Medienspiegel 28. Februar 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Schlägerei im Bundesasylzentrum
Fünf Personen werden verletzt und drei werden vorläufig festgenommen: Am Sonntag Abend kommt es im Bundesasylzentrum in Bern zu einer Schlägerei zwischen mehreren Personen. Schon länger gibt die Sicherheit rund um das Asylzentrum an der Morillonstrasse zu reden. Ausserdem fehlt es auch an Fachkräften für die rund 300 Asylsuchenden.
https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/schlaegerei-im-bundesasylzentrum-150323123


+++AARGAU
Mieter sollen in Windisch weichen: Aargau plant Asylunterkunft – 49 Kündigungen in Wohnhaus
Die Gemeinde Windisch und der Kanton Aargau liegen sich wegen einer Asylunterkunft für rund 100 Personen in den Haaren. Der Druck auf die Kantonsbehörden wächst.
https://www.derbund.ch/windisch-asylunterkunft-49-kuendigungen-wohnhaus-820374048246
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/chance-fuer-grenchen?id=12343348 (ab
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/die-aargauer-politik-ist-sich-im-fall-windisch-einig?id=12343537
-> https://www.blick.ch/politik/svp-chef-marco-chiesa-zum-fall-windisch-und-seinem-parteifreund-in-regierungsrat-gallati-muss-ueber-die-buecher-id18356443.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/aargau/673140993-asylunterkunft-windisch-ag-druck-auf-die-kantonsbehoerden-waechst
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/asylunterkunft-in-windisch-wehrt-sich-die-mieterschaft-koennte-es-noch-eine-weile-dauern
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/liegenschaftsbesitzer-von-windisch-nimmt-stellung?id=12343690
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/eklat-um-wohnungs-kuendigungen-in-windisch-ag?urn=urn:srf:video:ef20af43-6a7c-4327-b5eb-bb3a03c05d3d
-> Echo der Zeit: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/asylunterkunft-windisch-druck-auf-kanton-steigt?partId=12343750
-> https://www.nau.ch/politik/regional/wieso-wirft-svp-schweizer-fur-fluchtlinge-aus-wohnung-66433694
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/nach-massenkuendigung-in-windisch-druck-auf-den-kanton-aargau-waechst-150323428
-> https://www.telem1.ch/aktuell/kuendigung-wegen-fluechtlingen-jetzt-setzen-sich-die-betroffenen-mieter-aus-windisch-zur-wehr-150323098
-> https://www.telem1.ch/aktuell/massive-kritik-das-departement-von-jean-pierre-gallati-kommt-von-allen-seiten-unter-druck-150323091
-> TalkTäglich: https://www.telem1.ch/talktaeglich/massenkuendigungen-wegen-fluechtlingen-149791478
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/windisch-mieter-bjorn-erhalt-nach-rauswurf-wohnung-angeboten-66433884
-> https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/baden-brugg/regierungsrat-gallati-unter-beschuss-soll-sich-entschuldigen-und-alles-rueckgaengig-machen-150324230
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/asylunterkunft-im-aargau-wohnungen-in-windisch-gekuendigt-aufschrei-von-links-bis-rechts


Wäre die Kündigung von Mietern rechtens? Ein Mietexperte schätzt ein
Sowohl in Seegräben als auch in Windisch droht Mietern eine Wohnungskündigung, damit Asylsuchende einziehen können. Doch ist eine solche Kündigung rechtens? Ein Mietexperte klärt auf.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/waere-die-kuendigung-von-mietern-rechtens-ein-mietexperte-schaetzt-ein-150323442
-> https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/aargau/mietrechtsexpertin-zum-fall-windisch-die-mieter-haben-gute-chancen-die-kuendigung-anzufechten-id18358336.html


Geschäft mit alten Immobilien: Was läuft in Windisch hinter den Kulissen?
Mieterinnen und Mieter müssen sich nach einer neuen Bleibe umsehen, weil ihre Wohnungen zur Asylunterkunft umfunktioniert werden. Spielt der Kanton einem Immobilienentwickler in die Karten?
https://www.blick.ch/wirtschaft/geschaeft-mit-alten-immobilien-was-laeuft-in-windisch-hinter-den-kulissen-id18358128.html



nzz.ch 28.02.2023

Asylstreit von Windisch und Seegräben: Mieter und Flüchtlinge werden gegeneinander ausgespielt

Die steigenden Flüchtlingszahlen stellen Kantone und Gemeinden vor immer grössere Probleme. Der Verteilkampf um den knappen Wohnraum wird dadurch heftiger.

Erich Aschwanden, Irène Troxler

Seit einigen Tagen diskutiert die Schweiz über zwei Wohnhäuser. Sowohl in Seegräben (Zürich) wie auch in Windisch (Aargau) steht die Frage im Zentrum, ob teilweise langjährige Mieter Platz machen für Flüchtlinge. Insbesondere bei der Unterkunft in Windisch, wo 49 Asylbewerber untergebracht werden sollen, ist die Politisierung in vollem Gang.

So hat der SVP-Präsident Marco Chiesa am Dienstag im «Blick» gefordert, der Kanton Aargau müsse diesen Entscheid rückgängig machen. Er sieht die Kündigung für rund 100 Mieterinnen und Mieter als «Beweis für das Asyl-Chaos, welches in unserem Land herrscht». Dass Schweizerinnen und Schweizer die Kündigung erhielten, weil in ihren Wohnungen Asylsuchende einquartiert würden, ist laut Chiesa «die schlimmste Entscheidung, die man treffen kann».

Es ist auffällig, dass die direkt involvierten Behörden währenddessen die Lage zu beruhigen versuchen. «Wir stehen in Kontakt mit dem Kanton und den Grundeigentümern. Bevor dieser Austausch stattgefunden hat, werden wir keine Stellung nehmen», erklärt Gemeindepräsidentin Heidi Ammon auf Anfrage der NZZ. Am Montag hatte es noch etwas anders getönt. «Der Gemeinderat wehrt sich vehement gegen den Rauswurf seiner Einwohnerinnen und Einwohner aus ihren Wohnungen», hielt die Exekutive der 7800 Einwohner zählenden Kommune fest.

Beim Kanton Aargau verweist man ebenfalls auf den aufgenommenen Dialog. «Die bestehenden Differenzen will der Kantonale Sozialdienst nicht über die Medien austragen», sagt Michel Hassler, der Sprecher des zuständigen Departements. Die kantonale Behörde werde den Brief des Gemeinderats Windisch in den nächsten Tagen beantworten. Anschliessend werde man die Öffentlichkeit über den Inhalt des Briefs informieren.

Ausserdem hält Hassler fest, dass es sich nicht um eine Beschlagnahmung von Wohnungen handelt. «Es geht um eine reguläre Anmietung zweier Altliegenschaften, die einem Neubau weichen sollen.» Die bisherigen Mieter hätten also sowieso bald ausziehen müssen. Wann mit der Realisierung des Bauprojekts begonnen wird, weiss Gemeindepräsidentin Ammon nicht.

Seegräben krebst zurück

Letzte Woche war auch bekanntgeworden, dass die Zürcher Gemeinde Seegräben einem langjährigen Mieter gekündigt hat, angeblich weil sie Wohnraum für Asylsuchende bereitstellen muss. Der Gemeindepräsident Marco Pezzatti sagte den Medien, man habe keine andere Möglichkeit gesehen, die vom Kanton vorgeschriebene Quote zu erfüllen. Auch hier war die Empörung gross. Mittlerweile musste Seegräben allerdings einräumen, dass der Gemeinde ein Fehler unterlaufen war. Sie muss gar keine weiteren Flüchtlinge aufnehmen. Prompt sieht sich die Gemeinde mit dem Vorwurf konfrontiert, sie habe das Ganze inszeniert.

Sowohl in Windisch wie auch in Seegräben scheint sich die Angelegenheit nach demselben Muster abzuspielen. Voreilig kündigen Gemeinden und Kantone bestehenden Mieterinnen und lösen damit einen Sturm in den Medien und auf den sozialen Netzwerken aus. Erst nachdem der Schaden angerichtet ist, versuchen die Behörden den entstandenen Imageverlust wiedergutzumachen. Ein Szenario, das sich angesichts steigender Asylzahlen und immer knapper werdenden Wohnraums in den kommenden Monaten noch häufiger abspielen könnte.

Kritik am Entscheid des Kantons Aargau kommt denn auch keineswegs nur von rechts. Von der GLP über die SP bis hin zum Verein Netzwerk Asyl Aargau bezeichnen zahlreiche Parteien und Organisationen das Vorgehen des Kantonalen Sozialdienstes als kurzsichtig. Sie fordern, dass eine neue Lösung gesucht wird. «Es ist inakzeptabel, dass Menschen in Notlagen gegeneinander ausgespielt werden, ob sie nun Einheimische oder Geflüchtete sind», betont Stefan Dietrich, der Co-Präsident der SP Aargau.

