Medienspiegel 26. Februar 2023

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+++BERN
NZZ am Sonntag 26.02.2023

Vor aller Augen

Eine 38-jährige Afghanin wird in der Kollektivunterkunft Büren an der Aare erstochen, mutmasslich von ihrem Ehemann. Könnte sie noch leben, wenn im Asylwesen konsequent auf Alarmsignale geachtet würde?

Manuela Enggist

Lilien sind ausdauernde, aufrecht wachsende Pflanzen. Viele der Frauen, die im Kreis auf der Wiese stehen, halten eine davon in ihren Händen. Sie werden diese später um den Fliederstrauch legen, den sie soeben gepflanzt haben. Er soll ein Mahnmal gegen die Gewalt an Frauen sein. Anlass ist die Trauerfeier für Aziza*, erstochen mutmasslich von ihrem Ehemann. Sie starb in der Kollektivunterkunft Büren an der Aare im Berner Seeland, in einem Haus, in dem 60 Menschen auf engstem Raum zusammenleben.

Es gibt keine Statistik dazu, wie viele Übergriffe auf Frauen im Schweizer Asylwesen geschehen: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) unterscheidet bei der Erfassung nicht zwischen den Geschlechtern. Aber der Fall legt eine grundsätzliche Frage nahe: Begünstigt das kantonale Setting im Asylwesen Gewalt an Frauen in Kollektivunterkünften?

Die Tat

Am 24. April 2022, kurz nach zwei Uhr in der Nacht, wird der Kantonspolizei Bern eine Auseinandersetzung eines Ehepaares in der Kollektivunterkunft Büren an der Aare gemeldet. In einem Zimmer stossen die Einsatzkräfte auf eine 38-jährige Frau. Trotz Rettungsmassnahmen verstirbt die Afghanin. Der mutmassliche Täter, ihr Ehemann, ein gleichaltriger Afghane, wird festgenommen.

An einem heissen Sommertag im darauffolgenden Juni sitzt Nesrin* in einem Café im Bieler Bahnhof. Sie trägt ein schwarzes Kleid, die Haare hat sie im Nacken zu einem Knoten gebunden. Nesrin ist mit ihrem Mann aus der Türkei geflüchtet, er ist ein politischer Aktivist. Aziza hat sie beim Erledigen eines Ämtlis in einer Kollektivunterkunft im Kanton Solothurn kennengelernt. Sie kommunizierten vor allem über Google Translate. Nesrin freute sich, als sie Aziza einige Monate später in der Kollektivunterkunft Büren an der Aare wiedertraf. Sie habe aber auch sofort gespürt, dass Azizas Ehemann strenger mit ihr geworden sei, erinnert sie sich. Er habe sich aufgeregt, wenn Nesrin in der Gemeinschaftsküche mit Aziza gesprochen habe: «Das erkannte ich an seiner Gestik. Aziza hat dann alles liegengelassen und ist aufs Zimmer gegangen.»

Nesrin sprach mit einer Iranerin darüber, die ebenfalls Kontakt mit Aziza hatte. Diese erzählte ihr, Aziza habe ihr gesagt, dass sie Angst habe vor ihrem Ehemann und sich um ihre Kinder und um sich selber sorge. Einmal soll Aziza in das Büro der Leitung gegangen sein und gesagt haben, dass sie sich scheiden lassen wolle. Einige Tage später soll sie ihre Meinung geändert und dies der Leitung ebenfalls mitgeteilt haben.

In der Nacht auf den 24. April liegt Nesrin wach im Bett, als sie Schreie hört. Sie weiss sofort, dass diese nicht von einem Kind stammen. Gemeinsam mit ihrem Mann sieht sie nach, woher der Lärm kommt, und sie sehen, dass alle fünf Kinder vor Azizas Zimmertür stehen. Eine Afghanin und sie selber nehmen die Kinder und bringen sie in den Aufenthaltsraum. Dem jüngsten Kind ziehen sie sofort den blutdurchtränkten Body aus. «Wir dachten, dass es verletzt ist, aber dem war zum Glück nicht so», erzählt sie. Es habe fast eine Stunde gedauert, bis der Krankenwagen gekommen sei. Darum habe sie zuerst noch gedacht, dass Aziza wohl nur leicht verletzt sei. «Doch die älteste Tochter sagte, dass ihre Mutter tot sei. Sie erzählte der Afghanin, dass ihre Mutter um Hilfe gerufen habe. Ihr Vater habe ihre Mutter immer schlecht behandelt, sie geschlagen, ohne Respekt mit ihr gesprochen.»

