Medienspiegel 15. Februar 2023

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+++LUZERN
Malters schafft Plätze für Geflüchtete
Malters bietet Hand: Ins ehemalige Bürogebäude am Mühlering ziehen schon bald 40 Flüchtlinge ein. Der Betrieb der Asylunterkunft läuft anderthalb Jahre.
https://www.neo1.ch/artikel/malters-schafft-plaetze-fuer-gefluechtete


+++THURGAU
tagblatt.ch 15.02.2023

«I’ll kill you»: Pöbel-Vorwürfe, Bedrohungen und Berichte von unzumutbaren Zuständen in der Notasylunterkunft Steckborn spalten das Dorf

Flüchtlinge aus diversen Ländern finden in der Notasylunterkunft in Steckborn ein vorübergehendes Zuhause. Das sorgt für gespaltene Meinungen, sowohl bei den Asylsuchenden als auch bei den Anwohnerinnen und Anwohnern. Die Rede ist von Pöbeleien, Bedrohungen und schlechten Zuständen in der Anlage.

Janine Bollhalder

Sie sorgt für gemischte Gefühle: Die Notasylunterkunft an der Talstrasse in Steckborn. Seit März des vergangenen Jahres wird sie genutzt, erst waren es nur Ukrainerinnen und Ukrainer, die vor dem Krieg ins Städtli am Untersee flüchteten. Inzwischen sind auch andere Nationalitäten vertreten. Die Reaktionen darauf sind gespalten, wie ein Besuch vor Ort zeigt.

Von einem der Männer aus der Notasylunterkunft wurde ihr Mann angepöbelt, erzählt eine junge Frau mit Kinderwagen. Es sei im Coop geschehen, in der Gemüseabteilung. «Erst hat er meinen Mann einfach nur geschubst.» Dann sei er immer frecher geworden, habe mit «I kill you» gedroht. Das Ladenpersonal und die Polizei mussten einschreiten.

Sie wolle nicht alle Asylsuchenden schlechtreden, sagt sie, «es gibt sicher auch Gute». Aber Arbeitskolleginnen der Lokführerin zeichnen kein positiveres Bild mit ihren Erlebnissen aus dem Alltag. «Die jungen Männer fahren ohne Zugbillett, pöbeln die Kondukteure an und spucken ihnen vor die Füsse.» Und es sei bekannt, dass viele der Unruhestifter aus der Unterkunft in Steckborn kommen. Das bestätigt die Kantonspolizei Thurgau. Seit Mitte Dezember gab es 14 polizeiliche Interventionen wegen Asylbewerbern aus dem Zentrum von Steckborn, sagt Mediensprecher Matthias Graf gegenüber «Blick».

Diebstähle, Alkohol und Belästigung

Am Bahnhof Steckborn steigen zwei junge Flüchtlinge in einen Zug. Ein weiterer Mann aus der Unterkunft sitzt auf einer Bank vor dem Kiosk, er trägt Kopfhörer, es scheint unklar, ob er telefoniert oder singt. «Die Leute aus der Asylunterkunft haben gestohlen», erzählt ein Mitarbeiter des Shops am Bahnhof. Vor allem Alkohol, aber auch Süssigkeiten und Teddybären. Deswegen gibt es nun einen klaren Ein- und Ausgang in gut sichtbarer Kassennähe. Weitere Türen bleiben vorläufig verschlossen.

Der Mann hinter der Kasse habe auch beobachtet, dass die Fahrgäste am Bahnhof angesprochen und angepöbelt werden, insbesondere auf Frauen hätten es die Asylsuchenden abgesehen. «Seit das Sicherheitspersonal Präsenz zeigt, ist es aber besser», sagt er. Die Sicherheitsangestellten sieht man in der ganzen Stadt, am Seeschulhaus, im Café am Bahnhof und besonders rund um die Asylunterkunft an der Talstrasse. Sie sind im Auftrag des Staatssekretariats für Migration (SEM) unterwegs.

Mit den Asylsuchenden ins Gespräch zu kommen, stellt sich als schwierig heraus. Eine Familie versucht mit Wortfetzen in Französisch, Englisch und Deutsch, von ihrer Unterbringung in Steckborn zu erzählen. Die Sprachbarriere ist da, sie lächeln verlegen. – «Sorry.» Ein junger Mann mit wilden Locken spricht Englisch, er ist aber sehr misstrauisch, will sich nicht äussern. Nur so viel: Es gefalle ihm hier in der Schweiz gar nicht. «No freedom here» – keine Freiheit hier.

Durchfall, Haare im Essen und Rauswurf

Ein anderer ist auskunftsfreudiger. Er spricht Deutsch, ist vor zwei Monaten nach Steckborn gekommen. «Die Situation in der Unterkunft ist schrecklich», erzählt er. Es gebe keine Fenster, keine frische Luft. «Es schlafen bis zu 20 Leute in einem Zimmer, manche sogar auf den Gängen.» Die Mitarbeiter seien unfreundlich, bedrohten die Asylsuchenden.

Viele der Asylsuchenden seien krank, er habe seit zwei Wochen Durchfall. «Das Essen ist schlecht, gekocht wird unter nicht-hygienischen Zuständen.» Kürzlich habe er Haare in seiner Mahlzeit gefunden. Er versuche, den anderen Asylsuchenden zu helfen, gibt Ratschläge zu Medikamenten. Er kenne sich ein wenig aus, weil er in einem Altenheim gearbeitet habe. Die Vorwürfe, dass Asylsuchende die Leute aus Steckborn anpöbeln, kann er nicht so recht glauben: «Die Leute hier sind krank, sie haben für so etwas gar keine Energie mehr.»

Die Unterhaltung wird von einem Sicherheitsmitarbeiter am Eingang der Notasylunterkunft beobachtet. Später am Abend teilt der Mann via Textnachricht mit, dass er wegen des Gesprächs die Anlage verlassen musste.

Hausordnung, Zeltdörfer und allgemeine Schwierigkeiten

Dass ein Asylsuchender am Dienstagabend die Unterkunft wegen Kontakt zu Medienschaffenden verlassen musste, schliesst Reto Kormann klar aus. Er ist stellvertretender Leiter des SEM. Ein Ausschluss aus der Anlage droht aber, wenn eine Person ihren Pflichten nicht nachkommen, sich beispielsweise nicht an die Hausordnung hält, oder die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährden.

Darüber, dass in der Anlage schlechte Luft herrscht, gebe es keine Hinweise. Die Lüftung funktioniere einwandfrei, und: «Das Essen entspricht bei über 100 gemeinsam untergebrachten Personen halt nicht jedermann oder -fraus Geschmack.»

Das SEM sei sich der besonderen Umstände bewusst, sagt Kormann. «Solange aber nicht ausreichend valable Alternativen zur Unterbringung zur Verfügung stehen, müssen wir zwangsläufig auf diese ‹ultima ratio› zurückgreifen.» Die einzig denkbare Option sind Zeltdörfer, aber Kormann weiss, dass die Asylsuchenden diesen sehr kritisch gegenüberstehen – «zum Teil aus eigener Erfahrung».

Zu den Schilderungen über Zwischenfälle wie etwa Pöbeleien sagt Kormann: «Schwierigkeiten im Zusammenleben lassen sich nicht immer vermeiden.» Das sei jedoch bei den Asylsuchenden nicht anders als bei anderen Menschen, und solche Vorfälle gebe es nicht nur in Steckborn, sondern auch in anderen Bundesasylzentren.

Turnen, Flüchtlingstreff und freiwillige Arbeit

Während der Flüchtlingswelle aus der Ukraine wurden diverse Aktionen wie etwa einen Treff organisiert. Stadträtin Aleksandra Lindner versucht nun, ähnliche Projekte auf die Beine zu stellen. Sie ist verantwortlich für das Ressort Finanzen sowie ad interim für das Ressort Soziales und Gesundheit. «Solche Angebote bieten den Asylsuchenden eine gewisse Tagesstruktur», sagt Lindner. «Jeweils dienstags können sie in der Turnhalle Sport treiben, die Jugendlichen dürfen mit den Steckborner Jugendlichen in den Jugendtreff und samstags findet Deutschunterricht statt.»

In Zusammenarbeit mit der Stadt und dem Werkhof gibt es ausserdem Beschäftigungsangebote für die Asylsuchenden zur Sauberhaltung des öffentlichen Raums, erzählt Lindner. Weitere Angebote dieser Art seien in Entwicklung, ergänzt Kormann vom SEM, denn: «Ein ordentliches Arbeitsverhältnis können die Asylsuchenden während ihrer ersten drei Monate des Aufenthalts nicht eingehen.» Die Aufenthaltsdauer in den Strukturen des Bundes liegt bei maximal 140 Tagen. Danach gehen die Asylsuchenden in die Obhut des zugewiesenen Kantons über, sagt Kormann.

Stadträtin Lindner hat auf Facebook einen Aufruf gestartet, um Helferinnen und Helfer für die Projekte zu finden sowie Spiele für den Flüchtlingstreff. Sie sagt: «Es ist sehr erfreulich, wie die Leute bereit sind, zu helfen und die Asylsuchenden zu unterstützen, sei es im sprachlichen Bereich oder einfach dabei, dass sie sich nicht ausgegrenzt fühlen.

Sie nimmt die Gesamtsituation als «gespalten» wahr. «Gewisse Ängste und Unsicherheiten in der Bevölkerung sind da.» Anhand der Reaktionen auf ihren Facebook-Beitrag merkt Lindner jedoch: «Viele Steckborner und Steckbornerinnen finden, dass wir, solange die Asylsuchenden bei uns in Steckborn sind, sie willkommen heissen sollen. Denn hinter jeder Person steckt eine Geschichte, die wir sehr schwer nachvollziehen können.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/region-frauenfeld/asylwesen-i-kill-you-poebel-vorwuerfe-bedrohungen-und-berichte-von-unzumutbaren-zustaenden-in-der-notasylunterkunft-steckborn-spalten-das-dorf-ld.2416234)(


+++SCHWEIZ
Wegen Migrationsdruck: So reagieren die Parteien auf die steigenden Asylgesuche
2022 war ein Rekordjahr: Rund 100’000 Menschen suchten Zuflucht in der Schweiz. So viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr. Die Parteien haben verschiedene Strategien, wie sie der aktuell hohen Migration begegnen wollen.
https://www.blick.ch/politik/wegen-migrationsdruck-so-reagieren-die-parteien-auf-die-steigenden-asylgesuche-id18318091.html



WoZ 16.02.2023

Bundesasylzentren: Dumpinglöhne für Geflüchtete

In Beschäftigungsprogrammen leisten ­ Asylsuchende Hunderttausende Arbeitsstunden im Dienst der Allgemeinheit – und erhalten dafür minimalste Anerkennungsbeiträge. Betroffene fühlen sich ausgebeutet.

Von Reto Naegeli

Es regnet und ist kühl. Die Tische im Café in einem Dorf im Kanton St. Gallen, wo Halil Gündoğan aktuell in einem Asylheim lebt, bleiben fast alle leer. Arbeiten habe er immer wollen, sagt Gündoğan, denn das wäre eine Möglichkeit gewesen, sein Taschengeld von drei Franken pro Tag etwas aufzubessern. Gündoğan kam im August 2019 in die Schweiz und wohnte bis Oktober des gleichen Jahres im Bundesasylzentrum Boudry NE. Erwerbsarbeit im eigentlichen Sinn fand er dort aber keine – nur sogenannte Beschäftigungsprogramme. Und für diese findet er klare Worte: «Wir haben die Drecksarbeit für die Schweiz erledigt.»

Die Beschäftigungsprogramme in den Bundesasylzentren (BAZ) sind für dort untergebrachte Asylsuchende die einzige Möglichkeit, einer Arbeit nachzugehen. Vom regulären Arbeitsmarkt sind sie ausgeschlossen. Definition und Anwendungsbereich dieser Programme gelten für alle BAZ und sind im «Betriebskonzept Unterbringung» geregelt. Die Programme sind demnach Teil des Beschäftigungskonzepts, das auch Hausarbeiten, Bildungs- und Freizeitangebote umfasst. Sie sollen eine «Tagesstruktur» schaffen, «das Zusammenleben in den Zentren» erleichtern – sowie dem «allgemeinen lokalen oder regionalen Interesse des Kantons oder der Gemeinde» dienen.

