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+++BERN
Neue Berner Stiftung: «Geflüchtete aus der Ukraine verstehen keine deutsche Gebärdensprache»
Die Beratung für Schwerhörige und Gehörlose Bern (BFSUG) wird seit Donnerstag von der neu gegründeten Stiftung für Menschen mit Hörbehinderung Bern getragen. Mit der Stiftung könne man effizienter auf Herausforderungen reagieren, sagt Stiftungsratspräsident Daniel Häberli. Durch den Ukraine-Krieg erlebte die BFSUG 2022 als ein besonders herausforderndes Jahr.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/gefluechtete-aus-der-ukraine-verstehen-keine-deutsche-gebaerdensprache-150454932
+++AARGAU
aargauerzeitung.ch 10.03.2023
Präsident von Netzwerk Asyl kritisiert: «In Aargauer Unterkünften arbeiten Menschen ohne jegliche Ausbildung»
Die ORS Service AG betreibt im Auftrag des Kantons unter anderem die unterirdischen Asylunterkünfte in Muri und Birmenstorf. Angestellt als Betreuer würden auch Geflüchtete, die kaum Deutsch sprechen und keine Erfahrung haben, sagt Rolf Schmid, der Präsident des Vereins Netzwerk Asyl.
Noemi Lea Landolt
Diese Woche sind in Birmenstorf die ersten Geflüchteten in die unterirdische Asylunterkunft eingezogen. Bis zu 200 Menschen können in der Zivilschutzanlage der Gemeinde untergebracht werden. Es ist nach der GOPS Muri mit 150 Plätzen die zweite unterirdische Notunterkunft, die der Kanton Aargau wegen rekordhoher Flüchtlingszahlen in Betrieb nehmen musste.
Die Betreuung der Menschen in den beiden unterirdischen Unterkünften übernimmt die ORS Service AG. Die Firma ist ein grosser Player im Asylwesen. Sie hat Mandate von Bund, etlichen Kantonen und Gemeinden. Zudem ist die ORS im Ausland aktiv. Im Aargau betreibt sie im Auftrag des Kantons auch die Unterkünfte im Dianapark in Rheinfelden (330 Plätze), im Hotel T8 in Unterentfelden (140 Plätze) und im A3-Werkhof in Frick (150 Plätze).
ORS wollte als einzige Firma das Mandat
Als der Aargau im März 2021 einen Anbieter für die Betreuung in kantonalen Asylunterkünften für den Fall eines grossen Zustroms an Geflüchteten gesucht hat, war die ORS die einzige Firma, die ein Angebot einreichte. Im September 2021 hat sie den Zuschlag für die Jahre 2022 bis 2025 erhalten. Das Departement Gesundheit und Soziales hat der AZ die Ausschreibungsunterlagen von damals zugestellt.
Aus dem 29-seitigen Pflichtenheft geht hervor, was der Kanton von der ORS erwartet. Die ORS hat sich unter anderem verpflichtet, nur fachlich geeignete, zuverlässige, vertrauenswürdige, gewissenhafte sowie unbescholtene Mitarbeitende einzusetzen.
Konkret heisst das, dass die Mitarbeitenden «in der Regel» unter anderem über eine abgeschlossene Schul- und Berufsausbildung, gute Deutschkenntnisse, drei Jahre Berufserfahrung und MS-Office- und Internetanwenderkenntnisse verfügen. Ausserdem müssen sie einen Strafregisterauszug vorlegen und dürfen keine Einträge im Betreibungsregister haben.
Kanton schreibt keinen Betreuungsschlüssel vor
Leitungsperson und Stellvertretung müssen zudem über mindestens zwei Jahre Berufserfahrung im Betreuungsbereich verfügen sowie eine der Führungsverantwortung entsprechende Qualifikation aufweisen. Die in Leitungsfunktionen eingesetzten Mitarbeitenden muss die ORS vor Beginn des Einsatzes dem Kantonalen Sozialdienst vorstellen und von ihm absegnen lassen.
Der Kanton schreibt der ORS keinen bestimmten Betreuungsschlüssel vor. Die Firma müsse «selbst festlegen, welcher Personaleinsatz angemessen ist, um die Aufgaben vollumfänglich und in hoher Qualität zu erfüllen», heisst es im Pflichtenheft.
In der Nacht, an Wochenenden und Feiertagen beschränken sich die Aufgaben auf Interventionen bei Konflikten und Notfällen sowie die Einhaltung der Ordnung. Ausserdem sind die Mitarbeitenden vor Ort Ansprechpersonen gegenüber Blaulichtorganisationen und Mitarbeitenden des Kantonalen Sozialdienstes.
Wissen die Betreuer, was im Ernstfall zu tun ist?
Obwohl die Anforderungen an die Qualifikation des Personals im Pflichtenheft klar umschrieben werden, sieht es in der Praxis offenbar anders aus. Das sagt zumindest Rolf Schmid, Präsident des Vereins Netzwerk Asyl Aargau. Er wirft der ORS Service AG vor, Menschen ohne jegliche Ausbildung oder Vorkenntnisse in der Betreuung anzustellen. Er untermauert diesen Vorwurf mit einem konkreten Beispiel aus seinem Umfeld.
Ein Afghane, Anfang zwanzig, übernehme zusammen mit einem kurdischen Türken die Nachtschichten in einer unterirdischen Unterkunft im Aargau. Unterstützt würden die beiden von einem Ukrainer, der seit wenigen Monaten in der Schweiz lebt. Verständigen könnten sie sich nur schwer, weil alle nur wenig bis kein Deutsch sprechen, sagt Rolf Schmid. Er bezweifelt, dass die drei wissen, was im Ernstfall, zum Beispiel bei einem Brand, einem medizinischen Notfall oder einem groben Konflikt, wirklich zu tun ist.
«Die Situation kann rasch kippen»
Als er seinen Kollegen darauf ansprach, sagte dieser, die Nächte seien ruhig, die meisten Geflüchteten würden einfach schlafen. Für Rolf Schmid ist klar: «Wenn eine Betreuungsperson überzeugt ist, dass Nachtschichten in einer unterirdischen Unterkunft unproblematisch sind, weil alle Geflüchteten am Schlafen sind, zeigt dies, dass sich die Person nicht bewusst ist, dass die Situation auch rasch kippen könnte und es an ihr wäre, zu reagieren.»
Ein Pflichtenheft habe der junge Afghane nicht erhalten, sagt Rolf Schmid. «Was er bekommen hat, ist eine Broschüre über die ORS. In dieser geht es aber nicht konkret um die Gegebenheiten in der Unterkunft.» Schmid betont, es gehe ihm nicht darum, die Betreuenden der ORS pauschal als unfähig oder schlecht zu bezeichnen. In Frick zum Beispiel arbeite er persönlich gut mit der ORS zusammen.
Er findet es auch nicht grundsätzlich schlecht, dass auch Geflüchtete in Asylunterkünften arbeiten. «Es steht und fällt aber damit, wer sonst noch dort arbeitet und ob das qualifizierte Fachpersonen sind.» Ausserdem frage er sich, welche Abklärungen die ORS treffe, bevor sie jemanden anstellt und wie sie sicherstelle, das Bewerberinnen und Bewerber nicht psychisch vorbelastet oder gar traumatisiert sind.
ORS weist die Vorwürfe zurück
Die ORS zeigt sich auf Anfrage der AZ «erstaunt über die vom Netzwerk Asyl geäusserte Kritik». Die Personalsituation sei in den bisherigen Gesprächen nie thematisiert worden. ORS-Sprecher Lutz Hahn schreibt, er sei gerne bereit, mit dem Verein die Personalsituation zu besprechen.
Den Vorwurf, dass Mitarbeitende mit Migrationshintergrund Verständigungsprobleme haben könnten, weist der Sprecher zurück. «Bisher sind uns aufgrund des Migrationshintergrunds der Mitarbeitenden keine Fälle von Fehlverhalten oder Sprachproblemen bekannt.»
Mitarbeitende, die als Quereinsteiger die bestehenden Teams verstärkten und teils selbst Fluchterfahrung mitbrächten, könnten sich sehr gut in die Situation der Menschen einfühlen, die in den Unterkünften leben, schreibt Hahn.
Betreuer arbeiten mit Checklisten
Die Anzahl Betreuungspersonen sei abhängig von den Belegungszahlen und zusätzlich je nach Standort von der Unterstützung durch den Zivilschutz und extra aufgebotenem Sicherheitspersonal, schreibt Hahn. «In der Regel sind mindestens zwei Betreuungspersonen im Dienst.» Die Mitarbeitenden arbeiteten mit Checklisten, und die zu erledigenden Aufgaben seien in einem Pflichtenheft festgehalten.
Alle neuen Mitarbeitenden würden durch das firmeninterne Schulungsteam aus- und weitergebildet. In «Starterkursen» würden sie unter anderen zu den Themen Brandschutz, Erste Hilfe oder Konfliktmanagement geschult.
Für Notfälle sei eine Meldekette definiert. Vorgesetzte seien auch ausserhalb der Bürozeiten immer erreichbar. «Sie beraten und sind im Notfall innert kürzester Zeit vor Ort», so Hahn. Bei akuten Notfällen würden Blaulichtorganisationen aufgeboten.
Kanton ist zufrieden mit der ORS
Pia Maria Brugger Kalfidis, Co-Leiterin des Kantonalen Sozialdienstes (KSD), schreibt auf Anfrage der AZ, die ORS erfülle die in der Ausschreibung geforderten Standards. Der Kantonale Sozialdienst sei «sehr zufrieden mit der Leistungserbringung». Brugger bezeichnet die ORS «als verlässliche Partnerin, die den KSD auch bei der teils sehr kurzfristigen Inbetriebnahme weiterer Unterkünfte jederzeit flexibel entlastet und unterstützt hat».
Auf Rolf Schmids Vorwürfe entgegnet auch Brugger, dass der Verein Netzwerk Asyl bisher keine Bedenken bezüglich des eingesetzten Personals an den Kantonalen Sozialdienst herangetragen habe.
Für die Personalrekrutierung sei die ORS verantwortlich, negative Reaktionen von Bewohnenden gebe es kaum. Ausserdem würden neue Mitarbeitende von erfahrenen Kollegen begleitet und eingearbeitet. «Die Prozesse und Verhaltensregeln bei Notfällen sind allen Mitarbeitenden bekannt», schreibt Brugger. «Die Kommunikation erfolgt auf allen Ebenen korrekt und ohne Verständigungsprobleme.»
15 Prozent des Personals in UMA-Unterkünften hat Fluchthintergrund
Der Kantonale Sozialdienst stellt in den Asylunterkünften, die er selbst betreibt, ebenfalls Betreuungspersonen an, die selber geflüchtet sind. In den Erwachsenenunterkünften haben ungefähr fünf Prozent der Betreuungspersonen einen Fluchthintergrund. In den Unterkünften für unbegleitete Minderjährige (UMA) sind es 15 Prozent.
Die Personen haben laut Brugger Deutschkenntnisse mit Level B2 bis C1 oder erreichten diese Levels zeitnah. Viele der Betreuungspersonen hätten einen akademischen Hintergrund und in der Regel in der Schweiz eine Ausbildung abgeschlossen.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/asylnotlage-praesident-von-netzwerk-asyl-kritisiert-in-aargauer-unterkuenften-arbeiten-menschen-ohne-jegliche-ausbildung-ld.2425359)
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Integration im Kanton Aargau: Wie schaffen es vorläufig aufgenommene Asylbewerber, einen Job zu finden? (ab 01:43)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/sanierung-strassenverkehrsamt-schon-vor-spatenstich-viel-teurer?id=12349237
Wegen geplanter Flüchtlingsunterkunft in Windisch AG: Kanton will den gekündigten Mietern einen Anwalt zahlen
Die Mieterinnen und Mieter der drei Liegenschaften in Windisch AG, denen gekündigt wurde und in deren Wohnungen Asylbewerber einziehen sollen, schütteln nur noch den Kopf. Schon wieder haben sie Post vom Kanton erhalten – und was für welche.
https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/aargau/wegen-geplanter-fluechtlingsunterkunft-in-windisch-ag-kanton-will-den-gekuendigten-mietern-einen-anwalt-zahlen-id18384758.html
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/baden-brugg/kanton-will-jetzt-den-gekuendigten-mietenden-einen-anwalt-bezahlen-150466953?autoplay=true&mainAssetId=Asset:150368129
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aargauerzeitung.ch 10.03.2023
Kanton übernimmt die Kosten: Anwaltsbüro soll gekündigten Mietern von Windisch helfen
Der Kantonale Sozialdienst hat eine Anwaltskanzlei als Anlaufstelle für Betroffene in Windisch eingesetzt. Die Anwälte sollen ihre Anliegen prüfen, diese mit Hausbesitzer und Kanton koordinieren und gemeinsame Lösungen suchen. Rechtlich vertreten werden die beauftragten Anwälte die Mieterinnen und Mieter hingegen nicht.
Fabian Hägler
Mindestens elf Mieterinnen und Mieter haben die Kündigung ihrer Wohnungen in Windisch angefochten. Ihnen wurde gekündigt, weil der Besitzer die Häuser abreissen und der Kanton diese bis zum Start eines Neubaus als Asylunterkunft für 70 minderjährige Flüchtlinge nutzen will. Ausgesprochen wurden Kündigungen für 49 Personen, für einige per Ende Juni, für andere per Ende September.
In einem Brief versprach der Kanton vor einer Woche, eine Anlaufstelle für die Bewohner der Häuser zu schaffen. Dies ist inzwischen passiert, wie Pia Maria Brugger Kalfidis, Leiterin des Kantonalen Sozialdienstes (KSD), auf Anfrage bestätigt. Der KSD übernimmt diese Aufgabe jedoch nicht selber, sondern hat eine Anwaltskanzlei in Baden damit beauftragt, wie er den Mieterinnen und Mietern am Mittwoch per Brief mitteilte.
Mieterin bezeichnet Auftrag für Anwaltsbüro als grotesk
Eine Rechtsanwältin und zwei Anwälte «prüfen Ihre Anliegen, koordinieren diese mit der Vermieterin und dem Kantonalen Sozialdienst und versuchen, Lösungen zu finden», heisst es in dem Schreiben an die Betroffenen. Die Kosten für die Arbeit der Anwälte trägt gemäss dem Brief der Kantonale Sozialdienst. Dies sorgte bei einer betroffenen Mieterin für Unverständnis, wie der «Blick» berichtet.
Julia Adams sagt gegenüber der Zeitung, der Vorgang sei grotesk: «Zuerst kündigt uns der Eigentümer, damit der Kanton hier eine Asylunterkunft eröffnen kann. Und jetzt zahlt der Kanton uns einen Anwalt, damit dieser gegen seine eigenen Interessen vorgehen kann.» Pia Maria Brugger Kalfidis vom Kantonalen Sozialdienst widerspricht: «Die beauftragten Anwälte der Anlaufstelle vertreten weder die Interessen der Vermieterschaft noch der Mieterschaft und auch nicht jene des Kantons Aargau.»