Auch Nesrin wird von der Polizei befragt. Die Beamten sagen ihr, Azizas Ehemann behaupte, sie hätte ihn mit einem anderen Mann betrogen. «Ich habe ihnen gesagt, dass ich Aziza nie mit einem anderen Mann gesehen habe. Sie war immer mit ihren Kindern beschäftigt und so zurückgezogen, dass andere mich fragten, wer das überhaupt sei.» Nesrin sagt gegenüber der Polizei, man habe sehen können, wie sehr Aziza von ihrem Mann unterdrückt worden sei. Vielleicht habe sie ihr Leben selber in die Hand nehmen wollen und er es nicht ertragen können.

Nesrin wünscht sich, dass der Ehemann hart bestraft wird: «Es sollen alle wissen, dass das Leben einer Frau nicht in der Hand eines Mannes liegt.» Wann die Staatsanwaltschaft ihre Untersuchungen beendet haben wird, ist allerdings offen. Azizas Ehemann bleibt wohl bis zur Verhandlung in Untersuchungshaft. Die fünf Kinder befinden sich in der Obhut der Kesb Seeland. Es gehe ihnen den Umständen entsprechend gut, sagt auf Anfrage die Präsidentin Liliane Zurflüh: «Sie sind zum Glück bemerkenswert resilient.»

An diesem heissen Tag im Juni ist auch Ezmir* nach Biel gereist, er lebt ebenfalls in der Kollektivunterkunft Büren an der Aare. Während er spricht, knetet er den Deckel seiner Zigarettenschachtel. Ezmir ist Kurde, politischer Aktivist, Mitglied der HDP-Partei.

Sein Zimmer liegt direkt neben dem Raum, in dem Aziza mit ihrer Familie wohnte. Kurz vor dem Einschlafen vernimmt er ein Wimmern. «Es klang, als würde jemand mit einem Kissen erstickt.» Dann hört er die Kinder, die vom Hochbett springen. Es folgen Schreie. Er tritt auf den Korridor, sieht zwei Männer, die auch aus ihren Zimmern kommen. Sie wollen die Tür öffnen, doch sie ist abgeschlossen.

Ezmir rennt zum Büro der Nachtwache, berichtet von einem Kampf in Azizas Zimmer. Die Nachtwache schliesst die Tür auf. Ezmir tritt mit den beiden Männern ein, die Kinder sind am Schreien und am Weinen. Aziza liegt mit dem Rücken auf dem Bett, ihr Mann drückt ihr das Knie auf den Bauch und sticht mit dem Messer auf sie ein. «Er war wie in Trance, wehrte uns ab, als wir versuchten ihm das Messer wegzunehmen.» Ezmir und die Männer tragen die Kinder aus dem Raum. Als sie das letzte aus dem Zimmer gebracht haben, schliesst der Ehemann die Tür von innen ab. Sie haben keine Chance mehr, hineinzukommen. Laut Ezmir muss fast eine Stunde vergangen sein, bis Krankenwagen und Polizei kommen. «Ich will hier nicht die Sanitäter oder die Polizisten schlechtmachen. Aber ich kann dies nicht verstehen.»

Als die Polizei Azizas Mann rausbringt, steht Ezmir mit anderen Männern draussen. Sie spucken auf ihn. Da sagt er irgendetwas zu ihnen. «Ein Afghane hat mir seine Worte übersetzt: Aziza habe ihn entehrt. Aber das stimmt sicher nicht. Sie war ja nie mit einem anderen Mann zu sehen. Doch es gibt Männer, die glauben, dass Frau und Kind ihr Besitz seien.»

Ezmir erzählt den Beamten von einem Vorfall, der sich ungefähr zehn Tage vor Azizas Tod ereignet hat. In der Nacht hörte er Schreie aus ihrem Zimmer. Er klopfte, niemand reagierte. Also ging er ins Büro der Nachtwache, um den Mitarbeiter zu informieren. Als dieser mit Ezmir zu Azizas Zimmer lief, stand ihr Mann schon vor der Tür. «Der Mitarbeiter hat lange mit ihm gesprochen. Ich sagte ihm danach, dass die Leitung unbedingt bald eine Lösung finden müsse.»

Einige Tage nach dem Femizid werden zwei Psychologen in die Kollektivunterkunft kommen. Ezmir versteht kaum, was sie erzählen. Irgendwann steht er auf und sagt vor allen: «In Zukunft sollen das bitte alle ernst nehmen, wenn es zu Problemen in der Unterkunft kommt. Frauen werden überall auf der Welt ermordet. Manchmal kann man nichts dagegen machen. Aber wenn wir das Problem vor Azizas Ermordung ernst genommen hätten, dann wäre das vielleicht nie passiert.»