Gift für den sozialen Frieden

«So etwas ist Gift für den sozialen Frieden», sagt auch Jörg Kündig, der Vizepräsident des Schweizerischen Gemeindeverbands. Kündig ist selbst Gemeindepräsident in Gossau (Zürich) und kennt die Nöte der Gemeinden bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Vielerorts gebe es schlicht keine freien Wohnungen mehr, sagt er.

Die günstigen Wohnungen, wie sie nun von Kantonen und Gemeinden für Flüchtlinge angemietet werden, gehen für den ordentlichen Markt verloren. «Die Leute, die jetzt die beiden Liegenschaften verlassen müssen, werden schwerlich etwas in diesem Preissegment finden», bedauert die Windischer Gemeindepräsidentin Heidi Ammon. Unter den Mietern der betroffenen Liegenschaften befinden sich Familien mit Kindern, aber auch Sozialhilfeempfänger.

Kündig rät den Gemeinden, rechtzeitig Wohnraum in Zivilschutzanlagen und Wohncontainern ins Auge zu fassen. Mittlerweile gebe es recht gut geeignete Container, die Nachfrage sei aber gross, und entsprechend lang seien die Lieferfristen. In diesem Zusammenhang wünscht er sich auch vereinfachte kantonale Bewilligungsverfahren. Darüber hinaus sei Kreativität gefordert: Man könne beispielsweise auch Gewerberäume oder alle möglichen Arten von Gebäuden fürs Wohnen bereit machen, schlägt Kündig vor. In Gossau könne beispielsweise eine ehemaliges, vor einem Umbau stehendes Restaurant mit Wohnanteil genutzt werden. Allerdings hätten die Gemeinden noch ein weiteres Problem: Personal für die Betreuung der Geflüchteten sei kaum zu finden.

Kündig wünscht sich ein stärkeres Engagement des Bundes und spart nicht mit Kritik: Das Staatssekretariat für Migration mache es sich zu einfach, wenn es die Flüchtlinge einfach schnellstmöglich den Kantonen und Gemeinden zuweise. «Der Bund verfügt beispielsweise selbst über Liegenschaften oder Grundstücke, die er nutzen könnte, um Kollektivunterkünfte einzurichten.» Dort oder auch in den Gemeinden könnten Zivildienstleistende die Betreuungsaufgabe übernehmen. Nun müssten die Kantone entsprechend Druck machen auf den Bund, fordert er. Das kritisierte Staatssekretariat für Migration verweist auf die ausserordentliche Lage und betont, die vorzeitige Zuweisung Asylsuchender an die Kantone sei bereits im Dezember wieder aufgehoben worden. Bund und Kantone hätten sich darauf geeinigt, dass der Bund in besonderen Situationen bis zu 9000 Unterbringungsplätze zur Verfügung stelle. Derzeit verfüge man über 11 000. Neue Projekte seien keine in Planung.

Notlage in Kantonen

«Die Kantone müssen auf die Hinterbeine stehen und dem Bund sagen: Es reicht jetzt!», fordert auch Marco Chiesa. Kantone und Gemeinden müssten nun ausbaden, was der Bund angerichtet habe, so der SVP-Präsident. Tatsächlich sehen sich Kantone bei der Unterbringung von Asyl- und Schutzsuchenden in die Rolle von Erfüllungsgehilfen des Bundes versetzt. Sie müssen die ihnen vom Bund zugewiesenen Flüchtlinge möglichst schnell und unter Vermeidung von Konflikten mit der Bevölkerung an die Gemeinden zuweisen.

Aargau und Luzern haben in den vergangenen Monaten mit der Ausrufung der Asyl-Notlage auf diesen Druck reagiert. Dieser Schritt erlaubt es den Kantonen, flexibler zusätzliche Unterbringungsplätze zu schaffen. Diese entstehen in erster Linie in Zivilschutzanlagen. Bereits am 6. März wird daher eine solche Anlage in Birmenstorf als kantonale Asylunterkunft eröffnet. Immerhin wird dies besser kommuniziert als die Kündigungen in Windisch. Am kommenden Samstag hat die Bevölkerung die Möglichkeit, die Räume zu begehen. Vertreter des Kantons, der Betreuungsfirma und des Gemeinderats stehen dabei für Auskünfte zur Verfügung.

Solche Flüchtlingsunterkünfte, wie sie wahrscheinlich auch in Lenzburg und Aarau zu stehen kommen, sind bei den Anwohnern in der näheren Umgebung nicht beliebt. Zudem sind die oft unterirdischen Anlagen nicht optimal für die Betreuung der Asylsuchenden. Doch immerhin haben die Flüchtlinge hier die besseren Startvoraussetzungen als in einer Gemeinde, wo sie als Verdränger von einheimischen Mietern wahrgenommen werden.
(https://www.nzz.ch/schweiz/asylstreit-von-windisch-und-seegraeben-gekuendigte-mieter-und-fluechtlinge-werden-gegeneinander-ausgespielt-ld.1728137)



derbund.ch 28.02.2023

Mieter raus, Flüchtlinge rein: Der Fall Windisch, und wie die SVP alle Rollen gleichzeitig spielt

Die Kantone melden 7300 freie Plätze für Flüchtlinge – trotzdem werden im Aargau 49 Mieter aus ihren Wohnungen geworfen, um Platz für Flüchtlinge zu schaffen. Was ist da los?

Markus Häfliger, Charlotte Walser, René Laglstorfer

Am Anfang war eine Pushmeldung: «‹Schockiert›: Der Aargau richtet eine Asylunterkunft in Windisch ein – 49 Mieterinnen und Mieter erhalten die Kündigung», titelt die «Aargauer Zeitung» am Montagmittag auf ihrer Website.

Ab dann ist nur noch Empörung. Im Aargau, im Bundeshaus, im World Wide Web.

«Diese Kündigung ist das Hinterletzte», sagt Björn Waltert, einer der betroffenen Mieter. Vor der Kamera von Blick.ch ringt Julia Adams um Fassung, als sie erzählt, wie der Pöstler letzte Woche die Kündigung gebracht habe. «Die Kinder haben geweint. Alle haben geweint.»

Im Bundeshaus äussern Politikerinnen und Politiker von links bis rechts ihr Unverständnis – am lautesten die SVP. Der Fall Windisch sei «der Beweis für das Asylchaos, welches in unserem Land herrscht», sagt Parteichef Marco Chiesa. Und sein Fraktionschef Thomas Aeschi erklärt auf Twitter, wer daran schuld sei: «Ich bin schwer enttäuscht und schockiert von der antischweizerischen Politik von #SP-Bundesrätin #ElisabethBaumeSchneider.» Die Junge SVP lanciert eine Onlinepetition gegen die Kündigungen in Windisch. Betreff: «Bist Du der nächste?»

So ist die SVP im Fall Windisch auf allen Kanälen. Und gleichzeitig in allen Rollen.

– Die schärfste Kritik kommt von Marco Chiesa und Thomas Aeschi, beide SVP.

– Öffentlich gemacht wurde der Fall durch eine Medienmitteilung der Windischer Gemeindepräsidentin Heidi Ammon, SVP.

– Das aargauische Sozialdepartement, das die Wohnungen für Flüchtlinge anmietet, wird geführt von Regierungsrat Jean-Pierre Gallati, SVP.

Während die Gemeindepräsidentin Ammon und ihre nationale Parteileitung die Pläne des Kantons lautstark kritisieren, sagt Regierungsrat Gallati: nichts. Man wolle die Differenzen mit der Gemeinde «nicht über die Medien austragen», teilt das Departement am Montagabend in einem dürren Siebenzeiler mit.

Gesichert ist derzeit im Fall Windisch so viel: In mehreren günstigen Altbauwohnungen wohnen 49 Menschen. Am 17. Februar informiert der Kantonale Sozialdienst, der SVP-Regierungsrat Gallati untersteht, die Gemeinde darüber, dass der Kanton in den Liegenschaften eine Asylunterkunft für 100 Flüchtlinge plane. Die Gemeinde protestierte schon damals schriftlich beim Kanton. Doch um den 22. Februar gingen laut betroffenen Mietern die ersten Kündigungen ein.

Die Gemeinde äussert dafür ihr maximales Unverständnis. Gerade für Betroffene, die bereits in einer finanziell angespannten Situation seien, werde es schwierig bis unmöglich sein, Wohnraum im niedrigen Preissegment zu finden.

