Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++BERN
Kleine Anfrage Fraktion AL/PdA (Matteo Micieli, PdA/Eva Chen, AL): Neues Rückkehrzentrum in Brünnen – Was unternimmt die Stadt Bern gegen die menschenverachtende Politik des Kantons?
https://ris.bern.ch/Geschaeft.aspx?obj_guid=8d0bf8cc94434aeba693446d2eb77bb8
Regierungsratsantwort auf Motion 236-2022 Ammann (Bern, AL) Weitsicht statt Segregation: Containersiedlung auf dem Viererfeld für alle ankommenden Asylbewerber*innen öffnen. https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=d1483cd7e522450aa9ebe0cacc694749
+++SCHWEIZ
Kommission genehmigt Armeeeinsatz im Asylbereich
Die sicherheitspolitische Kommission des Ständerates (SiK-S) hat mit 10 zu 1 Stimme bei 1 Enthaltung einen subsidiären Einsatz der Armee zugunsten des Staatssekretariats für Migration (SEM) bewilligt. Um die grosse Zahl von Asylsuchenden zu bewältigen, die zu den vielen Ukrainerinnen und Ukrainern hinzukommen, die in der Schweiz Zuflucht gefunden haben, kann die Armee bis längstens Ende März 2023 das SEM unterstützen.
https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-sik-s-2023-02-06.aspx
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/standeratskommission-genehmigt-armeeeinsatz-in-asylzentren-66414003
Asylpolitik, Daniel Vasella, Waffen für die Ukraine | Meyer:Wermuth
In der Hoffnung auf ein Leben in Freiheit und Frieden, flüchtete Amine Diare Conde mit 15 Jahren aus Guinea in die Schweiz. Doch hier angekommen, durfte er nicht einmal zur Schule. Im Podcast erzählt er, wie es trotzdem dazu kam, dass er wenige Jahre später als Initiant der Hilfsaktion «Essen für Alle» schweizweit bekannt wurde. Und er macht klar, was sich an der hiesigen Asylpolitik ändern muss.
https://www.youtube.com/watch?v=AQbwmRsX0AM
+++DEUTSCHLAND
spiegel.de 06.02.2023
Migration übers Mittelmeer: FDP unterstützt Vorstoß zur Prüfung von Asylverfahren in Afrika
Joachim Stamp ist der Sonderbevollmächtigte für Migrationsabkommen. Der FDP-Politiker will prüfen, ob sich Asylverfahren in Drittländer verlagern lassen. Die Idee ist nicht neu. Und sie entzweit die Ampelkoalitionäre.
Von Florian Gathmann, Anna Reimann und Christoph Schult
Sechs Tage ist der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung für Migrationsabkommen im Amt, schon hat er eine Debatte ausgelöst – inmitten einer sich zuspitzenden Flüchtlingslage in Deutschland, kurz vor dem EU-Sondergipfel zu Migration Ende der Woche in Brüssel.
Im Interview mit der »Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung« kündigte der FDP-Politiker Joachim Stamp an, prüfen zu wollen, ob unter Beachtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention Asylverfahren in Drittstaaten durchgeführt werden können, etwa unter dem Dach des UNHCR. »Dann würden auf dem Mittelmeer gerettete Menschen für ihre Verfahren nach Nordafrika gebracht werden«, sagte Stamp. Das erfordere sehr viel Diplomatie und einen langen Vorlauf.
Die Idee Stamps ist ein asylpolitischer Evergreen der EU-Länder, blieb bisher aber erfolglos. »Die Forderung, Asylverfahren an Drittstaaten, vorzugsweise afrikanische, auszulagern, wird seit 20 Jahren immer wieder lanciert. 2004 von Otto Schily, 2018 sogar von der Flüchtlingskanzlerin Angela Merkel, zuletzt von der dänischen und britischen Regierung«, sagt der Asylrechtsexperte Daniel Thym, Professor an der Universität in Konstanz. Dänemark hatte zuletzt Verhandlungen mit Ruanda über ein Zentrum für Asylbewerber in dem ostafrikanischen Land gestoppt.
Deutliche Kritik von den Grünen
Aus der eigenen Partei erhält Stamp für seinen Vorstoß dennoch Rückendeckung. »Das ist ein sinnvoller Vorschlag«, sagt Konstantin Kuhle, stellvertretender FDP-Fraktionsvorsitzender und Experte für Innen- und Rechtspolitik, dem SPIEGEL. »Wenn die Bundesregierung einen Weg findet, Asylverfahren im Rahmen von Migrationsabkommen in die Herkunfts- oder Durchgangsländer zu verlagern, wird die FDP das begrüßen.« Stamp habe Reise- und Verhandlungserfahrung, sagt Kuhle. »Seine praktischen Erkenntnisse können hier weiterhelfen.«
Tatsächlich bezieht sich Stamp bei seinem Vorstoß auf den Koalitionsvertrag. »Wir werden irreguläre Migration reduzieren und reguläre Migration ermöglichen«, lautet darin das grundsätzliche Versprechen der Ampelparteien. Auf Seite 141 der Vereinbarung steht weiterhin
, dass sich SPD, Grüne und FDP »für rechtsstaatliche Migrationsabkommen mit Drittstaaten im Rahmen des Europa- und Völkerrechts« einsetzen wollten. Hierfür werde man prüfen, ob die Feststellung des Schutzstatus »in Ausnahmefällen« unter Achtung der Genfer Flüchtlingskonvention und der Europäischen Menschenrechtskonvention in Drittstaaten möglich sei.
In der Bundespressekonferenz verwies am Montag ein Sprecher von Innenministerin Nancy Faeser auf Nachfrage auf diesen Satz im Koalitionsvertrag und erklärte weiterhin: »Man kann also Asylanträge bereits in Drittstaaten prüfen und Verfahren durchführen, aber unter der Prämisse, dass das im Einklang mit dem internationalen Recht steht. Dann kommt so etwas für die Bundesregierung in Betracht.«
Aus Grünen und SPD wird dennoch Kritik an Stamps Interpretation der Passage laut.
»Das Recht auf Asyl ist entstanden aus den bitteren Erfahrungen zweier Weltkriege und verankert in der Genfer Flüchtlingskonvention. Daher ist ein solcher Vorschlag besonders kritisch zu beurteilen. Hier haben wir eine besondere historische Verantwortung«, sagt die Grünen-Migrationsexpertin Filiz Polat dem SPIEGEL. Der Koalitionsvertrag stelle außerdem klar, »dass Asylanträge von geflüchteten Menschen in der EU inhaltlich geprüft werden müssen. Dieses Grundrecht gleichsam extraterritorial auszulagern, ist deshalb nicht mit den Vorstellungen der Koalition vereinbar«, sagt die Bundestagsabgeordnete.