Die Aufarbeitung

Die dreistöckige Kollektivunterkunft liegt im Industriequartier von Büren an der Aare, umgeben von Feldern, einem Bikepark und einem Karosseriegeschäft. Im Garten steht eine rote Schaukel. Durch die Fenster blickt man in die Zimmer auf Hochbetten. Im Kanton Bern tragen fünf regionale Partner die operative Gesamtverantwortung für zugewiesene Personen. Die Kollektivunterkunft Büren an der Aare wird seit dem Juli 2020 vom Schweizerischen Roten Kreuz (SRK) Kanton Bern geführt. Die Organisation betreibt in den Regionen Berner Jura und Seeland sowie Bern-Mittelland zurzeit elf Unterkünfte.

Die Mandate vergibt das Amt für Integration und Soziales des Kantons Bern. «Die Zusammenarbeit wird aufgrund des Vorfalls nicht überprüft», sagt Abteilungsleiter Manuel Haas. «Wir haben Verträge, die ab Mitte 2020 über achteinhalb Jahre abgeschlossen sind.» Die Aufarbeitung des Falls liege allein bei der Polizei. Es gebe etwa einmal pro Jahr Aufsichtsbesuche von Mitarbeitenden. Dabei liege der Fokus aber mehr auf baulichen Fragen. «Wir kontrollieren beispielsweise, ob die Fluchtwege frei sind.» Manchmal seien die Besuche angekündigt, manchmal nicht.

Ein verregneter Septembertag im Industriequartier von Biel. Martina Blaser, Leiterin Migration des SRK Kanton Bern, empfängt in einem Konferenzraum. Neben ihr sitzt die Presseverantwortliche, vor ihr liegt ein Stapel Blätter. Das sei der erste Gewaltakt mit Todesfolge in einer vom SRK Kanton Bern geführten Kollektivunterkunft, sagt Blaser. Zum Fall will sie – wegen der laufenden Ermittlungen – nicht viel sagen. Nur dies: Kollektivunterkünfte seien keine Gefängnisse, es gebe keine Security. «Natürlich kann man sich im Zusammenhang mit der Tat fragen, warum wir nicht früher etwas gemerkt haben. Ich weiss um die Zeiten der Alarmierung. Ich weiss, wie lange es gedauert hat, bis der Krankenwagen vor Ort war, und ich weiss, wie wir uns verhalten haben.» Wenn die Untersuchungen zeigen würden, dass Fehler begangen worden seien, dann werde man dies so annehmen. «Im Moment gibt es aber kein Indiz dafür.»

In allen Kollektivunterkünften, die das SRK Kanton Bern betreibt, herrsche eine strikte Null-Toleranz-Strategie bei Gewalt, sagt Martina Blaser. «Wir sanktionieren sofort, wenn wir etwas mitbekommen.» Das gehe so weit, dass die Gewalt ausübende Person für 30 Tage der Unterkunft verwiesen werden könne. Da sei aber jeder Fall einzeln anzuschauen. Eine grosse Herausforderung sieht Blaser in der Infrastruktur. «Keine der Unterkünfte, die wir betreiben, ist für die Unterbringung von Flüchtlingen gebaut worden.» Die ebenfalls vom SRK Kanton Bern betriebene Unterkunft in Mühleberg etwa, ein Schulhaus, sei für Wohnzwecke unzureichend isoliert, und die Heizungen funktionierten seit längerem nicht einwandfrei. Zudem sei sowohl die Sanitäranlage der Frauen als auch jene der Männer im ersten Untergeschoss untergebracht. «Damit die Frauen zu den Toiletten gelangen können, müssen sie an den Duschen der Männer vorbei. Wir haben deswegen Notfallknöpfe an die Frauen verteilt, damit sie diese drücken können, sollten sie sich bedroht fühlen.»

Das SRK Kanton Bern könne zwar mitreden, wenn der Kanton über die Inbetriebnahme einer neuen Liegenschaft nachdenke. Aber selbst wenn es zehn Gründe nennen könne, warum sich ein Gebäude nicht als Kollektivunterkunft eigne: Falls der Kanton darauf beharre, müsse man trotzdem Menschen darin beherbergen und betreuen.

Die Kollektivunterkünfte können Angebote wie die Fachstelle Brückenbauer der Kantonspolizei Bern unentgeltlich in Anspruch nehmen. Sie müssen dazu einzig Dolmetscher sowie einen Raum zur Verfügung stellen, wie Fachstellenleiterin Michèle Seewer sagt. Das Modul «Häusliche Gewalt» gibt es seit 2017: «Wir merkten, dass viele Frauen oft nicht wissen, was sie für Rechte in der Schweiz haben. Gerade in Bezug auf Gewalt in Beziehungen», sagt Seewer. Die Teilnahme an den Kursangeboten ist freiwillig: «Gewisse Zentren wünschen, dass wir zweimal pro Jahr vorbeikommen. Andernorts haben wir noch keine Schulungen durchgeführt.»