Die Kündigungen werden nicht vom Kanton ausgesprochen, denn die Wohnungen gehören nicht ihm, sondern der 1drittel Aleph AG, einer Immobiliengesellschaft. Die Firma, die ihren Sitz in der Schwyzer Steueroase Wollerau hat, vermietet dem Kanton Aargau die Wohnungen befristet. Anschliessend sollen die Häuser offenbar saniert oder durch einen Neubau ersetzt werden. Bei der Firma war am Dienstag keine Stellungnahme erhältlich.

Der Fall Windisch passiert nur vier Tage nachdem im Kanton Zürich ein ähnlicher Fall bekannt geworden war. Die Gemeinde Seegräben kündigte einem alleinstehenden Mann den Mietvertrag einer gemeindeeigenen 5½-Zimmer-Wohnung. Anders könne er die ihm vom Kanton zugeteilten Flüchtlinge nicht unterbringen, argumentierte der Gemeinderat.

Nochmals wenige Tage zuvor hatte ein Entscheid der Zürcher Gemeinde Mettmenstetten zu reden gegeben. Die Gemeinde will für über eine Million Franken eine 5½-Zimmer-Wohnung kaufen, um Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen.

Mettmenstetten, Seegräben und jetzt Windisch: Ist die Lage tatsächlich so dramatisch?

7300 freie Plätze

Einen Überblick hat die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK). Für die Kantone sei die Unterbringung seit längerem eine Herausforderung, sagt Gaby Szöllösy, die Generalsekretärin. «Aktuell ist die Lage aber über die gesamte Schweiz gesehen nicht in besonderem Masse dramatisch.» Zum konkreten Fall im Aargau äussert sie sich nicht.

Schweizweit melden die Kantone und Gemeinden zurzeit über 7300 freie Unterbringungsplätze. Nur zwei Kantone haben ihre Ampel auf Rot gestellt, was bedeutet, dass sie kaum noch über freie Plätze verfügen. Welche Kantone das sind, sagt die SODK nicht. In den übrigen Kantonen steht die Ampel auf Grün oder Orange. Dies gilt sowohl für die Unterbringung von ukrainischen Flüchtlingen mit Schutzstatus S als auch der übrigen Asylsuchenden.

Haben die überforderten Kantone ihre Hausaufgaben nicht gemacht? Szöllösy von der Sozialdirektorenkonferenz gibt zu bedenken, dass die Situation in den Kantonen unterschiedlich seien. In manchen Kantonen ist viel billiger Wohnraum erhältlich, den die Behörden anmieten können, etwa in gewissen Regionen der Ostschweiz. In anderen Kantonen – so in der Zentralschweiz – stehen ehemalige Hotels oder Pfadfinderheime zur Verfügung.

In Ballungszentren dagegen fehlt es an beidem. Der Kanton Genf hat jedoch die Messehalle Palexpo zur Flüchtlingsunterkunft umfunktioniert, in Zürich und Bern wurden Containerdörfer gebaut. Es kommt also auch darauf an, wie Kantone und Gemeinden auf ihre Gegebenheiten reagieren.

Hinzu kommt, dass die Kantone sich unterschiedlich organisieren. In Genf oder im Wallis liegt die Verantwortung für die Unterbringung von Asylsuchenden und Schutzsuchenden aus der Ukraine allein beim Kanton. Im Aargau hingegen liegt sie auch bei den Gemeinden. Das habe komplexere Abläufe zur Folge, sagt Szöllösy. Der Kanton Aargau hat im Januar die sogenannte Asylnotlage ausgerufen. Damit kann er Gemeinden dazu verpflichten, Anlagen zur Verfügung zu stellen.

Der Verein Netzwerk Asyl Aargau kritisiert in einer Stellungnahme, der Kanton Aargau habe es schlicht versäumt, Kapazitäten zu schaffen. Auch SP-Co-Präsident Cédric Wermuth, selbst Aargauer, sagt: «Einige Kantone haben ihren Job nicht gemacht.» Dazu zähle auch der Aargau.

Ähnliche Vorwürfe äussern auch Akteure im Asylwesen, die sich nicht zitieren lassen wollen. Ob aus Unvermögen oder aus politischen Gründen: Nun sei der Kanton gezwungen, zu solch umstrittenen Mitteln zu greifen. Unter Umständen ist das Manöver am Ende nutzlos. Die Mieterinnen und Mieter in Windisch können den Entscheid vor der Mieterschlichtungsstelle anfechten – und erhalten bei Erfolg eine Mieterstreckung von bis zu zwei Jahren.

Im Bundeshaus sparen auch SVP-Vertreter nicht mit Kritik an Regierungsrat Gallati. Gleichzeitig sehen sie ihn aber auch als Opfer einer «gescheiterten Asylpolitik des Bundes», wie SVP-Nationalrätin Martina Birche es nennt. Bircher, auch sie Aargauerin, schlägt als Ausweg vor, dass Europa die ganzen Asylverfahren gemeinsam ausserhalb der EU-Aussengrenze durchführen solle. Und wenn eine gesamteuropäische Lösung nicht möglich sei, müsse die Schweiz ihre Asylverfahren nach Afrika auslagern, etwa nach Ruanda.

Für SP-Co-Chef Wermuth ist der Fall Windisch «auch gerade ein SVP-Problem». Dass in einigen Gegenden der Schweiz die Wohnungen knapp und teuer seien, habe mit Asylsuchenden nichts zu tun, «sondern mit der schamlosen Gewinnmacherei der Immobilienkonzerne», sagt Wermuth. Es sei ausgerechnet die SVP, die sich im Parlament immer gegen besseren Kündigungsschutz gewehrt habe.

Mit Sorge reagiert FDP-Präsident Thierry Burkart, auch er ein Aargauer. «Vorfälle wie in Windisch zerstören in weiten Teilen der Bevölkerung das Verständnis dafür, dass wir Flüchtlinge unterstützen.» Die jüngsten Fälle seien Ausdruck davon, wie angespannt die Lage im Asylwesen sei. Kurzfristig könne man darauf nur mit einem konsequenteren Vollzug reagieren. Die neue Asylministerin Elisabeth Baume-Schneider müsse die Kantone dazu drängen. «Wenn sie das nicht tut, gefährdet sie die Solidarität der Bevölkerung mit Geflüchteten.»

Am Dienstag äussert sich auch die Gemeinde Seegräben – und gibt zu, dass der Rauswurf ihres langjährigen Mieters gar nicht nötig gewesen wäre, weil sie die kantonale Aufnahmequote für Asylsuchende bereits erfülle. Ein bedauerlicher Rechnungsfehler, so der Gemeindepräsident.

Im Fall Windisch übt sich Regierungsrat Gallati derweil weiterhin im Schweigen. Man werde die Öffentlichkeit informieren, sobald man den Protestbrief der Gemeinde Windisch beantwortet habe, sagt ein Sprecher am Dienstagnachmittag. Wann das sein wird? Das sei offen.



Über 24’000 Asylgesuche

Im vergangenen Jahr sind in der Schweiz rund 24’500 Asylgesuche eingereicht worden. Das sind mehr als in den vergangenen Jahren, aber erheblich weniger als im Spitzenjahr 2015, als die Schweiz fast 40’000 Asylgesuche zählte. Hinzu kamen 2022 allerdings über 70’000 Flüchtlinge aus der Ukraine, die den Schutzstatus S erhielten. Der Bund und die Kantone aktivierten bereits im Frühjahr den Notfallplan und schufen zusätzliche Unterbringungsmöglichkeiten.

Pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner verzeichnete die Schweiz im vergangenen Jahr 2,8 Asylgesuche. Die meisten Asylgesuche pro 1000 Einwohner verzeichnete in Europa Zypern (24,1), gefolgt von Österreich (12,2) und Griechenland (3,5). Mehr als die Hälfte der Menschen, die in der Schweiz ein Asylgesuch stellen, benötigen tatsächlich Schutz: Die Schutzquote betrug vergangenes Jahr 59 Prozent. Bei den Herkunftsländern lag Afghanistan an der Spitze.
(https://www.derbund.ch/der-fall-windisch-und-wie-die-svp-alle-rollen-gleichzeitig-spielt-913843305373)



Feuerwehreinsatz bei der Asylunterkunft in Rekingen AG
Ein Brand in einer Asylbewerberunterkunft im Rekingen AG hat am Montagabend starken Qualm ausgelöst. Niemand wurde laut Polizei verletzt. Die Polizei geht davon aus, dass im Keller gelagerter Karton angezündet worden war.
https://www.watson.ch/schweiz/polizeirapport/727436446-feuerwehreinsatz-bei-der-asylunterkunft-in-rekingen-ag


+++SCHAFFHAUSEN
Mieter raus, Asylanten rein. Auch in Schaffhausen?
Gemeinden suchen Lösungen, Flüchtlinge unterzubringen. Im Fall der Gemeinde Seegräben ZH und Windisch AG, mussten langjährige Mieter ihre Wohnung verlassen, um Asylsuchenden platz zu machen. Könnte dies auch in Schaffhausen geschehen.
https://www.toponline.ch/tele-top/detail/news/mieter-raus-asylanten-rein-auch-im-schaffhausen-00206702/