Erst mal gratis arbeiten

In einer gemeinsamen Recherche haben die WOZ und das unabhängige Recherchekollektiv WAV eine umfassende Medienanfrage an das verantwortliche Staatssekretariat für Migration (SEM) gestellt und mit Asylsuchenden und ehemaligen Mitarbeitenden in den BAZ Zürich, Boudry und Basel gesprochen. Die Zahlen, die das SEM zur Verfügung stellt, sind eindrücklich: Über 300 000 Stunden gemeinnützige Arbeit haben Asylsuchende 2021 in Bundesasylzentren geleistet. Die Einsätze umfassten siebzehn Arbeitsbereiche – am häufigsten waren Forstarbeiten (14 Prozent), Unterhaltsarbeiten an öffentlicher Infrastruktur und Reinigungsarbeiten (je 13 Prozent), Bekämpfung von Neophyten (invasiven Pflanzen) sowie Arbeiten in den zentrumseigenen Wäschereien (je 8 Prozent).

Gemäss dem SEM gilt in fast allen BAZ die Regel, dass Asylsuchende eine obligatorische Mindestmenge an unbezahlten Arbeiten erledigen müssen, bevor sie an einem vergüteten Beschäftigungsprogramm teilnehmen können. Je nach BAZ variiere der Umfang der unbezahlten Arbeiten zwischen 6 und 28 Stunden. Auf die Frage, zu wie vielen Stunden bezahlter Arbeit dies qualifiziere, gibt das SEM keine klare Antwort. Laut Aussagen von Mitarbeiter:innen der Asylorganisation Zürich (AOZ) reicht das aus, um bis zu sieben Tage an einem vergüteten Programm teilnehmen zu können. Quittiert wird die unbezahlte Arbeitszeit mittels einer Stempelkarte.

Das SEM nennt weitere Voraussetzungen für bezahlte Einsätze: Die Bewohner:innen müssen «vorgängig gezeigt haben, dass sie sich an die Regeln des Zusammenlebens im BAZ halten», ihre obligatorischen Hausarbeiten «zur Zufriedenheit des Leistungserbringers Betreuung» erledigt haben und dass sie von keinen Sanktionen betroffen sind. Doch selbst wenn all das erfüllt ist, ist ein bezahlter Einsatz laut SEM nicht garantiert: Das sei jeweils auch von der Verfügbarkeit von Beschäftigungsprogrammen und der Anzahl Asylsuchender abhängig.

Intransparentes Vergabesystem

Die Betreuung in den Zentren wird nicht direkt vom SEM gewährleistet, sondern an Unternehmen ausgelagert – mancherorts an die öffentlich-rechtliche AOZ, in anderen Zentren an die private, profitorientierte ORS. So entscheidet die zuständige Betreuungsfirma üblicherweise auch über die Verteilung der Arbeitseinsätze. Laut dem SEM orientieren sich die Firmen dabei an einem «fairen» Vergabesystem. Ehemalige AOZ-Mitarbeiter:innen haben aber Zweifel daran. Zum Beispiel Pascal Erlacher, der seinen wahren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Er arbeitete für die AOZ als Betreuer im Testzentrum Juch in Zürich, wo von 2014 bis 2019 der Betrieb von Bundesasylzentren probeweise getestet wurde. Das Vergabesystem sei intransparent, sagt er. «Es gibt eine hohe Machtkonzentration bei Einzelpersonen aus dem Betreuungsteam. Entsprechend gross ist das Potenzial des Machtmissbrauchs.»

In Zürich gebe es im Betreuungsstab der AOZ eine eigene Abteilung für die Organisation und die Vergabe der Beschäftigungsprogramme, erzählt Lilith Heller, die ebenfalls anders heisst und bis August 2020 im BAZ Duttweiler in Zürich arbeitete. Einer übergeordneten Kontrolle sei diese Abteilung jedoch nicht unterstanden. Thomas Kopp, der bis im Frühjahr 2020 für die AOZ im BAZ Duttweiler arbeitete, bestätigt das: Es gebe keine überprüfbaren Kriterien für die Vergabe der Einsätze. Selbst wenn die meisten Mitarbeitenden gute Absichten hätten, seien sie bei der Vergabe nicht frei von persönlichen Sympathien.

Samuel Wyss von der Medienstelle des SEM beteuert, ihm seien in diesem Zusammenhang keine Fälle von Machtmissbrauch bekannt. Auf die Frage, ob es ein Budget für solche Einsätze und damit auch eine fix definierte Maximalanzahl bezahlter Stunden gibt, sagt er: «Die Teilnahme ist nicht aufgrund eines Stundenbudgets limitiert. Eine Begrenzung besteht jedoch durch die jeweils verfügbaren Projekte.» Eine Statistik zu Fällen von Asylsuchenden, die trotz geleisteter Qualifikationsarbeit nicht an einem vergüteten Programm teilnehmen konnten, führt das SEM nicht.

Trotzdem glaubt Wyss an die Fairness des Systems – und verweist auf die Möglichkeit für Asylsuchende, sich in «regelmässig stattfindenden Sprechstunden» bei Mitarbeiter:innen der Sektion Partner und Administration des SEM zu beschweren. Lilith Heller allerdings sind aus ihrer Zeit im BAZ Zürich kaum Fälle bekannt, in denen sich Asylsuchende über die Bedingungen der Beschäftigungsprogramme beschwert haben. Dafür, so Heller, fehle ihnen das Vertrauen. Den Grund dafür sieht sie im Machtgefälle: «Betreuer:innen sind für Asylsuchende wie Götter, weil sie über Zugang zu bezahlter Arbeit und andere Vorteile im Lager entscheiden können.»

Die Vergütung für die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen nennt sich offiziell nicht Lohn, sondern Anerkennungsbeitrag, was die Abwertung der geleisteten Arbeit zum Ausdruck bringt. Der Beitrag beträgt pro Arbeitsstunde 5 Franken und darf pro Tag 30 Franken nicht überschreiten. Monatliches Maximum: 400 Franken. Bei achtzig Stunden Arbeit im Monat entspräche das einem Fünfzigprozentpensum. Bezahlte Überstunden? Gibt es nicht. Laut dem SEM werden Stunden, die über den maximalen Anerkennungsbeitrag hinausgehen, nicht vergütet.

Die Asylsuchenden sind auf diese Arbeiten angewiesen. Und tatsächlich verleihen sie ihnen wenigstens ein kleines Stück Selbstbestimmung. «Wir wollen gar nicht in erster Linie Geld; wir wollen Selbstbestimmung, Würde. Wir wollen Tee trinken, Zigaretten rauchen, Hygieneprodukte kaufen», sagt Emre Polat*. Er durchlief 2022 das Asylverfahren im BAZ Duttweiler und lebt aktuell in einem Asylheim im Kanton St. Gallen, wo er auf seinen Asylentscheid wartet.

Das SEM gibt an, den Asylsuchenden mit den Beschäftigungsprogrammen ein Stück Autonomie zu vermitteln: «Die Selbstbestimmung und das Selbstwertgefühl werden – insbesondere durch die Erzielung eines kleinen Verdienstes – gefördert, und das Konfliktpotenzial wird dadurch reduziert.» Zudem sollen die Beschäftigungsprogramme «die positive Wahrnehmung der Asylsuchenden» in der lokalen Wohnbevölkerung erhöhen.

Ferhat Tosun* sieht das anders: «Das ist Ausbeutung», sagt er. Tosun wohnte 2021 im BAZ Basel, heute wartet er wie Polat im Kanton St. Gallen auf seinen Asylentscheid. Wie alle befragten Asylsuchenden empfindet er die Vergabe der Arbeitseinsätze und die tiefe Bezahlung als willkürlich und ungerecht. Ob in Basel, Boudry oder Zürich: Die wöchentlichen 21 Franken Taschengeld reichen bei weitem nicht, um sich Telefonguthaben, ÖV-Tickets oder mal einen Kaffee zu kaufen. «Wir wollen nicht einmal das gute Leben. Das gute Leben ist vorbei, ich musste meines zurücklassen», sagt Tosun. «Wir wollen einfach nur leben.»

Das SEM unterscheidet die Teilnahme an Beschäftigungsprogrammen von herkömmlicher Erwerbstätigkeit mit Verweis auf Artikel 11 des Ausländer- und Integrationsgesetzes. Dieses definiert Erwerbstätigkeit als «jede üblicherweise gegen Entgelt ausgeübte unselbstständige oder selbstständige Tätigkeit». Laut dem SEM ist «die Teilnahme an gemeinnützigen Beschäftigungsprogrammen keine solche Tätigkeit. Gemäss Artikel 43 Absatz 4 des Asylgesetzes bedürfe es dafür auch keiner Arbeitsbewilligung.

Rausan Noori, Rechtsanwältin mit dem Spezialgebiet Sozialhilferecht, kritisiert diese Auslegung: «Umzugs- und Reinigungsarbeiten etwa werden in der Schweiz üblicherweise sehr wohl finanziell entschädigt.» Tätigkeiten in Beschäftigungsprogrammen könnten daher je nach Fall durchaus als Erwerbstätigkeit angesehen werden. Dies müsste aber jeweils im Einzelfall geprüft werden und hänge von unterschiedlichen Faktoren ab – davon etwa, ob der Betrieb, für den die Asylsuchenden tätig sind, einen wirtschaftlichen Nutzen aus der geleisteten Arbeit zieht. Selbst das SEM kann nicht ausschliessen, dass durch die Beschäftigungsprogramme Lohnkosten eingespart werden. «Interne Arbeiten sind unabdingbar für den Betrieb des Zentrums», sagt dazu denn auch Lilith Heller. «Wenn diese wegfallen, würde mehr Personal benötigt.»

Unklare Rechtslage

Expert:innen der Universität Basel und der Hochschule Luzern haben 2020 gemeinsam die Studie «Arbeiten unter sozialhilferechtlichen Bedingungen» zur Frage der Entlohnung in Beschäftigungsprogrammen veröffentlicht. Darin plädieren die Autor:innen dafür, auch solche Arbeiten mit einem Arbeitsvertrag zu regeln, sofern diese einen wirtschaftlichen Wert haben. Sie fordern eine angemessene Versicherung der Teilnehmenden und einen Stundenlohn zwischen 15 und 30 Franken. Diese Überlegungen liessen sich wohl auch auf Beschäftigungsprogramme im Asylbereich ausweiten, sagt die an der Studie beteiligte Melanie Studer. Dazu allerdings, so die Juristin, bräuchte es auch zu den Beschäftigungsprogrammen im Asylwesen eine wissenschaftliche Studie.

Die Asylsuchenden leisten also für sehr wenig Geld gemeinnützige Arbeit für eine Gesellschaft, von der sie vielleicht nie Teil sein werden, für eine Infrastruktur, die sie unter Umständen nie mitbenutzen dürfen. Besonders deutlich zeigt sich dieser Zynismus in der Neophytenbekämpfung: Menschen, die in der Schweiz nicht willkommen sind, vernichten für eine Gesellschaft Pflanzen, die hier als Bedrohung wahrgenommen werden.

Halil Gündoğan sagt dazu: «In diesen Programmen zeigen sich die Unterschiede zwischen Schweizer:innen und Geflüchteten. Wir sind nicht gleich viel wert wie die anderen.»

* Namen geändert.
(https://www.woz.ch/2307/bundesasylzentren/dumpingloehne-fuer-gefluechtete/!K8AK2AEX4FVY)



nzz..ch 15.02.2023

Die Schweiz lässt mehr Flüchtlinge ungehindert durchs Land reisen – das sorgt für deutsche Kritik

Die Zahl der unerlaubten Einreisen über die Schweiz nach Deutschland ist stark angestiegen. Nun kommt das Thema beim «Flüchtlingsgipfel» in Deutschland zur Sprache.

Christof Forster, Bern

Das Problem der irregulären Migration zwischen der Schweiz und Deutschland schwelt seit längerem. Jetzt sind neue Zahlen bekannt. Vom ersten auf das zweite Halbjahr 2022 ist die Zahl solcher Einreisen über die Schweiz nach Deutschland von 1610 auf 8862 gestiegen. Dies berichtete die «Bild»-Zeitung diese Woche. Sie beruft sich dabei auf eine Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine AfD-Anfrage.

Besonders betroffen von den irregulären Einreisen ist Baden-Württemberg. Von dort kamen nach der Publikation der Zahlen auch prompt Reaktionen. Der Vorsitzende der FDP-Fraktion im baden-württembergischen Landtag, Hans-Ulrich Rülke, hat die Schweiz zu verstärkten Grenzkontrollen aufgefordert. Die Landesgrenze müsse «auf Schweizer Seite vor illegaler Migration wirksamer geschützt» werden. «Diesen Schutz scheint es derzeit nicht zu geben», sagte Rülke.

Diese Kritik ist nicht neu. Auch Parlamentarier im Deutschen Bundestag monierten, die Schweiz schleuse Flüchtlinge, die in Buchs eintreffen, nach Deutschland und Frankreich. Sie unternehme zu wenig gegen irreguläre Migration. Die Schweiz verletze damit ihre Pflichten als Mitglied des Schengenraums.