Die Leitung der Kollektivunterkunft Büren an der Aare habe die Fachstelle Brückenbauer im Herbst 2020 für das Grundmodul «Zusammen sicher im Kanton Bern» angefragt. Das hätte auch einen Teil zu häuslicher Gewalt enthalten, wurde aber wegen Corona abgesagt und auf unbestimmte Zeit verschoben. Regelmässig auf Unterkünfte zugehen, um nachzufragen, wie es so laufe, kann Seewer mangels Ressourcen nicht. Sie hofft, dass sich dies ändert, wenn die Fachstelle ab dem Frühjahr eine zusätzliche Vollzeitstelle besetzt.

Die Vorwürfe

Die Gewalt gegen Frauen in Asylunterkünften weise auf ein strukturelles Problem hin, sagt Fatma Leblebici an einem Nachmittag kurz vor Weihnachten im Berner Generationenhaus. Die Kurdin ist 2009 aus der Türkei in die Schweiz geflüchtet und lebte danach während zwei Jahren in Asylunterkünften. Seit 2018 ist sie Bildungsverantwortliche der NGO Brava. Sie habe stets wachsam sein müssen, sagt sie über ihre ersten Jahre in der Schweiz. «Als Frau ist man in einer Kollektivunterkunft stets im Verteidigungsmodus.» Es gab immer wieder Vorfälle mit betrunkenen Männern, die in die Zimmer der Frauen zu gelangen versuchten. «Also verbarrikadierten viele die Tür mit einem Stuhl.» Da es keinen Rückzugsort nur für Frauen gab, schloss sich Fatma Leblebici oft in ihrem Zimmer ein – was ihr als mangelnder Integrationswille ausgelegt wurde.

Frauen berichten ihr auch heute noch regelmässig von Gewaltvorfällen oder sexuellen Übergriffen in Kollektivunterkünften, als selbst Betroffene oder Augenzeuginnen. «Frauen schildern mir oft, dass das Personal nicht eingreifen möchte. Manche sagen: Die reden halt so miteinander, das ist ihre Kultur, sie ist es gewohnt, dass der Mann so mit ihr umgeht.» Das sei das Hauptproblem. «Häusliche Gewalt wird in den Asylstrukturen noch immer oft als privates Problem wahrgenommen. Dabei tragen wir eine Verantwortung für diese Menschen.»

Letztes Jahr leitete Fatma Leblebici eine Schulung zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt für Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Ausbildung Migrationsfachpersonen in Bern, die bereits als Betreuungspersonal in Asylzentren arbeiten. Sie fragte, ob sie in den Unterkünften schon Gewalt an Frauen erlebt hätten. «Ein Mann, der in einem Bundesasylzentrum arbeitet, bejahte diese Frage: Ein Mann habe eine Frau sexuell belästigt. Aber das sei halt nun mal so. Die Männer hätten eine lange Flucht hinter sich, wohl lange keinen Sex mehr gehabt und halt auch ihre Bedürfnisse.»

In solchen Momenten habe sie jeweils Mühe, ruhig zu bleiben. «Das zeigt, dass auch das Personal regelmässig zu diesem Thema geschult werden muss und dass Gewalt an Frauen niemals bagatellisiert werden darf.» Wer einmal wegschaue, schaue auch ein zweites Mal nicht hin. «Es braucht dringend einen Leitfaden zum Thema geschlechtsspezifische Gewalt, der schweizweit allen Mitarbeitenden in die Hände gedrückt wird.» Vergleiche sie die Zustände von heute mit denen von 2009, dann habe sich leider nur wenig verbessert. «Und dieses Schneckentempo begünstigt Gewaltdelikte, wie die Tötung der Frau in Büren.»

Der Handlungsbedarf

Ein Ende des Jahres veröffentlichter Bericht von Grevio, der Expertengruppe des Europarats zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt zur Umsetzung der Istanbul-Konvention, bestätigt das Vorliegen von Mängeln – auch im Asylwesen. Fortbildung und Sensibilisierung der im Asylbereich tätigen Personen bezüglich des Themas Gewalt gegen Frauen seien unzureichend. Was die Unterbringung anbelangt, so fordert die Expertengruppe die Verabschiedung von geschlechtsspezifischen Leitlinien für alle Schweizer Asylzentren.

