Boote für lybische Küstenwache, Hetze im SVP-Wahlkampf, Demo gegen Dublin-Abschiebeungen

Transparent "Stop Dublin-Croatia" an der Demo in Bern am 5.2.2023.
Über 1000 Menschen demonstrierten letzten Samstag in Bern gegen Dublin-Rückführungen nach Kroatien.

 

Was ist neu?

Italien-Libyen Abkommen: 5 Patrouillenboote für die libysche Küstenwache

Die faschistische Premierministerin Italiens, Giorgia Meloni, ist nach Libyen gereist. Dort hat sie einen Vertrag im Umfang von rund 7,4 Milliarden Euro unterzeichnet: Zwei neue Gasfelder sollen bis 2026 erschlossen werden, gleichzeitig will Italien die libysche Küstenwache verstärken – fünf neue, schnellere Patrouillenboote sollen ihr zur Verfügung gestellt werden.

Giorgia Meloni trifft den libyschen Regierungschef Abdul Hamid Dbaiba.
Giorgia Meloni trifft den libyschen Regierungschef Abdul Hamid Dbaiba.

Es sei ein «historisches Abkommen», sagt Meloni. Die Idee, dass Italien als Knotenpunkt für Erdgas von Afrika nach Europa fungieren soll, ist nicht neu. So hat die italienische Regierung nebst dem Abkommen mit Libyen auch erst vor wenigen Tagen ein Abkommen mit Algerien abgeschlossen, um russisches Gas und Öl zu ersetzen. Die Regierung unter Meloni konzentriert sich auch wirtschaftlich wieder stärker auf die Mittelmeerregion.

Neu ist auch nicht die Verknüpfung von Wirtschaftsabkommen mit Migrationsfragen. Und die angekündigte verstärkte Unterstützung für die libysche Küstenwache passt in die von Meloni angekündigte harsche Politik gegen Migrierende. Mit Unterstützung von Italien soll die libysche Küstenwache migrierende Menschen auf dem Mittelmeer davon abhalten, nach Europa zu gelangen. Ob die fünf zusätzlichen, schnelleren Boote tatsächlich von Nutzen sein werden, wird sich zeigen. Was aber das Italien-Libyen-Abkommen einmal mehr klar zeigt: Europäische Regierungen sind Libyen näher, als es Internierungslager, Folter und Pull-Backs zulassen dürften. Europäische Regierungen wissen von den zahlreichen Menschenrechtsverletzungen, die migrierende Menschen in Libyen erleiden müssen. Und trotzdem wird Libyen von Europa fleissig unterstützt: mit Geld (ca. 500 Millionen Dollar seit 2015), Ausrüstung und Unterstützung bei der Ausbildung der sog. libyschen Küstenwache durch europäische Behörden. Auch die sog. libysche Such- und Rettungszone (SAR), die eine libysche Küstenwache erst ermöglicht, ist ein Resultat europäischer Politik.

Während sich andere Regierungen noch distanzierter zeigen, von Menschenrechten sprechen und sich gerne als deren Beschützer*innen darstellen, schüttelt Meloni dem libyschen Regierungschef Abdul Hamid Dbaiba freundlich die Hand.

https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/italienisches-abkommen-mit-libyen-mehr-erdgas-weniger-migranten?partId=12325999

Was ist aufgefallen?

SVP-Wahlkampftreiber: Überbevölkerungspanikmache, Asylrassismus und Anti-Woke

Diesen Herbst sind Wahlen und jetzt ist Wahlkampf. Nebst der Dämonisierung von geflüchteten Personen mobilisiert die SVP vorwiegend mit Hetze gegen Wokeness und mit Überbevölkerungspanikmache. Ein Blick ins diskursive Gruselkabinett der wähler*innenstärksten Partei dieses Landes.

Nerviges Gehetze gegen Wokenes.
Nerviges Gehetze gegen Wokenes.