Anwälte werden Mieterinnen nicht juristisch vertreten
Die Stelle stehe den Mietparteien zur Verfügung, um Fragen zu beantworten und Vorschläge zu erarbeiten. Diese sollen Vermieterschaft und Mieterschaft dienen, eine gemeinsame Lösung zu finden, wie Brugger Kalfidis sagt. Man habe ein Anwaltsbüro mit mietrechtlichen Kompetenzen ausgewählt, «um dafür zu sorgen, dass die gestellten Fragen der Mietparteien bestmöglich beantwortet werden können».
Zugleich werde die Anlaufstelle den Mietparteien auch mögliche Kontaktstellen nennen, «wo allenfalls alternative Objekte gemietet werden können», teilt die Sozialdienst-Leiterin mit. Nach der Anfechtung der Kündigungen könnte es aber auch zu Gerichtsverfahren kommen. Würde die vom Sozialdienst bezahlte Kanzlei dann für betroffene Mieter gegen den Kanton klagen?
«Nein», sagt Brugger Kalfidis, «sie wird zu keiner Zeit irgendeine der involvierten Parteien vertreten». Die Anlaufstelle sei neutral und unterstütze die Lösungsfindung zwischen Vermieterschaft und Mieterschaft, ergänzt Brugger Kalfidis. Letztlich kann eine Einigung auch nur zwischen diesen beiden Parteien erzielt werden, die miteinander den Mietvertrag geschlossen haben.
Gallati am runden Tisch mit dem Gemeinderat Windisch
Am Donnerstag traf sich eine Vertretung des Gemeinderats und der Gemeindeverwaltung Windisch mit Regierungsrat Jean-Pierre Gallati und Vertretern des Kantonalen Sozialdiensts im Rahmen eines runden Tisches. «In einem konstruktiven Austausch konnten kritische Fragen der Gemeinde geklärt werden», heisst es in einer Mitteilung dazu.
Zudem sei ein Ausblick auf die künftige Nutzung der Liegenschaft für rund 70 unbegleitete Minderjährige aus dem Asylbereich (UMA) erfolgt. Besprochen wurde auch der geplante Einsatz einer Begleitgruppe mit Vertretungen der Gemeinde, des Kantonalen Sozialdiensts, der Nachbarschaft, der Polizei und der Koordinationsstelle Freiwilligenarbeit.
«Während des Gesprächs konnte eine gute Grundlage für die weitere Zusammenarbeit zwischen der Gemeinde und dem Kanton geschaffen werden», heisst es in der Mitteilung. Der Gemeinderat werde das Projekt Asylunterkunft weiterhin intensiv begleiten «und sich für bestmögliche Lösungen einsetzen, welche die Bedürfnisse der Windischer Bevölkerung berücksichtigen».
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/konflikt-kanton-uebernimmt-die-kosten-anwaltsbuero-soll-gekuendigten-mietern-von-windisch-helfen-ld.2427625)
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Asylchaos oder skrupelloser Immobilienspekulant? Der Fall Windisch wird ganz unterschiedlich wahrgenommen. (ab 11:04)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/mehr-geld-fuer-die-bauern-bei-einer-enteignung?id=12349354
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aargauerzeitung.ch 10.03.2023
Gemeinde wehrt sich gegen Asylunterkunft im Dorfzentrum: «Leisten schon einen wesentlichen Beitrag»
Der Kanton plant, die unterirdische Sanitätsnotstelle im Spital und Pflegeheim in Leuggern für einen Bezug durch Asylsuchende vorzubereiten. Der Gemeinderat ist damit nicht einverstanden.
Daniel Weissenbrunner
Erst Anfang dieser Woche wurde die Zivilschutzanlage in Birmenstorf als Flüchtlingsunterkunft in Betrieb genommen. Die unterirdische Unterkunft in einer Zivilschutzanlage soll Platz für bis zu 200 Flüchtlinge bieten. Im Moment wohnen 16 Menschen in der Unterkunft. Dass der Kanton die Gemeinde in die Pflicht nahm, in der Nähe des Schulgeländes alleinreisende Männer unterzubringen, sorgte in der Bevölkerung für viel Unmut. Aarau und Lenzburg, die Platz für rund 300 Personen bieten, werden bei Bedarf folgen.
In einer zweiten Phase sind die Sanitätsnotstellen von Gränichen, Oftringen, Obersiggenthal und Leuggern für die Bereitstellung von Plätzen vorgesehen. In der Zurzibieter Gemeinde regt sich wie in den anderen Gemeinden nun Widerstand gegen die Pläne des Kantons. In dieser Woche fand ein erstes Gespräch mit Stephan Müller, Leiter Sektion Betreuung Asyl, drei Mitgliedern der Führungsunterstützung, dem Teilstab Ukraine sowie der Zivilschutzorganisationen Zurzibiet (ZSO) und dem Gemeinderat statt.
Derzeit sind bereits 40 Asylsuchende in Felsenau
«In diesem Gespräch hat eine Delegation des Gemeinderates seine Bedenken gegenüber der Platzierung von Asylbewerbern in der geschützten Sanitätsnotstelle von Leuggern ausgesprochen», sagt Frau Ammann Susanne Keller (parteilos) auf Anfrage. Zur Sprache seien Themen wie Schulstandorte, Schulweg, Spital mit Alters- und Pflegeheim gekommen.
«Ebenso haben wir auf die bereits bestehende kantonale Asylunterkunft in Felsenau hingewiesen», sagt Keller. In den Räumlichkeiten des ehemaligen Hotel-Restaurants Bahnhof im Leuggemer Ortsteil sind aktuell rund 40 Personen untergebracht. Die Gemeinde leiste hier schon einen wesentlichen Beitrag, sagt Susanne Keller.
Dass im Zentrum von Leuggern nun eine Notunterkunft mit bis zu 150 Personen eröffnet werden soll, erachte der Gemeinderat als unverhältnismässig und ungeeignet. «Der Gemeinderat hat sich klar gegen die Belegung der Sanitätsnotstelle in Leuggern ausgesprochen», so Keller weiter.
Gemeinderat versucht, Unterkunft zu verhindern
Dem Gemeinderat sei es leider nicht möglich, die Aufforderung der Platzierung von Asylbewerbern in der Sanitätsnotstelle abzulehnen, sagt Ammann Keller. Mit dem Erlass der Notverordnung kann der Regierungsrat die Gemeinden dazu verpflichten. «Der Gemeinderat wird alles im Rahmen seiner Möglichkeiten unternehmen, dass aus den genannten Gründen die Sanitätsnotstelle unterhalb des Spitals und Pflegeheims nicht als Notunterkunft durch den Kanton betrieben wird», verspricht die Gemeindevorsteherin.
Falls diese dann doch vom Kanton aufgenommen werde, werde sich der Gemeinderat für eine dialogfähige Lösung einsetzen und so weit wie möglich mitgestalten. «In einem nächsten Schritt wird die Umgebung in Augenschein genommen. Dabei sollen die lokalen Gegebenheiten betrachtet werden», sagt Susanne Keller. Die hier platzierten Menschen würden unterirdisch wohnen und müssten sich auch bewegen können. «Daher müssen wir auch abklären, was die Situation für die Infrastruktur im Dorf bedeuten würde», so Ammann Keller.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/zurzibiet/leuggern-gemeinde-wehrt-sich-gegen-asylunterkunft-fuer-bis-zu-150-personen-im-dorfzentrum-wir-leisten-schon-einen-wesentlichen-beitrag-ld.2427630)
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aargauerzeitung.ch 10.03.2023
In Aargauer Asylunterkünften wird es eng: Zwei Toiletten und zwei Duschen für bis zu 21 Personen
Ahmed* aus Afghanistan lebt in einer kantonalen Asylunterkunft in Windisch. Als er eingezogen ist, hatte er das Zimmer für sich. Nun befürchtet er, dass er es bald mit zwei Personen teilen muss. Der 19-Jährige macht sich Sorgen, ob er so eine Lehre schaffen kann.
Noemi Lea Landolt
Im letzten Jahr hat der Bund dem Kanton Aargau mehr als 7700 Geflüchtete zugewiesen. Im Januar hat der Regierungsrat die Asylnotlage ausgerufen. Dass immer mehr Menschen in der Schweiz Schutz suchen, spüren auch jene, die schon länger hier leben.
Zum Beispiel Ahmed (Name geändert). Der 19-Jährige ist aus Afghanistan geflüchtet. Im Mai 2021 hat er in der Schweiz ein Asylgesuch gestellt. Er wurde vorläufig aufgenommen. Seit Anfang Januar 2022 lebt er in einer kantonalen Asylunterkunft in Windisch, einem einfachen Holzbarackenbau mit sieben Zimmern.
Als Ahmed eingezogen ist, hatte er ein Zimmer für sich alleine. Inzwischen sind in jedem Zimmer zwei Geflüchtete untergebracht. Das dritte Bett steht schon im Zimmer. Wann der neue Mitbewohner einzieht, weiss Ahmed nicht. «Aber er kommt sicher. Sonst hätten sie das Bett nicht gebracht.»
Stau im Bad und in der Küche
Was Ahmed erlebt, nennt der Kantonale Sozialdienst «Verdichtung». Es ist eine Strategie, um in der angespannten Situation in bestehenden Unterkünften mehr Menschen unterzubringen. Für den 19-Jährigen bedeutet es vor allem eines: Stress.
Die jungen Männer müssen nicht nur das Zimmer teilen, sondern auch in der Küche und im Bad aneinander vorbeikommen. In der Küche stehen zwei Kochherde. Im Bad hat es zwei Toiletten und zwei Duschen. Ahmed sagt: «Es gibt viel Stau. Vor allem am Morgen, weil viele zur selben Zeit zur Schule müssen.»
Ahmed besucht die Kantonale Schule für Berufsbildung in Aarau. Diesen Sommer will er eine Lehre anfangen. Derzeit ist er auf Stellensuche. Er hat bereits als Hochbauzeichner geschnuppert, aber er könnte sich auch vorstellen, im Gesundheitswesen zu arbeiten. «Als Kind habe ich davon geträumt, Ingenieur oder Arzt zu werden», sagt er.
Neben dem Bett hängt eine Deklinationstabelle
Obwohl Ahmed noch keine zwei Jahre in der Schweiz lebt, kann er sich mühelos auf Deutsch verständigen. Er habe viel mit Youtube-Videos gelernt. Und er führt ein Voci. Stolpert er über ein Wort, das er nicht kennt, schreibt er es in sein Notizbuch und übersetzt es später in seine Muttersprache Paschtu. An der Wand über seinem Bett hängt eine Deklinationstabelle. An Ehrgeiz und Motivation fehlt es dem jungen Mann nicht. «Das Wichtigste ist, dass man ein Ziel hat», sagt er.
Im Moment fällt es ihm aber schwer, sich auf dieses Ziel zu konzentrieren und zu lernen. Er findet in der Unterkunft keine Ruhe. Früher habe er sich ins Zimmer zurückziehen können. Seit er das Zimmer teilen muss, sei das schwieriger geworden. Ein Lernzimmer hat es in der Unterkunft nicht. Und im Zimmer steht nur ein kleiner Tisch. Der zweite musste weichen, als das dritte Bett gebracht wurde.
Die Unterkunft in Windisch ist zwar ausgelegt auf junge Erwachsene wie Ahmed. Es gibt ein Coaching. Das heisst: Mehrmals pro Woche ist jemand vor Ort, der die Geflüchteten bei der Lehrstellensuche unterstützt oder bei anderen Themen, bei denen sie Hilfe brauchen. Das helfe, sagt Ahmed. «Aber wir brauchen mehr als Coaching.»
Einige seiner Kollegen hätten entschieden, keine Lehre zu machen. «Sie haben eine Arbeit gesucht, damit sie mehr Geld verdienen und in eine Wohnung oder ein Zimmer ziehen können.» Ahmed sagt, er wolle immer noch eine Lehre absolvieren. «Ich kann es schaffen, aber ich brauche Möglichkeiten.»
Sozialdienst versucht, Lehrabbrüche zu vermeiden
Stephan Müller, Leiter Sektion Betreuung Asyl beim Kanton, teilt mit, es gebe vereinzelt Rückmeldungen, wenn ein Abbruch einer Lehre oder einer Schule drohe. «Der Kantonale Sozialdienst sucht in diesen Fällen individuell nach Lösungen, um Lehrabbrüche zu vermeiden.»
Wenn es die Struktur einer Unterkunft zulasse, werde ein Lern- oder Ruheraum zur Verfügung gestellt. «Grundsätzlich werden Unterkünfte für junge Menschen in Ausbildung tiefer belegt, um dem Bedürfnis nach Ruhe zu entsprechen», hält er fest. Leider seien aber die Auswirkungen des aktuellen Unterbringungsnotstandes in allen Unterkünften spürbar.
Müller ist sich bewusst, dass die Verdichtung für die Betroffenen nicht ideal ist. «Die Bewohner spüren die grössere Auslastung selbstverständlich.» Die Betreuung vor Ort versuche, die ausserordentliche Situation zu erklären und appelliere an die Solidarität der Bewohner. Aber Spannungen und Unmut gehören dazu: «Diese sind jeweils beim Start von Verdichtungsmassnahmen am ausgeprägtesten», so Müller.
Er betont, bisher habe in Windisch die Verdichtung auf Dreibettzimmer verhindert werden können. Gleichzeitig weist er darauf hin, dass die Unterkunft seit Jahren mit einer Bettenkapazität von 20 Personen betrieben wurde. Erst seit sie als Unterkunft für Lernende genutzt wird, sei die Kapazität auf 14 Personen reduziert worden, um dem Platz- und Ruhebedürfnis Rechnung zu tragen. Die Anzahl Duschen und Toiletten sei bei einer Belegung mit 20 Personen immer ausreichend gewesen.
Ahmed würde trotzdem am liebsten aus der Unterkunft ausziehen – in ein WG-Zimmer, ein Studio oder zu einer Familie. Einfach an einen Ort, an dem er sich auf seine Ausbildung konzentrieren kann. «Das wäre sehr toll für mich.»
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Asylsozialhilfe wird nicht an Teuerung angepasst
Ende Februar hat der Regierungsrat informiert, dass die Sozialhilfeansätze per 1. Mai an die Teuerung angepasst werden. Für einen Einpersonenhaushalt steigt der Grundbedarf von monatlich 1006 auf 1031 Franken. Die Asylsozialhilfe hingegen wird nicht an die Teuerung angepasst.