»Einzige Möglichkeit, das Versprechen des Koalitionsvertrags umzusetzen«
Skepsis kommt aus der SPD. Deren migrationspolitischer Sprecher, Lars Castellucci, sagt: »Asylverfahren an Drittstaaten auszulagern, wie Herr Stamp es jetzt ins Spiel bringt, halte ich für absolute Zukunftsmusik. Zunächst müssten dort Asylsysteme aufgebaut werden. Das ist nichts, was in dieser Legislatur erreicht werden kann.« Länder wie Marokko oder gar Libyen seien nicht nur Transitländer, »sondern selbst Länder, aus denen Menschen fliehen, denken Sie beispielsweise an diejenigen, die aufgrund ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden.«
Aufnahmelager in Nordafrika einzurichten, wie es der Sonderbevollmächtigte der Bundesregierung vorschlägt, »sei im Kern richtig«, erklärt hingegen Thorsten Frei, Parlamentarischer Geschäftsführer der Unionsfraktion. »Aber wir alle wissen, wie schwer es ist, solche Pläne umzusetzen. Der Europäische Rat hatte bereits 2018 ein Konzept von Ausschiffungsplattformen beschlossen – seither hat sich allerdings wenig in dieser Frage getan.« Es müssten deshalb auf ganzer Breite Maßnahmen zur Begrenzung der Migration eingeleitet werden, so Frei, der zugleich scharfe Kritik an der Flüchtlingspolitik der Ampel übt. »Dass sich die Bundesregierung angesichts der hohen Flüchtlingszahlen wegduckt, ist empörend. Anstatt immer neue Anreize zu schaffen, sollte Frau Faeser endlich ein klares Signal senden, die Asylmigration zu begrenzen.«
Zustimmung bekommt Stamp von prominenten Migrationsexperten. »Die Auslagerung von Asylverfahren an Drittstaaten unter Einhaltung der Menschenrechtskonvention ist etwa im zentralen Mittelmeer die einzige Möglichkeit, das Versprechen des Koalitionsvertrags umzusetzen, irreguläre Migration zu begrenzen«, sagt Gerald Knaus, Architekt des EU-Türkei-Deals von 2016. Knaus warnt: »Die Alternative ist, dass Ungarn, Polen oder Griechenland Asylsuchende mit Gewalt von der Einreise in die EU abhalten und weiterhin Tausende im Mittelmeer ertrinken.«
Entscheidend bei der Auslagerung der Asylverfahren sei, so Knaus, »dass glaubwürdige Asylverfahren in Drittstaaten, wo nötig vom UNHCR oder von EU-Ländern, durchgeführt werden und die rechtlichen Standards gesichert sind«. Er halte eine Umsetzung zudem für realistisch. Die Bundesregierung müsste etwa dafür Tunesien, über das zuletzt die Hälfte aller Migranten aus Afrika in die EU gelangt sei, »ein historisch attraktives Angebot machen: Rücknahme nach einem Stichtag, dafür legale Kontingente für Arbeitsmigration für Tunesier und einen Fahrplan für Visafreiheit. Für weniger irreguläre, dafür mehr legale Mobilität«, sagt Knaus, der auch in die Koalitionsverhandlungen eingebunden war.
»Europäer machen Rechnung ohne den Wirt«
Der Migrationsrechtler Thym, den die Union zuletzt als Experten zu einer Fachtagung eingeladen hatte, sagt dem SPIEGEL, es sei extrem schwierig, Asylzentren in Drittstaaten rechtlich, politisch und operativ umzusetzen. »Das Hauptproblem ist, dass die Europäer die Rechnung ohne den Wirt, also die Länder in Nordafrika machen. Die haben keine Lust, Befehlsempfänger der reichen Europäer, zum Teil ehemaliger Kolonialmächte, zu sein und deren Drecksarbeit zu machen.«
Die immer wiederkehrende Forderung lenke aber den Fokus auf etwas Grundsätzliches. »Wir brauchen in der Asylpolitik stärkere Kooperation mit Drittländern, etwa wenn es darum geht, Migranten von der Weiterreise nach Europa abzuhalten, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen. Das alles passiert schon, wird aber forciert werden.«
Für Ende der Woche hat die schwedische EU-Ratspräsidentschaft in Brüssel das Thema Migration auf die Tagesordnung angesetzt. »Ich gehe davon aus, dass der Ausbau der Zusammenarbeit auch mit afrikanischen Staaten Schwerpunkt des EU-Migrationsgipfels sein wird«, so Thym.
(https://www.spiegel.de/politik/asylverfahren-in-afrika-fdp-unterstuetzt-vorstoss-zur-pruefung-von-joachim-stamp-a-eb6cee2a-7f43-46d2-b5bf-04fa3bd3627b)
+++GRIECHENLAND
[Presseerklärung, 03.02.2023] Kriminalisierung von Geflüchteten erreicht neue Eskalationsstufe: Junge Frau muss sich in Griechenland wegen versuchtem Selbstmord vor Gericht verantworten
Statement der Initiativen CPT Aegean Migrant Solidarity, borderline-europe e.V., You can’t evict Solidarity vom 03.02.2023:
Am 8. Februar 2023 steht eine 29-jährige Frau, die versucht hat, sich im berüchtigten Camp Moria 2 auf der griechischen Insel Lesbos vor Verzweiflung selbst zu verbrennen, nun wegen Brandstiftung vor Gericht.
https://cantevictsolidarity.noblogs.org/post/2023/02/03/presseerklarung-15-6-2022-kriminalisierung-von-gefluchteten-erreicht-neue-eskalationsstufe-junge-frau-muss-sich-in-griechenland-wegen-versuchtem-selbstmord-vor-gericht-verantworten/
+++MITTELMEER
Deadly days along the Tunisian route to Europe
Over the last weekend, another massacre happened on the Tunisian route, with several confirmed shipwrecks and deaths, and at least three boats still missing and whose fate is unknown. Some of these events reached public attention, whilst others will be only be remembered by gieving families who will probably never receive answers on what happened to their loves ones.
https://alarmphone.org/en/2023/02/06/deadly-days-along-the-tunisian-route-to-europe/
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Bern: Demo gegen Dublinabschiebungen nach Kroatien
In Bern demonstierten am Samstag rund 1000 Personen gegen die Dublinabschiebungen nach Kroatien. Kritisiert wurde die menschenverachtende Brutalität der kroatischen Polizei, angeprangert das aktive Wegschauen der schweizer Behörden. Hunderte geflüchtete Personen mit Dublin-Negativentscheid waren aus Bundesasylcamps und kantonalen Camps der gesamten Schweiz angereist.
https://migrant-solidarity-network.ch/2023/02/06/bern-demo-gegen-dublinabschiebungen-nach-kroatien/
Im Jahr 2022 fanden in Basel nur 17 Demonstrationen mit mehr als 250 Personen statt
Basta-Grossrat Nicola Goepfert forderte genauere Angaben zu den stattgefundenen Demonstrationen in Basel. Nach den Antworten der Regierung bezeichnet er «das scheinbare Problem als aufgebläht».