+++ST. GALLEN
Droht auch St.Galler Mietern der Rauswurf wegen Flüchtlingen?
Im aargauischen Windisch müssen die ordentlichen Mieterinnen und Mieter Flüchtlingen weichen. Entsprechend gross ist die Aufregung. Ist ein solches Szenario auch im Kanton St.Gallen möglich? SVP-Kantonsräte fragen bei der St.Galler Regierung nach.
https://www.tvo-online.ch/aktuell/droht-auch-st-galler-mietern-der-rauswurf-wegen-fluechtlingen-150323500


+++ZÜRICH
Der Bau des Bundesasylzentrums Rümlang ist blockiert
In Rümlang hätte noch dieses Jahr der Baustein für das dritte Bundesasylzentrum im Kanton Zürich gelegt werden sollen. Jetzt aber rücken diese Pläne wegen eines Rekurses in die Ferne. Und es könnte sogar sein, dass die Unterkunft nicht auf jenem Gelände gebaut werden kann.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/der-bau-des-bundesasylzentrums-ruemlang-ist-blockiert?id=12343366
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/zu-wenig-platz-fuer-fluechtlinge-die-zukunft-des-bundesasylzentrums-in-ruemlang-ist-ungewiss
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/long-covid-menschen-fuer-die-corona-noch-nicht-geschichte-ist?id=12343666 (ab 01:54)
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/rueckschlag-fuer-geplantes-bundesasylzentrum-in-ruemlang-zh?urn=urn:srf:video:5ad5ecd6-46d9-47ab-b3f6-910cdb8b59c1


Aufnahmequote erfüllt: Gemeinde Seegräben verzählt sich – Mieter muss trotzdem raus
Ein Mieter in Seegräben ZH muss raus. Die Wohnung soll künftig von Geflüchteten bewohnt werden. Wie die Gemeinde nun bestätigt, erfüllt sie die Aufnahmequote bereits. Doch der Kündigungsentscheid bleibt.
https://www.20min.ch/story/gemeinde-seegraeben-verzaehlt-sich-mieter-muss-trotzdem-raus-155720905547
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/trotz-fehler-gemeinde-seegraeben-stellt-mieter-auf-vorrat-auf-die-strasse-150323446



tagesanzeiger.ch 28.02.2023

Aussprache mit Kanton ZürichSeegräben bestätigt Fehler bei Asylquote

Die Gemeinde Seegräben kündigt einem jahrelangen Mieter die Wohnung, um Geflüchteten ein Zuhause zu bieten. Dabei wäre die Quote bereits erfüllt, wie die Gemeinde nun zugeben muss.

Tatiana Volmer, Lars Meier

Die Nachricht schlug am Freitag hohe Wellen: Ein geschiedener Schweizer Familienvater muss per 31. Mai 2023 seine Wohnung verlassen. Die Gemeinde Seegräben will darin Geflüchtete unterbringen.

Dies, weil Seegräben die vom Kanton vorgegebene Aufnahmequote von 0,9 Prozent angeblich nicht erfülle, sagte Gemeindepräsident Marco Pezzatti (FDP) am Freitag. Die Sicherheitsdirektion widersprach dieser Aussage. Seegräben erfülle die Aufnahmepflicht aktuell.

Auf Anfrage bestätigt Gemeindepräsident Pezzatti am Montagabend: «Ja, uns ist ein Fehler unterlaufen.» Nach einer Rücksprache mit dem Kanton stellte man fest, dass die Gemeinde Seegräben fälschlicherweise mehrere Asylsuchende nicht in die Aufnahmequote mit eingerechnet hatte. Wie konnte es dazu kommen?

Nicht alle Geflüchteten im System

Die Aufnahmequote legt die Sicherheitsdirektion fest. Sie rechnet sich im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung. Für Seegräben bedeutet das: Bei 1419 Einwohnenden muss die Gemeinde rund 13 Geflüchtete aufnehmen. Wer dazu zählt, ist in der kantonalen Asylfürsorgeverordnung definiert. So werden aufgenommene Geflüchtete während der ersten sieben Jahren ab ihrer Einreise in die Schweiz an die Aufnahmequote angerechnet.

Noch am Freitag sagte Gemeindepräsident Pezzatti, dass in Seegräben neun Geflüchtete untergebracht sind. Korrekt ist, dass aktuell 13 Geflüchtete in der Gemeinde wohnen.

Der Fehler sei der Gemeinde Seegräben unterlaufen, weil die nicht eingerechneten Personen wirtschaftlich unabhängig seien und deshalb keine Asylfürsorge bezogen hätten, erläutert Pezzatti. Das heisst: Eine Betreuung seitens der Gemeinde war nie notwendig. Des Weiteren dürfe man nicht vergessen, dass die Asyl-Zahlen sehr dynamisch seien und sich stetig änderten.

Keine «Inszenierung»

Der Gemeindepräsident weist den Vorwurf einer «Inszenierung» entschieden zurück. Beim Entscheid, die Wohnungskündigung auszusprechen, habe es sich um einen Gemeinderatsbeschluss gehandelt. Der unterzeichnende Immobilienvorsteher, seines Zeichens SVP-Gemeinderat, habe dabei die Interessen der Gemeinde vertreten und kommuniziert. Die Wohnungskündigung werde deshalb auch nicht rückgängig gemacht.
(https://www.tagesanzeiger.ch/seegraeben-bestaetigt-fehler-bei-asylquote-941719594220?idp=OneLog&new_user=no)


+++SCHWEIZ
Die Schweiz unterzeichnet ein Migrationsabkommen mit Guinea-Bissau
Staatssekretärin Christine Schraner Burgener hat am 27. Februar 2023 in Bern ein Migrationsabkommen mit Guinea-Bissau unterzeichnet. Das Abkommen regelt Fragen der Rückübernahme von Personen mit irregulärem Aufenthalt und ermöglicht eine Stärkung der guten Regierungsführung im Migrationsbereich in Guinea-Bissau.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-93335.html
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/schweiz-unterzeichnet-migrationsabkommen-mit-guinea-bissau-66433660



tagblatt.ch 28.02.2023

Könnten die Städte mehr Flüchtlinge aufnehmen? Ja, behauptet eine Grünen-Nationalrätin – das sagen Zürich und Bern

Bund, Kantone und Gemeinden stossen bei der Aufnahme von Geflüchteten und Asylsuchenden an ihre Grenzen. Doch in vielen Städten hat es noch freie Betten. Versagt das System?

Chiara Stäheli

«Die Städte haben ganz viel Platz.»: Eine Aussage von Nationalrätin Aline Trede (Grüne/BE) lässt aufhorchen. In der TeleZüri-Sendung «SonnTalk» betonte die Fraktionschefin der Grünen am vergangenen Sonntag, dass die Städte noch genügend Kapazitäten zur Unterbringung von Asylsuchenden und Flüchtlingen hätten. Trede verweist dabei auf eine Petition, welche verschiedene Schweizer Städte mit Unterstützung der Grünen vor drei Jahren lanciert haben. Sie schlossen sich damals zu einer Allianz zusammen und teilten öffentlichkeitswirksam mit, dass sie bereit wären, mehr Geflüchtete als gemäss Verteilschlüssel definiert aufzunehmen.

Teil dieser Allianz war auch die Stadt Zürich. In einer Medienmitteilung der Grünen liess sich der Sozialvorsteher der Stadt Zürich, Raphael Golta, vor einem Jahr wie folgt zitieren: «Die Stadt Zürich ist bereit, mehr geflüchtete Menschen aufzunehmen. Ich unterstütze alle Bestrebungen, die dies künftig möglich machen.» Dieses Credo gilt in Zürich noch immer. Auf Anfrage teilt die Stadt mit, dass man das «Kontingent bereits erfüllt» habe und dennoch weiterhin Personen aufnehme, weil die Stadt Zürich noch über «genügend Unterkünfte» verfüge.

Knapp 350 freie Plätze rund um die Stadt Bern

Auch die Stadt Bern beteiligte sich an der Allianz – und zeigt sich nach wie vor offen dafür, «über den Pflichtteil hinaus Personen aus dem Asylbereich aufzunehmen», wie Claudia Hänzi, Leiterin des Sozialamts der Stadt Bern, mitteilt. Das habe man gegenüber Bund und Kanton «immer wieder» signalisiert. In den vergangenen Monaten habe die Stadt Bern bereits etwas mehr Personen in ihren Perimeter aufgenommen, als nach Verteilschlüssel erforderlich gewesen wäre. Diese Bereitschaft bestehe weiter, so Hänzi. Aktuell seien im Perimeter Stadt Bern und Umgebung noch 82 Plätze für Personen mit Status S frei, weitere 265 Plätze seien «für Engpässe und für sämtliche Personengruppen» reserviert. Die Plätze befinden sich in der temporären Unterkunft im Viererfeld.