Schutzsuchende aus der Ukraine, Asylsuchende und vorläufig Aufgenommene erhalten weiterhin 9 Franken pro Tag und Person. Pia Maria Brugger, Co-Leiterin des Kantonalen Sozialdienstes sagt, aufgrund der Budget-Beratung im Grossen Rat im November 2022 sei – anders als in den Kantonen Solothurn und Luzern – keine Teuerungsanpassung bei der Asylsozialhilfe vorgenommen worden.
Die Mehrheit der Grossrätinnen und Grossräte hatte damals einen Antrag der linken Ratshälfte abgelehnt, die Asylsozialhilfe von 9 auf 11 Franken zu erhöhen. (nla)
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/asyl-in-aargauer-asylunterkuenften-wird-es-eng-zwei-toiletten-und-zwei-duschen-fuer-bis-zu-21-personen-ld.2421824)
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+++LUZERN
Ruswil: Unklarheiten betreffend der temporären Asylunterkunft
Die Plätze sind knapp und die Leute, die sie brauchen werden immer mehr. Im luzernischen fehlen im Asylwesen mehrere hundert Schlafplätze. Der Kanton hat deshalb im letzten November die Asyl-Notlage ausgerufen. Dadurch ist es dem Kanton nun möglich Zivilschutzanlagen in den Gemeinden zu temporären Unterkünften umzufunktionieren. Ein Prozess, der sich für die Gemeinden als nicht ganz einfach herausstellt.
https://www.neo1.ch/artikel/ruswil-unklarheiten-betreffend-der-temporaeren-asylunterkunft
+++NEUENBURG
Überbelegung und Kriminalität beim Bundesasylzentrum Boudry – Schweiz Aktuell
Ausgelegt ist es für 480 Personen, und doch leben zeitweise über 700 Personen im grössten Bundesasylzentrum der Schweiz im neuenburgischen Boudry. Anwohnende berichten von Diebstählen, Einbrüchen und Belästigungen. Die Politik verspricht Besserung.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/ueberbelegung-und-kriminalitaet-beim-bundesasylzentrum-boudry?urn=urn:srf:video:cb8030d3-68f7-4ea9-a974-fe84437afbcb
+++SCHWEIZ
Auswertung von Datenträgern im Asylverfahren: Eröffnung der Vernehmlassung
Künftig kann das Staatssekretariat für Migration (SEM) Daten auf Handys oder Computern auswerten, wenn die Identität, die Nationalität oder der Reiseweg von Asylsuchenden nicht anders festgestellt werden können. Das hat das Parlament 2021 beschlossen. An seiner Sitzung vom 10. März 2023 hat der Bundesrat die Vernehmlassung zu den für die Umsetzung notwendigen Verordnungsanpassungen eröffnet.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-93634.html
-> https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/208173/
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/fehlende-ausweispapiere-bund-braucht-mehr-personal-fuer-handyauswertung-von-asylsuchenden
-> https://www.watson.ch/schweiz/migration/214503700-bund-braucht-mehr-personal-fuer-handyauswertungen-von-asylsuchenden
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/bund-braucht-mehr-personal-fur-handyauswertungen-von-asylsuchenden-66443136
+++ITALIEN
Italien will härter gegen Schlepper vorgehen – Rendez-vous
Italien will Flüchtlings-Schlepper künftig mit bis zu 30 Jahren Gefängnis bestrafen. Mit einem entsprechenden Gesetzesentwurf reagiert die Regierung von Giorgia Meloni auf das Flüchtlingsdrama, bei dem vor knapp zwei Wochen 72 Migrantinnen und Migranten vor der Küste Kalabriens ertrunken sind.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/italien-will-haerter-gegen-schlepper-vorgehen?partId=12349267
For the implementation of freedom of correspondence with the outside world and provision of a Wi-Fi network at the Lampedusa hotspot
We are organizations that for years have been involved in search and rescue at sea, in struggles for the rights of people on the move and the creation of support infrastructures and solidarity with migrants.
https://alarmphone.org/en/2023/03/09/for-the-implementation-of-freedom-of-correspondence-with-the-outside-world/
Juristische Analyse zu Kroatien: SFH beurteilt aktuelle Praxis der Schweiz kritisch
Kroatien verstösst mit illegalen Push-Backs und der Anwendung von Gewalt gegen Schutzsuchende gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen. In der juristischen Analyse vom Februar 2023 gibt die Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) einen Überblick über die aktuelle Praxis der Schweizer Asylbehörden und des Bundesverwaltungsgerichts (BVGer) zu Kroatien. Die SFH bewertet diese kritisch und rät seit längerer Zeit von Überstellungen nach Kroatien ab.
https://www.fluechtlingshilfe.ch/publikationen/news-und-stories/juristische-analyse-zu-kroatien-sfh-beurteilt-aktuelle-praxis-der-schweiz-kritisch
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nzz.ch 10.03.2023
Migrationspolitik: Der Druck auf Italien wächst
Die Migrationszahlen steigen weiter, doch in der EU dreht sich die Debatte um bessere Asylverfahren im Kreis. In der Kritik steht Italien, das ankommende Migranten nur noch in Richtung Norden durchwinkt. Auch die Schweiz hat eine Erklärung unterzeichnet, um Rom an seine Pflichten zu erinnern.
Daniel Steinvorth, Brüssel
Nur wenige Kilometer liegen zwischen dem Petit Château, einem Aufnahmezentrum für Migranten in Brüssel, und dem Justus-Lipsius-Gebäude, der Zentrale des Europäisches Rates.
Wer wollte, konnte an dem einen Ort über mehrere Monate das Scheitern der europäischen Asylpolitik besichtigen. Hunderte von obdachlosen Migranten hatten vor dem «Kleinen Schloss» bei winterlichen Temperaturen eine Zeltstadt errichtet. Sie fanden sonst keinen Platz zum Schlafen. Erst als die Zustände unhaltbar geworden waren, räumte die Polizei diese Woche das Lager.
An dem anderen Ort beraten die Vertreter der EU-Staaten und des Schengen-Raums seit Jahren, wie man es anstellt, dass Migranten erst gar nicht in die Lage geraten, in einem europäischen Land wild zu campieren. Sie diskutieren darüber, wie Asylsuchende von der Flucht abgehalten werden können. Wie sie innerhalb der EU verteilt werden sollten (wenn sie denn lebend auf dem Kontinent ankommen). Und wie sie wieder zurückgeführt werden können, wenn sie kein Bleiberecht besitzen.
Ungesteuerte Sekundärmigration
In der Regel drehen sich diese Brüsseler Migrationsgipfel hoffnungslos im Kreis, weil die Mitgliedstaaten bei den Fragen um das richtige Asylverfahren und den richtigen Grenzschutz selten auf einen gemeinsamen Nenner kommen. Dabei hatte man sich beim letzten Treffen der Innenminister immerhin im Grundsatz darauf verständigen können, mehr Druck auf die Herkunftsländer auszuüben, wenn sich diese bei der Rückführung abgelehnter Asylbewerber unkooperativ zeigen.
Beim jüngsten Ministertreffen, bei dem zum ersten Mal auch die neue Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider für die Schweiz teilnahm, war eine härtere Nuss zu knacken. Es ging um die Frage der sogenannten Sekundärmigration, die vielen Schengen-Staaten Sorge bereitet.
Der Begriff bezeichnet das rasche Weiterziehen von Migranten von einem europäischen Land in ein anderes – was nach den geltenden Dublin-Regeln eigentlich nicht vorkommen sollte. Schliesslich müssen sich die Erstaufnahmeländer um die Asylverfahren kümmern. Die aber scheinen sich kaum noch dafür zuständig zu fühlen.
Die Dublin-Verordnung funktioniere nicht mehr, beschwerte sich am Donnerstag der französische Innenminister Gérald Darmanin. Sie sei quasi tot, so hatte im Januar schon der niederländische Ministerpräsident Mark Rutte geklagt, in dessen Land derzeit ebenfalls Tausende von Asylbewerbern vor der Obdachlosigkeit stehen.
In einer gemeinsamen Erklärung forderten Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, die Niederlande, Österreich und die Schweiz im Vorfeld des Ministertreffens eine «wirksame Eindämmung unkontrollierter Migrationsbewegungen». Das Dublin-System müsse wieder gestärkt werden, heisst es in dem Schreiben; nicht zuletzt, um das «schwindende Vertrauen der Öffentlichkeit in europäische Lösungen» zu retten.
Meloni im Visier
Vor allem Italien sollte sich davon angesprochen fühlen. Die sieben Länder brauchten Rom nicht beim Namen zu nennen, denn der Vorwurf, dass die Regierung von Giorgia Meloni das Dublin-System faktisch aufgelöst habe, steht schon lange im Raum. Auch in der Schweiz wird registriert, dass Italien ankommende Migranten quasi nur noch gegen Norden durchwinkt und Anfragen zur Rückübernahme ignoriert.
In Italien, aber auch in Griechenland, Spanien und anderen Mittelmeerstaaten schiebt man den schwarzen Peter zurück. Man werde mit dem Migrationsdruck an der Aussengrenze alleingelassen, tönte es aus Rom; die Länder im Norden müssten sich solidarischer bei der Verteilung von Flüchtlingen zeigen. Trotz höflich ausgetauschten Argumenten war man sich denn auch in Brüssel schnell einig, nicht einig zu sein.
Die Innenminister schworen am Donnerstag stattdessen erneut, den sogenannten Pakt für Asyl und Migration der EU-Kommission bald umzusetzen. Bis jetzt ist dieser Plan, der die Dublin-Regeln umfassend erneuern soll, allerdings ein Ladenhüter. Die Vorschläge, es den Staaten beispielsweise selbst zu überlassen, Migranten aufzunehmen oder sich durch «Rückführungspatenschaften» nützlich zu machen, stossen auf geteiltes Interesse.
Baume-Schneider, die betonte, bei ihrem ersten Migrationstreffen «sehr nett» von ihren Amtskollegen empfangen worden zu sein, stimmte in den allgemeinen Zweckoptimismus ein, der noch nach jedem Brüsseler Gipfel zu hören war. Sie habe, sagte sie, bei den Beratungen einen starken Willen zu Reformen gespürt.
(https://www.nzz.ch/international/migrationspolitik-der-druck-auf-italien-waechst-ld.1729721)
+++GROSSBRITANNIEN
Migration über Ärmelkanal: Großbritannien zahlt für Internierungslager Millionen an Frankreich
Um die Migration über den Ärmelkanal zu verhindern, will Großbritannien Migranten in Unterkünften festhalten und abschieben. Ein neues Lager soll in Frankreich entstehen.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-03/migration-aermelkanal-grossbritannien-frankreich-zahlungen
-> https://www.srf.ch/news/international/grossbritannien-frankreich-sunak-und-macron-sagen-der-illegalen-migration-den-kampf-an
+++EUROPA
Das Ende vom Flüchtlingsschutz in Europa? Die Gefahr von »sicheren Drittstaaten«
Das, wovon u.a. Jens Spahn bei »Hart aber Fair« träumt, ist für viele Schutzsuchende in Griechenland schon bittere Realität: Ihr Asylantrag wird abgelehnt, weil die Türkei für sie sicher sei – obwohl diese ihnen keinen Schutz bietet. Die Erfahrungen zeigen: Das Konzept von »sicheren Drittstaaten« ist brandgefährlich für den Flüchtlingsschutz.
https://www.proasyl.de/news/das-ende-von-fluechtlingsschutz-in-europa-die-gefahr-von-sicheren-drittstaaten/
++++GASSE
Mit wenigen Klicks zu Opioiden – 10vor10
Fentanyl, Methadon, Codein, Oxycodon: Immer mehr Jugendliche sind in der Schweiz süchtig nach den starken Schmerzmitteln. Recherchen von «SRF Investigativ» zeigen, wie einfach diese Opioide im Internet zu kaufen sind.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/mit-wenigen-klicks-zu-opioiden?urn=urn:srf:video:5c3d6880-2643-42ea-986c-749f897e9ec5
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
BASEL:
-> https://twitter.com/BajourBasel
-> https://twitter.com/BaselBlock
-> https://twitter.com/RaimondLueppken
Eymann steht hinter Polizeikommandant und verteidigt Einsatz
Die Basler Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann hat am Freitag den Polizeieinsatz während einer Frauen-Demonstration verteidigt. Sie betonte zudem, dass sie hinter Polizeikommandant Martin Roth steht. Linke Parteien hatten Roths Rücktritt gefordert. Bürgerliche lobten den Einsatz. (ab
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/eymann-steht-hinter-polizeikommandant-und-verteidigt-einsatz?id=12349339
-> https://www.baseljetzt.ch/basler-sicherheitsdirektorin-verteidigt-polizeieinsatz-an-demo/29024
-> https://www.20min.ch/story/wenn-die-polizei-angefeindet-wird-ist-die-eskalationsstufe-vorgegeben-874682873324
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/frauendemo-in-basel-nach-ruecktrittsforderung-basler-polizei-weist-vorwuerfe-zurueck
Polizeikommandant Roth: «Ich verfolge meinen Sicherheitsauftrag weiterhin so, wie es von mir verlangt wird»
Nach dem Polizeieinsatz an der unbewilligten Demo am Weltfrauentag fordert das linke Lager den Rücktritt des Kommandanten der Kantonspolizei. Der Einsatz sei unverhältnismässig gewesen. Nun wehrt er sich.
https://www.baseljetzt.ch/polizeikommandant-roth-ich-verfolge-meinen-sicherheitsauftrag-weiterhin-so-wie-es-von-mir-verlangt-wird/29040
-> https://video.telebasel.ch/content/4062/4063/205373/index.html
-> https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/demonstrationen-nach-forderung-zum-ruecktritt-basler-polizeikommandant-martin-roth-wehrt-sich-ld.2427839
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Basler Zeitung 10.03.2023
Demonstration zum Frauentag: Sechs Worte machten den Unterschied
Bei Demonstrationen beobachtet die Polizei im Vorfeld genau, wie zum Protest aufgerufen wird. So auch am vergangenen Mittwoch.
Mirjam Kohler
Das Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) Basel-Stadt wollte am Freitag über seine geplanten Lohnzulagen sprechen. Das Interesse an einem anderen Thema war bei den anwesenden Journalistinnen und Journalisten mindestens genauso gross: der Demonstration vom Mittwoch und dem Polizeieinsatz dazu. Dieser sorgte auf linker Seite für Unmut. Gewerkschaften und linke Parteien forderten den Rücktritt des Polizeikommandanten.
JSD-Chefin und Regierungsrätin Stephanie Eymann zeigte dafür kein Verständnis. Und: Sie hätte erwartet, dass sich die Organisationen von der Gewalt distanzierten, sagte sie. Hinter ihr wurde ein Foto von beschlagnahmten Gegenständen der Demonstrantinnen eingeblendet.