Der potenziell gefährlichste Treiber des SVP-Wahlkampfes ist die Panikmache vor einer überbevölkerten Schweiz. „Die Schweiz ist in den letzten 20 Jahren 16-mal schneller gewachsen als Deutschland. Ein relatives Wachstum von 21% belastet unsere Umwelt, unsere Infrastruktur und uns als Gesellschaft“ Schuld an den Problemen sei die Migration:

(1) „Zuwanderung verunmöglicht die Erreichung der Klimaziele (…)“ Herr und Frau Schweizer haben ihren Treibhausgasausstoss in der Schweiz um 33% reduziert und hätten damit die Zwischenziele des Pariser Klimaabkommens bis 2020 mehr als deutlich erreicht. (…) Doch das Bevölkerungswachstum führte dazu, dass der Gesamtausstoss der Schweiz nur um 15% gesenkt werden konnte.“

Nur ist es dem Weltklima einerseits scheissegal, auf welcher Seite einer Landesgrenze Treibhausgase ausgestossen werden. Und andererseits existieren mit CO2-Zertifikathandel, Kompensierungen im Ausland, etc. viele Instrumente um die Bilanz zu beschönigen. Und zusätzlich fragt mensch sich bei dieser Argumentation: Wenn das Bevölkerungswachstum durch eine erhöhte Geburtenrate von Bio-Schweizer*innen zustande gekommen wäre, würde die SVP zum Schutz des Klimas dann eine Ein-Kind-Politik fordern?

(2) Migration ist auch für die Zersiedelung und die Überbauungen verantwortlich: „Dies gefährdet unsere Ernährungssicherheit und schadet der Landwirtschaft. (…) Wollen wir unser Land komplett zubetonieren?“

Ja, zumindest die SVP will das. Ihre Umwelt-, Wirtschafts-, Finanz und insbesondere Verkehrspolitik führt unter anderm genau dazu, dass immer mehr Flächen versiegelt und mehr Beton verbaut wird. Aber auch dieser Punkt wird alleinig der Migration in die Schuhe geschoben. Oder glauben die Migrationsexpert*innen in der SVP etwa tatsächlich, dass sich ihre Partei nicht mehr für den motorisierten Individualverkehr einsetzt, wenn die Migration begrenzt würde?

(3) Migration sei auch schuld an der Gentrifizierung: „Einer der Hauptgründe für Wohnungsmangel und explodierende Mieten ist die masslose Zuwanderung.“

Nein. Schuld daran sind unter anderem die Privatisierung des Wohnungsmarktes, die Immobilienspekulation, der Abbau des Sozialstaates oder plakativ gesagt – der Kapitalismus.

Dass sich die Argumente der SVP bezüglich Folgen der Zuwanderung inhaltlich leicht widerlegen lassen, sollte uns aber keineswegs in Sicherheit wiegen. Gerade die permanete Wiederholung solcher, wenn auch nicht auf Fakten basierenden Thesen, stärkt die oft verdrehte Wahrnehmung ihrer Wähler*innenschaft. Ausserdem möchte die SVP auch genau solche Diskussionen anstossen um ihre grundsätzliche Position zu verschleiern. Und diese ist generell fremdenfeindlich, rassistisch und auf Abschottung aus. Nur die Begründungen für ihre Forderungen wechseln ab und an.

Der zweite Treiber ist klassisch und besteht aus der rassistischen Asylpolitik und der Hetze gegen geflüchtete Personen. Startpunkt der SVP-Analyse: Das Asylsystem sei gescheitert: „Es kommen zu viele und die falschen Ausländer.“ Die SVP fordert, dass es keine Asylverfahren in der Schweiz mehr geben solle. Zum einen solle der Bundesrat „umgehend Szenarien prüfen, wie Asylverfahren ins Ausland ausgelagert und vor Ort Hilfs- und Schutzzentren geschaffen werden können“. Zum anderen sollen Asylgesuche „künftig nur noch an der Grenze in einem neu zu schaffenden Transitraum (ähnlich den Flughäfen) gestellt werden. Die Asylsuchenden befinden sich dann nicht auf schweizerischem Boden und können, sofern auf das Gesuch eingetreten werden muss, bei einem negativen Entscheid direkt in das Land rücküberstellt werden, aus welchem sie in die Schweiz einreisen wollten.“ Nebst diesen entrechtenden Vorschlägen schürt die SVP anti-muslimischen Rassismus. Wenn Muslime Asyl beantragen würden, seien die Folgen dramatisch: „Das zeigen die zunehmenden Fälle häuslicher Gewalt bis hin zu Mord.“ Wer diese Analyse nicht teile, verrate „damit die Schweizer Frauen und Mädchen.“