Kritik kam auch von den Behörden. Die Rechtslage sei eindeutig, einfach Durchleiten gehe nicht, sagte ein Sprecher des Deutschen Bundesamts für Migration und Flüchtlinge im vergangenen Herbst der «NZZ am Sonntag». Bundesrätin Karin Keller-Sutter erklärte damals gegenüber der NZZ, die deutsche Innenministerin Nancy Faeser habe diese Aussage ihr gegenüber bedauert. Von den offiziellen Stellen sei keinerlei Kritik gekommen.

Am Donnerstag lädt nun Faeser zu einem Flüchtlingsgipfel. Eingeladen sind Vertreter von Ländern und Kommunen. Diskutiert wird über die Schwierigkeiten bei der Unterbringung von Flüchtlingen. Zur Sprache kommen dürfte aber auch die irreguläre Migration nach Deutschland.

Die meisten reisen weiter

Seit dem Ende der Pandemie hat die Mobilität deutlich zugenommen. Die Balkanrouten werden wieder häufiger benutzt. Als ein Treiber dieser Migration gilt die visumsfreie Einreise nach Serbien für Flüchtlinge aus gewissen Staaten. Auf Druck der EU hat Serbien angekündigt, seine Visapraxis zu ändern. Die Schweiz hat sich zusammen mit Österreich dafür eingesetzt, dass das Schlupfloch geschlossen wird.

Ein grosser Teil der Migranten, die über die Schweiz nach Deutschland weiterreisen, kommt aus Österreich. Am Grenzbahnhof Buchs kontrollieren Mitarbeiter des Grenzwachtkorps die ankommenden Züge. Es werden die Personalien der Flüchtenden aufgenommen, und es wird überprüft, ob Straftaten begangen wurden. Wer in der Schweiz ein Asylgesuch stellen möchte, kommt in ein Bundesasylzentrum. Das sind jedoch nur 5 bis 10 Prozent der Personen. Die meisten verzichten darauf. Sie wollen in ein anderes Land weiterreisen, nach Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien.

Nach dem Dublin-System müsste die Schweiz die Flüchtlinge nach Österreich zurückschicken, falls sie ein Asylgesuch stellen. Zunächst versuchten die Behörden auch, Dublin-Verfahren einzuleiten und die Migranten nach Österreich zurückzuschicken. In den wenigen Fällen, in denen Rückführungen gelangen, standen die Migranten einige Tage später wieder an der Grenze.

Inzwischen haben die Behörden diese Praxis aufgegeben. Dublin-Verfahren dauern länger. Österreich muss abklären, ob die Menschen tatsächlich bei ihnen ein Asylgesuch gestellt haben. Doch in dieser Zeit sind die – meist jungen – Männer längst abgetaucht und abgereist.

Die Schweiz kann diese Menschen auch nicht wochenlang festhalten, bis die Dublin-Verfahren abgeschlossen sind. Dafür besteht keine Handhabe. Die Migranten erhalten einen Wegweisungsbescheid und müssen die Schweiz verlassen. Laut Experten verstösst die Schweiz nicht gegen die Dublin-Vereinbarung. Laut dem Berner Rechtsprofessor Alberto Ackermann greift das Abkommen erst, wenn eine Person ein Asylgesuch stellt.

Für Wien hat Abkommen keine Priorität

Allerdings entspricht es nicht der Idee der Vereinbarung, dass Migranten durch ganz Europa reisen. Von dieser Sekundär-Migration ist auch die Schweiz betroffen. Menschen stellen in einem Land ein Asylgesuch und reisen danach in das Land ihrer Wahl weiter. Solange sie kein Gesuch in einem zweiten Staat einreichen, können die Behörden wenig dagegen unternehmen.

Helfen würde der Schweiz ein Abkommen mit Österreich für die erleichterte Rückübernahme, so wie es die Schweiz mit Italien abgeschlossen hat. Dies ermöglicht Rückführungen innert weniger Tage. Eine solche Vereinbarung ist für Wien allerdings nicht prioritär. Mit Deutschland hat Karin Keller-Sutter noch als Justizministerin im Dezember 2022 einen Aktionsplan vereinbart, um die irreguläre Migration zu bekämpfen. Beide Länder wollen gegen die Schleuserkriminalität vorgehen und Rückführungen konsequent durchführen. Weil Deutschland keine systematischen Kontrollen machen kann, wird indes nur ein kleiner Teil der Migranten erfasst.

Zudem wird der Schengener Grenzkodex revidiert. Künftig sollen Rücküberstellungen zwischen Nachbarstaaten innerhalb von 24 Stunden möglich sein.
(https://www.nzz.ch/schweiz/die-schweiz-als-transitland-fuer-fluechtlinge-ld.1726239?mktcid=smch&mktcval=twpost_15-02-2023)


+++GRIECHENLAND
Griechenland: 10’000 Asylsuchende verlieren Obdach – Echo der Zeit
In Griechenland gab es für Geflüchtete, die als besonders verletzlich gelten, seit 2015 das Wohnungsprogramm «Estia». Als Alternative zu den herkömmlichen Flüchtlingslagern bot es tausenden asylsuchenden Menschen die Möglichkeit, in Wohnungen unterzukommen. Doch nun hat die griechische Regierung beschlossen, das Programm zu beenden, weshalb rund 10’000 Menschen ihre Wohnung verlassen mussten.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/griechenland-10-000-asylsuchende-verlieren-obdach?partId=12337717
-> https://www.srf.ch/news/international/fluechtlinge-in-griechenland-athen-beendet-wohnungsprogramm-fuer-asylsuchende


+++ITALIEN
SOS Humanity: Gericht in Italien gibt deutschen Seenotrettern recht
Im November untersagte Italien Flüchtlingen, von Bord der „Humanity 1“ zu gehen. Damit verstieß die Regierung einem Richter zufolge gegen internationale Verpflichtungen.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-02/sos-humanity-italien-urteil


+++MITTELMEER
Flüchtlingsschiff vor Libyen verunglückt: 73 Vermisste
Laut UN-Berichten ist vor der Küste Libyens ein Schiff mit 80 Menschen verunglückt. Nur sieben konnten sich an die Küste retten
https://www.derstandard.at/story/2000143577086/fluechtlingsschiff-vor-libyen-verunglueckt-73-vermisste


+++FREIRÄUME
Nach zehnjähriger Besetzung: Hausbesetzer müssen Kochareal verlassen
Es war die grösste Okkupation in der Schweiz: Zehn Jahre lang war das Kochareal Heim von Hausbesetzern und kulturellen Veranstaltungen. Nun läuft die Frist der Stadt ab. Das Areal wird abgerissen, darauf wird eine Genossenschaftsüberbauung errichtet.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/nach-zehnjaehriger-besetzung-hausbesetzer-muessen-kochareal-verlassen-150131917


Besetzer ziehen vor Räumung des Koch-Areals auf die Hardturmbrache
Mehrere Dutzend Personen haben am Dienstag die Hardturmbrache in Zürich besetzt. Transparente mit der Aufschrift «Alles wird besetzt» deuten auf die Besetzerszene des Koch-Areals hin. Mittwochmorgen müssen die Besetzerinnen und Besetzer das Areal verlassen.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/besetzung-besetzer-ziehen-vor-raeumung-des-koch-areals-auf-die-hardturmbrache-ld.2416048
-> Fotos Kochareal: https://twitter.com/RaimondLueppken


Die Tage des Koch-Areals sind gezählt – neue Gruppe zieht nach Altstetten
Nach fast zehn Jahren müssen die Bewohnerinnen und Bewohner das Koch-Areal verlassen. Einige Besetzende sind nach Altstetten, andere auf die Hardturmbrache gezogen.
https://www.20min.ch/story/die-tage-des-koch-areals-sind-gezaehlt-neue-gruppe-zieht-nach-altstetten-657033090698


Polizei vor Ort: Feuer und Musik: Auf dem Koch-Areal steigt ein Fest
Am Mittwoch mussten die Besetzerinnen und Besetzer das Koch-Areal räumen. Wie Bilder eines ZüriToday-Reporters zeigen, feiern sie am Mittwochabend möglicherweise eine Abschiedsparty auf dem Gelände. Die Polizei ist vor Ort.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/feuer-und-musik-auf-dem-koch-areal-steigt-ein-fest-150134123


Koch-Areal wird geräumt: «Es ist kein Weltuntergang, aber Zürich verliert etwas»
Besetzerinnen und Besetzer müssen das Koch-Areal räumen. Der ehemalige Stadtrat Richard Wolff spricht mit Anerkennung von der Besetzung. Das Koch-Areal sei ein kultureller Ort gewesen, an dem sich halb Zürich zusammengefunden habe.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/es-ist-kein-weltuntergang-aber-zuerich-verliert-etwas-150126298


Q-Laden needs you!
Gestern veröffentlichte der Q-Laden auf Instagram einen Hilferuf. Seit letzten Sommer seien die Umsätze stetig zurückgegangen. Inflation und mächtige Grossverteiler scheinen dem nicht-gewinnorientierten Laden zu Schaffen zu machen.
Ein Einkaufszettel sei immer auch ein politisches Statement, schreibt der Q-Laden auf seiner Webseite, weswegen ausschliesslich fair und nachhaltig hergestellte Produkte verkauft werden. Doch nun, nach gut 35 Jahren, steht das Geschäft vor dem Aus.
Quartierlädeli seien eine Art Auslaufmodell, sagt Arlette vom Q-Laden-Kollektiv im Interview mit RaBe, «doch vielleicht gibt es erst dann ein Bewusstsein dafür, was es bedeutet, solche Geschäfte zu haben, wenn es diese nicht mehr gibt».
https://rabe.ch/2023/02/15/q-laden-needs-you/
-> https://www.instagram.com/p/CoqPVnWqa8w/


+++GASSE
Entzug von Drogen – Einzug bei Scientology? Wie Narconon Süchtige bekehren will
Ein harmloser Flyer wirbt für Drogenentzug. Die Recherche zeigt: Scientology will damit neue Mitglieder anwerben.
https://www.beobachter.ch/konsum/konsumentenschutz/wie-scientology-suchtige-bekehren-und-damit-neue-mitglieder-anwerben-will-573476



nzzch 15.02.2023

Der Zürcher Hauptbahnhof ist zu einem Brennpunkt geworden. Die Kriminologin Nora Markwalder hält aber wenig von einem generellen Alkoholverbot

Ein Mann hat am Zürcher HB auf eine Frau eingeschlagen, bis sie regungslos am Boden lag. Die Staatsanwaltschaft untersucht nun seinen psychischen Zustand.

Tobias Marti

Abermals sorgt eine Meldung über Gewalt aus dem Zürcher Hauptbahnhof für Entsetzen, besonders die Willkür der brutalen Tat gibt Rätsel auf.

Am Sonntagabend griff ein 26-jähriger Eritreer im HB eine 55-jährige Italienerin an. Er traktierte sie mit Faustschlägen und Fusstritten und liess auch nicht von ihr ab, als sie bereits regungslos am Boden lag. Die Frau erlitt schwere Kopfverletzungen und musste mit dem Rettungswagen ins Spital eingeliefert werden. Dort befand sie sich auch am Dienstag noch.

Noch verstörender macht die Tat, dass es sich um ein Zufallsopfer handelte, Opfer und Täter hätten sich nicht gekannt, teilt die Staatsanwaltschaft auf Anfrage mit.

Eine Schweizerin, die zu Hilfe eilte, wurde vom Mann ebenfalls durch Schläge und Tritte verletzt. Die 16-Jährige konnte das Spital mittlerweile aber wieder verlassen. Sie kannte laut Staatsanwaltschaft weder Opfer noch Täter. Die junge Frau handelte demnach aus einem Akt der Zivilcourage.

Seit Jahresbeginn mehren sich die Meldungen über Straftaten aus dem Zürcher Hauptbahnhof. An der Silvesternacht verletzten drei Unbekannte einen jungen Mann mit einer Stichwaffe im Gesicht. Drei Wochen später werden 14 Männer festgenommen, unter anderem wegen Gewalt und Drohung gegen Behörden und Beamte.

Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) will die Situation unter Kontrolle bringen. In den vergangenen Wochen verstärkte er darum die Patrouillen am Bahnhof mit uniformierten Polizisten, wie er vergangene Woche gegenüber der NZZ sagte.

«Der steigende Druck in jüngster Zeit» ist laut Fehr auch auf die verstärkten Migrationsbewegungen zurückzuführen: «Festgenommen werden praktisch ausnahmslos junge Männer, häufig aus dem nordafrikanischen Raum.» Das seien oftmals Personen, die aus der Schweiz ausgewiesen worden oder illegal eingereist seien. «Leute, die kaum eine Chance haben, hier bleiben zu können», sagte Fehr.