Zu sehen waren Transparente, Handschuhe, Schutzbrillen, Schutzmasken und Spraydosen. «Es ist richtig, wir haben Gegenstände für Sachbeschädigungen gefunden, für die Ausübung von Gewalt braucht es aber keine speziellen Gegenstände. Da können auch Böller reichen, auch wenn wir bei den Demonstrantinnen keine Böller gefunden haben», führt Polizeikommandant Martin Roth im Gespräch mit dieser Zeitung aus.
«Das war für uns ein Aufruf zur Gewalt»
Aber es sei zu Gewalt aufgerufen worden, und da müsse die Polizei handeln. «Lasst uns zerstören, was uns zerstört», stand im Aufruf zur Demonstration vom 8. März. «Das war für uns ein Aufruf zur Gewalt», erklärt Roth.
Für die Lagebeurteilung sei es «völlig irrelevant», welches Geschlecht die anzunehmenden Demonstrationsteilnehmenden hätten. «Wir machen im Bezug auf Demos keine Statistik darüber, ob Frauen oder Männer gewalttätiger sind. Wir gingen von Sachbeschädigungen und Gewalt gegen die Polizei aus», so Roth.
Hätte es einen Unterschied gemacht, wenn im Aufruf nicht gestanden wäre, «Lasst uns zerstören, was uns zerstört»? Ja, sagt Roth: «Wenn man zu einem Marsch durch die Stadt aufgerufen hätte, hätten wir einfach geschaut, dass die Demonstrierenden nicht da sind, wo sie am meisten stören. Das haben wir auch schon gemacht.»
(https://www.bazonline.ch/sechs-worte-machten-den-unterschied-697698580957)
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Arbeitsmarktzulage für Mitarbeitende des Polizeikorps
Der Regierungsrat hat als Sofortmassnahme gegen den Personalunterbestand bei der Kantonspolizei Basel-Stadt eine Arbeitsmarktzulage für Angehörige des Polizeikorps beschlossen. Diese Massnahme zur Steigerung der Attraktivität der Kantonspolizei als Arbeitgeberin ist zeitlich auf maximal 36 Monate befristet und kostet insgesamt rund 10.3 Millionen Franken (knapp 3.5 Millionen pro Jahr). Weil das Budget für das Jahr 2023 bereits erstellt und vom Grossen Rat genehmigt wurde, beantragt der Regierungsrat dem Parlament einen Nachtragskredit in der Höhe von rund 2.8 Millionen Franken für das laufende Jahr.
https://www.bs.ch/nm/2023-arbeitsmarktzulage-fuer-mitarbeitende-des-polizeikorps-rr.html
-> https://www.baseljetzt.ch/wegen-personalmangel-mitglieder-des-basler-polizeikorps-sollen-bald-mehr-geld-erhalten/28794
„Neuer Bericht von der Polizeiaktion in der @UniBasel: Nachdem die Polizei die Demonstration in der Bernoullistrasse einkesselte und ohne Dialogversuche mit unverhältnismässigen Mitteln wie Gummischrot auf die Demoteilnehmer*innen abfeuerte, suchten wir Zuflucht in der Uni-Mensa, die sich günstig direkt neben der Demo befand. Den Eintritt in die Uni-Mensa erlangt man abends nur mit einer Legitimationskarte der Uni, sodass wir uns vor den gewalttätigen Ausschreitungen der Polizei sowie unnötigen Personenkontrollen sicher fühlten.
Kurz vor Mitternacht drangen ca. 20 vollausgerüstete Polizist*innen in das Gebäude ein. Wir wurden aufgefordert in einer Einerkolonne, die Uni-Mensa zu verlassen. Draussen wurden wir abgetastet, mussten unsere Personalien angeben und wurden abfotografiert bevor wir gehen konnten.
Die derart gewaltsame Reaktion der Polizei auf eine friedliche Demonstration – bewilligt oder unbewilligt – ohne jegliche Vermittlungsversuche entrüstet und ist anstossend. #InternationalerFrauentag #basel“
(https://twitter.com/BaselBlock/status/1634095343766761473)
-> https://primenews.ch/news/2023/03/auch-die-universitaet-geraet-nach-mittwochs-demo-die-kritik
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Basler Zeitung 10.03.2023
Debatte nach Frauendemo: Basler Polizei drang in Uni ein – offenbar wegen Einbruchalarm
Im Zuge der unbewilligten Demo zum Weltfrauentag kam es zu einer umstrittenen Polizei-Aktion im Kollegienhaus. Studierende verlangen Antworten – nun nimmt die Polizei Stellung.
Simon Bordier
Das Vorgehen der Basler Polizei an der unbewilligten Kundgebung zum Weltfrauentag gibt zu reden. So kritisierten Studierende und Angestellte der Universität Basel das Eindringen der Polizei in ein Gebäude der Uni, nämlich in die Mensa an der Bernoullistrasse (Stellungnahme der Uni weiter unten).
Die Sicherheitskräfte hatten sich am Mittwochabend Zugang zum Gebäude verschafft, nachdem sich dort einige Demo-Teilnehmende verschanzt hatten. Sie versuchten so allem Anschein nach, Personenkontrollen der Polizei zu entgehen. Die Uniformierten hatten nämlich die meisten der gut 200 Demonstrierenden in der Nähe des Petersplatzes eingekesselt (mehr dazu in diesem Artikel).
Fragen ans Rektorat
«Wurde der Kantonspolizei der Zutritt zu den universitären Einrichtungen gewährt?», fragen diverse Studierende und Mitarbeitende in einem offenen Brief ans Rektorat. Falls kein Zutritt gewährt worden sei, so müsse Anzeige gegen die Polizei erstattet werden, befinden die Unterzeichnenden. Denn in dem Fall handle es sich um Hausfriedensbruch, meinen sie. Auch weitere Straftatbestände müssten geprüft werden.
Sollte die Uni-Leitung der Polizei Zutritt gewährt haben, so fordern die Unterzeichnenden Aufklärung des Sachverhalts: «Wer hat den Zutritt erteilt, zu welchem Zeitpunkt und gestützt worauf?» Für Studierende und Mitarbeitende müsse die Universität «jederzeit ein sicherer Ort sein».
Signiert wurde der Brief vom 9. März von diversen studentischen Organisationen, aber auch von der Assistierendenvereinigung Avuba sowie von der Gewerkschaft VPOD Mittelbau Universität Basel.
In den sozialen Medien kursieren Augenzeugenberichte von der Polizeiaktion im Kollegienhaus. Ein nicht namentlich genannter Zeuge wird von Alex Aronsky, Gewerkschaftssekretär von VPOD Region Basel, wie folgt zitiert: «Kurz vor Mitternacht drangen ca. 20 vollausgerüstete Polizist*innen in das Gebäude ein. Wir wurden aufgefordert, in einer Einerkolonne die Uni-Mensa zu verlassen. Draussen wurden wir abgetastet, mussten unsere Personalien angeben und wurden abfotografiert, bevor wir gehen konnten.»
Polizei reagierte auf Einbruchsalarm
Am Freitagnachmittag nahm die Basler Kantonspolizei Stellung zum Polizeieinsatz. So war offenbar ein Einbruchalarm Grund dafür, wie ein Sprecher der Kantonspolizei gegenüber der Nachrichtenagentur SDA sagte. Nach 20 Uhr habe die Securitas der Polizei einen solchen Alarm gemeldet. Aufgrund der Demo-Situation an der Bernoullistrasse habe die Polizei aber das Gebäude nicht betreten können und stattdessen die Zugänge gesichert.
«Kurz vor Mitternacht, nachdem der Demozug aufgelöst worden war, betrat die Polizei das Gebäude zur Unterstützung des Securitas-Mitarbeiters und startete die Durchsuchung der Räume», hielt der Polizeisprecher weiter fest. Dabei seien drei Personen festgestellt, kontrolliert und vor Ort entlassen worden.
Universität kontert Kritik
Auch das Uni-Rektorat hat am Freitagnachmittag auf den offenen Brief reagiert. «Die Universität Basel soll ein sicherer Ort sein, aber sie ist kein rechtsfreier Raum», heisst es in einer Stellungnahme.
Wenn sich Unbekannte als Privatpersonen nach einer nicht bewilligten Demonstration nachts in universitären Gebäuden aufhielten, dann habe man «ein Interesse daran, dass die Polizei die Güter der Universität schützt». Und wenn die Polizei im Rahmen eines Einsatzes die Uniräumlichkeiten betrete, so sei sie dazu gemäss kantonalem Polizeigesetz legitimiert. «Sie braucht dazu keine Bewilligung von Seiten der Universität.»
Aus diesem Grund sehe das Rektorat auch keinen Anlass, Anzeige zu erstatten. Weiter habe die Universität unbekannten Personen gegenüber keine Fürsorgepflicht. Die Uni lege gleichwohl grossen Wert darauf, «dass ihre Räume Orte sind, in denen sich Angehörige der Universität und Gäste wohlfühlen können».
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In einer früheren Version dieses Texts stand, dass Demonstrierende im Kollegienhaus Zuflucht gesucht hätten. Laut der Uni war ein anderer Ort betroffen. «Ein paar Wenige» hätten sich in die Mensa an der Bernoullistrasse begeben. Ergänzt wurde zudem die Stellungnahme der Polizei.
(https://www.bazonline.ch/basler-polizei-drang-in-uni-ein-studierende-fordern-aufklaerung-645838171667)
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Basler Zeitung 10.03.2023
Kommentar zum Umgang mit DemosWarum lässt die Polizei Hooligans marschieren und Frauen nicht?
Zwei Abende. Zwei Kundgebungen. Zwei Polizeieinsätze und dazwischen eine ganze Welt. Das geht nicht.
Mirjam Kohler
Mittwochabend, 19.58 Uhr: Eine Gruppe von rund 200 Frauen steht in der Bernoullistrasse. Vor und hinter ihnen Polizei, sie kommen nicht mehr weg. Die Gruppe wollte anlässlich des Internationalen Frauentags demonstrieren. Unbewilligt, aber friedlich, geschützt durch Grundrechte. Hier, in der Seitenstrasse, wurden sie gestoppt.
Die Polizei führt ein Manöver gegen die eingekesselte Gruppe durch. Eine Reihe von Polizisten rennt unter Gebrüll auf die Frauengruppe zu. Auf die vordersten Frauen schlagen die Beamten mit Schlagstöcken ein und entreissen ihnen einige der mitgeführten Transparente. Auch Gummischrot wird eingesetzt, aus einer geschätzten Distanz von zwei Metern. Der gesetzliche Mindestabstand dafür betrüge 20 Meter, ausser es würde Notwehr vorliegen.
Die Ansage gilt der Demonstration, sie gilt der gesamten linken und linksextremen Szene, sie gilt den Law-And-Order-Fans da draussen: Unbewilligte Demonstrationen werden nicht toleriert, die Grundrechte der Teilnehmenden zählen nicht und die Polizei macht, was sie will. Auch mit der Pressefreiheit, die an diesem Abend massiv eingeschränkt wird.
24 Stunden später. Fussballfans von Slovan Bratislava marschieren unbewilligt durch die Innenstadt und legen das gesamte ÖV-Netz lahm. Die Männergruppe schwenkt Pyros, ab und zu hört man das Krachen von Knallkörpern. Die Polizei – schaut zu.
Diese Willkür ist nicht zu rechtfertigen
Vielleicht setzte bei der Basler Polizei in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag eine kollektive Amnesie ein, dass unbewilligte Demonstrationen um jeden Preis verhindert werden müssen. Vielleicht werden politische Grundrechte der lokalen Bevölkerung als unwichtiger eingeschätzt, als das Bedürfnis nach Fankultur eines ausländischen Fussballvereins.
Vielleicht ist es einfacher, gegenüber Frauen die Muckis spielen zu lassen, als gegenüber Fussballhooligans. Vielleicht steckt hinter dem Umgang mit unbewilligten Demonstrationen eine politische Agenda.
Was auch immer die Gründe sind: Der Unterschied im Verhalten der Polizei an diesen beiden Abenden ist riesig. Es ist auch nicht das erste Mal, dass der willkürliche Umgang der Polizei mit Grundrechten auffällt. Es ist nur dieses Mal besonders gut sichtbar. Und es ist nicht zu rechtfertigen.
(https://www.bazonline.ch/warum-laesst-die-polizei-hooligans-marschieren-und-frauen-nicht-412887360542)
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Basler Zeitung 10.03.2023
Basler SVP-Präsident über Demos: «Krawall¬macher müssen endlich zur Rechen¬schaft gezogen werden»
Pascal Messerli will «Störer und Chaoten» für die Kosten eines Polizeieinsatzes haftbar machen. Aber wie? Ein Interview zu den SVP-Initiativen.
Oliver Sterchi, Jan Amsler
Herr Messerli, am Mittwochabend hat die Polizei bei der unbewilligten Frauendemo durchgegriffen. Es ist also nicht so, dass in Basel Narrenfreiheit für Demonstranten herrschte, wie das die SVP behauptet. Weshalb braucht es Ihre Initiativen?
Pascal Messerli: Es ist erfreulich, dass die Polizei eingegriffen hat und die unbewilligte Demonstration nicht duldete. Leider war dies in der Vergangenheit selten der Fall, weshalb sich das Selbstverständnis, keine Bewilligung einzuholen, in gewissen linken Kreisen etabliert hat. Ich hoffe, die Polizei setzt die Praxis vom Mittwoch fort. Dank unserer Initiative hätten wir als perfekte Ergänzung eine rechtliche Grundlage, dass derartige Störer und nicht der Steuerzahler solche langen Polizeieinsätze zu bezahlen haben.
Haben Sie selber schon einmal an einer Demo teilgenommen?
Nein. (überlegt nochmals) Doch, ein einziges Mal. Das war 2009, als es um die Schliessung des Spitals Riehen ging. Damals gab es eine Standkundgebung auf dem Gemeindeplatz, ohne ÖV-Blockierung und Sachbeschädigungen. Also genau so, wie wir es uns vorstellen.
Die SVP geht durchaus immer wieder auf die Strasse, etwa mit Standaktionen oder Unterschriftensammlungen. Sind das nicht auch Kundgebungen?
Die «SVP bi de Lüt»-Aktion hinter dem Bahnhof SBB galt tatsächlich als Kundgebung, für die wir auch eine Bewilligung einholen mussten. Unterschriftensammlungen hingegen laufen nicht unter dieser Kategorie. Und eine Grossdemo, die die ganze Stadt blockiert, hat es seitens SVP noch nie gegeben.
Auch die SVP belegt den öffentlichen Raum. Nun wollen Sie dies anderen Leuten erschweren.