Dritter Treiber des SVP-Wahlkampfes ist die destruktive Hetze gegen Gender, Wokeness und Cancel Culture. Die JSVP twittert hierzu: „Der Woke-Wahn muss in unserem Land im Keim erstickt werden! Nein zu dieser totalitären Ideologie, die uns vorschreibt, wie wir zu reden, zu denken und zu leben haben!“ An der SVP-Delegiertenversammlung nahm das Thema viel Raum ein. Die Partei verspricht systematisch gegen Gendersternchen und Gleichstellungsbüros kämpfen zu wollen: «Wir werden auf allen politischen Ebenen Vorstösse zu diesen Themen einreichen», kündigte SVP-Programmchefin Esther Friedli an. Die Woke-Bewegung, die für ein stärkeres Bewusstsein betreffend Diskriminierung, gegenseitigen Respekt und einen besseren Diskriminierungsschutz einsteht, wird von der SVP bewusst in eine ganz andere Ecke gestellt. «Diese Kultur und das Verhalten ihrer Vertreter haben ganz klar religiös-fanatische Züge, denn sie propagieren, die einzige Wahrheit zu kennen», sagte Esther Friedli. Die emotionalen Anti-Woke-Positionen dürfte viele alte weisse Männer sowie andere ansprechen, die nervig, reflexartik, hartnäckig unreflekiert behaupten, geknechtet zu werden, sobald sich Menschen zusammentun, um einen Raum etwas weniger rassistisch, (hetero-) sexistisch oder klassistisch zu gestalten.

https://twitter.com/jungesvp/status/1620752307972608001
https://www.svp.ch/aktuell/publikationen/medienmitteilungen/es-kommen-zu-viele-und-die-falschen-auslaender-keine-asylverfahren-mehr-in-der-schweiz/

https://www.svp.ch/wp-content/uploads/230131_Migrationspapier-D.pdf

https://twitter.com/svpzh/status/1621071619644080128

https://twitter.com/svpzh/status/1614212253859074049

https://twitter.com/svpzh/status/1617808111317942273

https://twitter.com/SVPch/status/1617474387657072640

https://www.srf.ch/news/schweiz/debatte-im-wahljahr-laesst-sich-mit-cancel-culture-und-wokeness-politik-machen
https://www.woz.ch/2305/wokeness-wahn/im-land-der-nebelkerzen/!PXPFQ0NTA13M

Was nun?

Europäische Asylagentur empfiehlt Schutzstatus für alle Frauen aus Afghanistan

Die Asylagentur der Europäischen Union (EUAA) hat die Situation für Frauen in Afghanistan neu bewertet und empfiehlt ab sofort, allen Frauen aus Afghanistan einen Schutzstatus gemäss der Genfer Flüchtlingskonvention zu gewähren. Bisher teilen nur Schweden und Dänemark diese Einschätzung.
 
In Deutschland schreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vielen im Asylverfahren befindlichen afghanischen Mädchen und Frauen die Flüchtlingseigenschaft auch nach Klage nicht zu.
In Deutschland schreibt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vielen im Asylverfahren befindlichen afghanischen Mädchen und Frauen die Flüchtlingseigenschaft auch nach Klage nicht zu.
Die Entscheidung der EUAA folgt auf eine wachsende Zahl von Verboten und Beschränkungen des Zugangs afghanischer Frauen zu Arbeit und Bildung, zu Freizügigkeit und Meinungsfreiheit. Menschenrechtsverletzungen wie willkürliche Festnahmen und Inhaftierungen, Folter, Misshandlungen und sogar Tötungen gehören in Afghanistan wieder zum Alltag.
 