Ähnlich sieht es in Luzern aus, wie der Antwort auf eine kürzlich eingereichte Interpellation zu entnehmen ist: «Die Bereitschaft der Stadt Luzern, mehr Flüchtlinge aufzunehmen als gefordert, gilt auch in der aktuellen Situation.» Schon heute seien mehr als ein Drittel aller im Kanton lebenden Menschen mit einem Flüchtlingsstatus in der Stadt Luzern wohnhaft.

Der Stadtkanton Basel-Stadt teilt indes mit, dass zwar noch ausreichend Reserveplätze für die Unterbringung von zugewiesenen Geflüchteten vorhanden seien. Doch: «Die Aufnahme von Geflüchteten über den Anteil gemäss national geltendem Verteilschlüssel hinaus wäre nicht umsetzbar.»

Flüchtlingshilfe kritisiert rigide Durchsetzung

Auf Anfrage stellt sich Grünen-Präsident Balthasar Glättli hinter Parteikollegin Aline Trede: «Es gibt immer wieder Gemeinden und Kantone, die sich bereit erklären, mehr Geflüchtete aufzunehmen, als gemäss Verteilschlüssel vorgesehen ist.» Das werde allerdings durch den Föderalismus blockiert: «Der starre Mechanismus verhindert, dass sich Gemeinden solidarisch zeigen können». Das mache aus Sicht der Grünen keinen Sinn.

Leise Kritik bringt auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe an: Grundsätzlich unterstütze man die «solidarische Verantwortungsteilung, wonach sich alle Gemeinden bevölkerungsproportional an der Unterbringung und Betreuung der Geflüchteten beteiligen». Doch: «Der Verteilschlüssel sollte nicht rigide durchgesetzt werden.» Wenn einzelne Gemeinden noch freie Plätze hätten und andere Gemeinden voll seien, «sollten sie sich gegenseitig aushelfen».
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/asylbuerokratie-waehrend-in-windisch-mieter-weichen-muessen-gibt-es-in-zuerich-und-bern-noch-hunderte-freie-plaetze-fuer-fluechtlinge-ld.2422308)


+++DEUTSCHLAND
Bundesregierung plant Behinderung ziviler Seenotrettung: Mehrheit der deutschen Seenotrettungsschiffe werden blockiert
Wir, ein Zusammenschluss ziviler Seenotrettungs- und Beobachtungsorganisationen im Mittelmeer, verurteilen die Pläne der Bundesregierung zur Änderung der Schiffssicherheitsverordnung (SchSV) scharf – Für die Mehrheit der zivilen Seenotrettungsschiffe unter deutscher Flagge wird diese Verordnung bedeuten, dass sie ihre lebensrettende Arbeit einschränken oder einstellen müssen.
https://sea-watch.org/bundesregierung-plant-behinderung-ziviler-seenotrettung/
-> https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/seenotrettung-bundesverkehrsministerium-sicherheitsvorschriften-101.html
-> https://twitter.com/seawatchcrew/status/1630602933120188416
-> https://www.migazin.de/2023/02/28/ngos-bundesregierung-plant-behinderung-ziviler-seenotrettung/


Kirchenasyl: Beihilfe zur Straftat oder humanitärer Akt?
Es ist eine bayerische Spezialität: Anders als in anderen Bundesländern ermittelten die Staatsanwaltschaften immer wieder in Sachen Kirchenasyl. Besonders in Nordbayern mussten sich Ordensleute vor Gericht verantworten, so wie nun Mutter Mechthild.
https://www.br.de/nachrichten/bayern/kirchenasyl-beihilfe-zur-straftat-oder-humanitaerer-akt,TX3BI6R


+++MITTELMEER
Große Trauer nach Bootsunglück in Italien
Die Suche nach Vermissten dauert an, bisher wurden 63 Todesopfer bestätigt. Die Menschen an Bord waren aus Afghanistan, dem Iran und Pakistan geflohen
https://www.derstandard.at/story/2000143988383/grosse-trauer-nach-bootsunglueck-in-italien?ref=rss


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
derbund.ch 28.02.2023

Kundgebung in Bern: Klimabewegung unter Druck – wie viel Kraft  hat sie noch?

Die Klimakrise verlor durch andere Problemherde an Beachtung. Wie es um den Aktivismus steht, wird sich diese Woche in Bern zeigen.

Carlo Senn

Am Freitag, dem 3. März, finden weltweite Klimakundgebungen statt. Auch in der Stadt Bern wird für das Klima protestiert. Auf dem Waisenhausplatz findet eine bewilligte Platzkundgebung statt, danach folgt ein Umzug durch die Altstadt mit Reden und Konzerten. Zudem findet bereits am Mittwoch eine wohl kleinere Kundgebung statt.

In den kommenden Tagen wird sich also zeigen, ob die Klimabewegung ansatzweise an Erfolge aus der Vergangenheit anknüpfen kann oder an Popularität verloren hat. Die Messlatte hängt hoch. 2019 gingen Mitte März allein in Bern 8000 Jugendliche auf die Strasse, kantonsweit waren es sogar rund 10’000. Im September 2019 sprachen die Organisatoren sogar von 100’000 Leuten in der Stadt Bern, die Kantonspolizei allerdings von 60’000.

Ob nun solche Zahlen noch zu erreichen sind, ist fraglich. Denn das Klimathema hat es derzeit schwer. Die Grünen verlieren, während die SVP zulegt, wie eine Tamedia-Umfrage zeigt. Gerade die Themen Migration/Zuwanderung und Energieversorgung verdrängen den Klimawandel als dringliches Problem: So verliert das Thema im Vergleich zur Umfrage im August 2022 rund 13 Prozent, während beispielsweise Migration/Zuwanderung als eines der «drängendsten Probleme» um 10 Prozent zugenommen hat.

Erstarkung oder Versenkung

Der Schwung der Bewegung sei etwas verloren gegangen, sagt der Politologe Michael Hermann. «Es gibt auch innerhalb der Bewegung eine gewisse Ernüchterung.» Das sei aber für solche Bewegungen normal.

Laut Hermann dürfte sich gerade in Bern zeigen, wie stark die Bewegung noch ist: Da Bern eine Stadt sei, wo grüne Forderungen «gut ankommen», sei hier eine Mobilisierung für ökologische Themen einfacher. «Wenn die Aktivisten in Bern wenig mobilisieren können, ist das ein schlechtes Zeichen für die Bewegung.»

Dennoch traut Hermann der Bewegung durchaus zu, zu erstarken, gerade wenn auch andere Themen wieder in den Hintergrund rücken. Zudem seien die Grünen historisch gesehen weiterhin stark und die Grünliberalen stabil.

Steigt die Radikalisierung?

Laut dem Berner Sicherheitsdirektor Reto Nause (Die Mitte) haben die Klimastreikenden für die aktuellen Kundgebungen «erfreulicherweise» ein Gesuch eingereicht, die Kundgebung ist bewilligt. Trotzdem glaubt Nause, dass die Aktivistinnen mit einem Imageproblem zu kämpfen haben. Blockier- und Festklebeaktionen kämen in der Gesellschaft nicht gut an, schätzt er.

Schon Jahre bevor Aktivistenhände von der Polizei von Strassen gelöst wurden, machte die Bewegung mit Aktionen von sich reden. Unvergessen bleibt die guerillaartige Besetzung des Bundesplatzes Ende September 2020, die in der Stadtberner Bevölkerung polarisierte. Damals besetzten mehrere Hundert Klimajugendlichen mit Zelten und Transparenten den symbolträchtigen Ort der Bundesstadt und mischten die Politik gehörig auf.

Aktuell haben Klimaaktivistinnen unter der Führung von Greta Thunberg ein Ministerium in Norwegen besetzt. Indirekt hat der Protest auch mit der BKW zu tun, da es um Windräder geht, in die auch das Berner Unternehmen investiert hat.

Dass solche Aktionen nicht nur gut ankommen, zeigt auch ein Bericht des GFS Bern und der Universität Freiburg zum Lobbying in der Schweiz. Besonders ziviler Ungehorsam werde für die Durchsetzung von Interessen nicht goutiert, so die Befragten.

Schadet sich die Bewegung mit solchen Aktionen also selbst? «Nein», findet Sebastian Killer, Mitorganisator des Klimastreiks in Bern. Trotz des Berichts ist er der Meinung, dass man weiterhin «grosse Sympathien geniesst». Die Berner Klimastreikenden rechnen mit mindestens tausend Personen am Streik. Es komme jedoch auch auf Faktoren wie das Wetter an.