Der Bahnhof ist in der Stadt Zürich nicht erst seit diesem Winter ein Hotspot, dies zeigt die Kriminalitätsstatistik. 190 Tätlichkeiten und Körperverletzungen wurden 2021 rund um den HB verübt, wobei auch ein Teil des Niederdorfs zu diesem Perimeter gezählt wurde. Im gleichen Jahr wurden in der Langstrassen-Gegend 155 und am Seebecken 47 Delikte registriert. Diese beiden Orte gelten ebenfalls als städtische Hotspots.

Allein vergangenes Wochenende kontrollierte die Polizei am HB über 140 Personen und verhaftete neun von ihnen. Die Polizei zog Messer und Pfeffersprays ein.

Alkoholverbot laut SBB «nicht durchsetzbar»

Doch warum wird ausgerechnet der HB immer wieder zum Brennpunkt? Die St. Galler Strafrechtlerin und Kriminologin Nora Markwalder sagt: «Das Problem beim Hauptbahnhof ist, dass man nicht ausweichen kann. Hotspots wie die Langstrasse kann ich meiden, den HB nicht.» Das subjektive Sicherheitsempfinden sei in der Schweiz aber weiterhin recht hoch, die Leute fühlten sich eigentlich sicher.

Laut Markwalder besagt eine Theorie, dass Delikte dann geschehen, wenn ein motivierter Täter auf ein geeignetes Opfer trifft und zugleich kein Wächter da ist. Genau dies sei oftmals bei Bahnhöfen der Fall, wo viele Menschen aufeinanderträfen und viele davon alkoholisiert seien.

Laut der Kriminologin kann man nun am Faktor Wächter schrauben, also mehr Patrouillen aufbieten, was am HB bereits geschehen ist. Oder man könne auch die Tatobjekte weniger attraktiv machen. Dafür müsste die Dichte an Leuten, die sich über längere Zeit irgendwo alkoholisiert aufhalten, vermindert werden.

Das Problem sei nicht, dass die Leute ein Bierchen konsumieren würden. Es gebe für gewisse Menschen kaum andere Orte, wo sie einen Freiraum finden würden. Das Problem sei vielmehr die Ballung an einem engen und unübersichtlichen Ort. «Irgendwann erreicht man eine kritische Masse, die zu Problemen führt. Mir scheint, beim Bahnhof Zürich kam diese Entwicklung schleichend», sagt Markwalder.

Wenn Alkohol rund um die Uhr gekauft und konsumiert werden kann, ist das laut der Kriminologin ein weiterer Risikofaktor. Je reduzierter Alkohol vorhanden sei, desto weniger Probleme gebe es. «Ein generelles Alkoholverbot oder Sperrstunden halte ich aber für keine gute Idee, weil man dies dann zwingend durchsetzen muss», sagt sie. Das binde polizeiliche Ressourcen, die an anderen Hotspots fehlen würden. Auch die SBB erklären auf Anfrage, ein «flächendeckendes Alkoholverbot» sei «grundrechtlich, personell und finanziell nicht durchsetzbar.»

Zielführender wäre es laut Nora Markwalder, den Alkoholausschank zu reduzieren, die Getränke etwa nur zu den normalen Öffnungszeiten zu verkaufen. Derzeit untersagen die SBB den Take-away-Alkoholverkauf in Bahnhöfen nach 22 Uhr.

Eine weitere Massnahme wäre laut Markwalder, «gewisse Teile des Bahnhofs situativ zu sperren, das Aufhalten an gewissen Orten unattraktiver zu gestalten». Gerade der Bahnhofteil an der Löwenstrasse sei ein Ort, wo man geschützt sitzen könne.

Jugendliche haben mehr Waffen dabei

Eine Rolle für die unruhige Lage könnte auch die Zunahme der Jugendkriminalität spielen. Hinzu kommt, dass viele Teenager Messer auf sich tragen. Markwalder sagt: «Das Waffentragen bei Jugendlichen hat zugenommen.» Auch Körperverletzungen und Raubdelikte seien gemäss den neusten Befragungsdaten gestiegen.

Bahnhöfe gehörten zu jenen Räumen, in denen Jugendliche unstrukturierte Freizeit verbrächten. «Wer aber oft in einer Gruppe im öffentlichen Raum herumhängt, wird statistisch gesehen auch öfter straffällig», sagt die Expertin.

Im jüngsten Fall konnte der mutmassliche Täter verhaftet werden. Die Staatsanwaltschaft hat ein Strafverfahren gegen ihn eröffnet und Untersuchungshaft beantragt. Weshalb der Mann zuschlug, ist bis jetzt nicht bekannt. Zurzeit wird sein psychischer Zustand abgeklärt, und das Zwangsmassnahmengericht entscheidet, ob er in Untersuchungshaft kommt.
(https://www.nzz.ch/zuerich/alkoholverbot-wuerde-wenig-gegen-gewalt-am-hauptbahnhof-nuetzen-ld.1726095)



tagesanzeiger.ch 15.02.2023

Interview zum Gewaltdelikt am HB«Eritreer brauchen oft sehr lange, bis sie psychiatrische Hilfe suchen»

Es ist das dritte Mal innert vier Jahren, dass ein Eritreer aus Zürich an einem Bahnhof grundlos jemanden angreift. Psychiaterin Fana Asefaw erklärt die plötzlichen, brutalen Attacken.

Liliane Minor

Der Vorfall hat viele schockiert: Am Sonntagabend hat ein 26-jähriger Eritreer am Zürcher Hauptbahnhof ohne Anlass eine 55-jährige Italienerin angegriffen und spitalreif geprügelt. Die Frau trug schwere Kopfverletzungen davon, sie befindet sich noch immer im Krankenhaus. Laut Kantonspolizei war sie ein Zufallsopfer.

Der Mann wurde kurz nach der Tat verhaftet, die Staatsanwaltschaft hat Untersuchungshaft beantragt. Sie ermittelt wegen versuchter Tötung. Zum Tatmotiv und der psychischen Verfassung des Täters gibt die Staatsanwaltschaft keine Auskunft. Es gilt die Unschuldsvermutung.

Es ist bereits das dritte Mal, dass ein Eritreer auf einem Bahnhof grundlos jemanden angreift. Im Juli 2019 schubste ein Eritreer aus Zürich in Frankfurt ein Kind und dessen Mutter vor einen Zug – der 8-jährige Bub kam dabei ums Leben. Im Mai 2021 stiess ein anderer Eritreer in Zürich eine Frau aufs Gleis. Sie konnte sich retten, bevor ein Zug einrollte. In beiden Fällen litten die Täter unter Wahnvorstellungen.

Psychiaterin Fana Asefaw, die selbst aus Eritrea stammt, ordnet die Vorfälle ein.

Frau Asefaw, erneut hat ein Eritreer auf einem Bahnhof eine ihm völlig unbekannte Person aus dem Nichts angegriffen. Was ist da los?

In der Schweiz leben viele junge Menschen aus Eritrea, die sich perspektivlos fühlen, weil sie einen unsicheren Aufenthaltsstatus haben, also mit einer vorläufigen Aufnahme oder sogar einem ablehnenden Entscheid. Das bedeutet, dass sie kaum Arbeit finden, auch jene nicht, die sich wirklich bemühen. Sie bekommen vielleicht eine Praktikumsstelle, oder sie dürfen eine Vorlehre machen, die dann aber immer wieder verlängert wird. Diese Situation frustriert sie, manche brechen deshalb die Arbeit ab und sagen: Dann beziehe ich lieber Sozialhilfe. Am Bahnhof treffen sie sich dann mit anderen in der gleichen Situation. Aber nicht, weil sie das wollen, sondern weil sie sich ohne Perspektive wähnen. Das ist natürlich keine Entschuldigung für kriminelle Handlungen. Ich gebe einfach wieder, wie es die Patienten wahrnehmen.

Warum am Bahnhof?

Es ist ein öffentlicher Ort. Hier fühlen sie sich sicher, jeder kennt den Treffpunkt, keiner geht verloren. Sie bestärken sich gegenseitig, trinken Alkohol, manche konsumieren Drogen. Nur: Das war nicht die Vorstellung, die sie sich von der Schweiz gemacht haben. Oft wissen die Familien nicht, in welch prekärer Lage diese jungen Menschen sind. Sie fühlen sich unter Druck, Geld zu schicken. Viele haben Versagensängste und Schuldgefühle.

Wie und warum kommen diese Eritreer überhaupt in die Schweiz?

Mir ist wichtig, zu betonen, dass jede Geschichte individuell ist. Viele Eritreer fliehen als Minderjährige vor der Zwangsrekrutierung. Oft haben sie eine sehr strenge, religiöse Erziehung hinter sich. Eigentlich sind das Menschen, die weder kriminell noch gewalttätig sind, denn das wird, wie sie mir sagen, als Sünde betrachtet. Wenn sie – häufig noch als Minderjährige – hierherkommen, waren sie monatelang, manchmal auch Jahre ohne Eltern auf der Flucht, haben oft verschiedene Arten von Gewalt erlitten. Das überstehen sie alles, ohne kriminell zu werden. Aber in der Schweiz werden sie aus ihrer Sicht gebrochen. Und das hat einerseits mit ihrem unklaren Asylstatus zu tun, andererseits leben viele am Rand der Gesellschaft, die Integration misslingt: Zuerst warten sie jahrelang, dann werden sie abgelehnt.

Trotzdem erklärt das nicht diese plötzlichen, brutalen Angriffe.

Meine Beobachtung als Psychiaterin ist, dass diese jungen Männer oft schon sehr lange psychische Auffälligkeiten zeigen, die hätten behandelt werden müssen. Wenn jemand eine akute Psychose hat, führt das zu Wahnvorstellungen, Halluzinationen und schweren Denkstörungen. Psychosen gehen auch mit starken Ängsten einher. Ein Patient sagte mir etwa, er habe Unbekannte als Teufel wahrgenommen, und fühlte sich von ihm verfolgt. Was ich auch beobachte: Eritreer brauchen oft sehr lange, bis sie psychiatrische Hilfe suchen. Und oft nehmen sie ihre Medikamente nicht ein, weil sie glauben, Psychopharmaka und Antidepressiva würden ihren Körper zerstören. Ich kann mir die Angriffe nur vor diesem Hintergrund erklären.

Gibt es in der eritreischen Community wegen dieses Misstrauens mehr Menschen mit psychischen Problemen?

Das würde ich so nicht sagen. Aber wer als Minderjähriger flüchtet, ist als Erwachsener anfälliger, besonders wenn er oder sie sich hier nicht sicher fühlt und das Stresserleben hoch bleibt. Ähnliches gilt zum Beispiel für andere Geflüchtete aus anderen Kulturen, die ich therapeutisch betreue, die sehr lange in einer unsicheren Situation leben.

Aber die Herkunft beeinflusst doch sicherlich die Bereitschaft, sich behandeln zu lassen?

Natürlich hat jede Kultur ihre eigenen Vorstellungen und Metaphern von psychischen Erkrankungen. Eritreer haben oft eine negative Haltung zu psychiatrische Erkrankungen und glauben, sie seien vom bösen Geist besessen. Sie wenden sich wegen solcher Vorstellungen oft lieber an religiöse Führer. Junge Männer neigen zur Selbstmedikation mit Alkohol und Drogen.

Wie kann man diese Menschen erreichen?

Ein guter Ansatz sind Kulturdolmetscher. Wir bilden im Kompetenzzentrum für Trauma und Migration seit zwei Jahren zusammen mit der Organisation NCBI sogenannte «Brückenbauer und Brückenbauerinnen für die psychische Gesundheit von Geflüchteten» aus. Damit konnten wir schon zahlreiche Eritreer auffangen. Ein Beispiel: Ich hatte einen Patienten mit starken psychotischen Symptomen, der in der Vergangenheit zwar brav zum Psychiater ging, weil ihn das Sozialamt dorthin schickte, aber er hat die Medikamente nicht eingenommen, vom Psychiater fühlte er sich nicht verstanden. Geholfen hat dann ein Brückenbauer, der ihn eng begleitete.

Weil er erklären konnte, was der Arzt meint?

Genau. Die Brückenbauer sind eine Art Case Manager, sie begleiten die Betroffenen zum Beispiel auch aufs Sozialamt, zum Job-Coach oder besuchen sie zu Hause. Und sie sind Vorbilder, denn sie kommen aus demselben Land, sprechen die Muttersprache, haben ähnliche Fluchterfahrungen wie die Klienten hinter sich. Sie können die Patienten auf einer ganz anderen Ebene erreichen als wir Therapeuten. Das Problem ist ja meist die psychosoziale Situation. Geflüchtete brauchen praktische Lebenshilfe. Es gibt auch mit Asylstatus gute Möglichkeiten, etwa um Deutsch zu lernen. Aber viele sind nicht darüber informiert.