Die Taliban legen die Scharia sehr streng aus. Das bedeutet für Frauen und Mädchen in Afghanistan eine grundlegende Einschränkung ihrer Rechte. Sie dürfen beispielsweise die Schule nur bis zur sechsten Klasse besuchen, wurden von den Universitäten ausgeschlossen, können kaum noch am öffentlichen Leben teilhaben, werden kurz gefasst in allen Lebensbereichen diskriminiert.
 
Die Asylagentur, die die Aufgabe hat, die praktische Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Asylbereich zu stärken, bewertet diese Entwicklungen als generelle Verfolgung von Frauen und Mädchen. Sie folgt damit der Einschätzung Schwedens, das bereits im Dezember 22 entschieden hatte, allen Frauen aus Afghanistan Asyl zu gewähren. Dänemark gewährt seit dem 30. Januar 2023 afghanischen Frauen und Mädchen aufgrund ihres Geschlechts Asyl. Die Empfehlung des EUAA muss in den Asylprozessen der einzelnen Länder berücksichtigt werden, ist jedoch rechtlich nicht bindend. Es dürfte sehr unterschiedlich sein, wie die einzelnen Länder die Empfehlung umsetzen.
 
In der Schweiz liegt die Schutzquote für Menschen aus Afghanistan aktuell bei lediglich 72 %. Mehrheitlich handelt es sich um vorläufige Aufnahmen. Viele Menschen versuchen, sich mithilfe eines humanitären Visums aus dem Land zu retten. Bis Ende 2022 gingen beim SEM fast 1’700 Gesuche ein. Und wurden fast alle abgelehnt. Lediglich 98 wurden bewilligt, 43 davon aufgrund einer privaten Initiative des Schriftsteller*innenkollektivs PEN. Es wäre überraschend, würde die Schweiz ihre Haltung aufgrund der europäischen Empfehlung ändern.

Was schreiben andere?

Before we die

Am 30. November 2022, nachdem er die Ankündigung seiner Abschiebung nach Griechenland erhalten hatte, beging Alireza, ein junger Afghane, der in der Schweiz Asyl beantragt hatte, Suizid. Als Antwort darauf schrieb Âama einen Text, der aus dem Inneren der Lager erzählt, wie die Schweizer Migrationspolitik die Menschen abwertet und in den Suizid treibt. Folgend ein Auszug.
 
Migrationspolitik tötet.
Migrationspolitik tötet.
«Wir können nicht in der Ordnung leben, die einer von ihnen aufgestellt hat. Sie alle sagen uns das eine: Eure Existenz ist nicht wertvoll oder sinnvoll.
 
Vom ersten Tag an, an dem ich Teil des Schweizer Asylsystems werden musste, bis heute war dies der Satz, der mir am häufigsten ins Ohr geflüstert wurde. Ein Versprechen, das mir niemand offen ins Gesicht sagte, niemand mich angeschrienen hat, niemand mir auf den Kopf schlug ; ein Versprechen, das nicht an die Wand geschrieben ist, das nicht per Brief mitgeteilt wird, das Sie nicht in den Vorschriften finden werden, das sich aber in all diesen bemerkbar macht. So wie in meinem Herkunftsland die Polizei gelernt hat, physische Gewalt gegen unsere Körper anzuwenden, ohne Spuren zu hinterlassen, haben sich in der Schweiz die Mitarbeiter:innen und die Politiker:innen der Einwanderungsbehörden darauf spezialisiert, unsere Persönlichkeit/unseren Selbstwert zu zerstören, ohne etwas zu verraten. Ganz im Gegenteil, sie machen das sogar noch mit Höflichkeit. Nicht mit der Aggression eines Diktators, der offen erklärt, dass er die Verfassung nicht anerkennt, sondern mit der Heimtücke einer schwerfälligen Bürokratie, die immer wieder äußerst zweideutige Gesetze gegen uns auslegt. Ich fühlte mich als Individuum gegenüber beiden Staaten gleich wertlos, aber während mein Herkunftsland von vielen Organisationen verurteilt wurde, wurde die Schweiz als Inbegriff von Menschenrechten und Demokratie dargestellt. Was das Schweizer Migrationssystem uns antut, muss viel stärker sichtbar gemacht werden, um die Ursache für so viele Todesfälle und Gräueltaten zu entlarven und zu verhindern, dass wir weiterhin den Mördern applaudieren, die uns so sehr auffressen, dass wir unserem Leben ein Ende setzen. […]
 