Halt! Wir wollen lediglich das Chaotentum verbieten. Es gibt kein Grundrecht auf Randale. Krawallmacher müssen endlich zur Rechenschaft gezogen werden, das passiert noch viel zu wenig. Deshalb haben wir die «Anti-Chaoten-Initiative» lanciert. Die «Freiheits-Initiative» hingegen zielt auf ein faires Miteinander im öffentlichen Raum ab. 95 Prozent der Leute demonstrieren an einem Samstag nicht. Diese sollen in Ruhe gelassen werden, genauso wie die Ladeninhaber.
Gesetze gegen Randale und Sachbeschädigungen gibt es heute schon.
Es gibt Stand jetzt keine gesetzliche Grundlage, wonach Störer und Chaoten für die Kosten eines Polizeieinsatzes gemäss dem Verursacherprinzip haftbar gemacht werden können. Darauf zielt die «Anti-Chaoten-Initiative» ab. Klar ist aber auch: Die Durchsetzung der bestehenden Gesetze ist höchst ungenügend. In dieser Hinsicht herrscht in Basel Kuscheljustiz. Die Chaoten haben hier seit Jahren einen Freipass.
Staatsrechtler Markus Schefer sagte gegenüber der BaZ, dass eine vollständige Kostenüberwälzung auf die Demonstranten «illusorisch» sei.
Selbstverständlich gibt es die Möglichkeit, gemäss dem Verursacherprinzip Kosten abzuwälzen. Erst recht, wenn das Volk und der Gesetzgeber dies so beschliessen.
Die Frage ist doch, wie man Verursacher überhaupt erwischen will. Der «Schwarze Block» hat keinen Briefkasten, an den man eine Rechnung schicken kann. Für die Strafverfolgungsbehörden wäre dies ein Mehraufwand, der auch wieder Geld kostet.
Jede Verfolgung eines Straftatbestands ist ein Aufwand für die Behörden, dafür sind sie schliesslich da. Ansonsten können wir den Rechtsstaat gleich ganz abschaffen. Wer an einer unbewilligten Demo teilnimmt, an welcher der ÖV blockiert und Scheiben eingeschlagen werden, macht sich potenziell mitschuldig. Das ist auch beim Straftatbestand des Landfriedensbruchs so: mitgegangen, mitgehangen. Die Polizei muss dann halt strikter durchgreifen und die Leute aus dem Mob heraus packen.
Polizei und Staatsanwaltschaft müssen schon heute abwägen, wie sie die Ressourcen einsetzen. Jetzt sollen mehr Mittel für Demonstrationen aufgewendet werden. Auf wessen Kosten?
Sicherheit ist eine zentrale Staatsaufgabe, und wenn man sich anschaut, wie viel Geld für Unsinn verprasst wird, muss man bestimmt nicht an der Sicherheit sparen. Mit diesen Initiativen stärken wir die Polizei und signalisieren, dass sie sich auch wehren darf. Ich bin überzeugt, dass dies dazu führt, dass Polizisten mehr Lust haben, in Basel zu arbeiten.
Umgekehrt könnte man sagen: Mehr Einsätze an Demonstrationen, das ist für Polizistinnen und Polizisten nicht attraktiv.
Den Einsatz haben die Polizisten ja sowieso. Nur werden sie heute im Regen stehen gelassen. An der Klima-Demo vom 11. Februar wurden Polizisten angegriffen. Hätten sie sich stärker zur Wehr gesetzt, wäre im Grossen Rat von rot-grüner Seite bestimmt ein Vorstoss gekommen mit der Frage, warum die Polizei so dominant eingegriffen habe. Es fehlt die Rückendeckung aus der Politik.
Müssen dann die Organisatoren von bewilligten Demos nicht Angst haben, dass sie für Taten von ein paar Krawallmachern belangt werden, obwohl die Kundgebung ansonsten friedlich bleibt?
In unserem Initiativ-Text steht ganz klar: Wenn jemand eine Bewilligung einholt als Organisator, aber sich selber nicht an allfälligen Ausschreitungen beteiligt, dann wird diese Person sicher nicht belangt. Wir sagen aber auch: Wer am Rande einer bewilligten Demo randaliert, muss als Störer zur Rechenschaft gezogen werden. Bei unbewilligten Kundgebungen ist die Sache etwas komplexer, da nicht immer klar ist, wer der Organisator ist. Aber auch dort gilt: Wer Krawall macht, muss belangt werden können.
Die «Anti-Chaoten-Initiative» fordert auch einen restriktiveren Umgang mit unbewilligten Demos. Soll jede nicht zugelassene Kundgebung gleich zu Beginn von der Polizei aufgelöst werden?
Hier lässt die Initiative den Behörden einen gewissen Spielraum. Klar ist: Es kann nicht sein, dass es Gruppen und Personen gibt, die sich an die Regeln halten und Kundgebungen anmelden, und solche, die das nicht tun, weil sie den Staat ohnehin verachten. Bei Letzteren müssen die Einsatzkräfte künftig eher mal durchgreifen. Das wäre auch gerecht gegenüber den anständigen Demonstranten.
Ist das nicht paradox, wenn man von Leuten, die gegen den Staat demonstrieren, verlangt, dass sie von eben jenem Staat eine Bewilligung einholen? Staatsverachtung muss doch auch durch die Meinungsfreiheit gedeckt sein.
Wer den öffentlichen Raum übermässig beansprucht, braucht eine Bewilligung. Daran müssen sich alle halten, so sind die Regeln. Das hat nichts mit Meinungsfreiheit zu tun.
Wo soll die Grenze gezogen werden zwischen einer Demonstration, die nicht bewilligt ist und aufgelöst werden muss, und einer Spontandemonstration, die von den Behörden geduldet werden soll?
Das musste ich schon mehrfach erklären und scheint effektiv ein Knackpunkt zu sein. Aber unsere Initiativen wollen hier gar nichts ändern. Wir schreiben sogar explizit, dass spontane Kundgebungen weiterhin möglich bleiben. Denn es gibt tatsächlich Ereignisse, die bei den Menschen ein Mitteilungsbedürfnis auslösen. Beispiele sind der Überfall auf die Ukraine durch Russland, Erdbeben oder die Freistellung des FCB-Captains Valentin Stocker. Hier hat man nicht die Zeit, vorher eine Bewilligung einzuholen. Wir erkennen ja spontane Ereignisse, wenn sie passieren. Aber die Klimadiskussion zum Beispiel läuft schon seit ein paar Jahren, deshalb brauchen Klima-Demonstrationen eine Bewilligung.
Mit der «Freiheits-Initiative» wollen Sie die Interessen des Gewerbes stärker berücksichtigen. Soll es samstags in der Innenstadt keine Demos mehr geben?
Wir haben explizit keine zeitlichen, keine örtlichen und auch keine sachlichen Verbote vorgesehen. Wir sind aber der Meinung, dass das Gewerbe gerade am Samstag besonders berücksichtigt werden muss, dass dann also nicht jede Demonstration direkt durch die Innenstadt führen soll. Eine solche Abwägung lässt auch das Bundesgericht zu. Es gibt jetzt schon viele Leute, die für den Einkauf nach Deutschland gehen, weil sie keine Lust mehr auf dieses Theater in Basel haben.
Auch hier droht eine gegenteilige Wirkung: Wer ein Anliegen nach aussen tragen will, lässt sich doch zeitlich und örtlich nicht einschränken. Die Krawall-Bereitschaft steigt.
Dann muss halt auch die Einsatzbereitschaft der Polizei steigen, um die Krawalle zu unterbinden. Die Behörden dürfen sich nicht erpressen lassen, mit Chaoten muss man nicht verhandeln. Es gibt kein Grundrecht auf eine bestimmte Demo-Route. Die Demonstrationsfreiheit ist immer noch garantiert, aber ein bisschen mehr Rücksicht auf das Gewerbe wäre angebracht.
Es liegt doch im Geist einer Demonstration, öffentlichen Raum in Anspruch zu nehmen. Da gibt es einen Zielkonflikt.
Nein, den sehe ich überhaupt nicht. Alle anderen haben auch eine Bewegungsfreiheit, haben Termine oder wollen shoppen. Die Demonstrationen müssen sich ja nicht immer bewegen, manchmal tut es doch auch eine Standkundgebung an einem prominenten Ort, ohne dass andere eingeschränkt werden. Da braucht es ein faires Miteinander.
Staatsrechtler Markus Schefer sagt, viel würde sich mit den Initiativen nicht ändern. Eine reine Wahlkampf-Aktion also?
Diesen Vorwurf kann man immer erheben, es stehen ja fast jedes Jahr irgendwelche Wahlen an. Und jene, die uns das unterstellen, sind ja selber auch im Wahlkampf. Selbstverständlich führen die Initiativen zu Veränderungen, die von uns geforderte Rechtsgrundlage gibt es heute nicht.
Soll es in Basel auch in Zukunft Demonstrationen geben?
Selbstverständlich. Aber 2016 zählten wir noch 90 Demonstrationen, 2022 waren es 280. Wenn wir eher wieder auf das Niveau von 2016 zurückkommen, gibt es immer noch Demonstrationen, aber sie sind verträglicher.
(https://www.bazonline.ch/krawallmacher-muessen-endlich-zur-rechenschaft-gezogen-werden-706617586412)
++++SPORT
Bratislava-Fans ziehen durch Basel und legen den ÖV lahm
Am Donnerstagabend empfängt der FC Basel im Achtelfinal der Conference League Slovan Bratislava. Die Fans des slowakischen Clubs legen den öffentlichen Verkehr lahm.
https://www.20min.ch/story/bratislava-fans-ziehen-durch-basel-und-legen-den-oev-lahm-906197505435
+++KNAST
Justizvollzugsanstalt in Menzingen: So wird der Bostadel vergrössert
Die Justizvollzugsanstalt Bostadel in Menzingen wird saniert und durch einen neuen Trakt erweitert. Das Preisgericht hat aus acht eingereichten Vorschlägen das Projekt «Alleswirdeins» zum Sieger erkoren. Zug bezahlt 12,6 Millionen Franken.
https://www.zentralplus.ch/wohnen-bauen/das-siegerprojekt-fuer-die-bostadel-erweiterung-steht-fest-2527188/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/bostadel-in-menzingen-justizvollzugsanstalt-wird-fuer-alte-und-langzeitverwahrte-gefangene-um-eine-spezialabteilung-erweitert-ld.2427745
Sterbehilfe hinter Gittern – 10vor10
In der Schweiz hat der erste Verwahrte mit Hilfe einer Sterbehilfeorganisation den Suizid vollzogen. Darf ein Straftäter im Gefängnis einen begleiteten Suizid vollziehen oder wird so die Strafe umgangen?
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/sterbehilfe-hinter-gittern?urn=urn:srf:video:4d768b01-521c-4b99-b333-9c19f9584407
+++POLIZEI VD
Unabhängige Autopsie für Nzoy
«Institutioneller Rassismus ist auch in der Schweiz eine tödliche Realität! Viele – und oftmals in der Öffentlichkeit unbekannte Schwarze Menschen und People of Color – sind in und durch staatliche Schweizer Institutionen gestorben. Kaum jemand wurde dafür zur Verantwortung gezogen.
Bei Helvetzid-Fällen braucht es dringend eine unabhängige Autopsie. Staatliche Gerichtsmediziner*innen arbeiten in ihrem Alltag eng mit Polizist*innen zusammen. Sie sind bewusst oder unbewusst schon voreingenommen. Deswegen ist es dringend notwendig, dass Patholog*innen, die nicht eng mit der Polizei und den Gerichten zusammenarbeiten, in solchen Fällen ein zweites Gutachten erstellen».
Das schreibt unser Kolumnist Mohammed Wa Baile, er hat die Allianz gegen Racial Profiling mitgegründet und ist aktiv im Institut Neue Schweiz INES. In seinem heutigen Radioblog fordert er, dass unter anderem der Fall des von der Polizei getöteten Nzoy neu aufgerollt wird.
Nzoy wurde im Sommer 2021 am Bahnhof in Morges von der Polizei erschossen. Er wäre heute 39 Jahre alt geworden.
https://rabe.ch/2023/03/10/unabhaengige-autopsie-fuer-nzoy/
+++RASSISMUS
»Ich würde der Existenz einer Schwarzen Mittelklasse nicht zu viel Bedeutung beimessen«
Adam Elliott-Cooper und Tahir Della im Gespräch über Kämpfe gegen institutionellen Rassismus in Großbritannien und Deutschland
NSU, Hanau, Oury Jalloh: Rassismus ist tief in gesellschaftlichen Strukturen verankert. Adam Elliott-Cooper und Tahir Della im Gespräch über Kämpfe gegen institutionellen Rassismus in Großbritannien und Deutschland.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171552.rassismus-ich-wuerde-der-existenz-einer-schwarzen-mittelklasse-nicht-zu-viel-bedeutung-beimessen.html
+++RECHTSPOPULISMUS
Podcast Politbüro: Der ewige Widerspruch – wie es nun mit Roger Köppel weitergeht
Warum hat Roger Köppel im Bundeshaus so wenig bewegt? Und welche Rolle wird er in Zukunft spielen? Wird er der Tucker Carlson der Schweiz?
https://www.derbund.ch/der-ewige-widerspruch-wie-es-nun-mit-roger-koeppel-weitergeht-710827983001
+++RECHTSEXTREMISMUS
Extremistische Gruppen mobilisieren auf Social Media
Aktionen der rechtsextremen Gruppe «Junge Tat» und ausser Kontrolle geratene Demonstrationen von Linksautonomen haben dieses Jahr für Schlagzeilen gesorgt. Der Gebrauch von sozialen Medien spielte dabei jeweils eine grosse Rolle. RADIO TOP sprach mit einem Experten über die Zukunft von extremistischen Gruppierungen in der Schweiz.
https://www.toponline.ch/news/detail/news/extremistische-gruppen-mobilisieren-auf-social-media-00207475/
Stuttgarter Ermittler kamen nach Zug – Mutmasslicher Reichsbürger: Durchsuchung im Kanton Zug
Im Juni 2022 kam es im Kanton Zug zu einem sonderbaren Polizeieinsatz. Die Polizei durchkämmte eine Wohnung eines im Kanton Zug wohnhaften Deutschen. Dieser soll Verbindungen zur Reichsbürger-Szene haben.
https://www.zentralplus.ch/news/mutmasslicher-reichsbuerger-durchsuchung-im-kanton-zug-2527398/
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
derbund.ch 10.03.2023
Umstrittene Friedensdemo in Bern: Corona-Leugner und Junge SVP mobilisieren für den Weltfrieden
Am Samstag findet auf dem Bundesplatz in Bern eine «Friedensdemo» statt. Die Polizei bereitet sich auf mögliche Auseinandersetzungen vor.
Andres Marti
Während der Pandemie hatten sie hier die Abschaffung der «Corona-Diktatur» gefordert. Nun wollen sie diesen Samstag auf dem Bundesplatz «für die Menschheit und somit für Frieden zwischen den Völkern» demonstrieren. Die Eskalationsspirale müsse enden, «bevor unsere Freunde und Familienmitglieder im Bodybag heimkehren», so der Aufruf zur «internationalen» Friedenskundgebung.
