momentan ‹subbestialis›. Stinkender Hochmut u. unterviehische Grausamkeit.»

Anton Bühlers Ansichten waren geprägt von seiner unmittelbaren Umgebung, auch das zeigt das Tagebuch. Er wohnte sein Leben lang am katholischsten Ort Graubündens: im Hof Chur. Das bischöfliche Quartier thront auf einem Felssporn wie eine Burg über der Altstadt. Der Hof Chur stand noch bis vor wenigen Jahren im Ruf, eine der letzten Trutzburgen der katholisch-konservativen Schweiz zu sein.

Kathedrale, Bischofssitz, Hofturm und Wohnhäuser stehen auf einer Anhöhe, die durch eine Stiege erklommen werden muss. In den Häusern wohnten damals Pfarrer, Bischofsvikar, Dompropst, Domkantor, Kanzler, Dekan, Hofkaplan oder die Familien von katholischen Gymnasiallehrern, wie Bühlers Vater einer war. Die Kinder der Familien gingen in eine eigene Schule, die Hofschule.

Die katholische Welt war klein. Fiel ein Ministrant aus, klingelte es nachts um halb zehn bei den Bühlers, und ein Bühler-Sohn wurde zur Messe für den nächsten Morgen bestellt. Fuhr der Vikar mit dem Töff weg, wussten alle: Es ging in die Ferien.

Das Leben von Bühler und seiner Familie war von den alltäglichen Freuden und Sorgen jener Zeit geprägt. Wenn die Tochter «am Bein weh» hatte, der Sohn «nicht ganz zwäg» war, kümmerte Anton Bühler sich in der Nacht um sie. Er schnitt seinen Buben die Haare, und wenn ein Kind während des Gottesdienstes «aufs Häfeli» musste, ging er mit ihm unbekümmert raus.

Die Kirche war wichtig, aber nicht unfehlbar. Hatte Bühler keine Lust auf Gottesdienst, schlief er aus. Begann die Eucharistiefeier zu spät, nervte es ihn. Manchmal betete er einen Rosenkranz, manchmal nicht. Von Gott ist im Tagebuch nur selten direkt die Rede.

Im Januar 1939 notierte Bühler über Flüchtlinge, die gerade eingetroffen waren: «Es sind wieder neue da. Armes Volk. Ob nicht Gott durch diese Prüfung wieder vieles zusammenbringt?»

In diesen Tagen wurde Anton Bühler jedoch auch abgebrühter. Eine Drohung mit Selbstmord auf seinem Büro beeindruckte ihn nur noch wenig. Mitte Januar schrieb er über neue Flüchtlinge: «Wann hört das auf?» Am 24. Januar: «Man lässt den letzten Rutsch Flüchtlinge herein.

Von nun an dürfen keine mehr kommen.» Und am Folgetag: «Der letzte Schub Emigranten meldet sich am Abend. Etwas dramatische Szenen.» Danach ist Schluss.

Ab Februar 1939 tauchten im Tagebuch keine Flüchtlinge mehr auf. Ob Anton Bühler Angst vor Konsequenzen hatte? Wir wissen es nicht. Auffällig ist aber, dass Bühler zur gleichen Zeit wie der bekannte Paul Grüninger aufgehört hat, Flüchtlingen zu helfen. In St. Gallen stoppte Rothmund die Hilfsaktion von Paul Grüninger, die viel umfassender war als diejenige von Bühler. Grüninger wurde entlassen und verfemt.

«Wahre Nächstenliebe»

Im April 1939 endet das Tagebuch. Bühler führte seine Notizhefte nicht weiter, sagt seine Familie. Welche Haltung er während des Zweiten Weltkriegs gegenüber Flüchtlingen einnahm, ist nicht überliefert.

Der jüdische Politiker Moses Silberroth aus Davos lobte Anton Bühler jedoch 1939 und auch 1944 für seine Haltung. Bühler und sein Vorgesetzter, der Regierungsrat Luigi Albrecht, seien in ihren Einstellungen gegenüber den Emigranten «von wahrer Nächstenliebe getragen» gewesen, sagte Silberroth im Grossen Rat.

In Graubünden hatten die Flüchtlinge vermutlich Glück, dass Anton Bühler zum Flüchtlingsbeauftragten gemacht wurde und nicht etwa der Bündner Fremdenpolizeichef Jakob Donau. In den Flüchtlingsakten des Staatsarchivs Graubünden, die der Beobachter eingesehen hat, ist dieser als Antisemit zu erkennen.

In den Akten zeigt sich auch, dass es eine Allianz von tendenziell flüchtlingsfreundlichen Grenzkantonen gab. Die Kantone St. Gallen, Graubünden, Basel-Stadt und Schaffhausen tauschten sich immer wieder darüber aus, wie den Flüchtlingen zu helfen wäre. In all diesen Kantonen gab es 1938 Regierungsräte und Beamte, die noch Monate nach der Grenzsperre illegal eingereiste Flüchtlinge aufnahmen. Doch ein Tagebuch, das die Gründe dafür zeigt, ist von keiner dieser Personen überliefert.

Anton Bühler hat 17 Enkelinnen und Enkel hinterlassen. Sie bezeichnen ihn als eine Persönlichkeit. Er sei gläubig, aber nicht frömmlerisch gewesen, sagt Maria Bühler. Und Christian Cajochen, der im Besitz der Tagebücher ist, sagt: «Sein Glaube an Gott und seine Hilfe für Flüchtlinge waren echt. Er war ein gerader und offener Mensch, der sein Licht immer etwas unter den Scheffel gestellt hat.»



1938: Schweiz schliesst die Grenze

Die Flüchtlingswelle

Im letzten Jahr vor dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Schweiz die erste grosse Flüchtlingswelle während der Nazizeit (1933–1945).

Heinrich Rothmund

Der Chef der Eidgenössischen Fremdenpolizei, Heinrich Rothmund, lud im August 1938 zur «Besprechung der Frage der Flüchtlinge aus Deutsch-Österreich». Danach liess er die Grenze schliessen. Rothmund war besessen von der Idee, den Ausländeranteil in der Schweiz zu senken. Er warnte vor einer «Verjudung» und «Überfremdung» der Schweiz. Während des Zweiten Weltkriegs verlangte der Berner Chefbeamte, dass «Flüchtlinge nur aus Rassegründen, z. B. Juden» nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden. Das konnte für sie das Todesurteil sein.

Paul Grüninger

Paul Grüninger war Rothmunds bekanntester Gegenspieler. Der Polizeihauptmann aus St. Gallen widersprach Rothmund an dessen Konferenz 1938: «Die Rückweisung der Flüchtlinge geht schon aus Erwägungen der Menschlichkeit nicht. Wir müssen viele hereinlassen.» Trotz der Grenzschliessung liess Grüninger Hunderte einreisen. Rothmund ging 1939 gegen Grüninger vor. Dieser wurde entlassen und verfemt.

Anton Bühler

Der Bündner Departementssekretär Anton Bühler half in kleinerem Umfang Flüchtlingen. Er sagte an Rothmunds Konferenz: «Die Ausführungen von Polizeihauptmann Grüninger sind richtig. Vollständige Abriegelung der Grenze ist einfach unmöglich. Die ersten Flüchtlinge kamen noch im Winter, bei hohem Schnee, über die Berge.» Gemäss Protokollnotizen fügte er an: «Solche Schneetouren unternimmt man nicht ohne Grund zur Flucht!»
(https://www.beobachter.ch/gesellschaft/holocaust-bundner-chefbeamte-anton-buhler-rettete-juden-vor-den-nazis-einsicht-in-seine-tagebucher-582752)