Die Orte, an denen wir zu leben gezwungen werden, die Flüchtlingslager, sind vielleicht die deutlichste Manifestation der offiziellen Migrationspolitik. Sie stapeln uns in den entlegensten Teilen der Stadt oder in unterirdischen Bunkern übereinander, und nur zu bestimmten Tageszeiten dürfen wir uns mit dem Leben draußen vermischen. Während dieser Zeit ist es uns verboten, irgendeine Tätigkeit auszuüben. Der Schweizer Staat hat uns so positioniert, als ob er die anderen vor uns, wie vor einer Pestepidemie schützen will, und es ist unmöglich, dies nicht zu erkennen. Was den Wert und die Behandlung angeht, ähnelt das was wir erleben das Schicksal von Tieren : Manchmal wie Zirkusfiguren, die zu einem Spektakel gemacht und beobachtet, manchmal wie Individuen, die hilflos in Zoos eingesperrt sind, und manchmal wie jene in Tierfarmen, die von Kopf bis Fuß ausgebeutet und dann dem Tod überlassen werden.
 
Die Subjekte unseres Lebens zu sein sowie unsere Individualität, unsere Fähigkeiten und Bedürfnisse sind nicht wichtig. Wir sind nur einen Nummer und eine Kategorie: Asylbewerber:innen. Jeden Morgen gehen wir zur Tafel auf dem Platz, um zu sehen, ob eine neue Entscheidung über unser Leben getroffen wurde war. Wir suchen dort nach unserer Nummer (ja, alle hier haben eine Nummer, zum Glück ist sie nicht an unsere Ohren genagelt) und erfahren, was mit uns geschieht.
 
Nach der Kategorisierung der Länder, aus denen wir kommen, waren wir Rebellen*innen, Kriegsopfer:innen, Überlebende, Terroristen:innen, Verdammte usw., aber in den Augen des SEM behalten wir nicht einmal diese Stigmata, wir sind nur noch eine Nummer.
Die Sinn- und Wertlosigkeit unserer Existenz wird uns nicht nur durch langfristige allgemeine Strategien aufgezwungen, sondern die Angriffe auf unsere Würde, manifestieren sich häufig im täglichen Leben. Das öffentlichkeitswirksamste, ja theatralischste Beispiel dafür ist in allen Lagern die Zeremonien, bei denen wir unser „Taschengeld“ erhalten, das auf 3 CHF pro Tag festgesetzt ist. Jeden Donnerstag zwischen 8 und 9 Uhr morgens werden alle Bewohner des Lagers sorgfältig in eine Schlange eingereiht, die Person, die an der Reihe ist, begrüßt einen hochrangigen Mitarbeiter des SEM, der mit einer Registrierkasse in der Hand wartet, der SEM-Beamte fragt Hunderte von Menschen mit der gleichen Unsensibilität: „Guten Morgen, wie geht es Ihnen?“, und nach der Antwort, dass es uns gut geht, übergibt er sein Taschengeld. Die Person, die das Geld erhielt, bedankt sich bei den SEM-Mitarbeiter:innen und geht. Diese Zeremonie ist der Moment, in dem Sie zeigen wollen, dass die Mitarbeiter:innen des Camps mit der freundlichsten und sorgfältigsten Art arbeiten. Sie organisieren oft die Warteschlangen, warnen die Person, die nicht weiß, dass sie an der Reihe ist, und leiten die Person, die ihr Geld nimmt, zur Ausgangstür. Die Linie, an der wir warten, an der wir den Saal betreten, an der wir das Geld nehmen und den Saal verlassen, ist fast so präzise, als wäre sie mit Kreide auf den Boden gezeichnet worden. Unter den Tausenden von chaotischen Ereignissen im Lager, ist der Moment der Übergabe des Taschengeldes die makelloseste Zeremonie. Sie erinnerte an ein Theater mit seiner Inszenierung und seinen Bühnenarbeitern, an eine Beziehung zwischen Soldat und Kommandeur in Bezug auf Machtverhältnisse und Salutieren und an eine traditionelle Familienbeziehung zwischen Vater und Kind in Bezug auf die Erwartungen an Dankbarkeit und Respekt. Was es noch interessanter macht, ist die Verpflichtung zur Teilnahme an dieser Zeremonie. Eines Tages, als ich krank war und nicht in der Schlange für das Taschengeld stand, kamen die Beamt:innen in mein Zimmer und sagten mir, ich müsse dorthin gehen.
Es war klar, dass diese ganze Zeremonie nicht organisiert wurde, um uns etwas zu geben, sondern um uns etwas wegzunehmen: Unsere Ehre.
 