Müsste die Schweiz den Geflüchteten mehr Unterstützung bieten?

Ja, und vor allem bräuchten sie eine Perspektive. Gerade minderjährige Flüchtlinge wie Eritreer. Sie sind ja eigentlich sehr motiviert und wollen arbeiten. In Eritrea gibt es weder Sozialhilfe noch Krankenkasse. Dort ist ganz klar, dass man sich selbst helfen muss. Sie wollen selbstständig sein.



Fana Asefaw

Fana Asefaw ist Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie leitet das Kompetenzzentrum für Trauma und Migration, welches von der Gesundheitsförderung Schweiz als Pilotprojekt finanziert wird. Asefaw stammt selbst aus Eritrea, aufgewachsen ist sie in Deutschland. In Berlin studierte sie Medizin. Für ihr Buch über weibliche Genitalbeschneidung wurde sie von der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Frauenheilkunde und Geburtshilfe ausgezeichnet. Seit mehr als zehn Jahre lebt sie mit ihrem Ehemann in der Schweiz. (leu)
(https://www.tagesanzeiger.ch/eritreer-brauchen-oft-sehr-lange-bis-sie-psychiatrische-hilfe-suchen-348944544230)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
«Es ist unser Recht, durch die Stadt zu laufen»
Nach der Demonstration vom Samstag geben sowohl Polizei als auch die Organisator*innen an, Personen aus ihren jeweiligen Reihen seien verletzt worden. Wir haben mit einem Sprecher* des «Revolutionären Klimakollektiv» gesprochen und gefragt: Was soll das?
https://bajour.ch/a/cle4fuin1102531954ixev3gifhc/revolutionaeres-klimakollektiv-interview-zu-ausschreitungen-an-der-demo


„Das Framing von Polizei, Medien und Öffentlichkeit zur Klima-Demonstration letzten Samstag bleibt skandalös. Hier gut dokumentiert die vielleicht gefährlichsten Schüsse: Distanz max. 3 Meter, von einem grossen Polizisten direkt auf die Schädel gerichtet. Widerlich.“
https://twitter.com/3rosen/status/1625931662734262298


Communiqué de l’antirep suite à l’occupation du 9 février
Les personnes qui ont été arrêtées sont sorties de garde à vue le 10 février 2023 entre 15h et 19h. Bilan d’une arrestation violente et absurde : des condamnations politiques appellent une réponse politique.
https://renverse.co/infos-locales/article/communique-de-l-antirep-suite-a-l-occupation-du-9-fevrier-3887


Schuldebatte in St. Gallen – St. Galler Kantonsrat schickt «Lex Klimastreik» bachab
Der St. Galler Kantonsrat denkt um und will keine Absenzenregelungen im Gesetz. Damit endet eine hitzige Diskussion.
https://www.srf.ch/news/schweiz/schuldebatte-in-st-gallen-st-galler-kantonsrat-schickt-lex-klimastreik-bachab
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/keine-mehrheit-fuer-lex-klimastreik?id=12337660 (ab 02:48)(
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/st–galler-kantonsrat-lehnt-lex-klimastreik-ab?urn=urn:srf:video:28faca46-03c0-4f73-b5df-9571aaa46233


Demo in der Innenstadt: Mit dem Tram braucht man mehr Geduld
Zwischen 18.30 und 20.30 Uhr zieht ein Demonstrationsumzug durch die Zürcher Innenstadt. Wie die Stadtpolizei Zürich auf Anfrage bestätigt, ist die Demo bewilligt und findet anlässlich des Jahrestages des internationalen Komplotts gegen Abdullah Öcalan statt.
Auf den Tramlinien 2, 3, 6, 7, 8, 9, 11, 13 und 14 kommt es zu in der Folge zu Umleitungen und Unregelmässigkeiten. Wie die VBZ mitteilen, ist mit mehr Reisezeit zu rechnen.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/demonstrierende-zogen-am-mittwochabend-durch-zuercher-innenstadt-145130875


+++JUSTIZ
Antirassismusgesetz: Was darf man noch sagen? Und was nicht?
Gegen Frauen zu hetzen, ist erlaubt, gegen Homosexuelle oder Sekten aber nicht. Warum?
https://www.beobachter.ch/gesetze-recht/rassendiskriminierung-was-darf-man-sagen-und-was-nicht-570176


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Schnelle und einfache Visa für Erdbebenopfer?
Erdbebenopfer sollen unbürokratisch bei ihren Verwandten in der Schweiz unterkommen können. Das fordern Basler Politiker. Das Staatssekretariat für Migration verspricht, Visa-Gesuche von Erdbebenopfern prioritär zu behandeln. (Ab 04:00)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/schnelle-und-einfache-visa-fuer-erdbebenopfer?id=12337630
-> https://www.baseljetzt.ch/einreise-fuer-erdbeben-betroffene-sp-und-svp-sind-sich-nicht-einig/17091


+++PSYCHIATRIE
Verwaltungsgericht entscheidet: Kanton Bern soll Anwaltskosten von UPD-Psychiatriepatient übernehmen
Das Verwaltungsgericht hat einem Mann Recht gegeben, der gegen die UPD Beschwerde eingereicht hatte. Er war für 24 Stunden fixiert worden.
https://www.bernerzeitung.ch/kanton-bern-soll-anwaltskosten-von-upd-psychiatriepatient-uebernehmen-601669099485
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/kanton-bern-soll-anwaltskosten-von-psychiatriepatient-uebernehmen-150126705


Zwischenfall: Bewaffneter Mann betritt UPD-Klinik
Am Mittwoch betrat ein Mann mit mehreren Waffen ein Gebäude der Universitären Psychiatrischen Dienste in Bern. Eine Eskalation konnte verhindert werden – auch die Kantonspolizei Bern war vor Ort.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/bewaffneter-mann-betritt-upd-klinik-150124232
-> https://www.20min.ch/story/heikler-zwischenfall-mann-betritt-psychiatrische-klinik-mit-waffen-650669323180


+++BIG BROTHER
SBB überwacht bald jeden Schritt ihrer Passagiere
Die SBB will, dass mehr Pendler im Bahnhof einkaufen. Dafür plant sie schon ab September eine versteckte Überwachung der Reisenden – ohne Einwilligung.
https://www.nau.ch/news/wirtschaft/sbb-uberwacht-bald-jeden-schritt-ihrer-passagiere-66422284


+++FRAUEN/QUEER
Intergeschlechtlichkeit in der Medizin – 10vor10
In der Vergangenheit wurden in der Schweiz viele Intergeschlechtliche im frühen Kindesalter operiert. Der Verein «InterAction Suisse» fordert nun ein Verbot von nicht zwingend lebensnotwendigen Operationen bei intergeschlechtlichen Kindern. Die Medizin setzt auf interdisziplinäre Teams.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/intergeschlechtlichkeit-in-der-medizin?urn=urn:srf:video:6bae8a4c-5ee7-4fb7-9e22-4e1f3fa51859


+++RASSISMUS
Struktureller Rassismus in der Schweiz existiert
Durch rassistische Vorurteile bei der Job-Bewerbung, der Wohnungssuche und in vielen anderen Lebensbereichen werden Menschen bestimmter Gruppen in der Schweiz benachteiligt. Das ist das Fazit einer neuen Studie zu strukturellem Rassismus. Im Auftrag des Bundes haben die Forscher darin bestehende Studien zu strukturellem Rassismus in der Schweiz zusammengefasst. Die Resultate sind eindeutig.
https://www.srf.ch/play/tv/srf-news-videos/video/struktureller-rassismus-in-der-schweiz-existiert?urn=urn:srf:video:1404885a-335f-4bf5-ab6d-4480c5169104&aspectRatio=4_5


+++RECHTSEXTREMISMUS
Ermittlungen gegen „Reichsbürger“ Was nach der Razzia kommt
Zwei Monate nach den Razzien gegen ein mutmaßliches „Reichsbürger“-Netzwerk dauern die Ermittlungen an. Ein Ex-Bundeswehr-Oberst soll aus Italien nach Deutschland überstellt werden. Und das BKA interessiert sich für ein Schließfach in der Schweiz.
https://www.tagesschau.de/investigativ/wdr/razzia-reichsbuerger-111.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Nach Wahlerfolg in Zürich: Coronaskeptiker wollen auch im Aargau politisch Fuss fassen
Der massnahmenkritische Verein «Aufrecht» erreichte bei den Zürcher Wahlen einen Wähleranteil von 2,15 Prozent. Auch im Aargau wollen die Coronaskeptiker politisch zulegen und bei den Nationalratswahlen antreten.
https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/nach-wahlerfolg-in-zuerich-coronaskeptiker-wollen-auch-im-aargau-politisch-fuss-fassen-150124055


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
„America’s original identity politics.“ Über historische Verflechtungen von Eigentum, „race“ und Identitätspolitik
Identitätspolitik wird von ihren rechten Kritiker:innen als „woke“ und als neue Gefahr für den Zusammenhalt der Gesellschaft denunziert. Doch schon die amerikanischen Siedlerkolonien des 17. Jahrhunderts und später die Gründung der USA basierten auf (weißer) Identitätspolitik. Sie beherrscht die US-amerikanische Gesellschaft bis in die Gegenwart.
https://geschichtedergegenwart.ch/americas-original-identity-politics-ueber-historische-verflechtungen-von-eigentum-race-und-identitaetspolitik/


Machst du dich mit diesem Kostüm an der Fasnacht strafbar?
Ob als Adolf Hitler oder Ku-Klux-Klan: Rassistische Fasnachtskostüme an sich sind laut einem Anwalt nicht strafbar – entscheidend ist das Verhalten. Vertretbar seien die Kostüme trotzdem nicht.
https://www.20min.ch/story/machst-du-dich-mit-diesem-kostuem-an-der-fasnacht-strafbar-316807036012


Zuoberst im Parteiprogramm: Die Junge SVP verstärkt ihren Kampf gegen den «Woke-Wahnsinn»
Die junge SVP schreibt sich den Kampf gegen den «Woke-Wahnsinn» auf die Fahnen. Dies beschlossen die Delegierten an der ersten jährlichen Versammlung am letzten Wochenende in Baden AG. Man will mit Kampagnen auf den «Woke-Wahn» aufmerksam machen und Betroffenen helfen.
https://www.blick.ch/politik/zuoberst-im-parteiprogramm-die-junge-svp-verstaerkt-ihren-kampf-gegen-den-woke-wahnsinn-id18320656.html


+++HISTORY
Besetzung AJZ: «Es herrscht wieder Frieden im Land»
Rückblende. Am 14. Februar 1981 besetzen Basler Jugendliche ein ehemaliges Postbetriebsgebäude an der Hochstrasse 16. Sie erklären es zum Autonomen Jugend-Zentrum AJZ. Eine Bewegung nach Zürcher Vorbild.
https://www.baseljetzt.ch/besetzung-ajz-es-herrscht-wieder-frieden-im-land/16188
-> Dok-Film: https://www.youtube.com/watch?v=WOiLU1AO7YQ


«Story Killers»-Recherche: Mit versteckter Kamera im Haupt¬quartier der Wahlmanipulatoren – das Video
Eine geheime Cybertruppe soll weltweit in Demokratien eingegriffen haben. Vor laufender Kamera prahlen die israelischen Hacker über ihr Millionengeschäft. Das sind die entlarvenden Aufnahmen.
https://www.derbund.ch/story-killers-das-video-versteckte-kamera-684257818246
-> https://www.baerntoday.ch/welt/israelische-geheimfirma-soll-gegen-geld-weltweit-wahlen-manipulieren-150123562
-> https://www.derstandard.at/story/2000143539977/recherchen-enthuellen-geheimunternehmen-das-gegen-geld-weltweit-wahlen-manipuliert
-> https://www.zdf.de/nachrichten/politik/team-jorge-desinformation-wahlen-manipulation-100.html
-> https://www.haaretz.com/israel-news/security-aviation/2022-11-16/ty-article-static-ext/the-israelis-destabilizing-democracy-and-disrupting-elections-worldwide/00000186-461e-d80f-abff-6e9e08b10000
-> https://www.watson.ch/international/digital/292530608-diese-israelische-firma-manipulierte-weltweit-wahlen-so-funktioniert-s
-> https://www.tagesanzeiger.ch/story-killers-im-innern-der-manipulations-fabrik-242747562056
-> https://www.derstandard.at/story/2000143568001/wahlmanipulation-so-maechtig-ist-das-geheimunternehmen-team-jorge
-> Frontal ZDF: https://www.youtube.com/watch?v=gg0okVa6sSU