Einheitliche Schutzkonzepte für Kollektivunterkünfte gibt es bis heute nicht. Der Fachbereich Migration der Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und Sozialdirektoren hat laut dessen Leiterin Myriame Zufferey schon vor längerem damit begonnen, einen Leitfaden für die Kantone auszuarbeiten. «Darin sollen heikle Punkte wie Sicherheit, Rückzugsmöglichkeiten, Zugang zur medizinischen Versorgung, Früherkennung von Traumata sowie Ausbildung und Sensibilisierung des Personals thematisiert werden.»

Derzeit könne man sich aber wegen den «Herausforderungen der aktuellen Migrationskrise» nicht damit beschäftigen. Man wolle die Arbeit daran wieder aufnehmen, sobald diese Krise überwunden sei.

*Name geändert
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/hintergrund/vor-aller-augen-ld.1727802)


+++ITALIEN
Libyen/ Italien: Mehr Gas für Europa – dafür weniger Flüchtlinge
Ende Januar war die ultrarechte italienische Ministerpräsidentin zu Besuch in Tripolis und vereinbarte mit dem libyschen Premierminister Dbeibah einen Erdgasdeal. Im Gegenzug für mehr Gas versprach sie, Schnellboote für die libysche Küstenwache zu liefern. Die Hoffnung Melonis: mehr Migranten werden an der Überfahrt nach Italien gehindert. Migranten, wie etwa Abdelkader. Er stammt ursprünglich aus Nigeria, lebt derzeit in Libyen und möchte unbedingt nach Europa. Der 25-jährige arbeitet sieben Tage die Woche und wohnt mit fünf anderen Migranten auf wenigen Quadratmetern. Die Lebensbedingungen von ihm und den rund 700.000 Migranten im Land sind oft katastrophal. Doch die libysche Regierung sieht die Verantwortung bei Europa, schließlich sei Libyen nur das Transitland.
https://www.ardmediathek.de/video/europamagazin/libyen-italien-mehr-gas-fuer-europa-dafuer-weniger-fluechtlinge/das-erste/Y3JpZDovL2Rhc2Vyc3RlLmRlL2V1cm9wYW1hZ2F6aW4vNjI4MThjNDUtMDZiZi00ZmJmLTg3Y2MtM2FlMjYwZGZmZTNj


+++MITTELMEER
Kalabrien: Mindestens 43 Migranten vor Italien ertrunken
Vor der Küste Kalabriens ist ein Boot mit wohl mehr als 100 Menschen an Bord verunglückt. Rettungskräfte haben bisher 43 Leichen geborgen.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-02/italien-bootsunglueck-migranten-crotone
-> https://www.derstandard.at/story/2000143934261/medien-30-tote-bei-bootsunglueck-mit-migranten-vor-sueditalien?ref=rss
-> https://www.spiegel.de/ausland/crotone-in-sueditalien-rund-30-gefluechtete-bei-schiffbruch-gestorben-a-46f1d0dd-f6d0-49b8-9957-6cdb57ac33cc
-> https://www.tagblatt.ch/international/migration-33-tote-bei-bootsunglueck-mit-migranten-vor-sueditalien-ld.2421298
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/dutzende-tote-migranten-nach-schiffsunglueck-vor-sueditalien,TWxmX08
-> https://www.baerntoday.ch/welt/mindestens-43-migranten-tot-nach-bootsunglueck-vor-sueditalien-150285800
-> https://www.blick.ch/ausland/ueber-100-menschen-an-bord-30-tote-bei-bootsunglueck-mit-migranten-vor-sueditalien-id18351089.html
-> https://taz.de/Schiffbruch-bei-Flucht/!5918214/
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/migranten-bootsunglueck-mittelmeer-101.html
-> https://www.deutschlandfunk.de/von-der-leyen-will-reformen-im-asylrecht-100.html
-> https://www.tagesschau.de/ausland/europa/migranten-bootsunglueck-mittelmeer-101.html
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1171284.seenotrettung-eu-asylpolitik-dutzende-gefluechte-im-mittelmeer-ertrunken.html
-> Tagesschau: https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/sueditalien-mindestens-60-tote-bei-bootsunglueck-mit-migranten?urn=urn:srf:video:a77ef56f-ab0c-4a1e-9664-cce7839bf195


+++TUNESIEN
derbund.ch 26.02.2023

Gewalt gegen Migranten in Tunesien: Widerstand gegen «Zivilisationsbruch» nach Hetzrede des Präsidenten

In Tunesien häufen sich Massenverhaftungen und Gewalttaten gegen Menschen aus Subsahara-Afrika. Gleichzeitig entsteht Solidarität mit den Angegriffenen.