Für den lächerlichen Preis von 3 CHF pro Tag wollten sie uns unsere Persönlichkeit nehmen und sie durch dankbare, beschämte, uniforme, unterwürfige, wertlose Objekte ersetzen. Auf diese Weise legten sie den Grundstein für die Beziehungen, die sie von uns mit dem Schweizer Staat erwarteten. […]»
 
Den ganzen Text findet ihr hier: https://projet-evasions.org/beforewedie_de/
 

Wo gabs Widerstand?

Bern: Demo gegen Dublin-Abschiebungen nach Kroatien

Rund 1’000 Personen demonstrierten am Samstag in Bern gegen die Dublin-Abschiebungen nach Kroatien. Kritisiert wurde die menschenverachtende Brutalität der kroatischen Polizei, angeprangert das aktive Wegschauen der Schweizer Behörden. Hunderte geflüchtete Personen mit Dublin-Negativentscheid waren aus Bundesasylcamps und kantonalen Camps der gesamten Schweiz angereist.

Bühne vor dem Bundeshaus in Bern.
Vor dem Bundeshaus wurden diverse Reden gehalten.

Die selbst betroffenen Personen bildeten die Mehrheit der Demonstrierenden. Auf dem Bundesplatz und während der Demo zum Berner Rathaus waren daher die Angst vor einer drohenden Kroatien-Abschiebung, wo traumatisierende Gewalterfahrungen gemacht wurden, sowie die Dringlichkeit der Forderungen #StopDublinKroatien stark zu spüren. Die schweizweite Organisierung und Mobilisierung wurde von vielen als grosser Erfolg betrachtet. Ein Erfolg gegen die Isolation der Asylcamps. Ein Erfolg gegen die Unsichtbarmachung der Leben und Interessen von asylsuchenden Personen in der Schweiz. Ein Erfolg, der Hoffnung und Energie gibt, um weiterzukämpfen.

Die nächsten Schritte in diesem Kampf sind noch zu definieren. Nach dieser Demonstration, der Petitionsübergabe im Dezember, sowie den aufwändig zusammengetragenen, erschütternden Erfahrungsberichten ist klar, dass es den betroffenen Personen gelang, sich zu vernetzen und zu organisieren. Zudem ist die Entschiedenheit angesichts der Dringlichkeit und der Angst sehr hoch. Die nächsten Aktionen hängen aber auch vom Umfeld ab. So mobilisierten sich bisher abgesehen von den betroffenen Personen nur wenig weitere Personen, Kollektive, Parteien, Kirchen, Organisationen, NGOs usw.. Das soll nicht so bleiben.