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/auswertung-im-jahr-2022-fanden-in-basel-nur-17-demonstrationen-mit-mehr-als-250-personen-statt-ld.2411348
Medienmitteilung zur Kundgebung vor dem Sulzer-Hochhaus „Apéro pauvre – eat the rich!“
Am Mittwoch 1. Februar haben sich über 40 Leute vor dem Hautpsitz der Stefanini-Stiftung für Kunst, Kultur und Geschichte versammelt, um gegen die drohende Räumung der selbstverwalteten Häuser und gegen die Aufwertungs- und Vertreibungspolitik der SKKG zu protestieren.
https://wohnraumverteidigen.noblogs.org/post/2023/02/06/medienmitteilung-zur-kundgebung-vor-dem-sulzer-hochhaus-apero-pauvre-eat-the-rich/
Buttersäure-Attacken auf UBS-Filialen: Nach Liestal jetzt auch in Laufen
Die Stinkattacke auf die UBS-Filiale in Liestal vom Montagmorgen war nicht die einzige in der Region. Auch in Laufen wurde auf eine UBS-Filiale eine Buttersäure-Attacke verübt.
https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/buttersaeure-attacken-auf-ubs-filialen-nach-liestal-auch-in-laufen-ld.2411456
-> https://www.bzbasel.ch/basel/baselland/blaulicht-es-stank-in-liestal-chemiewehr-und-industriefeuerwehr-bei-ubs-im-stedtli-ld.2411161
-> https://www.onlinereports.ch/News.117+M5ce1a2546eb.0.html
-> https://www.bazonline.ch/newsticker-region-basel-297230329650
+++REPRESSION DE
Razzia bei alternativem Radiosender: Vorwurf der Ausforschung
Mitte Januar gab es Razzien bei Redakteuren von Radio Dreyeckland. Der Sender geht nun gegen die Auswertung von beschlagnahmter Technik vor.
https://taz.de/Razzia-bei-alternativem-Radiosender/!5913658/
Polizei kennt jetzt Quellen
Neue Details zum Schlag gegen Radio Dreyeckland
Bei der Durchsuchung des Freien Radios erhielt die Polizei unverschlüsselte Daten. Die Staatsanwaltschaft verlangte außerdem beim Webhoster die Herausgabe von IP-Adressen aller Besucher.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170750.radio-dreyeckland-polizei-kennt-jetzt-quellen.html
+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Migrationsämter unter Druck
Das Solothurner Migrationsamt habe einen Fall, bei dem es um die Verlängerung einer Aufenthaltsbewilligung ging, quasi verschlampt. So urteilte das Verwaltungsgericht. Ein Einzelfall, heisst es beim Amt. Aber mit dem neuen Gesetz von 2019 haben die Migrationsämter erheblich mehr Arbeit.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/migrationsaemter-unter-druck?id=12330895
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/wegen-strengerer-regeln-migrationsaemter-sind-am-anschlag
-> https://www.blick.ch/politik/sie-muessen-die-integration-von-zehntausenden-auslaendern-pruefen-migrationsaemter-kommen-kaum-noch-nach-id18291667.html
+++BIG BROTHER
derbund.ch 06.02.2023
Leitartikel zu Videoüberwachung: Für die «Schütz» gibt es bessere Lösungen als Kameras
Macht sich die Stadt unglaubwürdig, wenn sie Velostationen mit Kameras überwachen lässt, Hotspots wie die Schützenmatte jedoch nicht? Nein, denn es gilt zu differenzieren.
Michael Bucher
Seit Jahren lässt die Stadt Bern ihre vier Velostationen mit Videokameras überwachen. Die nötige Bewilligung beim Kanton und die Zustimmung des Stadtrates hat sie hingegen nie eingeholt. Aufgedeckt hatte dies das Onlinemagazin «Republik» letzte Woche. Es ist ein blamables Versäumnis des Gemeinderats. Umso mehr, da die rot-grün dominierte Stadt dem Thema Videoüberwachung im öffentlichen Raum von jeher kritisch gegenübersteht.
Die Stadtregierung wird nun mit Häme übergossen. Eine Stossrichtung der Kritik lautet: Gehts um die «heiligen» Velos, die vor Diebstählen geschützt werden sollen, spricht nichts gegen Videoüberwachung. An Hotspots wie der Schützenmatte, wo der Drogenhandel floriert und es häufig zu Übergriffen kommt, hält man Kameras hingegen für unnötig.
Zugegeben: Der Vorwurf der verqueren Prioritätensetzung wirkt auf den ersten Blick berechtigt. Beim genaueren Hinschauen zeigt sich jedoch ein differenziertes Bild. Denn eine Kamera hat je nach Standort nicht überall die gleiche Wirksamkeit, und auch die Folgen für die Allgemeinheit können stark variieren.
Eine überschaubare Tiefgarage für Veloparkplätze kann nicht eins zu eins mit einem beliebten und grossflächigen Ausgeh-Hotspot wie der Schützenmatte verglichen werden. Bei Ersterem ist das Recht auf Persönlichkeitsschutz deutlich weniger tangiert, so werden Betroffene wohl höchstens fünf Minuten gefilmt, während sie ihr Velo abstellen oder abholen. Ganz anders auf der «Schütz», wo Hunderte Menschen stundenlang das Nachtleben auskosten.
Es ist eine Tatsache: Auf der Schützenmatte wird viel gedealt. Und es kommt regelmässig zu gewaltsamen Vorfällen. Das erstaunt wenig, wenn man sich vor Augen führt, dass es praktisch der einzige Ort in der Bundesstadt ist, wo ohne Konsumzwang gefeiert werden kann. In einem solch einfach zugänglichen Schmelztiegel manifestieren sich somit zwangsläufig alle Auswüchse, die unsere Gesellschaft hervorbringt.
Die Stadtregierung hat bislang Kameras bei der Schützenmatte abgelehnt. Das dürfte sich aufgrund der rot-grünen Mehrheitsverhältnisse auch in Zukunft nicht ändern. Das sind die politischen Realitäten, die es zu akzeptieren gilt. Auch vom bürgerlich dominierten Kanton. Dessen Regierung gleist nach einem überwiesenen Vorstoss derzeit ein Gesetz auf, mit dem der Kanton Gemeinden wie die Stadt Bern gegen deren Willen zwingen könnte, Orte mit erhöhtem Gefahrenpotenzial von Kameras überwachen zu lassen. Der Widerstand gegen diesen Eingriff in die Gemeindeautonomie ist entsprechend gross.
Die Stadt Bern setzt auf ihrem heissesten Pflaster auf einen anderen Ansatz. Einer, der eine Chance verdient hat. Seit letztem Jahr schaut auf der «Schütz» eine private Sicherheitsfirma zum Rechten. Weil viele Mitarbeitende der Firma einen Migrationshintergrund haben, verfügen sie über ein gewisses Sensorium für Personen aus dem afrikanischen und arabischen Raum, die dort oft für Unruhe sorgen. Sie sollen aufkommende Spannungen gar nicht erst eskalieren lassen. Kommt es dennoch dazu, wird die Polizei gerufen. Eine Polizei notabene, die seit neuestem bei solchen Einsätzen mit Bodycams ausgerüstet ist und allfällige Angriffe auf sie dokumentieren kann.