Mirco Keilberth aus Tunis

Die Gewalt gegen Migranten geht auch eine Woche nach Beginn der von Kais Saied angeordneten Verhaftungswelle unvermindert weiter. Der Präsident hatte bei einem Treffen des sogenannten Nationalen Sicherheitsrates vor laufenden Kameras die meist aus Subsahara-Afrika kommenden Migranten als Gefahr für Tunesien bezeichnet. Diese seien Teil einer Verschwörung, die den Islam und die arabische Identität Nordafrikas schwächen wolle. Die anwesenden Minister, Generäle und die Beamten des Innenministeriums wies der 2019 gewählte Politik-Quereinsteiger an, die Migration nach Tunesien zu stoppen und gegen alle vorzugehen, die ohne legalen Aufenthaltsstatus im Land seien.

Bereits Stunden vor der Wutrede hatten Polizisten damit begonnen, in der Hauptstadt Tunis Dunkelhäutige aus Bussen und Strassenbahnen zu holen und per Sammeltransporter in Abschiebehaft zu bringen. Dabei unterschieden sie nicht zwischen Inhabern des Aufenthaltstitels «carte de sejour» und denjenigen, die ohne offizielle Papiere im Land arbeiten.

Thema, das bisher kaum jemanden interessierte

Auch politische Gegner von Saied wurden verhaftet. Die Staatsanwaltschaft hat gegen mindestens 50 Oppositionelle Verfahren wegen Korruption und Amtsmissbrauch eröffnet. Für den Präsidenten sei die Kampagne gegen Migranten bereits ein Erfolg, sagen Kritiker hinter vorgehaltener Hand. Statt über seine autokratischen Massnahmen spreche das Land über ein Thema, das bisher kaum jemanden interessiert hat. (Lesen Sie zum Thema auch den Artikel «Der Präsident hat Armeeführung auf seiner Seite».)

«Mein Bruder wurde zusammen mit Freunden in einem Supermarkt von Polizisten festgenommen, obwohl er eine Asylbestätigung des Hilfswerks der UNO bei sich hatte», berichtet François Adjakbo. Der Ingenieur ist einer der Interessensvertreter von etwa 7000 in Tunesien lebenden Migranten und Studenten aus der Elfenbeinküste. Über 1000 von ihnen sässen in Tunis bereits in Haft.

Auch François Adjakbo verfügt seit seiner Flucht aus Libyen über eine Identitätskarte und hat einen bei den Behörden registrierten Mietvertrag. «Ich lebe seit sechs Jahren zufrieden in Tunesien und hatte die Idee, nach Europa zu gehen, schon lange aufgegeben», sagt der 43-Jährige. Als Handwerker hatte er bisher ein ausreichendes Einkommen. «Doch seit der täglich schlimmer werdenden Jagd auf uns wollen meine Kunden auch für schon erledigte Reparaturen nicht zahlen. Ich habe bald kein Geld mehr für Lebensmittel.»

Die 2015 eingeführte Visafreiheit hatte Tunesien zu einem begehrten Ziel für westafrikanische Studenten und Handwerker gemacht. Flüchtlinge und Migranten kamen in den letzten Jahren aus dem benachbarten Bürgerkriegsland Libyen. In Tunesien herrscht seit der Revolution eine Art informelle Willkommenskultur. Vor dem Krieg um Tripolis geflohene Familien, algerische Dissidenten oder in Ägypten von Zensur betroffene internationale Stiftungen konnten frei arbeiten und leben.

Weil sich das von Kais Saied im Sommer 2021 abgesetzte Parlament aber auf kein Asylgesetz oder die Reform des Aufenthaltsstatus einigen konnte, leben Flüchtlinge und Migranten zumindest dem Gesetz nach illegal im Land. Staatliche Medien schätzen die Zahl der Menschen aus Subsahara-Afrika auf eine Million. Weil so viele junge Tunesier wie nie nach Europa emigrieren, finden fast alle von ihnen Arbeit.

«Bis zu Beginn der letzten Woche gab es kaum ein Café oder Restaurant, in dem nicht eine Angestellte aus Westafrika bedient, gekocht oder geputzt hat», sagt Olfa Doghmane, die in Lafayette ein kleines Bistro betreibt. Seit letzter Woche trauten sich ihre Angestellten trotz gültigem Aufenthaltstitel nicht mehr auf die Strasse. «Ich bin schockiert, wie sich die öffentliche Meinung gegen Migranten verändert hat. Und ohne jeden Grund, denn die tunesische Wirtschaft benötigt sie als Arbeitskräfte.»

