Frontex schaut weg, deutsche Polizei schaut rüber, Antisemitismus-Berichte schauen genau hin

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"Wer tötete Mike, Lamin, Hervé, Nzoy? Die Polizei." Transpi an der Demo in Lausanne vergangenen Mittwoch zum fünften Todestag von Mike Ben Peter.
“Wer tötete Mike, Lamin, Hervé, Nzoy? Die Polizei.” Transpi an der Demo in Lausanne vergangenen Mittwoch zum fünften Todestag von Mike Ben Peter.

 

Was ist neu?

Update zur Schweizer Süd-, Ost- und Nordgrenze

Im Süden akzeptiert Giorgia Meloni keine Ausschaffungen nach Italien mehr. Im Osten stellt neu die Grenzwache des Bundes die Wegweisungsverfügungen für St.Gallen aus. Im Norden kontrollieren immer mehr deutsche Grenzwächter*innen in Zügen und Trams, um illegalisierte Personen auf der Durchreise noch in der Schweiz rauszuwerfen.

Südgrenze: Aufgrund von «temporärer Überlastung» sistiert die italienische Regierung seit Dezember 2022 das Dublin-Abkommen. Das Staatssekretariat für Migration (SEM) hätte in dieser Zeit 170 asylsuchende Personen, die zuvor in Italien in einer Datenbank erfasst wurden, ausschaffen wollen. Doch statt nun deren Gesuche in der Schweiz zu prüfen, lässt das SEM sie warten. Gemäss dem Dublin-Abkommen muss das SEM erst nach sechs Monaten obligatorisch auf deren Asylgesuche eingehen. Das SEM hoffe, dass sich Italien noch vorher dem internationalen Druck füge und die Abschiebungen doch noch stattfinden können.

Für nach Italien abgeschobene Personen ist die Situation nach wie vor katastrophal. 2021 kam in Nordrhein-Westfalen das Oberverwaltungsgericht zum Schluss, dass Ausschaffungen nach Italien nicht mehr in Frage kommen. Es herrsche extreme materielle Not: keine Unterbringung, mangelnde Verpflegung und keine Arbeitsmöglichkeiten. Dies stelle eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung dar. Anders urteilt das deutsche Bundesverwaltungsgericht. Pauschal und ohne detaillierte Prüfung der Situation vor Ort stellt es sich auf den Standpunkt, Italien sei ein funktionierender Rechtsstaat, auf dessen Zusicherungen ausgeschaffte Personen doch bitte vertrauen sollen.

Die italienische Regierung hat nicht nur das Dublin-Abkommen ausgesetzt, sondern schränkt auch das spezifisch italienisch-schweizerische Pushbackabkommen ein. Dieses hat es der Schweizer Grenzwache bisher ermöglicht, nicht-europäische Personen, die im Grenzgebiet aufgegriffen werden und kein Asylgesuch stellen, gruppenweise und gegen deren Willen nach Italien zurückzudrängen. Allein im Januar hielt die Schweizer Grenzwache im Tessin 2’776 Migrant*innen fest, die sie als illegal anwesend betrachteten. Im Dezember 2022 waren es noch etwas mehr. Statt der durchschnittlich 100 Pushbacks pro Tag akzeptieren die italienischen Behörden derzeit maximal 20 bis 30 Personen pro Tag, die nach Italien zurückgedrängt werden.

Ostgrenze: 2022 griff die (Grenz-)Polizei im Kanton St. Gallen 26’518 Nicht-Europäische geflüchtete Migrant*innen auf. Das sind durchschnittlich über 70 pro Tag. Wer dann kein Asylgesuch stellt, wird von den Behörden als illegal anwesend betrachtet und erhält eine Wegweisung. Normalerweise ist dies eine Aufgabe der kantonalen Migrationsbehörde, welche im Einzelfall prüfen muss, ob eine Wegweisung zulässig und zumutbar ist. Nun übernehmen die Grenzwächter*innen des Bundesamtes für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) diese Aufgabe: „Damit die konsequente Wegweisung von Personen, die irregulär in die Schweiz einreisen ohne hier ein Asylgesuch stellen zu wollen, sichergestellt werden kann, hat sich der Bund bereit erklärt, den Kanton St. Gallen bei dieser Aufgabe zu unterstützen.“ Die Polizei in St. Gallen freut es, sie will die freigewordene Energie nutzen, um repressiver gegen Personen vorzugehen, die die Wegweisung nicht einhalten würden.