Bei der hitzig geführten Debatte um Videoüberwachung greifen Befürworter oft zu folgendem Argument: Wer nichts zu verbergen hat, braucht auch nichts zu befürchten. Denkt man diese Logik zu Ende, so müssten diese Personen auch nichts gegen ein totalitäres und allumfassendes Überwachungsregime haben, wie es Länder wie China praktizieren.
Was es weiter zu bedenken gilt: Videoüberwachung bietet oft bloss eine scheinbare Sicherheit. London zum Beispiel: Kaum eine andere europäische Metropole setzt derart massiv auf grossflächige Videoüberwachung. Täglich kommen dort über 940’000 Kameras zum Einsatz, schätzen Studien. Die Londoner werden im Schnitt siebzigmal pro Tag gefilmt. Trotzdem hat sich die Kriminalitätsrate kaum verändert.
Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass Videoüberwachung höchstens bei Diebstählen – etwa im öffentlichen Verkehr oder in Parkhäusern – einen eindämmenden Effekt hat. «Bei Gewaltdelikten, wo die Taten oftmals im Affekt geschehen, bringt eine solche Überwachung keinerlei Nutzen», konstatierte ein kriminologisches Forschungsinstitut aus Deutschland.
Eine Genfer Studie hat zwar nachgewiesen, dass der Drogenhandel am überwachten Ort eingebrochen ist. Dass dieser dadurch verschwindet, wäre allerdings eine reichlich naive Schlussfolgerung. Er verlagert sich bloss an andere Orte. Das wäre wohl auch in Bern nicht anders. Ob das die Lösung sein kann? Wohl kaum. Es gibt ja Politiker, die hinter vorgehaltener Hand meinen, es sei für die Polizei einfacher, wenn sich der Drogenhandel auf der «Schütz» konzentriert, als wenn er sich über die ganze Stadt verteilt.
Bei der Strafverfolgung hingegen lässt sich der mögliche Nutzen einer Kamera kaum abstreiten. Doch auch hier gilt: Oft ist die Wirkung von Videoüberwachung in der Praxis geringer, als sich die Befürworter erhoffen. Gesagt hat das Christian Brenzikofer. Er ist immerhin Kommandant der Kantonspolizei Bern.
Bei der Videoüberwachung spielt viel Symbolpolitik mit. Kriminalität ist aber vor allem ein gesellschaftliches Problem. Der Kampf dagegen sollte über viele Wege führen. Kameras sind ein billiger und schneller Weg. Doch sie ändern nichts an den Ursachen, sondern können bloss die Symptome beobachten.
(https://www.derbund.ch/fuer-die-schuetz-gibt-es-bessere-loesungen-als-kameras-809541764293)
+++RECHTSPOPULISMUS
Kleine Anfrage Fraktion SVP (Alexander Feuz, Kurt Rüegsegger, Thomas Glauser, SVP): Videoüberwachung in der Stadt Bern. Wie weiter? Videoüberwachung bei Velodiebstählen (Eigentumsdelikte?) in Veloeinstellhallen keine Videoüberwachung bei Reithalle (Delikte gegen Leib und Leben und sexuelle Integrität)
https://ris.bern.ch/Geschaeft.aspx?obj_guid=f3c1d18002e0454580e1b4128113589f
Interpellation Fraktion SVP (Alexander Feuz, Kurt Rüegsegger, Thomas Glauser, SVP): Videoüberwachung in der Stadt Bern. Wie weiter? Videoüberwachung bei Velodiebstählen (Eigentumsdelikte?) in Veloeinstellhallen keine Videoüberwachung bei Reithalle (Delikte gegen Leib und Leben und sexuelle Integrität)
https://ris.bern.ch/Geschaeft.aspx?obj_guid=fc0d1020b83a493aacc66d7c576c679a
Frontalangriff der JSVP
«Gender-Terrorismus»: JSVP des Kantons Bern greift Juso an
Knatsch um die Listengestaltung für die Nationalratswahlen: Die Junge SVP greift die JUSO des Kantons Bern wegen des Begriffes «Queer» an. Sie bezeichnet ihn als sexistisch und inkonsequent. Die JUSO findet die Aussagen blödsinnig.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/gender-terrorismus-jsvp-des-kantons-bern-greift-juso-an-149997988
Julian Reichelt auf Youtube: Das Krawall-Imperium des geschassten „Bild“-Chefs
Julian Reichelt hat Großes vor. Seine Videos werden von Wutbürgern und Klimawandelleugnern gefeiert. Unser Kolumnist hat sich die volle Dröhnung gegeben.
https://www.tagesspiegel.de/gesellschaft/julian-reichelt-auf-youtube-das-krawall-imperium-des-geschassten-bild-chefs-9270981.html
+++RASSISMUS
ANTIRA-WOCHENSCHAU: Boote für lybische Küstenwache, Hetze im SVP-Wahlkampf, Demo gegen Dublin-Abschiebeungen
https://antira.org/2023/02/06/boote-fuer-lybische-kuestenwache-hetze-im-svp-wahlkampf-demo-gegen-dublin-abschiebeungen/
++++RECHTSEXTREMISMUS
Rechte Kampfsportevents im Osten: „Für Jugendliche sind das Helden“
Im Osten der Republik häufen sich rechte Kampfsportevents. Die Szene ist professionell organisiert und will mit ihrem martialischen Angebot in die Mitte der Gesellschaft.
https://www.t-online.de/region/leipzig/id_100123568/-ostdeutschland-kaempft-in-leipzig-so-rechtsextrem-ist-die-kampfsportszene.html
Unterstützer des Assad-Regimes – Umstrittener syrischer Sänger kommt in die Schweiz
Der Auftritt des syrischen Sängers Wafeek Habib in Bülach sorgt für Aufruhr in der syrischen Gemeinschaft. In einigen seiner Songs verherrlicht er den syrischen Machthaber und dessen Armee. Viele Syrerinnen und Syrer in der Schweiz fordern deshalb ein Verbot des Konzerts.
https://www.srf.ch/news/schweiz/unterstuetzer-des-assad-regimes-umstrittener-syrischer-saenger-kommt-in-die-schweiz
-> Schweiz Aktuell: https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/syrerinnen-in-der-schweiz-fordern-konzertverbot-fuer-wafeek-habib?urn=urn:srf:video:b517eee4-f651-4455-a6f4-a00a6826c822
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Deutsche Verschwörungsmythen: Reichsbürger und Querdenker
Verschwörungsmythen finden auch in Deutschland Anhänger. Sie sehen die Coronapandemie und andere Krisen als Beleg, dass dunkle Mächte im Hintergrund böse Pläne schmieden.