Der Aktivist will den Erfolg der Bewegung zudem nicht von Wahl- oder Umfrageergebnissen abhängig machen. «Es geht derzeit um wichtige Sachthemen, losgelöst von der Parteilinie.» Zurzeit komme von allen Parteien zu wenig für den Klimaschutz.

Gegen die Reservekraftwerke

Die Demo am Freitag richtet sich schweizweit gegen «neue fossile Infrastruktur». So stellen sich die Klimastreikenden gegen den Bau der acht Ölkraftwerke in Birr AG und die «Reaktivierung» des bestehenden Kraftwerks in Cornaux NE sowie das geplante Kraftwerk Thermatel VS. Zudem ist im Baselbiet ein Flüssiggasterminal geplant, was den Klimaaktivisten sauer aufstösst. Dies zeige, dass in der Schweiz der Ausbau der «fossilen Energieträger» weiter forciert werde.

Die sogenannten Reservekraftwerke sind Teil der Strategie des Bundes, um im kommenden Winter einen Strommangel zu verhindern.

So könnten die oben erwähnten Kraftwerke in einem nächsten Schritt von Aktionen betroffen sein, Genaueres wollen die Aktivisten nicht verraten. «Das Ziel ist, die Inbetriebnahme dieser Anlagen zu verhindern, dazu arbeiten wir auf verschiedenen Ebenen», so Killer.
(https://www.derbund.ch/klimastreik-in-bern-als-test-fuer-die-gesamte-bewegung-523002640738)


+++MENSCHENRECHTE
Start der Schweizer Menschenrechtsinstitution – Neuorientierung für humanrights.ch
Seit 1999 springt humanrights.ch mit seiner Informations- und Dokumentationsarbeit zu Menschenrechten in eine Lücke, welche die neue Nationale Menschenrechtsinstitution NMRI nun schliessen sollte. Nach bald 25 Jahren Diskussionen und Vorarbeiten, an denen sich humanrights.ch immer zentral beteiligte, wird die NMRI im Mai 2023 gegründet. Dies bedeutet ein Wendepunkt in der Geschichte von humanrights.ch. Neben der eigenen Neuorientierung ist es für humanrights.ch ein Anliegen, die über Jahrzehnte aufgebaute Informationsdatenbank im Bereich der Grundlagendokumentation zu Menschenrechten und deren Umsetzung in der Schweiz an die NMRI zu übergeben. Dieser Übergang gestaltet sich jedoch alles andere als einfach. humanrights.ch steht im Jahr 2023 vor grossen Herausforderungen, insbesondere weil abrupt ein wesentlicher Teil der finanziellen Unterstützung in der Redaktion wegbricht.
https://www.humanrights.ch/de/ueber-uns/interview-start-schweizer-menschenrechtsinstitution-neuorientierung-humanrightsch


+++PSYCHIATRIE
Offener Brief an Pierre Alain Schnegg
Mitarbeitende der Berner Psychiatrie stellen Forderungen an die Berner Regierung. Mit der Antwort des Kantons sind sie nicht zufrieden. (ab
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2023-02-28


+++BIG BROTHER
Proteste, Aufstände, Wahlen – Was ist authentisch, was manipuliert?
Eine israelische Firma bietet gegen Geld weltweit Hacks und Desinformationskampagnen an, um etwa Wahlen zu manipulieren. Gemeinsame Recherchen von ZDF-„frontal“, „SPIEGEL“ und „ZEIT“ mit dem Investigativnetzwerk „Forbidden Stories“ enthüllen das Ausmaß.
https://www.zdf.de/politik/frontal/undercover-recherche-team-jorge-desinformation-wahlen-manipulation-israel-investigativ-102.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
Influencer Andrew Tate – Verachtet und verehrt: Was fasziniert an diesem Frauenhasser?
Andrew Tate ist eine Reizfigur – in Rumänien sitzt er derzeit in U-Haft. Trotzdem kommt sein Macho-Gehabe bei jungen Männern gut an. Was heisst das für Schulen?
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/influencer-andrew-tate-verachtet-und-verehrt-was-fasziniert-an-diesem-frauenhasser


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
tagesanzeiger 28.02.2023

Plagiate bei deutscher Star-Intellektueller: Eine Querfront-Agitatorin kommt sich selbst in die Quere

Die Europaexpertin Ulrike Guérot war ein Liebling linksliberaler Kreise – bevor sie sich als «Querdenkerin» und «Putin-Versteherin» hervortat. Ihre Uni will sie jetzt entlassen.

Dominique Eigenmannaus Berlin

Um fünf Uhr morgens setzte die Professorin Ulrike Guérot Ende letzter Woche einen Tweet ab, der bis heute mehr als eine Million Mal gelesen wurde: Die Universität Bonn habe ihr wegen Plagiaten gekündigt. Es wäre das «erste Mal», dass in Deutschland jemand deswegen seinen Job verlöre. Sie werde sich juristisch zur Wehr setzen: «Es wird spannend ;-).»

Es ist die vorletzte Etappe eines Himmelssturzes. Die 58-jährige Deutsche, ehemals verheiratet mit dem französischen Diplomaten Olivier Guérot, bewegte sich einst unter europäischen Vordenkern, glänzte als Bestsellerautorin, galt als Star linksgrüner Kreise. Europaweit bekannt wurde sie, als sie 2013 mit dem österreichischen Schriftsteller Robert Menasse in einem Manifest eine Europäische Republik forderte, die möglichst ohne Nationalstaaten auskommt. An deren Stelle trat die Vision eines Europas der Regionen.

Mit Corona das Publikum und die Freunde gewechselt

Vor allem bei Linken und Grünen fielen ihre Ideen auf fruchtbaren Boden. Alle grossen Medien druckten die Texte der neuen «Jeanne d’Europe», die mitreissende Debattiererin wurde ständig ins Fernsehen eingeladen, ihre Bücher erzielten hohe Auflagen, mit dem Schweizer Theatermann Milo Rau brachte sie ihre Manifeste auf viele Bühnen Europas. Als Wissenschaftlerin galt die Politologin schon damals eher nicht. Sie verfolgte ihre Ideen zunehmend missionarisch und weltfremd, reagierte auf Einwände immer abfälliger.

Als 2020 das Coronavirus durch die Welt raste, blieb sie ihrer Vorstellung von Freiheit treu, wie sie meinte – und wechselte in der Folge radikal ihr Publikum samt Freundeskreis: Sie stellte die Gefahr durch die Pandemie infrage, lehnte Zwangsmassnahmen genauso ab wie Schutzmasken oder Impfung. Die Medien bezeichnete sie als gelenkt, den deutschen Staat als «semi-autoritär», die Verantwortlichen wollte sie vor Gericht stellen.

Abschreiben als Methode, Meinung statt Fakten

Als Russland die Ukraine überfiel, sah sie nicht Wladimir Putin als Täter, sondern die USA. Amerika habe die Ukraine zu einem Stellvertreterkrieg gegen Russland aufgewiegelt, um Europa und Deutschland von Russland abzutrennen und seine Dominanz auf dem alten Kontinent zu wahren. Guérot sprach sich gegen Waffenlieferungen für Kiew aus, unterschrieb den offenen Brief der Linken Sahra Wagenknecht und nahm das Lob des rechtsextremen AfD-Anführers Björn Höcke dankbar entgegen.

Guérot wäre nur eines unter vielen Irrlichtern in der Debatte, wäre die Uni Bonn nicht 2021 auf die gloriose Idee gekommen, sie zur Professorin für Europapolitik zu machen. Wissenschaftliche Ausweise hatte sie kaum, dafür jede Menge politisches und mediales Kapital. Bereits 2018 hatte sie allerdings einräumen müssen, dass in ihrem Buch mit Menasse Zitate schlicht erfunden waren. Im vergangenen Jahr wies ihr der Politikwissenschaftler Markus Linden dann grossflächige Plagiate in allen Büchern nach, die er untersucht hatte. Noch verheerender fand der Prüfer, dass Guérot es nachweislich auch mit den Fakten nicht genau nehme. Er nannte sie in der «Zeit» darauf eine «Stimme des Postfaktischen».

Entsetzen und Empörung an der Universität Bonn

Guérots jüngste Bücher sind Streitschriften, keine wissenschaftlichen Abhandlungen. Zitate, belegt oder nicht, dienen ihr einzig dazu, ihre Thesen zu untermauern. Was ihrer Sicht widerspricht, lässt sie weg. Für ihre Universität wurde der vermeintliche Star so immer mehr zur Peinlichkeit. Studierende und Kollegen beklagten Dauerverstösse gegen das «wissenschaftliche Ethos», die Unileitung distanzierte sich von ihren Positionen zum Krieg. Die Kündigung, die Guérot bekannt machte, folgte auf eine monatelange Untersuchung der Universität, die schwerwiegende Plagiate in aktuellen und vergangenen Schriften feststellte.