Nordgrenze: Nachdem in Deutschland unsolidarische Stimmen zu hören waren, die die Schweiz dafür kritisierten, dass die Schweizer Grenze  gegen Deutschland hin gegenüber Flüchtenden auf der Druchreise zu wenig dicht gemacht werde, trafen sich die Behörden beider Länder und arbeiteten einen neuen „gemeinsamen Aktionsplan“ aus. Drei Rosen gegen Grenzen schreibt dazu: „Dieser beinhaltet, dass deutsche Polizist*innen auch in der Schweiz patrouillieren dürfen. Üblicherweise steigen sie im Bahnhof SBB in deutsche Fernverkehrszüge ein. Während der kurzen Fahrt an den Badischen Bahnhof durchkämmen sie den Zug nach Menschen, die sie als geflüchtet lesen und kontrollieren sie. Die Menschen erhalten ein Einreiseverbot nach Deutschland und werden mit einer Karte zum Bundesasyllager Bässlergut aus dem Bahnhof geworfen: Sie sollen in der Schweiz Asyl beantragen. An den Grenzübergängen rund um Basel beobachten wir ein regelrechtes Wettrüsten: Auch die Tramverbindungen nach Weil am Rein (D) und St-Louis (F) sowie der TGV nach Paris werden massiv kontrolliert.“

https://www.nzz.ch/schweiz/italien-nimmt-kaum-fluechtlinge-zurueck-jetzt-waechst-der-druck-auf-den-bundesrat-ld.1728334?reduced=true&mktcval=twpost_02-03-2023&mktcid=smch
https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/migration-asyl/bvger-dublin-rueckfuehrungen-italien-zulaessig

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen/rss-feeds/nach-dienststellen/alle-mitteilungen.msg-id-93382.html

https://twitter.com/3rosen/status/1626682197234143245

https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/illegale-einreisen-migranten-an-der-stgaller-ostgrenze-bund-spricht-neuerdings-wegweisungen-aus-svp-lobt-keller-sutter-ld.2423445

 

Was ist aufgefallen?

Schweizer Antisemitismus-Berichte veröffentlicht: Anstieg von erfassten Handlungen um 44 Prozent

Vor allem online ist der erfasste Antisemitismus deutlich angestiegen. Mehr als die Hälfte der antisemitischen Äusserungen online sind Verschwörungsmythen zu u.a. Corona und dem Ukrainekrieg. Und knapp Dreiviertel des erfasstem Antisemitismus online findet auf Telegram-Channels von Corona-Leugner*innen und Massnahmen-Gegner*innen statt.

Letzte Woche sind zwei Schweizer Antisemitismus-Berichte veröffentlicht worden. Der Schweizerische Israelitische Gemeindebund (SIG) und die Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus (GRA) haben Zahlen zur Deutschschweiz, dem Tessin und der Rätoromanischen Schweiz herausgebracht. Einen Tag später veröffentlichte Coordination Intercommunautaire contre l’Antisémitisme et la Diffamation (CICAD) einen Bericht zur Westschweiz.

Insgesamt belief sich die Zahl aller erfassten antisemitischen Handlungen im Jahr 2022 auf 1’472. Dies entspricht einem Anstieg von 44 Prozent gegenüber 2021. Davon wurden 910 (2021: 859) in der Deutschschweiz und im Tessin verortet, in der Westschweiz waren es 562 (2021: 165). Der grosse Anstieg in der Romandie ist u.a. darauf zurückzuführen, dass CICAD auch Online-Plattformen wie Telegram, VK und Gab untersuchte. SIG und GRA befasste sich hauptsächlich mit „Mainstream“-Plattformen. Desweiteren gab es auch einen in Genf ansässigen Schoah-Leugner, dessen obsessive Aktivität für einen nicht geringen Anteil der erfassen Meldungen verantwortlich war. Doch selbst wenn diese beiden Faktoren ausser Acht gelassen werden, wurden nach wie vor 283 antisemitische Handlungen in der Westschweiz von CICAD erfasst, was einem Anstieg von mehr als 70 Prozent entspricht.