Das tunesische Innenministerium erliess am Freitag das Verbot, Migranten ohne Aufenthaltsstatus anzustellen. Banken dürfen von ihnen ab sofort keine Überweisungen annehmen, und Ärzte dürfen sie nicht mehr behandeln. «Doch wie sollen meine Angestellten einen bisher nie geforderten Aufenthaltstitel beantragen, wenn sie damit rechnen müssen, auf dem Amt oder der Polizeiwache verhaftet zu werden?», fragt sich Olfa Doghmane.

Migranten und tunesische Jugendliche gehen aufeinander los

In der Hafenstadt Sfax hat es in der Nacht auf Sonntag erstmals Strassenschlachten zwischen Migranten und tunesischen Jugendlichen gegeben. Dort wurden, wie zuvor in Tunis, Familien aus Westafrika von einem Mob aus ihren Wohnungen vertrieben. «Aus Vorurteilen und Angst ist Hass geworden», sagt der Aktivist Omar ben Amor, der in Sfax an einem Mediationsprojekt zwischen Stadtverwaltung und Migranten arbeitet. Er fürchtet eine weitere Eskalation der Gewalt. «Die vergangene Woche hat etwas zerstört, was Tunesien nach der Revolution ausgezeichnet hat: Die Probleme, so gross sie auch sein mögen, mit einem Kompromiss zu lösen.»

Seit dem Wochenende formiert sich der Widerstand gegen den «Zivilisationsbruch», wie die Aktivistin Chaima Bouhlel die letzte Gewaltwelle bezeichnet. Sie und andere führende Vertreter der Zivilgesellschaft demonstrierten in Tunis und in unabhängigen Medien für Solidarität mit «unseren afrikanischen Brüdern und Schwestern».

Neben den rund 1000 Demonstranten fordern mittlerweile auch Universitäten und Ärzteverbände ein Ende der Diskriminierung. Viele Migranten machen sich bereits aus Angst vor den meist in der Nacht stattfindenden Polizeirazzien zu Fuss an die Küste Tunesiens. «Wegen der gefährlichen Überfahrt wollen viele meiner Freunde nicht per Boot nach Europa», sagt François Adjakbo. «Aber was bleibt ihnen anderes übrig?»
(https://www.derbund.ch/widerstand-gegen-zivilisationsbruch-nach-hetzrede-des-praesidenten-422742307669)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Kritik nach Zürcher Krawallen: So kam es zur Fehleinschätzung der Stadtpolizei
Nachdem die Demo zum Ende des Koch-Areals eskalierte, steht die Polizei unter Druck. Warum sie es verpasst hat, die Lage richtig einzuschätzen.
https://www.blick.ch/schweiz/kritik-nach-zuercher-krawallen-so-kam-es-zur-fehleinschaetzung-der-stadtpolizei-id18350420.html


Wochengast: Werner Karlen, Präsident Polizeibeamtenverband Zürich
Die Kritik an der Zürcher Stadtpolizei ist massiv nach den Ausschreitungen bei einer unbewilligten Hausbesetzer-Demonstration am vergangenen Wochenende in Zürich: Die Polizei habe nur zugeschaut und nicht eingegriffen, als gewalttätige Demonstrationsteilnehmerinnen Scheiben einschlugen und Wände versprayten. Werner Karlen, der als Präsident des Polizeibeamtenverbands die Anliegen des Stadtpolizei-Korps vertritt, verteidigt das Vorgehen – und kritisiert gleichzeitig die Politik. Er fordert: Es braucht mehr Polizstinnen und Polizisten.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/wochengast-werner-karlen-praesident-polizeibeamtenverband-zuerich?partId=12342667


Brennende Solidarität mit Alfredo Cospito
Brennender Container beim Casa d Italia in Zürich. Freiheit für Alfredo Cospito!
https://barrikade.info/article/5659


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Sibel Arslan: «Visumverfahren muss optimiert werden»
Das Erdbeben in der Türkei und Syrien fordert tausende Todesopfer. Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne/BS) fordert unbürokratische Hilfe und sammelt Geldspenden.
https://www.nau.ch/news/schweiz/sibel-arslan-visumverfahren-muss-optimiert-werden-66426661


+++POLIZEI ZH
tagesanzeiger.ch 26.02.2023

Fahrzeuge der Stadtpolizei Zürich: Neuer Wasserwerfer ist mehr als doppelt so teuer wie geplant

Im Kampf gegen gewalttätige Demonstrantinnen und Fussballfans setzt die Stadtpolizei Zürich auf Wasserwerfer. Diese werden immer moderner.

Corsin Zander

Wenn sie auftauchen, droht Krawall. Die Wasserwerfer der Stadtpolizei stehen beim sogenannten unfriedlichen Ordnungsdienst im Einsatz – also immer dann, wenn sich die Polizei mit Gewalt von grösseren Gruppen konfrontiert sieht.