Kernfusion der Ideen: Wie Frauen den Bau eines Atomkraftwerks verhinderten
Feministische und ökologische Anliegen werden immer häufiger miteinander verbunden. Schon in den 1970er-Jahren ist es den Frauen der Badischen Fraueninitiative gelungen, sich gegen ein umweltzerstörerisches Projekt zusammenzuschliessen. Dabei spielte ihre Rolle als Mütter und Sorgearbeitende eine zentrale Rolle.
https://daslamm.ch/kernfusion-der-ideen-wie-frauen-den-bau-eines-atomkraftwerks-verhinderten/


«Wir wollen sie zurück!»
Warum soll Schepenese überhaupt nach Ägypten zurück? Wer hat legitimen Anspruch auf die Mumie? Und wie kann eine respektvolle Zurschaustellung menschlicher sterblicher Überreste gelingen? Darüber und wie es ihr in St.Gallen ergangen ist, spricht die ägyptische Ägyptologin Monica Hanna im Interview.
https://www.saiten.ch/wir-wollen-sie-zurueck/


+++MEDIENSPIEGEL (15.02.2023) VORFALL/EVAKUIERUNG BUNDESHAUS 14.02.2023
Nach Absperrung von Bundesplatz – Polizei durchsucht Haus von Mann
Ein Mann löste am Dienstagnachmittag einen Grosseinsatz der Kantonspolizei Bern aus. Nun führt die Bundesanwaltschaft beim Walliser eine Hausdurchsuchung durch.
https://www.20min.ch/story/nach-absperrung-von-bundesplatz-polizei-durchsucht-haus-vom-mann-263194598649
-> https://www.blick.ch/politik/nach-evakuation-um-bundeshaus-hausdurchsuchung-bei-philipp-z-id18319625.html
-> https://www.swissinfo.ch/ger/bundesanwaltschaft-ermittelt-wegen-sprengstoffdelikt/48288442
-> https://www.watson.ch/schweiz/polizeirapport/869864280-wallis-bundesanwaltschaft-ermittelt-gegen-bundeshaus-bombe


Bern: Kritik am Polizei-Grosseinsatz vor dem Bundeshaus
Am Tag nach der grossräumigen Absperrung und der Evakuierung des Bundeshauses beginnt nun die Aufarbeitung. Das Evakuierungssystem im Bundeshaus müsse überarbeitet werden, so beispielsweise Ständerat Andrea Caroni.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/bern-kritik-am-polizei-grosseinsatz-vor-dem-bundeshaus?id=12337384
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/grosseinsatz-vor-dem-bundeshaus?id=12336625
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/evakuierung-wirft-fragen-zu-sicherheit-im-bundeshaus-auf?partId=12337414
-> https://www.blick.ch/politik/so-haben-parlamentarier-die-bundeshaus-evakuierung-erlebt-das-ereignis-hat-auf-schwaechen-im-sicherheitsdispositiv-hingewiesen-id18319518.html
-> https://www.blick.ch/politik/nach-bombenalarm-an-dienstag-gibt-es-kritik-an-den-massnahmen-wie-sicher-ist-das-bundeshaus-id18319445.html
-> https://www.blick.ch/news/sicherheitsexperte-melzl-eine-evakuierung-muesste-schneller-gehen-id18319740.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/polizeieinsatz-im-bundeshaus-schulnote-2-nach-evakuierung-im-bundeshaus-hagelt-es-kritik
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/beim-splitterschutz-mit-tram-und-bus-gibt-es-verbesserungsbedarf-150126827
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/skilehrer-gesucht-fachkraeftemangel-auf-der-skipiste?id=12337678 (ab 01:35)
-> https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/nach-gestrigem-grosseinsatz-in-bern-150131614
-> https://www.telem1.ch/aktuell/nach-gestrigem-grosseinsatz-in-bern-wird-kritik-laut-150131561
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/nach-gestrigem-grosseinsatz-in-bern-150131910
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/sicherheit-im-bundeshaus-150132024
-> https://www.20min.ch/story/fragwuerdige-ablaeufe-bei-bundeshaus-evakuierung-werden-untersucht-899058565874
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/das-bestehende-sicherheitskonzept-reicht-nicht-150131922
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/bundeshaus-evakuierung-behorden-stellen-sich-der-kritik-66422714
-> 110vor10: https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/kritik-nach-evakuierung-des-bundeshauses?urn=urn:srf:video:4ded62c8-8227-4458-99d9-8386e8dc7d64



nzz.ch 15.02.2023

Kritik nach Bundeshaus-Evakuation: Bundesrat zeigt mit dem Finger auf das Parlament

In Bundesbern herrscht Gewaltenteilung sogar bei Bombenalarm.

David Biner, Bern

Der Grosseinsatz rund um das Bundeshaus wird nicht nur von den Sicherheitskräften analysiert. Auch die Politik beteiligt sich am öffentlichen Debriefing. Kaum evakuiert, wiesen Parlamentarier bereits auf Mängel beim Sicherheitsdispositiv hin.

FDP-Ständerat Andrea Caroni störte sich vor allem an der ungeschützten Situation draussen auf dem Sammelplatz. «Das wäre das ideale Szenario für einen Angriff auf alle anwesenden Abgeordneten gewesen», wird Caroni im «Blick» zitiert. Sein Ratskollege von der SVP, Hannes Germann, sagt an gleicher Stelle: «Wir wussten lange nicht, worum es eigentlich geht, wurden offiziell nicht informiert.»

Anders sieht es der Bundesrat. Sie habe sich gut aufgehoben und informiert gefühlt, sagte Verteidigungsministerin Viola Amherd am Mittwoch vor Medien. «Ich hatte keine Angst.» Sie habe den Osttrakt, wo das Verteidigungsdepartement angesiedelt ist, binnen wenigen Minuten verlassen. Auf dem Berner Casinoplatz, der als Sammelplatz ausgewiesen worden war, habe die Polizei ihr dann vorgeschlagen, sich ins Restaurant des Hotels Bellevue zu begeben.

Amherd war in Begleitung des Armeechefs Thomas Süssli, mit dem sie sich vorhin zu einer Sitzung getroffen hatte. Die Bundesrätin übt sich vor allem in Selbstkritik: Sie habe den Laptop im Büro gelassen, weil sie zuerst dachte, nach wenigen Minuten wieder zurückkehren zu können. «Beim nächsten Mal nehme ich alles mit», sagte sie in der Hoffnung, dass es kein nächstes Mal gibt.

Dass die Reaktion der Bundesrätin gelassener ausfällt als die Manöverkritik einiger Parlamentarier, hängt in erster Linie mit dem Amt zusammen. Die Bundesräte selbst werden sich hüten, öffentlich voreilige Schlüsse zu ziehen. Gleichzeitig machte André Simonazzi, der Sprecher des Bundesrats, auch deutlich, dass die Evakuationen in den verschiedenen Gebäudetrakten wohl unterschiedlich vonstattengingen.

Simonazzis implizite Botschaft: In den Gebäudeflügeln, wo sich der Bundesrat und die Verwaltung aufhalten, lief alles nach Lehrbuch. Für das Parlamentsgebäude, also dem markanten Hauptgebäude, das im Volksmund als «das Bundeshaus» umschrieben wird, seien dann aber die Parlamentsdienste zuständig. In Bundesbern herrscht Gewaltenteilung sogar bei Bombenalarm.

Eric Nussbaumer ist Delegierter der Verwaltungsdelegation, die sich unter anderem um die Sicherheit im Parlament kümmert. «Ich bin sauber evakuiert worden», sagt der SP-Nationalrat im Gegensatz zu seinen bürgerlichen Kollegen aus dem Ständerat. Natürlich werde man das Evakuationsdispositiv analysieren, etwa ob es sinnvoll sei, die Parlamentarier durch die Schleusen am Südeingang zu lotsen oder ob ein Alarm im Gebäude Sinn macht. Aber die Evakuation sei zügig und geordnet verlaufen, die Leute hätten sich auch ruhig verhalten. Nussbaumer will entdramatisieren – wohlwissend, dass er sich demnächst vertieft mit dem Thema Sicherheit im Bundeshaus auseinandersetzen werden muss.

In Bern hat am Dienstagnachmittag ein mehrstündiger Polizeieinsatz stattgefunden. Dabei waren der Bundesplatz und angrenzende Strassen und Gebäude grossräumig gesperrt gewesen. Erst kurz nach 19 Uhr konnte die Kantonspolizei Entwarnung geben. Zuvor wurde ein auf dem Bundesplatz parkierter Personenwagen nach Sprengstoff untersucht.

Der verdächtige Mann, der das Auto dort stehen liess, wurde am Nachmittag am Südeingang des Bundeshauses angehalten. Er trug unter anderem eine Schutzweste und ein Waffenholster und wurde daraufhin in Gewahrsam genommen. Die Bundesanwaltschaft habe ein Strafverfahren wegen eines möglichen Sprengstoffdelikts eröffnet, berichtet «20 Minuten». Auch das Haus im Wallis, dem Wohnkanton des Verdächtigen, sei durchsucht worden.
(https://www.nzz.ch/schweiz/kritik-nach-bundeshaus-evakuation-bundesrat-zeigt-mit-dem-finger-auf-das-parlament-ld.1726269)



derbund.ch 15.02.2023

Interview zur Bundeshaus-Evakuierung: «Die Weibel haben uns aus den Sitzungszimmern geholt»

Vor zwei Jahren wurde die Evakuierung des Bundeshauses geprobt. SVP-Ständerat Alex Kuprecht regte das an. Nun wurde er selber evakuiert. Was sagt er zur Kritik am Sicherheitsdispositiv?

Alessandra Paone

Herr Kuprecht, das Bundeshaus musste gestern wegen eines Sprengstoffalarms evakuiert werden. Sie waren dabei – wie haben Sie die Situation erlebt?

Es kam alles sehr überraschend. Wir haben gesehen, dass auf dem Bundesplatz ein Auto steht. Die Weibel haben uns dann aus den Sitzungszimmern geholt und zum Ausgang geführt, wo wir das Bundeshaus in Richtung Bellevue verlassen konnten. Es verlief nicht chaotisch, sondern geordnet. Der einzige Engpass war bei der Drehtüre.

Hatten Sie Angst?

Nein, überhaupt nicht. Wir kannten den genauen Grund für die Evakuierung nicht, sondern wussten nur, dass auf dem Bundesplatz ein Fahrzeug steht. Uns war nicht bekannt, dass jemand festgenommen worden war.

Experten und Parlamentarier haben den Ablauf der Evakuierung scharf kritisiert. Ständerat Andrea Caroni sagte, die Parlamentsmitglieder seien herumgestanden wie eine unbewachte Schafherde. Teilen Sie die Kritik?

Die Kritik ist völlig übertrieben. Wir sind beim Bellevue herumgestanden – das ist aber völlig normal. Was hätte man denn tun sollen? In solchen Situationen ist es wichtig, dass die Betroffenen aus der Gefahrenzone entfernt werden. Und das ist erfolgt.

Vor rund zwei Jahren wurde die Evakuierung geprobt. Sie haben mit einem Vorstoss den Anstoss dazu gegeben. Inwiefern hat die Übung etwas gebracht?

Es gibt verschiedene Evakuierungswege. Wir haben damals eine Evakuierung aus dem Ratssaal geprobt und das Bundeshaus über die Wendeltreppe und den Vordereingang verlassen. Allerdings befanden sich bei der Übung die Parlamentsmitglieder alle am selben Ort und konnten von den Weibeln gemeinsam hinausbegleitet werden. Am Dienstag sassen wir hingegen in verschiedenen Sitzungsräumen und mussten zuerst von den zuständigen Weibeln geholt werden. Kommt hinzu, dass sich einige von uns ausserhalb der Sitzungszimmer aufhielten. Wenn sie die Leute also zuerst suchen müssen, dann wird es schwierig. Bei den Abläufen besteht sicher Verbesserungsbedarf.

Offenbar gingen bei der Evakuierung zwei Personen vergessen…

Ja, zwei Parlamentsmitglieder waren in einem Besprechungszimmer. Da es dort keinen Weibel gab, wusste niemand, wo sich die beiden befanden.

War die Evakuierung am Dienstag überhaupt der richtige Entscheid?

Gerade wenn man nicht weiss, welche Gefahr tatsächlich besteht, und von einem Anschlag mit Sprengstoff ausgeht, dann müssen die Leute in Sicherheit gebracht werden. So gesehen war die Evakuierung der richtige Entscheid. Leider wurde erst sehr spät kommuniziert, dass die Massnahmen wieder aufgehoben werden können.

Kritisieren Sie die Kommunikation?

Die Kommunikation muss sicher verbessert werden. Alle, sei es die Ratsmitglieder in den Kommissionssitzungen, die Bundesräte in ihren Büros oder die Mitglieder der Parlamentsdienste, müssen schneller und in regelmässigen Abständen über den Stand der Situation informiert werden. Wir wussten am Dienstag nicht, ob und wann wir wieder in die Sitzungsräume zurückkehren werden. Einige von uns haben ihre Kommissionsunterlagen liegen gelassen.