Die meisten antisemitischen Handlungen ereigneten sich online. Und mehr als 75 Prozent davon sollen auf das Konto von verschwörungsaffinen Gruppierungen aus dem Dunstkreis von Corona-Leugner*innen und Massnahmen-Gegner*innen gehen. Der Präsident des SIGs liess verlauten, er habe auf ein Ende der antisemitischen Verschwörungsmythen mit dem Ende der Corona-Massnahmen gehofft, jedoch haben sich Weltbilder bereits gefestigt und die Verschwörungsmythen liessen sich erstaunlicherweise beinahe nahtlos auf den Ukrainekrieg übertragen. So wurde in den Berichten auch darauf hingewiesen, dass Corona und der Ukrainekrieg als latente sog. „Trigger“ für antisemitische Verschwörungsmythen gelten. Ansonsten waren es häufig Geschehnisse im Nahen Osten oder vereinzelte Zeitungsberichte zu jüdischem Leben gewesen, die antisemitische Kommentare „getriggert“ hatten. So sind mehr als die Hälfte aller antisemitischen Online-Äusserungen zeitgenössische Verschwörungsmythen, Trend zunehmend. „Traditioneller“ Antisemitismus / Rechtsradikalismus macht knapp ein Drittel der antisemitischen Online-Äusserungen aus, darauf folgen israelbezogener Antisemitismus und Schoah-Leugnung.

Die Angriffe, welche sich im „realen“ Raum ereigneten und erfasst wurden, beliefen sich auf 57 im Tessin und in der Deutschschweiz (2021: 53), sowie 28 in der Westschweiz (2021: 22). Hierunter fallen Beschimpfungen, öffentlich getätigte Aussagen, Schmierereien, Zusendungen, antisemitische Auftritte und antisemitische Plakate. In der Westschweiz wurde eine Synagoge geschändet. Und dem SIG wurde zum ersten Mal seit 2018 eine Tätlichkeit gemeldet. Die Zunahme der Fälle von 2021 bis 2022, die nicht online stattfanden, war zwar gering, ist im Vergleich zu 2018 jedoch trotzdem signifikant.

https://www.tachles.ch/artikel/news/der-zweite-schweizer-antisemitismusbericht
https://swissjews.ch/de/news/antisemitismusbericht2022
https://www.tachles.ch/artikel/news/keine-fundierte-analyse
https://www.srf.ch/news/schweiz/bericht-zu-antisemitismus-antisemitische-verschwoerungstheorien-nehmen-in-der-schweiz-zu
https://www.tagesanzeiger.ch/mit-codes-versuchen-sie-ihren-hass-gegen-juden-zu-verdecken-976670567154
https://www.20min.ch/story/geht-nach-auschwitz-das-erleben-juedische-kinder-beim-fussball-891327638470
https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/190617442-antisemitismus-blueht-unter-corona-massnahmengegnern-wieder-auf
https://www.srf.ch/news/schweiz/antisemitismus-bericht-verschwoerungstheorien-foerdern-judenfeindlichkeit-im-netz
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/ralph-lewin-sorge-wegen-wachsendem-antisemitismus?id=12343492

Rapport CICAD sur l`antisémitisme en Suisse romande: https://drive.google.com/drive/u/0/folders/1CJTmTZarTWuAH7z4sYv9dR-l3FePIjZO

 

Was tut Frontex?

Neuer Direktor soll das Frontex-Image verbessern und verweigert weiterhin das Retten im Mittelmeer

Hans Leijtens ist seit dem 1. März neuer Frontex-Chef. Sein Vorgänger Fabrice Leggeri wusste von illegalen Pushbacks und hat sie gedeckt. Als die Beweissführung  erdrückend wurde, musste er seinen Platz räumen und übernahm die Rolle des Südenbocks. Die Probleme sind jedoch geblieben.

Ein deutscher Frontex-Beamter hält Ausschau nach Menschen auf der Flucht.
Ein deutscher Frontex-Beamter hält Ausschau nach Menschen auf der Flucht.