Die beiden Wasserwerfer sind inzwischen in die Jahre gekommen, ihre Tanks sind undicht. Und so hat die Stadtpolizei bereits 2019 entschieden, die beiden Fahrzeuge zu ersetzen. Damals rechnete man mit Kosten von je etwa einer Million Franken. 2021 bezahlte die Stadtpolizei Zürich für den ersten neuen Wasserwerfer rund 1,8 Millionen Franken. Nach Lieferschwierigkeiten soll er nun in diesem Frühjahr endlich geliefert werden.

Nun hat die Stadtpolizei den Auftrag für das zweite neue Fahrzeug vergeben. Dieses kostet insgesamt gar über 2,2 Millionen Franken statt der ursprünglich geschätzten einen Million, wie aus der Ausschreibung auf der Plattform Simap.ch hervorgeht. Als Grund nennt die Stadtpolizei auf Anfrage, dass diverse Einzelkomponenten in der Zwischenzeit bis zu 50 Prozent teurer geworden seien.

Noch kein Elektro-Wasserwerfer verfügbar

Die ursprünglich kalkulierte Million berechnete sich auf Grundlage der bestehenden Fahrzeuge, welche die Polizei 2007 im Vorfeld der Fussball-Europameisterschaften beschaffte. Doch seither haben sich die Anforderungen geändert. Der Wassertank besteht nicht mehr aus Plastik, der mit den Jahren undicht wird, sondern aus Chromstahl. Und der Dieselmotor entspricht der aktuell bestmöglichen Abgasvorschrift, Euro 6.

Eigentlich hätte die Stadtpolizei einen elektrisch betriebenen Wasserwerfer beschaffen müssen, denn die gesamte Fahrzeugflotte soll bis 2035 mit erneuerbarem Antrieb ausgerüstet sein – so das Ziel der Stadtpolizei. Doch gerade bei den Spezialfahrzeugen gibt es gar keine Hersteller, welche einen Elektroantrieb anbieten. Überhaupt bietet nur ein Zürcher Familienunternehmen die Wasserwerfer bisher an. Dieses ist auf Feuerwehr- und Polizeifahrzeuge spezialisiert. Die Stadtpolizei muss also – sowohl vom Preis als auch von der Ausrüstung her – nehmen, was diese Firma im Angebot hat.

Bisher fahren fast 20 Prozent der insgesamt 350 Autos und Sonderfahrzeuge mit erneuerbaren Energien, zwei Drittel davon mit elektrischem Antrieb. Wie schnell die Stadtpolizei von Diesel und Benzin wegkomme, hänge auch von der Anzahl der Ladestationen ab und natürlich davon, was der Fahrzeugmarkt hergebe, heisst es bei der Stadtpolizei.

Seit Jahrzehnten im Einsatz

Bei den neu beschaffenen Wasserwerfern rechnet die Stadtpolizei mit einer Lebensdauer von rund 20 Jahren. Die Polizei setzt schon seit Jahrzehnten auf diese Fahrzeuge, so wurden sie etwa auch bei den Opernhauskrawallen in den 1980er-Jahren Wasserwerfer eingesetzt.

Seither haben sie sich stark entwickelt. Die neusten dieser Spezialfahrzeuge haben ein Fassungsvermögen von 9000 Litern, davon spritzen sie pro Minute rund 3000 Liter mindestens 60 Meter weit. In der Kabine haben bis zu 5 Polizistinnen und Polizisten Platz.
(https://www.tagesanzeiger.ch/neuer-wasserwerfer-ist-mehr-als-doppelt-so-teuer-als-geplant-415065787708)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Demonstrationen für den Frieden: Rechtsaussen biedert sich bei Linksaussen an
AfD-Hardliner Björn Höcke bietet der Linken Sahra Wagenknecht einen Parteiwechsel an. Auch in der Schweiz kommt es zu skurrilen Kombinationen.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/demonstrationen-fuer-den-frieden-rechtsaussen-biedert-sich-bei-linksaussen-an-id18352052.html


+++HISTORY
Kunsthaus Zürich: Neue Fluchtkunst-Strategie geplant
Nach den umstrittenen Werken der Bührle-Sammlung macht nun auch das Zürcher Kunsthaus selbst mit Werken, die möglicherweise Fluchtkunst sind, von sich reden. Gemäss NZZ am Sonntag will darum im März ein neues Konzept für die Provenienzenforschung vorstellen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/kunsthaus-zuerich-neue-fluchtkunst-strategie-geplant?id=12342664