Zur bewilligten Demo mobilisiert die Galionsfigur der Massnahmengegner, «Massvoll»-Gründer Nicolas Rimoldi. Unterstützt wird er von den «Freunden der Verfassung», diversen Social-Media-Kanälen von Verschwörungsideologen und Schwurblern sowie der Jungen SVP.
Als Redner sind unter anderen der SVP-Hardliner Andreas Glarner und der Youtuber und Corona-Leugner Daniel Stricker angekündigt. Auch Nicolas Lindt, Mitgründer der Wochenzeitung (Woz) und der Gruppe Schweiz ohne Armee, soll dabei sein.
Hoffen auf die Querfront
Wie ihre Pendants in Deutschland möchten auch die hiesigen Putinversteher vom rechten Spektrum mit Linksaussen zusammenspannen: «Die Querfront ist möglich!», heisst es etwa in einem einschlägigen Telegramkanal. Deshalb habe man auch Redner eingeladen, «die den Impfzwang propagierten und Ungeimpfte aus der Gesellschaft ausgeschlossen haben».
Ob dieses Kalkül aufgeht, darf jedoch bezweifelt werden: In Zürich wurden letzten Samstag an einer mager besuchten Links-aussen-Demo gegen das «Nato-Kriegsbündnis» die Freiheitstrychler und ihre Anhängerschaft von der Antifa vertrieben.
In Bern bereite sich die Polizei jedenfalls auch darauf vor, allfällige Konfrontationen zu verhindern, sagt Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte). Die Polizei sei mit einem entsprechenden Aufgebot präsent. Laut Nause kam es in der Vergangenheit an Demos von Massnahmenkritikern am Rande manchmal zu Scharmützeln mit Linksextremisten.
Referendum droht das Aus
Wie viele kommen werden, könne er nicht abschätzen, sagt Nause. Klar ist für ihn hingegen: «Die Bewegung der Massnahmegegner ist hochgradig zerstritten und sucht verzweifelt nach neuen Betätigungsfeldern.»
Tatsächlich lief es für die Gegnerinnen und Gegner von Corona-Massnahmen auch schon besser. Mit der Unterschriftensammlung gegen das Covid-Gesetz hapert es, was damit zu tun haben könnte, dass es nun schon fast ein Jahr her ist, seit der Bundesrat alle Corona-Massnahmen aufgehoben hat.
Laut eigenen Angaben haben die Organisatoren bislang 43’000 Unterschriften gesammelt. Bis am 16. März sollen 60’000 Unterschriften zusammenkommen.
(https://www.derbund.ch/corona-leugner-und-junge-svp-mobilisieren-fuer-den-weltfrieden-609592195006)
+++HISTORY
Gender-Dozentin über Kolonialismus: „Unsere Geschichte neu schreiben“
Die Kolonialherren hätten das Wissen über die Rolle afrikanischer Frauen ausradiert, sagt Florence Ebila. Mit ihren Studierenden will sie das ändern.
https://taz.de/Gender-Dozentin-ueber-Kolonialismus/!5916191/
+++SATANIC PANIC
spiegel.de 10.03.2023
Vermeintliche Opfer ritueller Gewalt: Im Wahn der Therapeuten
Anhänger geheimer Kulte misshandeln Kinder und kontrollieren Menschen via Hirnmanipulation: Unter dem Dach von Kirchen und Kliniken verbreiten Therapeuten derartige Horrormythen – und reden Patienten angeblichen Missbrauch ein.
Von Beate Lakotta und Christopher Piltz
Im Rückblick ist das ihre bitterste Erkenntnis: Wie manipulierbar sie war und wie leichtgläubig. Wie sie nach einer gescheiterten Ehe Halt bei einer Therapeutin suchte und sich stattdessen von ihr in eine paranoide Scheinrealität ziehen ließ. In einen psychischen Abgrund, ohne Hoffnung auf ein eigenständiges Leben. Erzählen kann Malin Weber das heute nur, weil sie es schaffte, sich aus eigener Kraft aus diesem therapeutischen Wahngebilde zu befreien. Diese Stärke, das ahnt sie, besitzen viele andere nicht.
Noch immer kämpft sie gegen innere Bilder an, die in ihr hochsteigen: dunkle Gestalten in Kutten, Messer, Blut – alles Scheinerinnerungen, entstanden in 83 Therapiesitzungen, bezahlt von ihrer Krankenkasse. Ohne sich dessen bewusst zu sein, so habe es ihre Therapeutin ihr suggeriert, stehe sie im Bann eines Satanskults. Ein Täterkreis, angeführt von ihrem Stiefvater, habe sie in ihrer frühen Kindheit mental programmiert, um sie ein Leben lang in Ritualen missbrauchen zu können. Quer durch die Republik spannte sich das Netzwerk von Satansjüngern, und noch immer hätten diese die Kontrolle über sie, davon war die Therapeutin überzeugt.
Um sich aus dem Kult lösen zu können, müsse Weber sich an alles erinnern, mit ihrer Hilfe.
Je länger die Therapie dauerte, sagt Malin Weber heute, desto schlechter habe sie sich gefühlt. Manchmal sei sie nach den Sitzungen in ihrer Wohnung zusammengebrochen. Zu der Zeit, sagt sie, habe sie selbst geglaubt, der Kult habe sie in seiner Gewalt.
Weber ging zu jener Zeit nicht mehr allein vor die Tür – aus Angst, sie könnte von den Tätern entführt werden. Auf Anweisung ihrer Therapeutin habe sie Kontakte zu Freunden und Familie abgebrochen. Sie schaltete ihr Handy aus, um nicht geortet zu werden. Zeitweise glaubte sie, mindestens acht Persönlichkeiten führten in ihr ein Eigenleben.
Heute weiß Malin Weber, dass sie tatsächlich schwer traumatisiert wurde – nicht durch satanistische Rituale, sondern durch die angebliche Traumatherapie.
Arbeit mit »Überlebenden« sogenannter ritueller Gewalt beschäftigt eine Szene von Therapeuten, darunter Heilpraktiker und Familienaufsteller. Sie behandeln vermeintliche Folgen schwerster Leidenserfahrungen – die es so nach allem Ermessen nie gegeben hat – oft so lange, bis die Klienten selbst überzeugt sind, extreme körperliche und sexuelle Gewalt in einem Kult erlebt zu haben. Dabei handelt es sich nicht um einen durchweg dubiosen Zirkel. Involviert sind renommierte Vertreter ihres Fachs, allen voran die Traumatherapeutin Michaela Huber. Sie tritt schon seit mehr als 20 Jahren als Kennerin okkulter Sektengewalt auf – und hat in dieser Rolle vermutlich Hunderte Therapeuten geschult.
Ihr vermeintliches Insiderwissen verbreiten diese Fachkräfte in Opferschutzvereinen, Universitätskliniken, Bistümern. Beratungsstellen wurden geschaffen, Bücher veröffentlicht, Fortbildungen und Fachtagungen veranstaltet. Auch das Bistum Münster befeuert – trotz massiver Kritik aus anderen Bistümern und aus der evangelischen Kirche – Legenden um den rituellen Missbrauch. Etwa mit dem Aufklärungsvideo »Im Namen des Teufels: Rituelle Gewalt in satanistischen Sekten« aus dem Jahr 2016.
Um auf höchster Ebene für das Thema zu sensibilisieren, sprachen 2017 Expertinnen für rituelle Gewalt vor der »Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs« über das Leid der Betroffenen – mit Erfolg. Der damalige Missbrauchsbeauftragte der Bundesregierung richtete ein Hilfetelefon für Opfer ritueller Gewalt ein, Forschungsgelder flossen.
Eine Vielzahl selbst ernannter Experten profitiert so von der Erzählung des satanischen Missbrauchs. Betroffene finden Anerkennung, indem sie Aussteigerinterviews geben oder Selbsthilfe-Netzwerke organisieren. Therapeuten können Patienten, die mit realem Leidensdruck in ihre Praxen kommen, zumindest einen scheinbaren Grund für deren Probleme liefern. Manche Helfer verlieren dabei offenbar die professionelle Distanz und halten alles für wahr, was sie hören. Manche überhöhen ihre eigene Rolle – sie behandeln nicht nur die schlimmsten Fälle, sie kennen auch geheimste Praktiken.
Dabei ist vieles, was in der Szene als Tatsache verbreitet wird, offensichtlicher Unsinn. Fragt man nach bei Polizei und Staatsanwaltschaften, kann sich niemand an die Aufdeckung kultischer Täternetzwerke erinnern. Manche Betroffene bezichtigen ihre ganze Familie des satanistischen Missbrauchs. Doch auch Vertreter der Szene können keinen Fall nennen, in dem das nachweislich geschah. Geht es um Verbrechen kultischer Täterkreise, fehlten in den Gewaltschilderungen angeblich Betroffener stets nachprüfbare Indizien wie Angaben zu Tatorten, Namen, Verletzungsmustern.
Die Bremer Kriminologin Petra Hasselmann ist dem Phänomen nachgegangen. Dafür sprach sie mit zahlreichen Menschen, die sich als »Überlebende« ritueller Gewalt bezeichnen. Diese setzten sich nicht mit der Frage nach der Glaubhaftigkeit ihrer Erzählungen auseinander, so Hasselmanns Resümee, sondern machten rituelle Gewalt zur »Glaubensfrage«, an der sich Freund und Feind scheiden. Wer Betroffenen nicht glaube, stehe aus Sicht der Szene auf der Täterseite.
Doch wer blind glaubt, unterstützt, dass Hilfesuchende wie Malin Weber auf andere Art zu Opfern werden.
Weber, heute 32 Jahre alt, hat einem Treffen mit dem SPIEGEL zugestimmt, obwohl es ihr offenkundig schwerfällt, über all das zu sprechen. Am Kaffeetisch sitzt eine zerbrechlich wirkende Frau, die auf der Suche nach Erklärungen in ihre Erinnerungen eintaucht, diesmal in die echten: Als sie Hilfe in der Therapie suchte, sei sie labil gewesen. »Ich mache mir Vorwürfe«, sagt sie. »Ich habe ja nicht nur Zeit verloren, sondern auch mein Kind.« Weil Amtsgericht und Jugendamt der Therapeutin glaubten – etwa, dass Webers Kind bei einer rituellen Massenvergewaltigung gezeugt worden sei und die Satanisten es zurückverlangen könnten – lebt ihre Tochter heute bei einer Pflegefamilie. Sie ist zwei Jahre alt.
Malin Weber führt jetzt zwei Kämpfe. Sie will, dass ihr Kind wieder bei ihr leben darf. Und sie will verhindern, dass noch mehr Menschen Opfer einer solchen Pseudotherapie werden.
Die Existenz von Geheimkulten, in denen im Verborgenen schwerste Verbrechen begangen werden, ist seit Jahrhunderten Stoff von Verschwörungserzählungen – im Mittelalter mit antisemitischen Zügen: Juden, hieß es, würden das Blut von Christenkindern trinken. Heute geht es, wie in Webers Fall, eher um Satansanhänger, die angeblich in schwarzen Messen ihre Opfer foltern, deren Blut trinken und sie manipulieren.
In dem auch auf Deutsch erschienenen Fachbuch einer kanadischen Psychologin mit dem Titel »Jenseits des Vorstellbaren« beschreiben Betroffene detailliert regelmäßige Menschenopfer an satanischen Feiertagen. Ein angebliches ehemaliges Mitglied bezeugt, im Kult vergewaltige ein »Mann im Teufelsgewand« Kinder im Alter zwischen 12 und 18 Monaten. Mädchen würden erstmals im Alter zwischen 11 und 13 Jahren geschwängert, ihr »erstgeborener männlicher Säugling« werde »in seinen ersten Lebenswochen nach Opfermanier getötet«. Es gibt keinen Beleg für derartige Verbrechen.
Über die angeblichen Täterkreise heißt es in einer Broschüre des Fachkreises »Sexualisierte Gewalt in organisierten und rituellen Gewaltstrukturen« beim Bundesfamilienministerium aus dem Jahr 2018, mancherorts seien »Familien generationsübergreifend eingebunden«. Oft wird auch darauf hingewiesen, dass die Täterinnen und Täter eine gehobene Stellung in der Gesellschaft hätten: Beamte, Lehrer, Richter, Politiker.
In den Medien finden vermeintliche Betroffene Gehör: 2020 spricht eine Frau in einem Video von »Ze.tt«, dem Onlinemagazin der »Zeit«, über Ekeltraining durch Kultanhänger und Kindstötungen, im Jahr darauf brachte der Westdeutsche Rundfunk eine Radiosendung über »Kinder, die in Sekten ausgebeutet werden«. Zuletzt erschien in der »taz« eine Reportage über rituelle Gewalt. Überprüfbare Angaben, die auf kultische Netzwerke schließen lassen, fehlen in allen Beiträgen.
Kein Grund zu zweifeln bei denjenigen, die solche Erzählungen weitertragen: Das zeige nur, dass die Vertuschung rituellen Missbrauchs auch von Ärzten, Ermittlern und der Justiz betrieben werde. Und der Rest der Gesellschaft verschließe die Augen vor ritueller Gewalt – zu schrecklich sei die Vorstellung solcher Exzesse.
Kann das sein?
Wohl nie verfolgte die Gesellschaft so entschlossen Vorwürfe sexuellen Missbrauchs wie heute. Fortlaufend decken Ermittler erschütternde Fälle organisierter sexueller Gewalt auf, in denen Täterinnen und Täter strategisch vorgehen, Kinder für den Missbrauch weiterreichen. Staufen, Lügde, Münster, Wermelskirchen – Medien berichten detailreich über solche Tatkomplexe. Es gibt Zeugen, Spuren, Aufnahmen, manchmal auch Geständnisse.
Was es in diesen Fällen nicht gibt: Hinweise auf kultische Hintergründe.
Folgt man Experten wie Bianca Liebrand von der Beratungsstelle Sekten-Info Nordrhein-Westfalen in Essen, liegt der Skandal beim Thema ritueller Missbrauch nicht im kollektiven Wegsehen, sondern in fehlgeleiteten Hilfsangeboten. Jedes Jahr, so Liebrand, meldeten sich bei der Sekten-Info etwa 20 Menschen, die in einer Therapie erstmals erfahren haben wollen, Opfer ritueller Gewalt geworden zu sein. »Nach der Therapie sind sie noch destabilisierter als zuvor«, sagt Liebrand. »Wüsste man von einem Arzt, dass er mit falschen Operationsmethoden Menschen gefährdet, gäbe es einen Aufschrei.«
Und es gibt weitere Opfer: die zu Unrecht Beschuldigten. Hilfe finden sie beim Verein False Memory Deutschland, übersetzt: »Falsche Erinnerung«. Gründerin Heide-Marie Cammans berät jene, die von einem erwachsenen Familienmitglied aus dem Nichts des kultischen Missbrauchs beschuldigt wurden – oft, nachdem sie aus anderen Gründen therapeutische Hilfe suchten. »Was in solchen Therapien geschieht, bringt unendliches Leid über die Familien«, sagt Cammans, die auch Malin Weber unterstützt.