Leijtens soll Symbol eines Neuanfangs sein. Das EU-Parlament hat sich für ihn als neunen Frontex-Direktor ausgesprochen. Leijtens versprach, das Vertrauen in die Behörde nach den massiven Rechtsbrüchen wiederherzustellen. Frontex müsse effektiver werden, sagt der neue Chef. Als Leitlinien nannte er die Rechenschaftspflicht für alle Grenzschützer*innen. Die Rechtmässigkeit aller Operationen müsse sichergestellt werden. Er versprach sogar, dass es keine «Pushbacks» mehr geben werde. Er meinte, Grundrechte sollen nicht im Gegensatz zum Grenzmanagement stehen. Mit solchen Worten will er das Image der Agentur verbessern.

Um die Externalisierung der europäischen Migrationsabwehr voranzutreiben, hatte das EU-Parlament bereits 2016 beschlossen, in der Frontex-Verordnung «Aktionen auf dem Hoheitsgebiet von Drittstaaten» zu ermöglichen. Anvisiert sind Zusammenarbeiten mit afrikanischen Ländern und mit Ländern im Westbalkan. Ein erstes Statusabkommen schloss die Kommission 2019 mit Albanien, anschliessend folgten Montenegro und Serbien. Nach Ausbruch des Ukraine-Krieges hatte die EU-Kommission innerhalb kurzer Zeit ein Abkommen mit der Regierung der Republik Moldau abgeschlossen und Grenztruppen entsandt. Neu hat auch Nordmazedonien einer «erweiterten Frontex-Operation» ab 1. April zugestimmt.

In den Statusabkommen werden Befugnisse von Frontex festgelegt, unter anderem:

  • die Anwendung von Gewalt des Frontex-Personals.
  • die Immunität der entsandten Beamt*innen. Im Einsatzstaat sind sie demnach vor einer Strafverfolgung geschützt, sofern sich der Verstoss auf die dienstliche Tätigkeit bezieht. Die Frontex-Teammitglieder geniessen dort zudem «uneingeschränkten Schutz» vor zivil- und verwaltungsrechtlicher Verfolgung.

Solche Statusabkommen will die EU-Kommission auch mit westafrikanischen Ländern abschliessen, damit Frontex-Beamt*innen vor Ort stationiert und eingesetzt werden können. Bislang hat sich jedoch kein «afrikanischer Partner» für eine solche Frontex-Operation gefunden. Das Ziel der mit Senegal und Mauretanien geplanten Statusabkommen ist es, die Atlantikroute stillzulegen. In Brüssel wird seit Jahren an einem «neuen europäischen Migrationspakt» gebastelt. Da noch keine Einigkeit in Sicht ist, werden inzwischen erste «operative Partnerschaften zur Bekämpfung der Schleuserkriminalität» mit Marokko und Niger abgeschlossen.

Währenddessen sind bei einem Bootsunglück vor der italienischen Küste kürzlich 70 Migrant*innen ums Leben gekommen. In diesem Zusammenhang war erneut Kritik an Frontex entbrannt. Lange vor dem Unglück wusste Frontex bereits von dem Boot, aber es wurde keine koordinierte Rettung eingeleitet. Die Menschen hätten gerettet werden können. Bei dem Bootsunglück vor der italienischen Küste hatte das Frontex-Flugzeug nämlich das Boot gesichtet. Nachdem das Flugzeug aufgrund von Treibstoffmangel zurückkehren musste, beendete Frontex die Beobachtung einfach. Vor einigen Tagen haben 20 Organisationen ein Ende des Mittelmeer-Einsatzes der EU-Grenzschutzagentur gefordert. «Ihre Agentur war in unzählige Skandale verwickelt», schrieben die NGOs in einem offenen Brief an den neuen Frontex-Direktor Hans Leijtens.

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171387.frontex-imagepflege-fuer-den-eu-grenzschutz.html
https://www.ref.ch/news/migration-seenotrettung-mittelmeer-ngo-frontex-leijtens/

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171384.eu-migrationsabwehr-frontex-draengt-nach-westafrika.html

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171384.eu-migrationsabwehr-frontex-draengt-nach-westafrika.html

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171360.eu-migrationsabwehr-testfeld-westbalkan.html

https://sea-watch.org/en/open-letter-to-frontex-director-hans-leijtens/

https://www.avvenire.it/attualita/pagine/il-naufragioin-calabria

 

Was schreiben andere?