Ausstehend sind auch die Einordnung der Bewegung und der Forderungen durch die Mainstreammedien in der Deutschschweiz, sowie die Positionierung der neue Departementsvorsteherin Baume-Schneider. Beides dürfte einen gossen Einfluss auf die Praxis des SEM haben. Leicht positive Signale kamen bisher zum einen vom Bundesverwaltungsgericht, das die Beschwerde der kurdischen Journalistin Perihan Kaya gutheisst. Das SEM habe Formfehler begangen und müsse in diesem Fall erneut über die Bücher. Zum anderen sprach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Kroatien im Januar schuldig. Der Staat sei für den Tod und die Misshandlung von geflüchteten Personen unter staatlicher Obhut verantwortlich. Das SEM wird sich auch hierzu äussern müssen.

https://twitter.com/NetworkMigrant/status/1621864588793839621
SEM muss Perihan Kayas Fall erneut prüfen
https://rabe.ch/2023/01/31/sem-muss-perihan-kayas-fall-erneut-pruefen/

Migrant*innen werden in Norditalien willkommen geheissen

Keine Festsetzung des NGO-Rettungsschiffes Geo Barents, keine Geldstrafen, dafür Willkommensszenen in der Stadt La Spezia. Seenotrettung im Mittelmeer erfährt in Italien Solidarität aus der Bevölkerung.
 
Migrant*innen wurden in La Spezia und Carrara mit Willkommensbannern für Refugees begrüsst.
Migrant*innen wurden in La Spezia und Carrara mit Willkommensbannern für Refugees begrüsst.
Am vergangenen Wochenende hat das Rettungsschiff Geo Barents in La Spezia 237 gerettete Personen an Land gebracht. Die NGO hat mit der Durchführung von mehreren Rettungen in einem Einsatz das erste Mal gegen das neue Piantedosi-Dekret der italienischen Regierung verstossen. Dieser Widerstand war wichtig und blieb bisher ohne Konsequenzen. Das Schiff wurde entgegen den behördlichen Drohungen nicht festgesetzt, erhielt bisher keine Geldstrafe und ist bereits wieder im Einsatz.
 
Auch gab es viel Solidarität im Ankunftsort. In die Norditalienische Stadt La Spezia werden, ebenfalls in der Folge der Schikane durch das neue Dekret, nun erstmals Migrant*innen gebracht, wenngleich der Hafen über 1’000 km von den Einsatzorten im zentralen Mittelmeer entfernt ist. Es gab Solidaritätsdemonstrationen und Willkommensbanner, Menschen brachten Sachspenden und ein Restaurant stellte warme Mahlzeiten zur Verfügung.
 
Widerstand gab es darüber hinaus seitens einiger Migrant*innen selbst. Drei Personen flohen aus dem Krankenhaus, in das sie nach der Ankunft gebracht wurden. Vermutlich wollten sie sich damit dem behördlichen Prozedere entziehen und in Europa weiterreisen. Sie wurden von der Polizei gefasst.
 

Was steht an?

Commemor Action
06.02.23 I 19:00 Uhr I Zürich Rathausbrücke
Vergangenen Mittwoch konnten mehrere Menschen nur noch leblos vor der Küste Libyens geborgen werden nachdem ihr Boot Schiffbruch erlitten hatte. In diesem Moment befindet sich eine Gruppe seit gut einer Woche auf einer kleinen Insel auf dem Fluss Evros, gefangen an der Grenze zur Festung Europa. Und so wiederholt sich die Gewalt an den europäischen Aussengrenzen, immer und immer wieder. (…)
Deshalb: Kommt am Montag, 6. Februar um 19:00 Uhr zur Rathausbrücke in Zürich, um gemeinsam zu trauern, wütend zu sein und ein Zeichen zu setzen, dass kein Mensch an den Grenzen zu Europa ohne Konsequenzen verschwindet!
 