https://www.zdf.de/dokumentation/zdf-history/deutsche-verschwoerungsmythen-reichsbuerger-und-querdenker-100.html
(02:56)
Umstrittener Vortrag von Daniele Ganser: Abfuhr in Dortmund, Zuspruch in Basel
Absage in Dortmund, Demonstration in Solothurn: Der Vortrag des Basler Historikers Daniele Ganser über den Ukraine-Krieg sorgt für Aufsehen. Lässt das Stadtcasino Basel den umstrittenen Redner im April auftreten?
https://www.baseljetzt.ch/umstrittener-vortrag-von-daniele-ganser-abfuhr-in-dortmund-zuspruch-in-basel/12075
-> https://www.br.de/nachrichten/bayern/stadt-nuernberg-sagt-auftritt-von-daniele-ganser-ab,TV5aLd7
-> https://anthroposophie.blog/2023/02/06/ein-herz-fur-verschworungsideologen-daniele-ganser-und-die-anthroposophie/
+++HISTORY
La Tribune de Genève contre le syndicalisme : un siècle d’histoire
La Tribune de Genève s’illustre aujourd’hui par ses campagnes de presse réactionnaires. Elle est l’héritière d’une longue tradition anti-syndicale motivée surtout par la nécessité de vendre des espaces publicitaires.
Pendant une grève des typographes de la Tribune de Genève survenue en 1909, la direction du quotidien avait fait remplacer les grévistes par des briseurs de grève. Une fois le conflit terminé, le directeur profita de la mise en place de machines à composer pour licencier les anciens grévistes et garder à son service les ouvriers non-syndiqués. Ce tour de passe-passe antisyndical allait déclencher une longue (1909-1913) action très originale pour le mouvement ouvrier romand : le boycott de la Tribune de Genève.
https://renverse.co/infos-locales/article/la-tribune-de-geneve-contre-le-syndicalisme-un-siecle-d-histoire-3867
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nzz.ch 06.02.2023
Wie Hitlers Archäologe Pfahlbauer-Funde manipulierte
Hans Reinerth wollte beweisen, dass die Vorfahren der Deutschen die Kultur nach Europa gebracht hatten. In der Schweiz war der überzeugte Nationalsozialist bis in die 1970er Jahre tätig.
Erich Aschwanden
Die Begeisterung für die Germanen wird Hans Reinerth in die Wiege gelegt. Er kommt am 13. Mai 1900 als Sohn von Siebenbürger Sachsen in Bistritz (heute Bistrita) zur Welt. Bis 1919 gehört die Stadt zu Österreich-Ungarn. 1920 wird Siebenbürgen Rumänien zugeschlagen. In diesem Umfeld ist seine Erziehung von einem ausgeprägten Deutschtum geprägt.
Der Sohn eines k. u. k Offiziers interessiert sich für Geschichte und schlägt eine akademische Laufbahn ein. Bereits im Alter von 21 Jahren promoviert er an der Universität Tübingen in Urgeschichte. Sein Vorbild ist der Prähistoriker Gustaf Kossinna. Dieser deutsche Archäologe behauptet, kulturelle Erscheinungen hätten sich nicht von Süden nach Norden verbreitet, wie die grosse Mehrheit der Historiker annimmt. Vielmehr hätten die Urgermanen der Steinzeit von der Ostsee her eine überlegene Kultur entwickelt, die über die Alpen nach Italien bis nach Griechenland ausgestrahlt habe.
Das «Totenhaus» im Aargau
Die These von der völkischen Überlegenheit der Germanen begeistert wie Reinerth viele Deutsche, die nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg nach neuer Grösse streben. Der junge Forscher will mit archäologischen Grabungen die Richtigkeit dieser Annahme beweisen. Wichtige Puzzleteile für seine These findet er bei den Pfahlbauern, die südlich des Bodensees lebten. Der Titel seiner 1925 veröffentlichten Habilitation heisst «Die jüngere Steinzeit in der Schweiz».
In der Schweiz wird der Urgeschichtler mit offenen Armen empfangen. Abgesehen von seiner ideologischen Prägung arbeitet Reinerth nämlich mit neusten wissenschaftlichen Methoden. Ende der 1920er Jahre wird er zu mehreren Fundstellen von Relikten aus der Steinzeit gerufen. Seine erste grosse Entdeckung macht er im Freiamt im Kanton Aargau.
In einem Wald bei Sarmenstorf legt er zwischen 1925 und 1928 eine Siedlung aus der Bronzezeit frei. Spektakulär sind die Überreste einer Nekropole, aus denen Reinerth ein rechteckiges Grabmal rekonstruiert. Gestützt auf seine Ideologie behauptet er, dieses «nordische Haus» oder «Germanenhaus» sei eine Vorstufe für den Bau griechischer und römischer Tempel. Gleichzeitig will er damit beweisen, dass die Vorfahren der Germanen bereits in der Steinzeit Teile der Schweiz besiedelt haben.
Kleinkrieg mit der Polizei
Parallel zu den erfolgreichen Grabungen in der Schweiz macht der junge Forscher Karriere in seiner Heimat. Dies nicht zuletzt, weil er mit seinem völkischen Ansatz die Gesinnung vertritt, die im Deutschen Reich zunehmend den Diskurs bestimmt. Ideologisch steht Reinerth der aufstrebenden Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei (NSDAP) nahe, der er im Dezember 1931 beitritt. Nicht aus Opportunismus, wie später viele andere, sondern aus voller Überzeugung. Im März 1933 ist er Mitunterzeichner einer Erklärung im «Völkischen Beobachter», mit der 300 Hochschullehrer zur Unterstützung von Adolf Hitlers NSDAP aufrufen.
In der Schweiz ist Reinerths politisches Engagement kaum ein Thema. Vielmehr begeistert er seine Auftraggeber mit weiteren Funden. Bei der Grabung «Egolzwil 2» im Luzerner Wauwilermoos entdeckt der Archäologe nach 1932 vier Dutzend Häuser, die angeblich bereits vor rund 10 000 Jahren bewohnt waren. Einer seiner Mitarbeiter schreibt in der Zeitung «Vaterland», im Kanton Luzern «wurden die ältesten Wohnbauten der Schweiz entdeckt».
Doch nicht allen passt es, dass ein Deutscher über die Schweizer Urgeschichte forscht. Zumal Reinerth und seine Mitarbeiter die Leute vor Ort spüren lassen, dass sie es hier mit einem neuen Typ Herrenmensch zu tun haben. So klagt ein Leserbriefschreiber im «Luzerner Tagblatt»: «Etwas befremden müsste es dagegen, wenn die Ausgrabung selbst als eine ausschliesslich und spezifisch deutsche Tat angesprochen werden sollte.»