Mehr als 600 Fälle, in denen induzierte Erinnerungen eine Rolle spielen, kenne sie mittlerweile, sagt Cammans. Sehr selten stecke eine psychische Krankheit oder Autosuggestion hinter der falschen Erinnerung. Meist sei sie durch eine Therapie erzeugt.
Im Frühjahr 2018 versucht Malin Weber, ihr Leben in den Griff zu bekommen, nicht zum ersten Mal. Sie ist zu der Zeit 27 Jahre alt und will eine schwierige Trennung verarbeiten. Ihre Kindheit sei schwierig gewesen. Ohrfeigen vom jähzornigen Stiefvater. Mit elf, sagt sie, habe der Vater eines Freundes sie missbraucht. In der fünften Klasse begann sie stark zu stottern. Das Gymnasium habe sie ohne Abschluss verlassen.
Später kommt sie in therapeutischen Wohngruppen unter, in Gastfamilien, psychiatrischen Kliniken. Weber sagt, sie habe sich selbst verletzt, sei depressiv gewesen, zeitweise suizidgefährdet. Sie lebt von Hartz IV. 2015 heiratet sie, doch ihr Mann habe getrunken und sei gewalttätig geworden. Nach drei Jahren ist die Ehe am Ende.
Davon will sich Weber im Gezeiten Haus nahe Köln lösen, einer Privatklinik mit Schwerpunkt Traditionelle Chinesische Medizin. Sie leidet unter Schlafstörungen, isst wenig, wirkt abwesend. Das größte Handicap ist ihr Stottern. Unter Stress bringt sie kaum ein Wort heraus. Weber erinnert sich: »Die Therapeutin dort meinte, hinter meinen Symptomen müsse noch mehr stecken.« Mit der Verdachtsdiagnose »Dissoziative Identitätsstörung« verweist man sie an eine angebliche Traumaexpertin.
In der Psychiatrie steht der Begriff Trauma für ein spezifisches Phänomen: Ausgelöst durch ein sehr belastendes Ereignis kann das Gehirn nicht mehr verarbeiten, was es gerade erlebt. Nach einem solchen Trauma können Menschen an wiederkehrenden Erinnerungen leiden, den sogenannten Flashbacks. Einige wenige reagieren, indem sie das Ereignis abspalten vom Rest ihrer Lebenserfahrung, »dissoziieren« nennen Fachleute das. Später haben diese Menschen meist nur eine vage Erinnerung an das traumatische Erlebnis, manchmal gar keine.
Häufen sich traumatische Ereignisse, kann es nach aktueller Lehrmeinung sogar dazu kommen, dass ein Mensch verschiedene Identitäten ausbildet.
Dieses Krankheitsbild, die »Dissoziative Identitätsstörung« (DIS), wurde früher auch »Multiple Persönlichkeitsstörung« genannt. In Ansätzen schon Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben, bezweifeln einige Psychiater allerdings bis heute, dass es eine derartige Störung mit mehreren klar voneinander getrennten Identitäten wirklich gibt. Seit 2022 ist die DIS im internationalen Klassifikationssystem der Krankheiten gelistet, dem ICD-11.
Im Feld rituelle Gewalt arbeiten etliche Therapeutinnen und Therapeuten mit einem viel weitergehenden Konzept. Demnach hätten Täter Fähigkeiten, eine dissoziative Störung gezielt auszulösen, etwa durch Folter. »Die Sekten unterhalten Ausbildungslager, in denen Persönlichkeitsspaltungen erzeugt werden«, heißt es beispielsweise im Buch »Rituelle Gewalt«, herausgegeben von einem Arbeitskreis der Bistümer Osnabrück, Münster und Essen. Dank spezieller Techniken, »Mind-Control« oder »Programmierung« genannt, könnten sie die verschiedenen Innenpersönlichkeiten anschließend trainieren, widerstandslos Sex über sich ergehen zu lassen.
Durch Codes wie Handzeichen oder eine Melodie könnten die Täter Wechsel von einer Identität zur anderen auslösen. Den Betroffenen fehle dann jede Erinnerung an das Geschehene.
Im Juni 2018 betritt Malin Weber zum ersten Mal die Praxis von Jutta Stegemann in Münster. Nach eigener Auskunft arbeitet die approbierte psychologische Psychotherapeutin seit 20 Jahren mit »Überlebenden ritueller Gewalt«. Stegemann führt auch die entsprechende Beratungsstelle beim Bistum Münster.
Barsch und autoritär habe Jutta Stegemann auf sie gewirkt, sagt Weber. Ihre traumatische Trennung sei »schnell gar kein Thema mehr« gewesen. »Es ging nur um den Satanismus.« Vor dem Familiengericht wird Weber sagen, sie hätte durch ihre Therapeutin »zum ersten Mal davon erfahren, was passiert sein soll«. Gemeint ist der angebliche satanische Missbrauch.
In der seriösen Traumatherapie geht es darum, Klienten zu stabilisieren und sie gegen Erinnerungsschübe zu wappnen. Ihre Therapeutin hingegen, so schildert es Weber, habe von ihr verlangt, wieder und wieder Bilder des vermeintlichen Missbrauchs in sich aufsteigen zu lassen, an den sie keine Erinnerung gehabt habe.
Mit bunten Steinen soll sie ihre »Innenpersönlichkeiten« aufstellen und ihnen Namen geben. Davon hat Weber noch ein Foto. Als »Erinnerung« notiert sie: ein Mädchen, das von einer Hohepriesterin zum Altar geführt wird, »ich musste folgen«, Glockenklänge, ein Messer, Blut spritzt – genau wie in einem Buch beschrieben, das sie auf Stegemanns Anweisung durchgearbeitet habe. Die Therapeutin habe das als »Durchbruch« gefeiert.
Stegemann habe ihr erklärt, sie sei in den kultischen Kreis hineingeboren worden und verfüge über Geheimwissen. Ihr schweres Stottern resultiere aus einem Redeverbot durch die Kult-Obersten, Logopädie sei sinnlos. Ohne dass sie sich dessen bewusst sei, werde sie bis in die Gegenwart gefoltert und missbraucht. Um ihre hierfür geeigneten »Persönlichkeitsanteile nach vorne zu holen«, benutzten die Täter etwa Musik aus einem Autofenster. Es könne passieren, dass sie sich dann in das Auto setze und zu Ritualen abtransportiert werde.
Um sich dagegen wehren zu können, habe Stegemann gesagt, müsse Weber alle ihre »Innenpersönlichkeiten« miteinander versöhnen. Therapiedauer: bis zu zehn Jahren.
Der SPIEGEL hat Jutta Stegemann zu einem Gespräch getroffen. Drei Stunden lang doziert sie über »Mind-Control« und »Innenpersönlichkeiten«, erwähnt dabei den Auschwitz-Arzt Josef Mengele, den belgischen Kinderschänder Marc Dutroux, den Campingplatz in Lügde. Folgt man Stegemann, stecken hinter allem satanistische Täterkreise. Sie spricht von einem Chirurgen, der Chips aus den Körpern der Opfer entferne – mit denen ihre Missbraucher sie orteten.
Fragt man die Therapeutin nach ihrer ehemaligen Klientin Malin Weber, muss man ihre Antwort so verstehen, als hätten die Täter Weber auf Stegemann angesetzt, um sie zu stoppen – weil sie zu gute Arbeit leiste.
Am Ende der Unterhaltung untersagt Stegemann dem SPIEGEL, Informationen aus dem Gespräch zu verwenden. Auf eine weitere schriftliche Anfrage antwortet sie, sie wolle sich nicht äußern. Malin Weber hatte Stegemann vorher von der Schweigepflicht entbunden.
An einem Tag im Oktober hat das Trauma Institut Mainz zu einer Tagung geladen: »Dissoziative Identitätsstörung – Diagnose und Therapie«. Gekommen sind drei Mitarbeiter des Opferhilfevereins Weißer Ring und sieben Psychotherapeuten. Die Psychotherapeutenkammer Rheinland-Pfalz erkennt das Seminar als Fortbildung an.
Brigitte Bosse leitet das Institut, sie arbeitet seit 30 Jahren mit Opfern sexueller Gewalt. Die ärztliche Psychotherapeutin sitzt in einem Gremium der Deutschen Bischofskonferenz, ist gefragte Gesprächspartnerin an Universitäten und in Ministerien, die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs der Bundesregierung hörte sie als Expertin.
An diesem Oktobertag kommt sie kurz vor der Mittagspause auf die »Dissoziative Identitätsstörung infolge ritualisierter Gewalt« zu sprechen. Die Seminarteilnehmer lernen, es sei Tätern möglich, die Persönlichkeit eines Opfers bewusst in »Innenmenschen« aufzuspalten, die jeweils verschiedene Aufgaben hätten – etwa »Verfolger«, »Beschützer« oder »innere Berichterstatter«, die den Tätern melden, wenn das Opfer beabsichtige, zur Polizei gehen.
Bosse bittet eine Frau nach vorn. Sie stellt sich als Betroffene ritueller Gewalt vor. Sie erzählt unter anderem, sie erinnere sich, wie sie als Säugling, gerade drei Monate alt, den erigierten Penis ihres Vaters gehalten habe. Dabei schließen Gedächtnisforscher ein so frühes Erinnerungsvermögen übereinstimmend aus. Auch die angeblichen Psychotechniken der Kulte sind für Fachleute nicht nachvollziehbar.
In der Szene verweist man hingegen auf das Werk der kanadischen Psychologin Alison Miller. In ihrem Buch »Jenseits des Vorstellbaren« beschreibt sie, ein Säugling lasse sich programmieren, etwa indem man ihm Nadeln in die Fußsohlen steche und Elektroden in Körperöffnungen einführe. Nach leichten Schocks, so Miller, heule das Kind auf. Danach blieben »zwischen fünfzehn Sekunden und einer Minute«, in der eine Trainerin »der neuen kindlichen Innenperson einen Namen und ein magisches Symbol zuweisen kann«.
Das Deutsche Ärzteblatt, die offizielle Fachzeitschrift der Bundesärztekammer, lobte im Jahr 2014 das »eindrückliche und sehr kenntnisreiche Buch«.
Auch in Mainz werden Millers Bücher empfohlen. Kein Teilnehmer hinterfragt offen die Behauptung, in Deutschland könnten Satanisten unbehelligt morden. Oder wie es sein könne, dass Täterkreise aus ansonsten unauffälligen Anwälten, Ärzten und Politikern über Gehirnwäsche-Techniken verfügten, die Geheimdienste seit Jahrzehnten zu erlangen versuchen.
Auf Nachfragen schwächt Bosse nach dem Seminar per E-Mail ihre Aussagen ab, schickt überarbeitete Folien, um ein »missverständliches Bild« zu vermeiden. Begriffe wie »Programmierung« hat sie gelöscht.
Der Psychiater Stefan Röpke kennt Schilderungen wie die aus dem Mainzer Seminar. Er ist ärztlicher Direktor mehrerer psychiatrischer Fachkliniken und leitet an der Berliner Charité die Forschungsgruppe Traumafolgestörung. Röpke behandelte schwer Traumatisierte, Soldaten und Folterüberlebende. Die meisten seiner Patientinnen und Patienten, sagt er, seien zu ihm gekommen, weil sie schwerste sexuelle Gewalt erlebt hatten.
Sie hätten Väter oder Nachbarn als Täter genannt, Verantwortliche in Kirchengemeinden, Vereinen, Kinderheimen. Doch dann, vor 20 Jahren, habe ihm eine Patientin etwas anderes berichtet, etwas unglaublich klingendes. Sie leide an einer Dissoziativen Identitätsstörung, weil sie von Mitgliedern eines satanischen Kults misshandelt worden sei.
Alles kam in ihrer Erzählung vor: Menschen in Kutten, gekreuzigte Kinder, Codewörter. Noch vor seiner Klinik, so habe die Frau behauptet, sei sie von einer Gruppe Satanisten in ein Auto gelockt, in eine Wohnung gebracht und missbraucht worden.
»Damals war ich sehr betroffen«, sagt Stefan Röpke. »Ich wollte helfen.« Er habe sich auf die Suche nach der Wohnung gemacht. Erst habe die Frau gesagt, es sei direkt in der Nachbarschaft gewesen. Dann: am Stadtrand. Dann: außerhalb der Stadt. Röpke fragte den damaligen Berliner Sektenbeauftragen um Rat. Der habe ihm geantwortet, dass ihm ähnliche Fälle begegnet waren, manchen hatte er nachgeforscht – immer ohne Ergebnis.
Schließlich stieß der Arzt auf Bücher, in denen angebliche Opfer ritueller Gewalt über ihr Leiden berichteten. Manche Passagen lasen sich wie der Bericht seiner Patientin.
Eines der bekanntesten Werke ist »Michelle Remembers«, erschienen 1980. Ein kanadischer Psychiater und seine Patientin berichten dort, wie die Frau als Fünfjährige von Anhängern eines Kults missbraucht worden sei. Bald darauf gaben in den USA Tausende Menschen an, Opfer ritueller Gewalt geworden zu sein. Das Phänomen ging als »Satanic Panic« in die Geschichte ein.
Das FBI widmete dem Thema 1992 einen Bericht, darin heißt es: »Seit mindestens acht Jahren untersuchen amerikanische Strafverfolgungsbehörden mit Nachdruck die Vorwürfe von Opfern rituellen Missbrauchs. Es gibt wenige oder keine Belege für den Teil ihrer Anschuldigung, der sich mit groß angelegter Babyzucht, Menschenopfern und organisierten satanischen Verschwörungen befasst.« Zahlreiche Patienten verklagten damals ihre Therapeuten, ihnen Missbrauchserinnerungen eingeredet zu haben. Einigen wurden Entschädigungen in Millionenhöhe zugesprochen.
Mittlerweile gilt aus Sicht von Gedächtnisforschern und Rechtspsychologen als belegt, dass Erinnerungen, auch an schlimme Traumatisierungen, von außen erzeugt sein können – und sich für die Betroffenen ähnlich auswirken, als wären sie tatsächlich geschehen.