Ob Guérot nun «als Erste» deswegen entlassen wird? Das ist noch nicht sicher. Nur schon deswegen, weil laut dem Plagiatsexperten Jochen Zenthöfer auch diese Behauptung ziemlich sicher nicht stimmt.
(https://www.tagesanzeiger.ch/eine-querfront-agitatorin-kommt-sich-selbst-in-die-quere-262666721500)


+++FUNDIS
Stadt Zürich bewilligt erneut Kundgebung gegen Abtreibungen. (ab 04:14)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/der-bau-des-bundesasylzentrums-ruemlang-ist-blockiert?id=12343366


Bernerin wirbt auf TikTok für umstrittenen Islam-Verein
Religiöse Prediger haben Social Media für sich entdeckt. Die Bernerin Maimouna Ahmed ist eines der Gesichter des «Islamischen Zentralrates» im Netz.
https://www.nau.ch/people/aus-der-schweiz/bernerin-wirbt-auf-tiktok-fur-umstrittenen-islam-verein-66430635
-> https://www.srf.ch/play/tv/rec-/video/religioese-influencerinnen—was-wollen-sie-in-deinem-social-media-feed?urn=urn:srf:video:3c6b13fd-4a98-4247-8025-32c68cd6d02f
-> https://www.srf.ch/play/tv/rec-/video/qa-zur-reportage-religioese-influencer?urn=urn:srf:video:3efec3df-d9b8-443c-9ffa-915b6d34f80d


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Basler Fasnacht: Viele verkleiden sich immer noch als «Indianer»
Obwohl viele durch die Woke-Debatte sensibilisiert sind, verkaufen sich Mexikaner-Kostüme immer noch gut. An der Basler Fasnacht zeigt sich gar ein «Indianer».
https://www.nau.ch/news/schweiz/basler-fasnacht-viele-verkleiden-sich-immer-noch-als-indianer-66429435


+++HISTORY
Schweiz und Kosovo-Krieg – Als die Flüchtlinge aus dem Kosovo kamen
Der Kosovo-Krieg führte ab 1998 zu einer beispiellosen Fluchtbewegung in die Schweiz. Drei Betroffene erinnern sich.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/schweiz-und-kosovo-krieg-als-die-fluechtlinge-aus-dem-kosovo-kamen?wt_mc_o=srf.push.webpush.browser.article


+++ANTISEMITISMUS-BERICHT
Antisemitismusbericht 2022 – Eine neue verschwörungsaffine Subkultur generiert immer mehr antisemitische Vorfälle
Die Zahl der erfassten antisemitischen Vorfälle hat auch 2022 zugenommen. In der realen Welt wie auch Online sind Zunahmen ersichtlich. Hauptverantwortlich für einen Grossteil der Vorfälle Online ist eine neue staats- und gesellschaftsfeindliche Subkultur.
https://swissjews.ch/de/news/antisemitismusbericht2022
-> https://www.tachles.ch/artikel/news/keine-fundierte-analyse


Bericht zu Antisemitismus – Antisemitische Verschwörungstheorien nehmen in der Schweiz zu
Judenfeindliche Mythen haben online an Zulauf gewonnen. Zu diesem Resultat kommt der neueste Antisemitismusbericht.
https://www.srf.ch/news/schweiz/bericht-zu-antisemitismus-antisemitische-verschwoerungstheorien-nehmen-in-der-schweiz-zu
-> https://www.tagesanzeiger.ch/mit-codes-versuchen-sie-ihren-hass-gegen-juden-zu-verdecken-976670567154
-> https://www.20min.ch/story/geht-nach-auschwitz-das-erleben-juedische-kinder-beim-fussball-891327638470
-> https://www.watson.ch/schweiz/coronavirus/190617442-antisemitismus-blueht-unter-corona-massnahmengegnern-wieder-auf
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/schweiz-neuster-antisemitismusbericht?urn=urn:srf:video:19f64721-6ffa-4ee7-9c4a-471578400770
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/antisemitismus-bericht-verschwoerungstheorien-foerdern-judenfeindlichkeit-im-netz


Ralph Lewin: Sorge wegen wachsendem Antisemitismus
In der Schweiz gab es 2022 erneut etwas mehr Antisemitismusvorfälle. Der Präsident des Israelitischen Gemeindebunds, Ralph Lewin, ist besorgt. Denn das Gros der Fälle stamme aus den Reihen von Verschwörungstheoretikern. Er fordert Massnahmen vom Bund.
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/ralph-lewin-sorge-wegen-wachsendem-antisemitismus?id=12343492



nzz.ch 28.02.2023

«Dann befördern wir einen gefährlichen Revisionismus: Vielleicht war das damals bei Hitler ja doch nicht so schlimm»

Nach Corona nun der Ukraine-Krieg: Die Krisen befeuern antisemitische Verschwörungstheorien, wie Ralph Lewin im Interview sagt. Immerhin sieht der Präsident des Israelitischen Gemeindebundes in der Hakenkreuz-Frage Hoffnung.

Simon Hehli, Marc Tribelhorn

Herr Lewin, die Fälle von Judenfeindlichkeit in der Schweiz haben zugenommen, wie im Antisemitismusbericht nachzulesen ist. Hauptverantwortlich sei eine neue Subkultur, die von Verschwörungstheorien «geradezu besessen» sei. Was sind das für Leute?

Diese staatsfeindliche Subkultur ist sehr heterogen, sowohl in ihrer politischen Ausrichtung als auch in ihrer Radikalität. Ihre Mitglieder sehen hinter allem und jedem eine geheime Macht, eine kleine Elite, die die Menschheit beherrschen, versklaven oder ausrotten will. Wir beobachteten schon während der Corona-Pandemie, dass bei einem Teil der Massnahmengegner antisemitische Erzählungen kursierten. Die Juden sollen schuld sein am Virus – und die Impfungen erfunden haben. Ich habe gehofft, dass mit dem Ende der Pandemie auch die Verschwörungstheorien wieder verschwinden würden.

Aber das ist nicht passiert.

Nein. Diese Subkultur bleibt dem «Mainstream» gegenüber äusserst kritisch eingestellt und ist nach wie vor extrem von Verschwörungstheorien geprägt. Mit dem Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine hat sich der Fundus an Verschwörungstheorien nochmals vergrössert.

Was ist an diesen Theorien antisemitisch?

Es gibt eine Vielzahl von absurden Theorien mit antisemitischen Versatzstücken. Eine ist, dass die Juden den ganzen Krieg inszeniert hätten, denn sie würden sowohl die ukrainische als auch die russische Regierung kontrollieren. Die Bösewichte sind dann «die Rothschilds» oder «die Zionisten». Vor allem über Telegram-Chats finden solche Theorien, die international zirkulieren, auch in der Schweiz ein Publikum. Telegram ist der Kanal, der uns am meisten Sorgen bereitet. Drei von vier antisemitischen Vorfällen registrierten wir in diesem Messengerdienst. Die Betreiber kontrollieren nicht, was die Nutzer schreiben.

Telegram wurde in Russland entwickelt. Wie lassen sich die Aktivitäten auf diesem Kanal überhaupt überwachen?

Wir haben eine Liste von verschiedenen Chats, die wir monitoren. So können wir antisemitische Vorfälle registrieren, erhalten aber auch einen Einblick in die gesamte Gedankenwelt dieser Personen. Leider sind unsere Ressourcen beim SIG beschränkt, wir können darum nur eine begrenzte Anzahl von Chats beobachten. Die EU verlangt von den Betreibern von Diensten zur Nachrichtenübermittlung, dass sie gegen Hassrede vorgehen. Wir fordern von den Schweizer Behörden, dass auch sie diese Plattformen stärker beobachten und schärfere gesetzliche Regeln erlassen.

Wie gross ist die Gefahr, dass dies zu Gewalttaten gegenüber Jüdinnen und Juden führt?

Man könnte sich schon fragen: Müssen wir solche hirnrissigen Theorien ernst nehmen? Es wäre das Einfachste, zu sagen, dass es immer irgendwelche Spinner gibt. Aber bei Attentaten in Europa oder den USA zeigte sich in den letzten Jahren, dass die Täter oft beeinflusst waren durch Verschwörungstheorien, auch antisemitischen, die sie für die Wahrheit hielten. Auch der Nachrichtendienst des Bundes warnt davor, das Phänomen auf die leichte Schulter zu nehmen.

Wie schätzen Sie die Bedrohung durch die «klassischen» Antisemiten ein – Rechts- und Linksextreme, Islamisten?