Wissenschafter aus seinem Team treten frech und arrogant auf. Unter anderem verspotten sie Schweizer Soldaten beim Exerzieren. Wiederholt legen sich die Archäologen mit dem Dorfpolizisten von Nebikon an, der die Konfrontation nicht scheut und verlangt, dass die Teilnehmer des Grabungsteams korrekte Ausweispapiere vorlegen. Reinerth seinerseits beklagt sich, die lokalen Behörden würden die Deutschen schikanieren.
Reinerth, dessen wissenschaftliche Karriere ins Stocken geraten ist, macht im «Dritten Reich» vor allem dank einem Mann Karriere: Alfred Rosenberg. Dieser glühende Antisemit Rosenberg verfasst seit vielen Jahren rassentheoretische Schriften und prägt die Ideologie der Nazis entscheidend. 1934 ernennt Hitler ihn zum «Beauftragten des Führers für die Überwachung der gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung und Erziehung der NSDAP».
Im «Amt Rosenberg» spielt Reinerth als «Führer des Reichsbundes für deutsche Vorgeschichte der NSDAP» eine wichtige Rolle. Seine berufliche Laufbahn wird 1935 gekrönt mit der Berufung zum ordentlichen Professor für Ur- und Frühgeschichte an der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin.
Reinerth nutzt diese Position, um missliebige Konkurrenten loszuwerden. Sein Hauptfeind ist Gerhard Bersu. Dieser vertritt wie andere Frühgeschichtler die Ansicht, dass Griechen und Römer hauptverantwortlich gewesen seien für die Kulturverbreitung in Europa. Die Feindschaft zwischen den beiden reicht lange zurück. Als Reinerth im Freiamt das «Totenhaus» rekonstruierte, legte Bersu praktisch gleichzeitig in der Nähe eine römische Villa frei.
Opfer von Heinrich Himmler
Nun sieht Reinerth die Zeit der Abrechnung gekommen. «Der Direktor der römisch-germanischen Kommission ist der überaus gewandte G. Bersu (Jude), dem die Kommission ihre augenblickliche Hochblüte verdankt», hält Reinerth in einem Schreiben an Rosenberg fest. Bersu muss daraufhin seine Ämter abgeben.
Später wird Reinerth selbst Opfer einer Intrige. Sein Aufstieg wird gebremst, weil Alfred Rosenberg einen innerparteilichen Machtkampf gegen Heinrich Himmler verliert. Der Reichsführer SS und Chef der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) gewinnt die Gunst Hitlers mit der Zeitschrift «Deutsches Ahnenerbe». Archäologen, die bei dieser Zeitschrift arbeiten, strengen ein Parteiausschlussverfahren gegen Reinerth an. Mit Erfolg: Ende Februar 1945 wird Reinerth aus der NSDAP ausgeschlossen. Ihm wird unter anderem vorgeworfen, er habe Kontakt mit Juden gepflegt und Mitstreiter der Partei verunglimpft.
Nach dem Kriegsende wird Reinerth von den französischen Militärbehörden verhaftet und interniert. Im August 1949 wird er von den Alliierten in einem politischen Säuberungsverfahren als Mitschuldiger eingestuft und seiner Professur enthoben.
Vier Jahre später wird diese Einstufung aufgehoben. Die teilweise Rehabilitierung wird damit begründet, dass er Opfer von Rivalitäten von Wissenschaftern geworden sei, die sich gegenseitig auszuschalten versucht hätten. Ihm wird zugutegehalten, dass er sich als «Judenknecht» hatte beschimpfen lassen müssen. Reinerth darf sich wieder Professor nennen.
Die Rückkehr in den Staatsdienst bleibt ihm jedoch verwehrt. Dies, weil seine Kollegen Reinerth wegen «unsachlicher und tendenziöser Wissenschaft der Prähistorie» aus der Gemeinschaft der Ur- und Frühgeschichtler ausgeschlossen haben. Schliesslich findet er eine neue Aufgabe als Leiter des privaten Pfahlbau- und Freilichtmuseums in Unteruhldingen am Bodensee.
In Deutschland abgesägt, in der Schweiz willkommen
Reinerth sucht wieder Kontakt in die Schweiz. Insbesondere die Grabungen in den Kantonen Luzern und Aargau lassen ihn nicht los. Das Interesse ist gegenseitig. So bittet ihn die Luzerner Prähistorische Kommission mehrmals darum, den wissenschaftlichen Bericht über die Grabung «Egolzwil 2» abzuliefern. Obwohl man Reinerth mehrmals an Grabungsstücken aus dem Wauwilermoos arbeiten lässt, liefert er den immer wieder in Aussicht gestellten Schlussbericht nie ab.
Intensiver ist die Zusammenarbeit im Fall der Grabungen bei Sarmenstorf, die Ende der 1920er Jahre viel zum Ruhm des deutschen Archäologen beigetragen haben. Auf Anregung seines Freundes, des Schweizer Pfahlbauarchäologen Reinhold Bosch, soll Hans Reinerth 1969 an seine alte Wirkungsstätte zurückkehren. Die Berufung des politisch belasteten Historikers sorgt für grossen Wirbel.
Der prominenteste Kritiker ist Emil Vogt, der zwischen 1961 und 1971 Direktor des Schweizerischen Landesmuseums ist. Vogt waren die Thesen Reinerths zur Überlegenheit der germanischen Vorfahren von Anfang an suspekt. Zusammen mit anderen Urgeschichtlern gründete er deshalb 1937 die Publikation «Ur-Schweiz». Sie steht im Zeichen der geistigen Landesverteidigung.
Als Emil Vogt von der beabsichtigten Verpflichtung hört, wendet er sich im Dezember 1971 in einem scharfen Schreiben an den Gemeindepräsidenten von Sarmenstorf. «Reinerth ist für Schweizer Fachleute ein unwillkommener Gast. Reinerth hat in der Nazizeit gegenüber seinen Kollegen eine nicht erfreuliche Rolle gespielt», hält Vogt fest. Ein anderer Archäologe weist auf seine Mitgliedschaft in der NSDAP hin und empfiehlt, sein Mitwirken im Amt Rosenbergs genauer unter die Lupe zu nehmen.
Doch die Historische Vereinigung Seetal kümmert das nicht. In Absprache mit dem Aargauer Kantonsarchäologen beauftragt sie Reinerth 1970 damit, das zunehmend verwahrloste «Totenhaus im Zigiholz» wiederaufzubauen. Reinerth nimmt diese Aufgabe nur zu gerne an. Die Warnungen von besorgten Historikern schlägt die Aargauer Erziehungsdirektion in den Wind.
Reinerth ist kein Jota von seiner ideologischen Haltung abgerückt. Wissenschaftlich will er noch immer die Überlegenheit der germanischen Kultur belegen. Gegenüber dem Präsidenten der Historischen Vereinigung Seetal behauptet er, bei den Schreckensbildern aus den Konzentrationslagern handle es sich um blosse Propaganda. Und lässt das «Totenhaus» wieder wie ein nordisches Haus aussehen, obwohl die Forschung längst etwas anderes sagt.