Wer ist nun gefordert?

Gefordert sind vor allem zwei Organe: einerseits die Kantonspolizei Bern, die für die Sicherheit auf dem Bundesplatz zuständig ist, und andererseits das Fedpol mit dem Bundessicherheitsdienst. Sie müssen nun die Ereignisse analysieren und sich überlegen, wo Verbesserungen angebracht sind, und diese den Parlamentsdiensten weitergeben.

Nach dem Zuger Attentat wurde das Sicherheitsdispositiv im Bundeshaus erhöht. Die Drehtüre beim Ausgang Süd ist eine der getroffenen Massnahmen. Nun hat sich aber diese als Hindernis herausgestellt.

Nicht die Drehtüre war das Problem. Vielmehr hätte man den Verdächtigen wegführen und nicht im Eingangsbereich festhalten sollen. Dadurch konnte die arretierte Türe nicht geöffnet werden. Ich gehe davon aus, dass das Fedpol diesen Punkt analysieren und die nötigen Massnahmen ergreifen wird.

Wie muss das Sicherheitsdispositiv angepasst werden, damit es im Ernstfall funktioniert?

Die Sicherheitsdispositive werden laufend geprüft und angepasst. Im Rahmen der Corona-Pandemie wurde beispielsweise die Diskussion geführt, wie das Parlament geschützt wäre, wenn es von einem Mob angegriffen würde. Wichtig ist, dass man die Erkenntnisse solcher Debatten in die Evakuierungsprozesse einfliessen lässt und diese entsprechend anpasst.

Wie kann sich die Schweiz generell besser auf Attentate oder Amokläufe vorbereiten?

Als ehemaliger Präsident der Geschäftsprüfungsdelegation hatte ich oft mit dem Nachrichtendienst zu tun. Dieser hält die Möglichkeit eines Attentats in der Schweiz für denkbar. Die Frage ist nur, wann? Wir müssen sehr vorsichtig sein und Vorkehrungen treffen, um Attentate zu verhindern. Da ist in erster Linie der Nachrichtendienst gefragt. Doch auch bei aussenpolitischen Äusserungen ist Vorsicht geboten.

Wie meinen Sie das?

Wenn Sie sich extrem gegen eine Gruppierung äussern, müssen Sie sich nicht wundern, dass Sie dann angegriffen werden. Wir dürfen nicht zu jeder nationalen Verfehlung, die irgendwo auf der Welt gemacht wird, Stellung nehmen.

Soll die Schweiz zu Gräueltaten einfach schweigen?

Als neutraler Staat sollte die Schweiz ihre Meinung nicht bei jeder Gelegenheit laut herausposaunen. Man muss wissen, wann und wie man sich äussert. Manchmal muss man den Mut haben, zu schweigen.
(https://www.derbund.ch/die-kommunikation-muss-sicher-verbessert-werden-437488124833)



tagblatt.ch 15.02.2023

Sicherheitsdispositiv im Bundeshaus: Warum es im Ernstfall brenzlig werden könnte

Einzeln und nur sehr langsam: Nach der Evakuierung des Bundeshauses wächst die Kritik. Ein Grund könnte der Flickenteppich beim Sicherheitsdispositiv sein.

André Bissegger und Reto Wattenhofer

Ein Grosseinsatz rund um das Bundeshaus in Bern hat am Dienstag für Aufregung gesorgt: Auslöser war ein Mann in Kampfmontur. Er versuchte über den südlichen Besuchereingang ins Parlamentsgebäude zu gelangen. Die Kantonspolizei Bern nahm den Mann, der eine Schutzweste und ein Waffenholster trug, fest.

Sein Auto hatte der Mann auf dem Bundesplatz parkiert. Da die Polizei nicht ausschliessen konnte, dass sich darin Sprengstoff befand, sperrte sie das Gebiet grossräumig ab. Mehrere Gebäude mussten evakuiert werden – darunter auch das Parlamentsgebäude. In diesem fanden zu dieser Zeit mehrere Sitzungen von vorberatenden Kommissionen von National- und Ständerat statt. Später gab die Polizei Entwarnung: Im Auto fand sich kein Sprengstoff.

Kritik an Evakuierung

Damit ist die Angelegenheit noch nicht ausgestanden: Denn genau diese Evakuierung löst nun Zweifel aus, ob das Sicherheitsdispositiv funktioniert. Zu den Evakuierten gehörte am Dienstag auch Ständerat Andrea Caroni (FDP/AR). «Ich muss gestehen, dass ich das Evakuierungssystem nicht verstanden habe – wie übrigens alle meine Kollegen», kritisierte er am Mittwochmorgen im Westschweizer Radio «RTS».

«Als wir evakuiert wurden, liessen uns die Türen nur einzeln raus, also sehr, sehr langsam. Und als alle draussen waren, haben wir uns zusammen auf dem Platz vor dem Hotel ‹Bellevue› versammelt, ohne jeglichen Schutz.» Caroni spricht von einer «bizarren Situation» und einem «idealen Szenario» für einen Angriff auf alle anwesenden Parlamentarier.

Wie er gegenüber dem «Blick» sagte, beschloss die Gruppe dann, sich ins Hotel zu begeben – weil es wohl «sicherer» wäre, sich drinnen aufzuhalten. Angst habe jedoch niemand gehabt, betonte Caroni. Alle seien ruhig geblieben. Für ihn ist aber klar: «Wäre das Gebäude eingestürzt oder hätte jemand darin geschossen, wären wir nicht rechtzeitig herausgekommen.»

Das nicht alles wie geplant funktioniert hat, zeigt auch ein Tweet von Tobias Vögeli, Co-Präsident der Jungen Grünliberalen Schweiz. Auch er sei evakuiert worden – ging zuvor offenbar aber vergessen.

    Scary – gerade aus dem Bundeshaus evakuiert geworden (zuerst zwar vergessen gegangen😅) pic.twitter.com/eZmjlcvDnK
    — Tobias Vögeli (@Tobias_Voegeli) February 14, 2023

Etwas entspannter zeigte sich der Basler SP-Nationalrat Eric Nussbaumer. Auf Twitter bedankte er sich beim Bundesamt für Polizei (Fedpol) und der Kantonspolizei Bern für den Einsatz. «Wenn man mir sagt ‹Evakuieren!› dann gehe ich ruhig raus und bewege mich zum Sammelplatz.»

    Wenn man mir sagt „Evakuieren!“ dann gehe ich ruhig raus und bewege mich zum Sammelplatz. So habe ich das gelernt. In jedem Handbuch steht das. So war das auch gestern. Danke @fedpolCH
    — Eric Nussbaumer (@enussbi) February 15, 2023

Am Tag nach der Evakuation stellen sich trotzdem viele Fragen zur Sicherheit und zu den Vorkehrungen im Parlamentsgebäude: Genügt das Sicherheitsdispositiv im Falle eines koordinierten Angriffes auf das Bundeshaus? Warum dauerte es so lange, bis die Parlamentarier das Gebäude verliessen? Und gingen sie später draussen vor dem Bundeshaus schlicht vergessen?

Gerne hätte man darauf konkrete Antworten erhalten. Doch auf Nachfrage von CH Media zeigen sich die Bundesbehörden wortkarg. Das dürfte auch damit zu tun haben, dass viele Stellen involviert sind – vermutlich zu viele.

Wer ist zuständig?

Eine kurze Recherche verdeutlicht: Beim Sicherheitsdispositiv im Bundeshaus herrscht ein Flickenteppich sondergleichen. Wie bereits die Coronapandemie offenbarte: Wo es zu viele Schnittstellen gibt, ist eine rasche und kohärente Reaktion im Krisenfall schwierig.

Der Flickenteppich beginnt bereits bei den Evakuationskonzepten mit unterschiedlicher Federführung: Im Bundeshaus West ist die Bundeskanzlei zuständig. Im Bundeshaus Ost das Verteidigungsdepartement. Im Parlamentsgebäude sind es die Parlamentsdienste.

Damit nicht genug: Die Zutrittskontrolle zum Gebäude wird vom Fedpol verantwortet – genauer vom Bundessicherheitsdienst. Dieser hatte gestern Dienstag schliesslich auch die Kantonspolizei Bern alarmiert, als der verdächtige Mann vor dem Besuchereingang aufgetaucht war.

Seitenhieb an Parlamentsdienste

Bundesratssprecher André Simonazzi scheint diesen Flickenteppich verinnerlicht zu haben – wie die Medienkonferenz von Bundesrätin Viola Amherd am Mittwoch zeigte. Angesprochen auf Caronis Kritik, konnte sich der Bundesvizekanzler einen Seitenhieb nicht verkneifen. Für die Evakuierung der Parlamentarier seien die Parlamentsdienste zuständig gewesen. Im Bundeshaus West – also «seiner» Bundeskanzlei – sei alles planmässig und zügig gelaufen.

Nach diesen Bemerkungen korrigierte Amherd ihre zuvor gemachten Schilderungen über die Evakuation: «Ich kann für den Teil Bundeshaus Ost sprechen.» Nach wenigen Minuten sei sie draussen gewesen und dort von einem Fedpol-Mitarbeiter in Empfang genommen worden.

Kritik am Einsatz möchte Simonazzi nicht gelten lassen. «Nicht die Evakuierten können sagen, ob das die richtige Massnahme ist in dieser Situation.» Ob evakuiert werde, geschehe nach einer umfassenden Analyse. Niemand schicke Leute hinaus, «wenn draussen Gefahr besteht». Trotzdem kündigten die Parlamentsdienste und das Fedpol an, gegebenenfalls Verbesserungen einzuleiten.

    Die Parlamentsdienste und @fedpolCH werden die gestrigen Abläufe zeitnah analysieren und gegebenenfalls Verbesserungen einleiten. Die Sicherheit der Ratsmitglieder und der Mitarbeitenden war jederzeit gewährleistet.
    — Parl CH (@ParlCH) February 15, 2023

Zurück zum Parlamentariergrüppchen, das vor dem Bundeshaus stand. Denn dafür ist keine der genannten Bundesstellen verantwortlich: Alles was ausserhalb des Gebäudes passiert, ist Sache der Kantonspolizei Bern.

Parlamentsdienste bei Übung im Jahr 2021 zufrieden

Dass die Evakuierung so endete, lag kaum an den Ratsmitgliedern selbst. Denn die Ständerätinnen und -räte hatten sie erst vor zwei Jahren – in der Herbstsession 2021 – geübt. Hintergrund war unter anderem der Sturm auf das US-Capitol. Deshalb bereitete der damalige Ständeratspräsident Alex Kuprecht (SVP/SZ) zusammen mit verschiedenen Organisationen der Verwaltung eine Evakuierungsübung vor.

Der Parlamentsdienst zeigte sich danach auf Twitter zufrieden: «Die Ratsmitglieder und das Personal der Parlamentsdienste (etwa 50 Personen) wurden rasch und sicher aus dem Parlamentsgebäude geführt.»

    Heute Morgen um 11h15 wurde der Ständeratssaal im Rahmen einer Evakuationsübung evakuiert. Die Ratsmitglieder und das Personal der Parlamentsdienste (etwa 50 Personen) wurden rasch und sicher aus dem Parlamentsgebäude geführt. pic.twitter.com/DZqvGPwPSF
    — Parl CH (@ParlCH) September 22, 2021
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/bundeshaus-sicherheitsdispositiv-im-bundeshaus-warum-es-im-ernstfall-brenzlig-werden-koennte-ld.2416491)



tagblatt.ch 15.02.2023

«Hundertprozentige Sicherheit kann man nie garantieren»: Kapo-Mediensprecher Hanspeter Krüsi über die Vorkehrungen im St.Galler Kantonsrat

Nachdem am Dienstag ein Mann in Kampfmontur ins Bundeshaus eindringen wollte, wurde das Parlamentsgebäude evakuiert und darum herum alles abgesperrt. Dennoch nannte der Ausserrhoder Ständerat Andrea Caroni die Aktion «konzeptlos». Wie steht es um das Sicherheitskonzept der aktuell stattfindenden St.Galler Kantonsratssession?

Enrico Kampmann

Am Dienstagnachmittag, kurz nach 14 Uhr, versuchte ein Mann in Kampfmontur, ins Bundeshaus in Bern einzudringen. Wie der «Blick» zuerst berichtete, hielten ihn Sicherheitsleute jedoch vor dem Eingang an und nach einem ruhigen Wortwechsel wurde er festgenommen und auf einen Polizeiposten gebracht.