„Frontex und die italienischen Behörden haben die Menschen sterben lassen“

Im NoFrontex-Abstimmungskampf hiess es oft, Frontex achte und schütze Menschenleben. Die Millionen-Beiträge der Schweiz seien daher gerechtfertigt. Nachdem am Sonntag ein Boot an den Felsen vor der süditalienischen Küste zerschellte und über 60 Personen starben, wird die Verantwortung von Frontex und den italienischen Behörden immer deutlicher. Das Sterben hätte auch diesmal verhindert werden können. Bewusst wurde jedoch davon abgesehen.

Den ganzen Text findt ihr hier: https://migrant-solidarity-network.ch/2023/03/01/frontex-und-die-italienischen-behoerden-haben-die-menschen-sterben-lassen/

Weitere Artikel zum Thema:
https://www.facebook.com/photo/?fbid=1423195811822194&set=a.494761757998942
https://www.infomigrants.net/en/post/47136/migrant-shipwreck-tears-families-apart
https://www.theguardian.com/world/2023/feb/27/italy-shipwreck-more-bodies-pulled-from-sea-calabria
https://www.fanpage.it/politica/naufragio-di-crotone-cosa-non-ha-funzionato-nella-catena-dei-soccorsi-ai-migranti/
https://www.bbc.com/news/world-europe-64797216
https://www.euractiv.de/section/innenpolitik/news/seenotrettung-italien-ignorierte-warnungen-von-frontex-vor-schiffsunglueck/

Wo gabs Widerstand?

Wutwache in Bern nach Schiffbruch im Mittelmeer

Unter dem Motto «Gleichgültigkeit schützt nur die Herrschenden» fand am Dienstag in Bern eine Mahn- und Wutwache zum Schiffbruch vor Crotone statt. Das Migrant Solidarity Network benennt in einer Rede die Verantwortlichen und betont, dass dieser unnötige Tod dutzender Menschen weder plötzlich noch einmalig oder überraschend, sondern das Ergebnis tödlicher Politik ist.

Wutwache auf dem Bahnhofplatz Bern.
Wutwache auf dem Bahnhofplatz Bern.

«Am Sonntag zerschellte ein Holzboot an der kalabrischen Felsenküste in seine Einzelteile. 59 Menschen sind tot geborgen worden. Darunter 13 Kinder. 80 Personen überlebten. 20 von ihnen sind im Krankenhaus. Wie viele genau im Boot sassen ist ungewiss. Einige der Überlebenden berichten von mindestens 250 Menschen an Bord, andere von 180. Die Reaktionen von politischen Entscheidungsträger*innen in Europa lauten: Erschüttert, traurig, fassungslos. Eine Notsituation, ein tragisches Ereignis. Welch Hohn.

Dieses Ereignis ist tragisch, das stimmt, aber es ist nicht plötzlich, nicht einmalig, nicht überraschend, sondern die Konsequenz der aktuellen Todespolitik Europas an den Aussengrenzen. Überfüllte, schlechte Boote; prekäre gefährliche Überfahrten, die heimlich geschehen müssen; Boote, die von Polizei und Küstenwachen wieder zurückgebracht werden, statt Schutz und Sicherheit zu ermöglichen. Die Antwort auf Flucht ist nicht Schutz und wird nicht als Recht auf Leben verstanden, sondern die Antwort ist Gleichgültigkeit oder gar Vertreibung.

Die Organisation Alarmphone, die Rettungen im Mittelmeer koordiniert und ermöglicht erklärt: «Es ist politischer Wille, Ankünfte von Booten nicht über die Notfalllogik hinaus zu verwalten, ständig unvorbereitet auf Ereignisse zu sein, die vorhersehbar und daher mit spezifischen Instrumenten und genauen Massnahmen beherrschbar sind»

Es ist politischer Wille, so ist es auch in den weiteren Statements der Politiker*innen zu erkennen. Denn die Mitverantwortung oder der Wille, die Zahl der Toten zu minimieren, wird von sich geschoben: Die Schlepper*innen seien es, die Kriminalität, die Herkunftsstaaten, die ihre «Probleme» nicht lösen würden, die anderen – nicht das eigene – europäische Land, die sich nicht an Verteilregeln halten. Als ob die Menschen auf der Flucht Waren sind, die verteilt werden müssen.