Die letzten sichtbaren Überbleibsel des angeblichen germanischen «Totenhauses» im Aargau werden erst 1997 von der Kantonsarchäologie entfernt.
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Werner Lustenberger hat die Spuren, die Hans Reinerth in der Schweiz hinterlassen hat, 2017 in «Argovia», der Jahresschrift der Historischen Gesellschaft des Kantons Aargau, aufgearbeitet. Franz Kiener befasst sich in der «Heimatkunde Wiggertal 2023» mit den Ereignissen rund um die Grabungen im Wauwilermoos.
(https://www.nzz.ch/schweiz/die-voelkisch-ueberlegenen-germanen-wie-hitlers-archaeologe-die-pfahlbauer-manipulierte-ld.1716993)
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nzz.ch 06.02.2023
In Schaffhausen zeigt sich: Die Aufarbeitung fürsorgerischer Zwangsmassnahmen dauert an
Margrith Hänggi wurde als Jugendliche in einem Schaffhauser Heim versorgt. Gemeinsam mit einem Historiker kehrt sie dorthin zurück. Dabei drängt sich die Frage auf: Wie soll die Schweiz künftig mit dieser Geschichte umgehen?
Matthias Venetz
Die Schaffhauserin Margrith Hänggi hat zwei Leben gelebt. In ihrem ersten Leben hat das Heimpersonal sie psychisch misshandelt, der Heimleiter sie schikaniert. Jetzt steht sie wieder an dem Ort, wo der Sohn des Heimleiters sie bedrängt und sexuell misshandelt hat. Wo Hänggi Böden scheuern, ihren Kopf in Eiswasser waschen, Dutzende Teller abräumen, abtrocknen, beten musste. Zweimal wollte sie dieses erste Leben beenden.
Margrith Hänggi litt unter einer «fürsorgerischen Zwangsmassnahme». Bis 1981 wurden Tausende Kinder und Jugendliche in der Schweiz von Fürsorgeaufsichten unter Vormundschaft gestellt und «versorgt», wie man es nannte. Dafür brauchte es nicht viel: Kinder wurden in staatliche und kirchliche Heime gesteckt, weil ihre Eltern ledig oder geschieden waren. Weil sie aus «schwierigen Verhältnissen» stammten, weil sie als «schwererziehbar» galten.
Anerkennung der Verbrechen
Margrith Hänggi wurden ein Stück Butter, das sie als kleines Mädchen aus der Vorratskammer ihrer Eltern entwendet hatte, und ein Guetzli, das sie auf dem Weg vom Bäcker zu ihren Eltern unerlaubterweise verspeist hatte, zum Verhängnis. Die Fürsorgeaufsicht, Hänggis Vater und ihre Stiefmutter, sprachen von Diebstahl. Also kam Hänggi 1940 in die «Friedeck», eine kirchlich geführte und staatlich gestützte Erziehungsanstalt in Buch, am äussersten Rand des Kantons Schaffhausen. Sie blieb dort fast sieben Jahre lang. Erst als sie eine junge Frau war, wurde sie entlassen. Dann begann Margrith Hänggis zweites, ihr besseres Leben.
Jahrzehntelang haben kantonale Behörden und der Bundesstaat über «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» und all die Verbrechen, die dadurch entstanden sind, geschwiegen. In den 2010er Jahren entschuldigte sich erstmals eine Bundesrätin bei den Opfern. Das Parlament forderte darauf die Aufarbeitung und die Anerkennung der Verbrechen.
2013 setzte Bundesrätin Simonetta Sommaruga ein Gremium aus Betroffenen und Vertretern beteiligter Organisationen ein, das einen Aufarbeitungsprozess einleitete. Parallel wurde ein Bundesgesetz für die Aufarbeitung erlassen und wurden 300 Millionen Franken als Entschädigung für die Opfer gesprochen.
Der Historiker und Journalist Marlon Rusch war als Student Teil dieser Aufarbeitung. Im Herbst 2022 veröffentlichte er im Auftrag des Kantons Schaffhausen ein Buch, das aus seiner Masterarbeit über «fürsorgerische Zwangsmassnahmen» hervorging. Bei der Vernissage sass Rusch auf einem Podium mit Betroffenen. Auch Margrith Hänggi, mittlerweile 91-jährig, sass auf der Bühne.
Es sei ein emotionaler Abend gewesen, sagt Rusch. Ein Mann sprach auf der Bühne von den Misshandlungen, die er als Kind erlitten hatte, legte dann das Mikrofon hin und verliess unter Tränen den Saal. Auch Hänggi sprach und klagte an. Nach der Veranstaltung bedankten sich andere bei ihr, lobten ihren Mut und weinten dabei. Ein Mitglied der Expertenkommission des Bundes sagte am Ende der Veranstaltung, in Schaffhausen sei die Aufarbeitung noch nicht abgeschlossen.
Margrith Hänggi hat ihre Jugendjahre für sich persönlich aufgearbeitet und sich ihren «Dämonen gestellt», wie sie sagt. Als sie vor wenigen Jahren zum ersten Mal ins ehemalige Erziehungsheim «Friedeck» zurückkehrte, habe sie immer wieder gezittert. Hänggi fielen all die Schikanen wieder ein. Nun, bei ihrem zweiten Besuch, sei das Zittern weniger geworden, sagt sie.
Der Ort ihrer Misshandlungen in der Jugend ist heute ein Asylzentrum. Beim Rundgang zeigt Hänggi, wo der Schlafsaal früher war, wo der Heimleiter wohnte, wo sie krampfen musste.
Hänggi erzählt, wie die Jugendlichen jeden Morgen beim Anstaltsleiter antreten mussten. Hatten sie sich im Schlaf eingenässt, erhielten sie nur ein paar Apfelschnitze zum Essen. So, dass es alle sehen konnten und wussten: Dieses Kind ist nicht «sauber».
Sie erzählt, wie ihr schon am ersten Tag ihr Vorname genommen wurde, weil die Tochter des Heimleiters ebenfalls Margrith hiess. Auf ihre Schulhefte schrieb Hänggi trotzdem ihren richtigen, ihren eigenen Vornamen. Ein Akt der Widerborstigkeit.
Und Hänggi fällt wieder ein, wie das damals war, als ihre Regelblutung einsetzte. Sie kämpfte mit Schmerzen und Kreislaufschwierigkeiten, sie kippte oft um. In der «Friedeck» hiess es dazu: «Die steht von allein wieder auf.»
Margrith Hänggis Tage in der «Friedeck» glichen sich. Sie stand auf, musste beten, das Frühstück vorbereiten, dem Anstaltsleiter und den Mitarbeitern Butter servieren. Hänggi und die anderen Kinder assen ihr Brot ohne. Danach ging es in die Andacht. Vor dem Mittagessen musste Hänggi dann die Tische vorbereiten. Danach waschen. Erst das Geschirr und später auch Kleidung für fünfzig Personen.