Lesung „Kaliszko“
07.02.23 | 20:00 Uhr I Zug, Dachraum Bibliothek, St.-Oswalds-Gasse 2
Peter Metz liest aus seinem neuen Roman vor, der sich mit dem Thema Polizeigewalt auseinander setzt: «Mannheim im Sommer 1974: Deutschland siegt im Finale der Fussball-Weltmeisterschaft, Gewalt und Kriminalität in der Quadratestadt steigen, verschiedene K-Gruppen tragen ihre Rivalitäten untereinander und mit der Staatsgewalt aus. In diesem Klima will Hannes Kaliszko aus den Benz-Baracken im Disco-Club 88 seinen 23. Geburtstag feiern. Die Begegnung mit zwei Polizisten in Zivil endet für Kaliszko tödlich.»
 
Podium: Versteckte Täter:innen – Angriff auf Familien
09.02.23 I 20:00 Uhr I Luzern, Sentitreff
Von 1934-2002 wurden migrantische Arbeiterfamilien mit Statut A und teilweise auch B aus rassistischen Gründen ihrer Rechte beraubt, nach wie vor ist das für Sans-Papiers der Fall. Wie gingen bzw. gehen die illegalisierten Familien damit um, was hat sich seit dieser Zeit getan, was muss sich noch ändern, und wie können wir die versteckten Täter:innen dahinter zur Rechenschaft ziehen?
https://www.sentitreff.ch/de/Februar_2023
 
Blinde Flecken – Zürich und der Kolonialismus
20.01. – 15.07.23 I Zürich
Die Ausstellung im Stadthaus «Blinde Flecken – Zürich und der Kolonialismus» will ein grösseres Bewusstsein für die kolonialen Verflechtungen Zürichs schaffen. Dazu finden zahlreiche Begleitveranstaltungen statt.
https://www.stadt-zuerich.ch/kultur/de/index/institutionen/ausstellungen_stadthaus/Kolonialismus/Begleitveranstaltungen.html

Lesens- Sehens- Hörenswert

«Es gibt viele Gründe wütend zu sein.»

Die versteckten Kinder der Saisonniers  
«Kulturplatz» beleuchtet ein dunkles Kapitel Schweizer Geschichte, gemeint sind die Zehntausenden Saisonniers, die in der Schweiz billig arbeiten sollten, sich aber nicht integrieren durften. Diese Menschen und vor allem ihre Kinder erlebten Schlimmes. Da Familiennachzug lange verboten war, kamen viele Kinder ins Heim oder wurden versteckt. Nur wenige haben bisher darüber gesprochen, nun scheint die Zeit reif.
https://www.srf.ch/play/tv/kulturplatz/video/die-versteckten-kinder-der-saisonniers?urn=urn:srf:video:59e4133d-a6e8-4835-afaa-3dfd2077082d

UNO-Menschenrechtsrat: Schweiz muss mehr tun
Die Menschenrechtssituation in der Schweiz wurde heute vom UNO-Menschenrechtsrat kritisch begutachtet. «Die Empfehlungen der einzelnen Staaten im Rahmen der Allgemeinen regelmässigen Überprüfung (Universal Periodic Review UPR) ergeben ein realistisches Bild: «In der Schweiz gibt es beim Menschenrechtsschutz weiterhin Lücken», sagt Matthias Hui von der NGO-Plattform Menschenrechte Schweiz.
https://www.humanrights.ch/de/stellungnahmen/uno-menschenrechtsrat-schweiz-2023

Rumänien missbraucht Rückübernahmeabkommen: Dublin-Fällen droht Kettenabschiebung nach Serbien
An der rumänisch-serbischen Grenze sind rechtswidrige Zurückweisungen Alltag. KlikAktiv, der serbische PRO ASYL-Kooperationspartner, dokumentiert, dass Rumänien dafür auch das Rückübernahmeabkommen zwischen der EU und Serbien missbraucht. Asylsuchenden, die unter der Dublin-Verordnung nach Rumänien abgeschoben werden, droht die Kettenabschiebung.
https://www.proasyl.de/news/rumaenien-missbraucht-rueckuebernahmeabkommen-dublin-faellen-droht-kettenabschiebung-nach-serbien/

The escape diaries
A series about the personal experiences of African students who fled the war in Ukraine.
https://www.infomigrants.net/en/tag/the%20escape%20diaries/