Europa schaut weg. Ist gleichgültig. Europa betreibt eine Politik des Todes an ihren Aussengrenzen. Die Infrastrukturen, die Praktiken, die Massnahmen sind immer auf die Ausnahme ausgerichtet, auf den Notfall. Meloni zum Beispiel, die Regierungspräsidentin Italiens, führte dieses Jahr als Massnahme ein neues Dekret ein, in dem Seenotrettungsschiffe willkürlich einem Hafen zugeteilt werden, an dem sie landen können. Dieser kann Tage entfernt sein, was weniger Rettungen bedeutet, mehr Wartezeit für die Menschen auf dem Boot. Die Politik ist ausgerichtet auf das Sterben lassen. Risiko besteht nicht bei einer Rettung, sondern der mögliche Tod von Menschen wird in Kauf genommen. Eine Politik der Kälte.

Das Boot ist am Sonntag kurz vor dem Ziel, an der kalabrischen Küste zerschellt. Es war wohl dunkel, kalt, windig, stürmisch. Würde Europa eine Politik des Schutzes ermöglichen, hätte dort ein Leuchtturm stehen können, der Licht gegeben hätte. Ein Funksystem vielleicht, das über einen ruhigen Küstenabschnitt informiert hätte, ein Boot vielleicht, das dem anderen Boot entgegenfahren wäre, um es in einen Hafen zu führen. Eine Politik für das Leben.»

https://migrant-solidarity-network.ch/2023/02/28/gleichgueltigkeit-schuetzt-nur-die-herrschenden/

22 Menschen im Hungerstreik in libyschem Gefängnis

Mindestens 22 syrische Migrant*innen sind am Montag in den Hungerstreik getreten. Sie waren vor fünf Monaten legal aus Syrien nach Libyen eingereist, wurden jedoch bei einer Razzia gegen Migrant*innen festgenommen und werden seitdem unter schlechten Haftbedingungen festgehalten. Sie fordern ihre Freilassung.

Von den libyschen Behörden festgenommene Migrant*innen in Zawiya im Norden Libyens.
Von den libyschen Behörden festgenommene Migrant*innen in Zawiya im Norden Libyens.

Die Menschenrechtsorganisation Belaady macht auf den Hungerstreik von 22 syrischen Geflüchteten aufmerksam. Sie seien über den Flughafen Bengasi legal auf libysches Territorium eingereist und wurden später in der Region Al-Ajilat im Westen Libyens festgenommen und unter dem Vorwurf der illegalen Einreise und des dortigen Aufenthalts inhaftiert. Ein Gericht verurteilte sie zu einer Geldstrafe und ordnete die Abschiebung der Menschen nach Syrien an. Sie protestieren mit dem Hungerstreik gegen die schlechten Haftbedingungen, gegen ihre Rückführung nach Syrien und für die umgehende Freilassung aus dem Gefängnis.

Ihr Protest macht auch auf die Situation tausender weiterer Migrant*innen aufmerksam, die in Libyen festgehalten werden. Laut Zahlen des IOM befanden sich im August 2022 mindestens 680’000 Migrant*innen aus über 40 Ländern in Libyen. Die meisten von ihnen sind von willkürlicher Inhaftierung, Folter und Gewalt betroffen. Die Vereinten Nationen haben wiederholt die Rückführung von Migrant*innen, die im Mittelmeer aufgegriffen oder gerettet wurden, nach Libyen verurteilt, weil die grundlegenden Voraussetzungen für die Sicherheit der Migrant*innen nicht gegeben sind und das Land nicht als sicherer Ort angesehen werden kann. Allein in der Woche vom 12. bis 18. Februar wurden mindestens 885 Migrant*innen aufgegriffen und nach Libyen zurückgeschleppt.

https://apnews.com/article/syria-libya-tripoli-prisons-63640e6bb09610b3ed87ab6ecbf51533
https://ara.tv/bjuk6
https://www.infomigrants.net/en/post/47117/syrian-migrants-on-hunger-strike-in-libyan-prison-rights-group-reports

Familie von Oury Jalloh zieht vor den EGMR

Nun hat auch die höchste Instanz der deutschen Justiz den Mord und das Verbrennen eines Menschen durch Polizeibeamte verneint – entgegen aller Fakten und Beweismittel. Die Familie von Oury Jalloh wird nun vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte klagen.