Der Staat hat weggeschaut
Der Buchautor Marlon Rusch sagt, diese harte Arbeit sei den Heimkindern nicht bloss aus reinem Sadismus aufgetragen worden. Private Einrichtungen wie die «Friedeck» hätten eine billige und praktische Lösung für die Versorgung dieser Kinder dargestellt. Billig, weil die Kinder ihren Unterhalt selbst verdienten. Praktisch, weil sich der Staat nicht mehr um sie kümmern musste.
«Bei der Aufsicht über solche Einrichtungen ging es den Behörden vor allem um die Einhaltung des Budgets und nicht um das Wohl der Jugendlichen», sagt Rusch. Margrith Hänggi hat solche Inspektionen miterlebt. Inspektoren erhielten bessere Kost als die Kinder in der «Friedeck». Es wurde viel «schön, schön» gesagt. Im Nachhinein, sagt Hänggi, sie hätte den Inspektoren ins Essen spucken sollen, das sie ihnen habe servieren müssen.
In der «Friedeck» war nicht bloss der Arbeits- und Schulalltag, sondern auch die Freizeit von Margrith Hänggi strengstens geregelt: am Mittag eine Viertelstunde, am Abend zwanzig Minuten. Geschlafen hat sie in einem Saal mit Dutzenden anderen Mädchen. Im Winter gab es ein Geschirr mit halb gefrorenem Wasser. Damit wuschen sich alle. Das erste Mal allein gebadet hat sie vor ihrer Konfirmation.
Harte Arbeit und fehlende Menschlichkeit
Heute sagt Margrith Hänggi: «Das eigentliche Problem war nicht die harte Arbeit, sondern, dass die Menschlichkeit komplett gefehlt hat.» Ein Kind müsse doch wissen, dass es geliebt werde oder dass es seine Sorgen jemandem mitteilen könne.
In ihren letzten Jahren in der «Friedeck» musste Hänggi einmal pro Woche auch die privaten Räumlichkeiten des Anstaltsleiters saubermachen. Bei einer solchen Gelegenheit kam dessen Sohn auf Hänggi zu, packte sie, setzte sie auf seinen Schoss, fasste mehrfach an ihre Brust. Hänggi wehrte sich, stand auf, sagte, er solle aufhören. Der Junge hörte nicht auf und presste sie an sich. Er wusste, dass ihr niemand glauben würde. Schliesslich sagte man den Heimkindern, dass die Söhne und Töchter des Anstaltsleiters für sie Vorbilder seien.
Für die harten Lebensbedingungen in Heimen wie der «Friedeck» und die dort verübten Übergriffe sieht Marlon Rusch zum einen strukturelle Gründe, wie finanzielle Abhängigkeiten und gesellschaftliche Normen. Zum anderen waren die betroffenen Kinder und Jugendlichen der Willkür der Erwachsenen ausgeliefert. Kam eine neue Leitung ins Haus, konnte ihr Alltag angenehmer werden. Oder aber: noch brutaler.
Margrith Hänggi war in der «Friedeck» allein und immer wieder verzweifelt. Im Keller des Hauses wollte sie zweimal die Salzsäure trinken, die sie sonst zum Putzen der Toiletten verwendete. Einmal wurde sie gestört und liess die Salzsäure fallen. Das andere Mal lief ihr eine Maus über den Fuss, sie erschrak und liess von ihrem Vorhaben ab.
Über ihre sieben Jahre in der «Friedeck» sagt Margrith Hänggi: «Hass und Ehrgeiz haben mich vorangetrieben.» Hass, der sich aus den Ungerechtigkeiten, den Übergriffen nährte, die Hänggi erlebte. Ehrgeiz, darob nicht zu zerbrechen und sich ein anderes Leben zu erkämpfen.
Dieses andere Leben begann für Margrith Hänggi, als sie mit zwanzig Jahren erstmals selbständig Entscheidungen treffen und sich von der «Friedeck», ihrem Vater und ihrer Stiefmutter lösen konnte.
Bald darauf heiratete sie. Jahrzehntelang hat sie nur mit ihrem Ehemann über ihre Erlebnisse in der «Friedeck» gesprochen. Er habe ihr gezeigt, dass sie als Mensch einen Wert habe. Das Ehepaar gründete eine Familie, und Hänggi sagt heute, dass sie vieles in diese Familie eingebracht habe, was sie in ihrer eigenen Kindheit und Jugend vermisst habe.
Ist die Aufarbeitung abgeschlossen?
Der Historiker Rusch sagt, die historische Aufarbeitung sei nur ein Teil. Schliesslich seien viele Betroffene nachhaltig traumatisiert worden, hätten nicht die gewünschte Ausbildung machen können und würden deshalb oft heute noch in prekären Verhältnissen leben. Für Rusch ist deshalb klar: Jetzt muss man sich fragen, wie das Leben der Betroffenen nach ihrer Zeit in den Heimen ausgesehen hat und ob sie weitere Hilfe benötigen, um aus der Elendsspirale herauszukommen.
Das Bundesgesetz über fürsorgerische Zwangsmassnahmen sieht für Opfer eine einmalige Entschädigung von 25 000 Franken und keine weiteren Ansprüche auf «Entschädigung oder Genugtuung» vor. Der Staat habe sich mit der einmaligen Zahlung von aller Schuld freikaufen wollen, sagt Margrith Hänggi und sagen auch andere Opfer.
In der Stadt Zürich wurde die Diskussion über Entschädigung und Genugtuung für die Opfer erst kürzlich erneut geführt. Betroffene forderten von der Stadt weitere Entschädigungen, da es ihnen aufgrund der Misshandlungen in ihrer Jugend unmöglich war, die gewünschte Ausbildung zu absolvieren, und sie bis heute unter den Misshandlungen ihrer Jugend leiden.
Der Druck der Opfer und der Medien zeigte Wirkung. Personen, die auf Entscheid der Stadtzürcher Sozialbehörden hin zu Opfern wurden, haben neu Anspruch auf weitere 25 000 Franken. Dieser Entscheid könnte die Diskussion um eine angemessene Entschädigung der Opfer neu lancieren.
Eine entsprechende Anfrage an die Schaffhauser Regierung hat die SP-Kantonsrätin Linda De Ventura bereits Mitte Januar platziert. Nun wolle sie abwarten, ob die Regierung von sich aus handle und auch im Kanton Schaffhausen die Voraussetzungen für eine Entschädigung der Opfer schaffen werde. Sollte die Regierung nicht auf ihre Anfrage eingehen, will De Ventura eine Motion einreichen. Unterstützung dafür hat sie, nach eigenen Aussagen, bis ins bürgerliche Lager hinein.
Am Ende des Rundgangs durch die ehemalige Erziehungsanstalt ist Margrith Hänggi froh darüber, sich ihrer Vergangenheit gestellt zu haben. «S isch guet», sagt sie und verlässt die «Friedeck» durch die Hintertür.
(https://www.nzz.ch/schweiz/aufarbeitung-verdingkinder-ld.1712457)