Wirklich brenzlig scheint die Lage nie gewesen zu sein, dennoch führte die Aktion zu einem polizeilichen Grosseinsatz. Das Parlamentsgebäude und weitere Teile des Bundeshauses wurden umgehend evakuiert, der Bundesplatz und zahlreiche umliegende Strassen vollständig abgesperrt.

Der Ausserrhoder FDP-Ständerat Andrea Caroni gehörte zu den Parlementarierinnen und Parlamentariern, die das Bundeshaus verlassen mussten. Gegenüber «20 Minuten» gab er an, die Evakuierung sei «zumindest aus Sicht der Betroffenen konzeptlos» verlaufen. Und zum «Blick» sagte er: «Das Evakuierungsdispositiv im Bundeshaus sollten wir nochmals überprüfen.»

Derzeit findet im Regierungsgebäude in St.Gallen die Kantonsratssession statt. Nach den Vorkommnissen am Dienstag in Bern und Caronis Ausführungen dazu stellt sich die Frage: Wie steht es um die Sicherheit im St.Galler Kantonsratssaal?

Politische Transparente in den Kantonsrat geschmuggelt

Hanspeter Krüsi, Polizeisprecher der Kantonspolizei (Kapo), sagt, die Kapo habe sich intensiv mit dem Sicherheitskonzept der Kantonsratssessionen auseinandergesetzt und überprüfe dieses laufend. Für die Umsetzung seien sowohl der Sicherheitsbeauftragte des Regierungsgebäudes, Polizistinnen und Polizisten wie auch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von privaten Sicherheitsfirmen im Einsatz. Wie viele es genau sind, gibt Krüsi «aus taktischen Gründen» nicht bekannt.

Doch folgendes verrät Krüsi über die Sicherheitsvorkehrungen während der Session: Der Kantonsratssaal hat zwei Eingänge. Einer davon sei nur für die Ratsmitglieder mit einem entsprechenden Badge zugänglich. Alle anderen benutzten den Besuchereingang. Hier würden bei einer Sicherheitskontrolle Jacken, Taschen und Rucksäcke auf Waffen und andere gefährliche Gegenstände durchsucht. Ein Metalldetektor sei auch vor Ort.

Darüber hinaus sei ein Alarmsystem im Einsatz. Im Fall, dass dieses ausgelöst werde, würden zusätzliche Einheiten der Kantons- und Stadtpolizei ausrücken.

Laut Krüsi kam es bei einer Kantonsratssession bisher noch nie zu einem Vorfall oder auch nur zu Drohungen. Nur politische Transparente seien schon einmal in den Saal geschmuggelt worden. Gewalt sei aber keine im Spiel gewesen.

Krüsi sagt, die Kapo habe sich intensiv mit dem Sicherheitskonzept für den Kantonsrat auseinandergesetzt und überprüfe dieses laufend. «Doch ob das Dispositiv dann im Ernstfall genauso funktioniert wie auf dem Papier, ist immer schwer zu sagen.»

Vor Zug gab es kaum Vorkehrungen

Die Sicherheitsvorkehrungen im Kantonsrat sind gemäss Krüsi in Folge des Attentats in Zug 2001 getroffen worden. Bei einem Amoklauf, der heute als eines der schlimmsten Verbrechen der Schweizer Kriminalgeschichte gilt, drang ein 57-jähriger Schweizer während einer Sitzung des Kantonsrates ins Parlamentsgebäude in Zug ein und tötete 14 Politikerinnen und Politiker, bevor er sich selbst richtete. Vor dem Vorfall habe es praktisch keine Sicherheitsmassnahmen gegeben, man habe sie nicht für nötig gehalten, sagt Krüsi.

Seit deren Einführung nach dem Attentat seien die Massnahmen mehr oder weniger auf dem gleichen Niveau. Eine Verschärfung habe es über die letzten Jahre keine gegeben. Geprobt habe man den Ernstfall oder eine Evakuation in St.Gallen nie. Doch Krüsi sagt, dass die Leute vor Ort wüssten, was zu tun sei, wenn etwas passiere. «Hundertprozentige Sicherheit kann man jedoch nie garantieren.»
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/sicherheit-hundertprozentige-sicherheit-kann-man-nie-garantieren-kapo-mediensprecher-hanspeter-kruesi-ueber-die-vorkehrungen-im-stgaller-kantonsrat-ld.2416617)



derbund.ch 15.02.2023

Kritik an der Evakuierung: Bombenalarm offenbart Sicherheitslücken im Bundeshaus

Nach dem Grosseinsatz im Zentrum der Bundesstadt kritisieren Betroffene und Experten die Evakuierung des Bundeshauses. Eine hochrangige Politikerin ging gar vergessen.

Andres Marti, Beni Gafner, Alessandra Paone

Wegen eines verdächtigen Mannes und dessen mitten auf dem Bundesplatz abgestellten schwarzen Autos herrschte gestern in der Stadt Bern stundenlang der Ausnahmezustand. Nachdem die Polizei beim angehaltenen Verdächtigen Sprengstoffspuren festgestellt hatte, evakuierten die Sicherheitsbehörden das Bundeshaus und sperrten das Gebiet grossräumig ab. Fragen zum Sprengstofftest beantworten die Behörden aus «taktischen Gründen» nicht.

Für die Bundeshaus-Evakuierung und die Kommunikation ernten die Sicherheitsbehörden heftige Kritik: Ständerat Andrea Caroni bemängelt die Dauer der Evakuierung als «ewig». Er habe einen anwesenden Polizisten auf das langsame Prozedere aufmerksam gemacht, so Caroni. Dieser habe jedoch nur mit der Schulter gezuckt. «Jede Landdisco muss sich von Gesetzes wegen schneller evakuieren können», sagt Caroni.

Für Erstaunen unter den evakuierten Politikerinnen und Politikern sorgt auch die Tatsache, dass die Fedpol-Polizisten des Bundessicherheitsdienstes den Verdächtigen in die Eingangshalle des Bundeshauses nahmen, um ihn dort hinter einer Säule vorübergehend festzuhalten.

Tür blieb zu

Bundesrat Guy Parmelin und die rund 50 Parlamentarier mussten auf ihrem Weg nach draussen deshalb zuerst am Verdächtigen vorbeigehen, bevor sie durch die Drehtüren auf die Bundesterrasse gelangten. Weil immer nur eine Person nach der anderen die Drehtür nach aussen benutzen konnte, bildete sich ein Stau. Die Wartenden waren dabei im selben Raum wie der Verdächtige.

Dieser befand sich ausgerechnet vor dem Notausgang, einer grösseren Doppeltür, die aus bisher nicht bekannten Gründen geschlossen blieb. Durch diese Tür hätten die Parlamentarier deutlich schneller nach aussen gelangen können als durch die Drehtüren, die sofort blockieren, wenn sich mehr als eine Person darin befindet.

Dies zeigt: Kaum etwas ist am Dienstagnachmittag, so gelaufen, wie es in den vorhandenen Evakuierungskonzepten geschrieben steht.

Ständeratspräsidentin vergessen

In dieses Bild passt auch, dass Personen schlicht vergessen gingen: Die Thurgauerin Brigitte Häberli-Koller arbeitete allein in ihrem Präsidialbüro im ersten Stock des Bundeshauses und bekam von der Räumung vorerst nichts mit. Längere Zeit schaute die Ständeratspräsidentin durchs Bürofenster dem Bombenentschärfungsteam der Polizei zu, das unter ihr auf dem Bundesplatz arbeitete.

Auch der Berner Grossrat Tobias Vögeli wurde nur zufälligerweise von einem Sicherheitsbeamten entdeckt und daraufhin aufgefordert, das Gebäude sofort zu verlassen.

Die Polizei liess den Bundesplatz und die umstehenden Gebäude räumen, weil sie bei einer Bombenexplosion herumfliegende Splitter befürchtete, die auch Personen treffen könnten, die sich hinter Fenstern befanden.

Sprengstoffexperte Fabian Venetz von der privatwirtschaftlichen Société Suisse des Explosifs (SSE) in Brig sagt, es sei richtig gewesen, dass die Polizei die Gebäude um den Bundesplatz habe räumen lassen. Einige Kilo Sprengstoff in einem Auto genügten, um grossen Schaden anzurichten. Die Polizei befürchte in einer solchen Situation stets «weitreichenden Splitterwurf».

Unklar, wie viele im Haus waren

Erschwerend kommt hinzu, dass die Sicherheitsverantwortlichen am Dienstag keinen Überblick hatten, wie viele Personen sich überhaupt im Parlamentsgebäude befinden. Zwar gelangen Politiker, Angestellte und Journalisten nur mit einem Sicherheitsbadge ins Haus. Sie können so gezählt werden.

Auf der Südseite aber, wo sich der Besuchereingang befindet, herrscht seit einiger Zeit ein neues Regime. Besuchende werden beim Eintritt wie am Flughafen kontrolliert. Ihren Personalausweis müssen sie allerdings nicht abgeben. Mit dem alten System war dies noch der Fall. Das Sicherheitspersonal wusste damit nicht nur, wie viele Personen sich im Haus aufhalten, sondern auch, wer genau.

Zuständigkeits-Wirrwarr

Ungenügende Alarmierung, vergessene Ratsmitglieder, Stau vor den Ausgängen bei der Evakuierung: Hinter den Kulissen sorgt die verpatzte Evakuierung derzeit für heftige Diskussionen. Derweil schieben sich Fedpol und Parlamentsdienste gegenseitig die Schuld zu.

So heisst es beim Fedpol (laut Website zuständig für den «Schutz von Personen und Gebäuden»), für die Durchführung von Evakuierungen seien die Parlamentsdienste zuständig. Und Betroffene kritisieren, dass eine verdächtige Person ausgerechnet dort festgehalten werde, wo alle rausmussten. Es sei nicht auszudenken, was passieren würde, wären mehrere verdächtige Personen beteiligt gewesen.

Die Parlamentsdienste beantworten keine Fragen zur Evakuierung, reagieren stattdessen mit einem knappen Statement: Man werde «mit dem Fedpol zusammen» die Abläufe analysieren und wenn nötig Verbesserungen in die Wege leiten. Die Evakuierungspläne haben die Parlamentsdienste zusammen mit dem Fedpol und weiteren Experten ausgearbeitet. Evakuierungen werden laut Parlamentsdiensten regelmässig geübt, auch mit Mitgliedern beider Räte.

Amherd dachte an Übung

Kritisiert wurde von Betroffenen auch die Situation auf der Bundesterrasse, wo die Evakuierten, darunter zwei Bundesräte und der Armeechef, von niemandem weggebracht oder über die Situation informiert wurden. Bundesrätin Viola Amherd sagte am Mittwoch am Rande einer Pressekonferenz, sie habe gedacht, die Evakuierung sei eine Übung.

Auch bei der unklaren Situation vor dem Bundeshaus schieben sich die Behörden die Verantwortung gegenseitig zu: «Für polizeiliche Massnahmen ausserhalb des Parlamentsgebäudes ist die Kantonspolizei Bern zuständig», schreiben die Parlamentsdienste. Diese sieht das aber anders. Sie schreibt auf Anfrage: «Die weitere Personenlenkung ausserhalb des Gebäudes gehört zur Evakuierung und ist nicht Aufgabe der Polizei.»

Zudem informierte die Berner Polizei Betroffene nicht aktiv. Wer nicht über Twitter vernetzt ist und in Gebäuden festsass, musste sich die Informationen selbst irgendwie beschaffen. Dies war auch im Medienzentrum so, wo die Anweisung, im Hause zu bleiben und die Fenster zu schliessen, zwar ausgegeben wurde. Aber niemand informierte die Journalisten am Abend über die Aufhebung dieser Sperre.

Kritik an der Kommunikation

Reto Nause, Gemeinderat der Stadt Bern und zuständig für die Sicherheit, räumt zumindest bei der Kommunikation Fehler ein: «An der Kommunikation kann man grundsätzlich immer arbeiten. Während des Einsatzes hat die Kantonspolizei jedoch viele weitere Aufgaben», sagt Nause. Auch Ständerat Alex Kuprecht sieht bei der Kommunikation Verbesserungspotenzial: «Alle, seien es die Ratsmitglieder in den Kommissionssitzungen, die Bundesräte in ihren Büros oder die Mitglieder der Parlamentsdienste, müssen schneller und in regelmässigen Abständen über den Stand der Situation informiert werden.»

Die Behörden von Bund, Kanton und Stadt haben nach der Bombenhektik vom Dienstag noch einigen Klärungsbedarf. Fragen zu den Zuständigkeiten ergeben sich gemäss Beobachtern auf Führungsebene, bei den Schnittstellen zwischen Fedpol, den Parlamentsdiensten und der Berner Polizei.
(https://www.derbund.ch/bombenalarm-offenbart-sicherheitsluecken-im-bundeshaus-725253159059)