Gedenkdemo in Dessau.
Gedenkdemo in Dessau.

18 Jahre nachdem Oury Jalloh rechtswidrig festgenommen und im Dessauer Polizeigewahrsam schwer misshandelt und verbrannt wurde, sind alle deutschen Justizinstanzen ausgeschöpft und nicht bereit, die Verantwortlichen zu benennen und zur Verantwortung zu ziehen. Die Gerichte bezogen sich stets auf die widersprüchlichen Aussagen und Schutzbehauptungen der Täter*innen aus dem Polizeirevier und auf eine unprofessionelle und selektive Beweismittelerhebung, wie die Initiative Break the Silence schreibt. «Von Beginn an haben die zuständigen Staatsanwaltschaften die wichtigsten Fragen nach der Brand- und Todesursache unbeantwortet gelassen. Selbst nach der Weisung des BGH von 2010 wurden die Ermittlungen weiter verschleppt, Aufträge für Gutachten manipuliert und Stellungnahmen der eigenen Expert*innen fehlinterpretiert oder gar ignoriert.» Seitens der deutschen Justiz wird es also keine Gerechtigkeit für den Mord an Oury Jalloh geben. «Die deutsche Justiz hat damit erneut ein wichtiges und höchstrichterliches Signal an die deutsche Polizei gesendet: Ihr könnt weiterhin Menschen erschießen, ersticken, erschlagen oder verbrennen – wir werden euch in jedem noch so offensichtlichen Fall beschützen!» Die Gutachten, in Auftrag gegeben von Angehörigen und Unterstützer*innen zeigen es klar: Oury Jalloh – Das war Mord!

https://www.mdr.de/nachrichten/sachsen-anhalt/dessau/dessau-rosslau/oury-jalloh-europaeischer-gerichtshof-100.html
https://initiativeouryjalloh.files.wordpress.com/2023/02/oury-jalloh-ablehnung-verfassungsbeschwerde-27.3.23.pdf
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/warum-sich-oury-jalloh-nicht-selbst-angezundet-haben-kann-5094097.html

Genf: Demo für Frauenrechte in Afghanistan

Am Sonntag, 26.02.23, gingen zahlreiche Menschen aus der ganzen Schweiz in Genf auf die Strasse, um auf die weiterhin schwierige Situation von Frauen in Afghanistan aufmerksam zu machen.

Demonstration zur Unterstützung afghanischer Frauen in Genf, photo by Demir Sönmez.
Frauen, Leben, Freiheit: Von diesem Slogan ist die Realität der Frauen in Afghanistan aktuell weit entfernt. Photo by Demir Sönmez.

«Der Abbau der Frauenrechte und der eingeschränkte Zugang zur Justiz für Überlebende von Gewalt geben Anlass zur Sorge. Eine der größten Herausforderungen für die Rechte der Frauen in Afghanistan ist das Verbot der Taliban, dass Mädchen Universitäten und Schulen besuchen und sich an politischen Entscheidungen beteiligen dürfen», sagte eine Aktivistin von AWAS, die die Demo organisiert haben. Es ist nicht absehbar, dass die Taliban ihre Politik gegenüber Frauen in absehbarer Zeit ändern werden.

https://www.instagram.com/reel/CpS4_TqKgdA/?igshid=YmMyMTA2M2Y=
https://www.nau.ch/news/ausland/experte-frauen-in-afghanistan-bleiben-von-bildung-ausgeschlossen-66438630
https://photographygeneva.com/gallery/manifestation-en-soutien-aux-femmes-afghanes-a-geneve/?fbclid=IwAR0BX0r20KJq1U3WPD5ImQ1Th_VJQCpyr6_CJ90UD8if8rBYzo9MxmhRKNA

Lausanne: Auch fünf Jahre später noch keine Gerechtigkeit für Mike

Rund 150 Personen versammelten sich am späten Mittwochabend in den Strassen von Lausanne, um an den fünften Jahrestag des Todes von Mike Ben Peter zu erinnern. Er starb am 1. März 2018 nach einer gewaltsamen Festnahme an einem Herzstillstand.