Deren Gewaltpotenzial ist sicherlich grösser als jenes der neuen staatsfeindlichen Subkultur, diese ist aber heterogen und hat nach allen Seiten Anknüpfungspunkte. In letzter Zeit trat besonders die rechtsextreme «Junge Tat» aggressiv in der Öffentlichkeit auf. Die Behörden müssen hier aufpassen. Wir tun das zwangsweise.

Wie sicher können sich die Juden in der Schweiz heute fühlen?

Wir müssen weiterhin unsere Einrichtungen wie Schulen oder Synagogen gegen terroristische Anschläge schützen. Aber im Vergleich zu den Nachbarländern Deutschland oder Frankreich geht es uns gut. Bei uns braucht es keinen Mut, mit einer Kippa auf die Strasse zu gehen – im Gegensatz zu gewissen Quartieren von Berlin oder Paris. Es kam bei uns in der jüngsten Vergangenheit zum Glück kaum zu physischen Angriffen. Letztes Jahr registrierten wir einen Fall, in den drei Jahren zuvor keinen einzigen. Der Antisemitismus tritt hierzulande weniger grob auf. Aber er ist in den Köpfen genauso verbreitet.

Woran machen Sie das fest?

Der Bericht «Zusammenleben in der Schweiz» des Bundesamtes für Statistik zeigt, dass bis zu einem Fünftel der Bevölkerung negative Einstellungen zu den Juden hat. Sie seien zum Beispiel geldgierig oder machthungrig. Das sind nicht ein paar wenige, so denken Hunderttausende! Aus Gedanken können Worte entstehen und aus Worten Taten.

Tut der SIG zu wenig, um die Vorurteile zu bekämpfen?

Nein. Wir können schliesslich keine Plakatkampagne machen mit der Botschaft: «Juden sind okay.» Am wichtigsten sind persönliche Begegnungen, denn die meisten Leute in der Schweiz kennen gar niemanden, der jüdisch ist. Deshalb haben wir das Projekt Likrat, in dessen Rahmen jüdische Jugendliche in Schulklassen gehen und mit den Schülerinnen und Schülern in einen Austausch treten. Sie können so zeigen, was das Judentum als Religion ist, aber auch als vielfältige und lebendige Kultur. Wir versuchen zudem, die Medien zu sensibilisieren, dass sie nicht bei jedem Artikel über das Judentum Bilder von streng orthodoxen Menschen verwenden, auch wenn diese natürlich ein Teil von uns sind.

Der SIG fordert schon lange ein Verbot von Nazi-Symbolen in der Schweiz. Sind Sie erleichtert, dass es in dieser Angelegenheit nun Bewegung gibt?

Ja, die zuständige Kommission des Nationalrats hat entsprechende Vorstösse diskutiert und gar einen eigenen Vorstoss formuliert. Ich bin zuversichtlich, dass wir auf eine Annahme zusteuern. Es ist stossend, dass Hakenkreuze heute in der Schweiz nur dann verboten sind, wenn die Träger für die entsprechende Ideologie aktiv werben – was auch immer das heissen soll. Die Schweiz ist da «liberaler» als andere Länder. Das führt notabene dazu, dass deutsche Neonazis gerne in die Schweiz kommen.

Der Bundesrat will dennoch am Status quo festhalten: Es sei viel zu kompliziert, alle rassistischen Symbole zu verbieten. Und eine Sonderregelung für Nazi-Symbole sei rechtlich bedenklich.

Wir haben nie behauptet, es sei einfach. Man muss ja auch nicht alle möglichen Umgehungen eines Verbots berücksichtigen – etwa die Zahl 88, die auf den achten Buchstaben des Alphabets verweist und für «HH», also «Heil Hitler», steht. Es reicht, wenn man sich auf jene Symbole konzentriert, die für die breite Bevölkerung als nazistisch erkennbar sind. Und apropos Sonderregelung: Was spricht dagegen, die Symbole zu verbieten, die für den Holocaust und die Ermordung von Millionen von Menschen stehen?

Inwiefern hilft es im Kampf gegen den Rechtsextremismus, wenn Hakenkreuze verboten sind? Die Gesinnung dahinter verschwindet ja nicht einfach.

Gedanken kann man nicht verbieten, das ist schon klar. Aber wenn wir Symbole erlauben, die ganz offensichtlich für die menschenverachtendste Ideologie stehen, die wir jemals erlebt haben, dann befördern wir einen gefährlichen Revisionismus: Vielleicht war das damals bei Hitler ja doch nicht so schlimm.

Alle grossen Parteien der Schweiz anerkennen mittlerweile die Antisemitismusdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance – ausser die SVP. Wie interpretieren Sie das Zögern der wählerstärksten Partei?

Ich weiss es nicht, da müssen Sie die SVP selber fragen. Wir bekommen aber auch andere Signale aus der Partei. Einer ihrer Nationalräte, der Zürcher Alfred Heer, hat sich sehr für ein Holocaust-Memorial in der Schweiz eingesetzt. Ich glaube nicht, dass die SVP offen antisemitische Aussagen toleriert. Es gab in der Vergangenheit solche Fälle. Seit Jahren stellen wir das aber nicht mehr fest.

Wie steht es eigentlich um das geplante Memorial für die Opfer des Nationalsozialismus?

Die Vorstösse wurden vom Parlament einstimmig angenommen. Nun klärt das federführende Aussendepartement die Fragen des Standorts, der Finanzen und der Gestaltung. Daraufhin muss der Bundesrat einen Entscheid fällen. Mit dem Memorial wollen wir dreierlei: an die NS-Opfer erinnern, die historischen Hintergründe und deren Bedeutung für Gegenwart und Zukunft vermitteln und eine Vernetzung mit weiteren Erinnerungsorten. Ich hoffe, dass das Projekt in hoher Qualität realisiert werden kann.

Sie haben es erwähnt: Die jüdische Gemeinschaft ist auch in der Schweiz mit erhöhten Anforderungen an die Sicherheit konfrontiert. Es braucht Wachpersonal und bauliche Massnahmen. Wer kommt dafür auf?

Die finanzielle Belastung für die jüdischen Gemeinden ist enorm. Es müssen ja nicht nur Synagogen geschützt werden, sondern auch Schulen und Gemeindehäuser. Immerhin hat der Bund nach langem Zögern eingelenkt und unterstützt seit einiger Zeit «Minderheiten mit besonderen Schutzbedürfnissen». Letztes Jahr entschied der Bundesrat, die finanziellen Mittel von jährlich 500 000 Franken auf 2,5 Millionen zu erhöhen. Das ist eine bedeutende Entlastung.

Laut dem Antisemitismusbericht beliefen sich die ungedeckten Sicherheitskosten auf 4 bis 5 Millionen Franken.

Einige Kantone haben die Mittel als Reaktion auf die Massnahmen des Bundes aufgestockt, auf andere warten wir noch.

Die Finanzsorgen sind nicht nur im Sicherheitsbereich gross, sondern auch in den jüdischen Schulen. Viele Bildungsinstitutionen seien praktisch pleite, vermeldete kürzlich das Internetportal «Inside Paradeplatz».

Die Kosten der jüdischen Schulbildung sind ein riesiges Problem. Das betrifft nicht nur streng orthodoxe Gemeinden, sondern alle, die ihre Kinder in Fragen des Judentums unterrichtet haben wollen. Mit zwei Stunden Religionsunterricht wie in den staatlichen Schulen kommen sie nicht weit. Allein das Lernen von Hebräisch als Gebetssprache braucht viel Zeit. Ideal sind Tagesschulstrukturen. Aber das Schulgeld pro Schüler und Monat beläuft sich rasch auf 1500 Franken oder mehr. Zuschüsse vom Staat gibt es für jüdische Schulen nicht, obwohl dort auch profane Bildung vermittelt wird – anders als etwa im streng laizistischen Frankreich, das sich da grosszügig zeigt. Und entgegen dem Stereotyp sind viele Familien, die dieses Angebot in Anspruch nehmen wollen, nicht reich. Hier wünschte ich mir ein Entgegenkommen der Behörden. Jüdische Schulen sind ein Teil der Schweizer Schullandschaft.

Die Schulen können aber nicht verhindern, dass die Säkularisierung auch das Judentum erfasst.

Diesem gesellschaftlichen Trend können wir wenig entgegensetzen. Die jüdische Gemeinschaft in der Schweiz umfasst nur rund 18 000 Personen. Gerade in kleinen Gemeinden besteht die Gefahr, dass die jüdische Kultur immer weniger gepflegt werden kann. In der EU wurde eine Strategie entwickelt gegen Antisemitismus und zur Förderung des jüdischen Lebens. Juden sollen in Europa gut leben können – nicht nur in Israel oder den USA. Deshalb braucht auch die Schweiz eine solche Strategie.
(https://www.nzz.ch/schweiz/lasche-nazisymbol-regelung-deutsche-neonazis-kommen-deshalb-gerne-in-die-schweiz-ld.1727997)