Nicht möglich sei es jedoch, Menschen absichtsvoll in voneinander getrennte Persönlichkeiten zu spalten und diese zum Ausführen von komplexen Handlungen zu bewegen, sagt Psychiater Röpke. Er überblicke mittlerweile an die 40 Fälle, in denen Patientinnen nach einer Therapie geglaubt hätten, Opfer ritueller Gewalt und von Mind-Control zu sein. Allen sei eine Dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert worden. Auf seiner Station habe man die Patientinnen intensiv beobachtet, sagt Röpke. »Die Diagnose hat sich in keinem einzigen Fall bestätigt.«
Anfang 2020 kehrt Malin Weber aus einem Urlaub zurück, ungeplant schwanger. »Das stärkste Gefühl war Freude«, sagt sie. Aber auch Angst – vor der Reaktion ihrer Therapeutin. Als Jutta Stegemann von der Schwangerschaft erfährt, habe sie versucht, Weber weiszumachen, das Kind sei bei einer Massenvergewaltigung durch Kultanhänger entstanden. Das Ungeborene schwebe in höchster Gefahr. Mit dieser Sorge wendet sich Stegemann ans Jugendamt. Weber sagt: gegen ihren Willen.
Aus den Akten des Jugendamts Unna geht hervor, was die Therapeutin dort noch vorbringt: Ein anderes Kind Webers sei »vorgeburtlich geopfert« worden. Es sei nicht auszuschließen, dass Weber ihr Kind aufgrund der Programmierung den Tätern zum Missbrauch überlassen könne.
Das Jugendamt schaltet das Amtsgericht Unna ein. Zwei Wochen vor der Geburt des Kindes tagt das Gericht erstmals.
Der Betreuer, der Weber wegen ihres Stotterns zu Terminen bei Ämtern und Ärzten begleitet, bestätigt im Verfahren, sie sei seit Längerem »richtig stabil«. Aus den Schilderungen der Beteiligten ergibt sich: Weber nimmt alle gynäkologischen Vorsorgetermine wahr, hat sich um eine Hebamme gekümmert, geht zur Geburtsvorbereitung und – noch – zur Therapie bei Jutta Stegemann.
Weber gibt zu Protokoll, sie befinde sich seit 2010 im Ausstieg aus dem Satanskult. Sie traue sich jedoch zu, mit einer ambulanten Hilfe für ihr Kind zu sorgen. Und: Es sei ihre erste Schwangerschaft.
Weber legt dazu eine Bescheinigung ihrer Frauenärztin vor, wonach keine Spuren einer früheren Geburt feststellbar sind. Ein Widerspruch zur Behauptung Stegemanns über das geopferte Kind.
Unbeirrt trägt die Vertreterin des Jugendamts trotzdem vor, »nach Aussage von Frau Stegemann« könne man nicht wissen, wie die zahlreichen »Innenpersönlichkeiten« auf das Kind reagieren würden. Diese Sorge teilt die Richterin und entzieht Malin Weber bereits vor der Geburt vorläufig das Sorgerecht. Als ihre Tochter im September 2020 zur Welt kommt, muss Weber mit ihr in eine Mutter-Kind-Einrichtung ziehen.
Weber erinnert sich, weder die Richterin noch sonst irgendjemand habe nach Belegen für die Existenz der Satanisten gefragt. Das Protokoll bestätigt das. »Die haben das alle einfach geglaubt«, sagt Weber.
In der Schweiz erschütterte Ende 2021 eine Fernsehdokumentation die Öffentlichkeit. Der Beitrag »Der Teufel mitten unter uns« des Senders SRF belegt, wie unkritisch Schweizer Psychotherapeuten und Psychiater Pseudowissen über satanisch-rituelle Gewalt und Mind-Control übernahmen.
Eine Psychotherapeutin spricht vor der Kamera von elektronischen Fußfesseln, mit denen sie Patienten überwache und vor Zugriffen angeblicher Täter schütze. Der Oberarzt einer Klinik vergleicht die mutmaßlichen Techniken der Satanisten mit »Foltermethoden in den Konzentrationslagern«.
Nach der Ausstrahlung wiesen mehrere Kantone Untersuchungen an. Die Vereinigung der Psychiatrischen Kliniken und Dienste in der Schweiz nahm Stellung: Es bestünden »keine wissenschaftlich erhärteten Hinweise für die Möglichkeit einer gezielten Aufspaltung und Fremdsteuerung der Persönlichkeit durch Mind-Control-Techniken.«
Mittlerweile liegt ein Untersuchungsbericht vor. Demnach wurde das Personal einer großen psychiatrischen Privatklinik nahe der deutschen Grenze mehrfach zu ritueller Gewalt und Mind-Control geschult, unter anderem von der deutschen Psychologin Claudia Fliß.
Ein Großteil der Beteiligten, so der Untersuchungsbericht, habe es versäumt, die wie aus einer »Grusel-Märchenwelt« anmutenden Lehrinhalte zu hinterfragen. Therapien auf der Station mit »nicht evidenzbasierten Methoden« seien vermutlich »sogar krankheitsfördernd« gewesen.
In den Niederlanden liegt seit Ende 2022 der Abschlussbericht einer Untersuchungskommission zum Thema »Rituelle Gewalt« vor. Ergebnis: Trotz etlicher Opferberichte gebe es im Land keinen Nachweis für die Existenz satanistischen Missbrauchs.
Auch in Deutschland haben sich Wissenschaftler mit der Verschwörungserzählung befasst, jedoch auf andere Weise. Am renommierten Universitätskrankenhaus Hamburg-Eppendorf entstanden in einer Forschungsgruppe um den Sexualwissenschaftler und forensischen Psychiater Peer Briken mehrere Arbeiten zum Thema organisierte und rituelle Gewalt: über Täter, Psychotechniken, Hindernisse bei der Aufdeckung der Taten.
Die Ergebnisse entsprechen wenig überraschend dem, was in der Szene als Tatsachenwissen verbreitet wird: Zu Wort kommen Personen, die sich selbst als Betroffene definieren, und Therapeuten und Sozialarbeiter, die mit »Überlebenden« arbeiten. Was diese angeben, wird an keiner Stelle hinterfragt.
Briken sagt, Anstoß zu den Untersuchungen hätten Berichte Betroffener vor der Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs gegeben. Briken war selbst Mitglied der Kommission. »Wir haben gesehen, dass bei den Betroffenen großes Leid vorhanden ist. Wir haben von Menschen gehört, die nicht mehr arbeitsfähig sind, die sich suizidieren im Zusammenhang mit organisierter Gewalt. Darüber haben wir bisher kaum wissenschaftliche Erkenntnisse.«
Im Bericht der Schweizer Kommission heißt es, wer den Aussagen angeblicher Opfer ungeprüft Glauben schenke, leiste schädlichen Therapien Vorschub und lasse Betroffenen keine Chance, ihrer Parallelwelt zu entkommen. Deshalb fordern die Autoren »Realitätschecks« ein.
Fragt man Peer Briken danach, sagt er: »Das war bei dieser Untersuchung nicht unser Anliegen und wäre mit dem methodischen Vorgehen auch unmöglich gewesen.« Man habe an keiner Stelle behauptet, Fakten zu präsentieren. Er selbst habe keine wissenschaftliche Evidenz für Techniken wie Mind-Control oder die gezielte Aufspaltung der Persönlichkeit. Und wenn die Ergebnisse seiner Forschungsgruppe dennoch als Beleg für die Existenz ritueller Gewalt gelesen werden? »Dass Forschungsergebnisse missbraucht werden, lässt sich leider nicht verhindern.«
Während Malin Weber noch mit ihrer Tochter in der Mutter-Kind-Einrichtung lebt, lässt Jutta Stegemann erst Termine ausfallen, dann reißt die Therapie ganz ab. Eine Rechnung weist den Termin am 8. April 2021 als letzte von 83 Sitzungen aus.
»Je weniger Therapie ich hatte, desto besser ging es mir«, sagt Weber. »Immer seltener kamen irgendwelche Bilder hoch. Irgendwann habe ich begriffen, dass alles nicht stimmte.«
Am 28. Juni 2021 entscheidet das Gericht über das Sorgerecht für ihr Kind. Laut Akten beschreibt eine Mitarbeiterin der Mutter-Kind-Einrichtung Weber als umsichtig, gut informiert, »eine ganz verliebte Mutter«. Nur einmal, als ihr die vom Gericht beauftragte Psychiaterin noch vor dem Abschluss der Begutachtung eröffnet habe, sie sehe für sie keine Zukunft mit dem Kind, habe Malin Weber den ganzen Tag lang geweint.
Die Psychiaterin führt keine eigene Diagnostik durch. Was die Dissoziative Identitätsstörung betrifft, beruft sie sich auf die »Angaben der behandelnden Therapeutin Jutta Stegemann«. Die andere Gutachterin, eine Psychologin, fasst zusammen: »An der Liebe der Mutter zum Kind wird nicht gezweifelt.« Doch Stegemann zufolge sei Weber in »bis zu mehrere tausend Innenpersönlichkeiten« gespalten, auch solche, die weiterhin Kontakt zum Kult hielten. »Gemäß Stegemann« ein »unkalkulierbares Restrisiko«.
Vor Gericht trägt die Gutachterin vor, Weber habe »eine der schwersten psychiatrischen Erkrankungen überhaupt«. Im Gutachten schreibt sie, der Persönlichkeitswechsel zeige sich nach Stegemanns Angaben unter anderem durch den »Wechsel der Augenfarbe«. Niemandem, auch nicht der Richterin, fällt auf, dass das physiologisch nicht möglich ist.
Dann kommt der Gerichtsbeschluss: Die Kindesmutter könne »hoch belastet durch den Ausstieg aus dem Kult« und »ständig auf der Hut vor potenziellen Übergriffen« ihrer Erziehungsverantwortung für das Kind nicht gerecht werden. Webers Tochter kommt in eine Pflegefamilie.
In Deutschland sind Familien- und Justizministerium stolz, das Missbrauchsthema an höchster Stelle angesiedelt zu haben, in Gestalt des Amts des Unabhängigen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs (UBSKM). Hier sollen die Versäumnisse der Vergangenheit kompetent und integer aufgearbeitet werden.
Seit April 2022 ist die Journalistin Kerstin Claus die neue Missbrauchsbeauftragte des Bundes. Im Dezember sitzt sie in einem Konferenzraum in Berlin und sagt: Weil den Opfern sexueller Gewalt so lange und so häufig nicht geglaubt worden sei, nehme das Amt des Missbrauchsbeauftragten die gegenteilige Haltung ein – »Parteilichkeit für die Anliegen von Betroffenen«. Claus sagt: »Wir setzen uns für Schutz und Hilfe ein.«
Claus sagt, sie habe die Medienberichte in der Schweiz verfolgt. »Mit Sorge« schaue sie »auf die in konkreten Fällen festgestellten Behandlungsfehler«.
Doch auch auf dem offiziellen Hilfeportal der Missbrauchsbeauftragten war bis vor Kurzem von einer Aufspaltung der kindlichen Persönlichkeit »in mehrere Identitäten« durch »planmäßig wiederholte Anwendung schwerer Gewalt« und von »Mind-Control-Methoden« zu lesen. Gefördert vom Bundesfamilienministerium ging im November 2022 die Website wissen-schafft-hilfe.org online. Untermauert von Forschungsergebnissen aus Hamburg war dort von »Programmierung« und von »Teil-Persönlichkeiten« die Rede, denen »bestimmte Sexual- oder Gewaltpraktiken antrainiert werden« könnten. Auch in Broschüren, die sich an Opfer ritueller Gewalt richten und vom Amt der Missbrauchsbeauftragten gefördert wurden, wird die Mind-Control-Theorie verbreitet.
Fragt man Claus, ob sie all das glaube, windet sie sich: »Einen Begriff wie Mind-Control würde ich nicht nutzen«, sagt sie. Aber sie halte es für unangemessen, »Erfahrungen von Betroffenen undifferenziert als Verschwörungstheorie einzuordnen«. Schließlich berichteten diese von gezielter psychischer Manipulation.
Der SPIEGEL hat einen der Autoren des Schweizer Untersuchungsberichts um eine Bewertung der Aussagen zu ritueller Gewalt gebeten, die auf Internetseiten der Missbrauchsbeauftragten auffindbar waren oder noch sind. Werner Strik, ärztlicher Direktor der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Bern, sagt, Informationen, die unter dem Dach der UBSKM vermittelt würden, erweckten unweigerlich den Anschein besonderer Seriosität. Doch was dort etwa über »Mind-Control« zu lesen sei, entbehre »jeglicher wissenschaftlicher Grundlage«.
Im Dezember in Berlin sagt Claus: »Der Ansatz meines Amtes ist nicht, grundsätzlich infrage zu stellen, sondern Bedarfe zu hören und sich für passende Angebote einzusetzen.« Wenige Tage nach ihrem Gespräch mit dem SPIEGEL ist der Begriff »Mind-Control« auf dem Hilfeportal nicht mehr zu finden. Auf der Webseite wissen-schafft-hilfe.org heißt es, diese sei zurzeit im Wartungsmodus. Ein UBSKM-Sprecher nennt als Grund einen »Serverwechsel«.
Malin Weber ist im November 2021 nach Süddeutschland gezogen, in die Nähe ihrer Tochter. Angestoßen durch das Familiengericht ermittelte die Polizei wegen des Verdachts sexuellen Missbrauchs gegen unbekannt. Als Zeugin gab Malin Weber an, alles sei ihr von ihrer Therapeutin eingeredet worden. »Außer den Angaben der Therapeutin, die Betroffene habe ihr von Missbrauch berichtet«, schreibt die zuständige Staatsanwältin in Dortmund auf SPIEGEL-Anfrage, lägen »keine weiteren konkreten Anhaltspunkte für derartige Straftaten vor« – Ermittlungen eingestellt.
Seit August 2021 läuft beim Oberlandesgericht Hamm Malin Webers Beschwerde gegen den Beschluss des Amtsgerichts zum Sorgerecht. Im Mai 2022 hat sie bei der Psychotherapeutenkammer Nordrhein-Westfalen eine Beschwerde über ihre Therapeutin eingereicht, bislang ohne Antwort.
In der Zwischenzeit hat Weber den Führerschein gemacht. Sie strebt eine IT-Ausbildung an und geht regelmäßig zur Logopädie. Für Termine bei Ämtern und Ärzten braucht sie keine Begleitung mehr. Seit anderthalb Jahren hat sie einen festen Lebenspartner.
Das Oberlandesgericht Hamm hat eine neue Psychiaterin damit beauftragt, Malin Weber zu begutachten. Bis zur Verhandlung kann es noch Monate dauern. Bis dahin darf sie ihre Tochter nur alle drei Wochen sehen, maximal zwei Stunden, unter Aufsicht der Pflegemutter und einer Betreuerin. Weber sagt, ihre Tochter nenne sie abwechselnd Malin – und Mama.
(https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/wie-therapeuten-eine-verschwoerung-ueber-vermeintliche-opfer-ritueller-gewalt-verbreiten-a-fd5ea9b2-9c67-42ef-b451-0f511cb80053)