Mike Ben Peter war ein Familienvater, ein Ehemann, ein Bruder, ein Mitglied des Jean-Dutoit-Kollektivs, ein schwarzer Mann aus Nigeria ohne legalen Aufenthaltsstatus in der Schweiz, erinnerten die Organisator*innen der Demo in Lausanne. Er wurde Opfer rassistischer Gewalt bei einer Kontrolle in unmittelbarer Nähe des Bahnhofs von Lausanne. Unter dem Gewicht von sechs Polizisten, was einer Belastung von etwa 300 Kilogramm entspricht, erlag er einem Herzinfarkt.

Fünf Jahre später hat die Staatsanwaltschaft nun die Anklage veröffentlicht. Darin ist keine Andeutung einer Schuld oder Vorsätzlichkeit enthalten. Keine Wiedergabe der Brutalität des Vorgehens. Nach den Morden in Bex und Morges ein weiteres Beispiel für das Wohlwollen und des Schutz der Staatsanwaltschaft gegenüber der Polizei. Der Prozess gegen die sechs Polizisten, die wegen fahrlässiger Tötung angeklagt sind, wird im Juni stattfinden. Alle werden auf Freispruch plädieren.

https://www.bluewin.ch/fr/infos/faits-divers/cinq-ans-apr-s-hommage-et-cort-ge-dans-les-rues-de-lausanne-1647730.html
https://lecourrier.ch/2023/03/01/hommage-a-mike-ben-peter/

Rückblick auf die ACTIONWEEK #STOPDUBLINCROATIA

Was steht an?

Aktionstage gegen Rassismus und Racial Profiling
10.-21.03.23 I Zürich
Nach unseren starken Demos letztes Jahr geht es weiter mit den Aktionstagen gegen rassistische Polizeigewalt. Wir fordern weiterhin Gerechtigkeit für Nzoy und alle Opfer rassistischer Gewalt! Um laute und vielseitige Aktionstage auf die Beine stellen zu können, sind wir auf eure Beiträge angewiesen: Organisiert an diesen Tagen Aktionen, geht plakatieren, sprecht über strukturellen Rassismus und kommt an unsere Veranstaltungen. Schickt ein Foto oder Video eurer Aktion und postet es unter #justice4nzoy und verlinkt @justice4nzoy auf Instagram. Das vollständige Programm der Aktionstage folgt bald.
https://www.instagram.com/p/Co-oL63K12f/

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Asylpolitik: Zurück in die Ungewissheit
Die Schweiz schafft einen abgewiesenen Asylsuchenden nach Sri Lanka aus. Dabei hatte sogar der Uno-Ausschuss gegen Folter in dessen Fall interveniert.
https://www.woz.ch/2309/asylpolitik/zurueck-in-die-ungewissheit/!VZFZ0QZSAJS1

Bern als «sicheren Hafen»
Heute Abend debattiert der Stadtrat über ein Postulat, welches fordert, dass die Stadt Bern zu einem sicheren Hafen wird. Die Idee geht zurück auf die zivilgesellschaftliche Bewegung Seebrücke, die 2018 in Deutschland gegründet wurde und seit einigen Jahren auch in der Schweiz aktiv ist.
Die Alternative Linke Bern versteht sich als parlamentarischer Arm von solchen Bewegungen. Ihr Stadtrat David Böhner erklärt, dass der Stadt zwar in vielen Fällen die Hände gebunden seien – Migration und Asyl sind auf nationaler Ebene geregelt. «Doch die Stadt Bern könnte beispielsweise im Schweizerischen Städteverband aktiv werden und gegenüber dem Bund einfordern, dass die Stadt direkt Geflüchtete aufnehmen kann», betont er.
https://rabe.ch/2023/03/02/bern-als-sicheren-hafen/

Umstrittene Polizei-Aktion – Protokoll einer Familien-Zwangsausschaffung
Videos zeigen die Zwangsausschaffung einer kurdischen Familie mit drei kleinen Kindern. Das Vorgehen sorgt für Kritik.
https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/schonungslose-polizei-aktion-protokoll-einer-familien-ausschaffung?urn=urn:srf:video:583f44c8-07a8-499d-881e-ce8deda84bdf