Koordinierte Grenzgewalt gestärkt, gewaltsame Bundesasylcamps schöngeredet, klare EGMR-Urteile ignoriert

Geflüchtete Personen wehren sich gegen die Dublinabschiebungen nach Kroatien.

Was ist neu?

Neue Polizeikooperation von Deutschland und Frankreich zur »Migrationsabwehr«

Zur »Bekämpfung irregulärer Migration« soll die »Gemeinsame deutsch-französische Diensteinheit« (GDFD), bestehend aus Beamt*innen von Bundespolizei und französischer Grenzpolizei, zusammen Einsätze an den Grenzen durchführen.

Bereits 2021 war diese Einheit als vorübergehende Struktur ins Leben gerufen worden. Nun haben die deutsche Innenministerin Nancy Faeser und der französische Innenminister Gérald Darmanin letzten Sonntag beim Ministerrat eine Vereinbarung getroffen, welche die GDFD in eine feste Organisation umwandelt. Die Einheit soll Blitzfahndungen im Grenzgebiet vornehmen, für den Zoll arbeiten oder sogar Einsätze der Bereitschaftspolizei im jeweiligen Gastland unterstützen. Bereits am 7. Januar wurden Grenzkontrollen anlässlich der Gedenk-Demonstration der drei 2013 ermordeten kurdischen Aktivist*innen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez durchgeführt. 22 Menschen wurde hierbei die Einreise nach Frankreich verwehrt. Repression, die sich mit der neuen Einheit verstärken wird.

Die GDFD ist auf verschiedenen Ebenen problematisch. Einerseits werden dadurch die Abschottungstendenzen weiter erhöht. Die Leidtragenden sind schliesslich die Menschen, welche über die Grenzen flüchten. Andererseits können dadurch Beschränkungen im Bereich hoheitlicher Befugnisse oder des Datenschutzes umgangen werden, z.B. könnte der Zugang zu ausländischen Datenbanken vereinfacht werden. Zudem ist nicht geklärt, wer die GDFD kontrolliert und wer bei Fehlverhalten der Beamt*innen die Verantwortung trägt. Solche organisierte Unverantwortlichkeit führte in der Vergangenheit bei Einsätzen zur Migrationsabwehr immer wieder zu Fällen, in denen schwere Menschenrechtsverletzungen nicht verfolgt und geahndet wurden.

Des Weiteren durchläuft die Gendarmerie eine militärische Grundausbildung, in Deutschland herrscht jedoch eine strikte Trennung von Polizei und Militär. Mit den französischen Beamt*innen der GDFD, welche in Deutschland Einsätze durchführen, würde diese Trennung unterlaufen. Zuletzt war tatsächlich noch von der Möglichkeit sog. »Stabilisierungsoperationen« ausserhalb der EU die Rede, vorgesehen seien Missionen in »frankophonen Drittstaaten«. Wahrscheinlich sind mit dieser vagen Formulierung die ehemaligen Kolonien Frankreichs gemeint. Die Externalisierung der europäischen Aussengrenzen und neo-kolonialistische (sh. Glossar) Strukturen lassen grüssen.

https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170395.polizeikooperation-deutsch-franzoesische-migrationsabwehr.html

Was geht ab beim Staat?

Nationalratskomission will Nazi-Symbole verbieten

Die Rechtskommission des Nationalrats hat sich dafür ausgesprochen, Nazi-Symbole durch eine Spezialgesetzgebung zu verbieten. Der Bundesrat empfahl Prävention statt Strafen. Die Diskussion dauert seit Jahren an.

Bild: Debatte um das Verbot von Nazi-Symbolen geht weiter.

Diskussionen zum Verbot von Nazi-Symbolen und zum allgemeinen Verbot von rassendiskriminierenden Symbolen gibt es seit Langem. Rassendiskriminierende und Nazi-Symbole sind nach der heutigen Gesetzgebung strafbar, wenn sie zu Propagandazwecken verwendet werden. Das bedeutet, dass ein Hitlergruss im öffentlichen Raum straffrei bleiben kann. Beispiele dazu gibt es viele:

An einer Veranstaltung national orientierter Schweizer (Pnos) wurde 2010 mehrfach der Hitlergruss gezeigt. Das Bundesgericht entschied, dass es keine Strafe gebe, da es sich nicht um Propaganda gegenüber Drittpersonen handelte. Ein Offizier der Swisscoy-Truppe im Kosovo zeigte 2017 Nazi-Gesten. Dabei sah die Militärjustiz in mehreren Instanzen keinen Strafbestand erfüllt, bis das Militärkassationsgericht 2021 entschied, dass der Tatbestand der Rassendiskriminierung erfüllt gewesen sei.

Während der Pandemie haben rassistische und antisemitische Übergriffe stark zugenommen. Dies geht aus dem Antisemitismusbericht des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebunds (SIG) und der Stiftung gegen Rassismus und Antisemitismus von 2021 hervor. Seitdem gibt es mehrere Vorstösse, die darauf abzielen, Nazi-Symbole zu verbieten. In früheren Anläufen ist allgemein auf rassistische und gewaltverherrlichende Symbole gezielt worden. Diese Anläufe wurden abgelehnt. Mitte-Nationalrätin Binder-Keller machte 2022 einen Vorstoss, in dem sie ein generelles Verbot von Nazi-Symbolen in der Öffentlichkeit und online verlangte. Der Bundesrat sprach sich dagegen aus. Seiner Meinung nach sei Prävention besser geeignet als eine Strafe.

Nun wurden 2 weitere Vorstösse eingereicht, einer von SP-Nationalrat Angelo Barrile und einer von SP-Nationalrätin Gabriela Suter. Beide Vorstösse fordern ein allgemeines Verbot von rassendiskriminierenden Symbolen. Nur ein Vorstoss, der von Barrile, wurde mit 12 zu 11 Stimmen angenommen, da sich dieser mit der vorgeschlagenen Spezialgesetzgebung umsetzen liesse. Diese Spezialgesetzgebung würde eine abschliessende Liste mit den verbotenen Symbolen beinhalten, etwa bestimmter Nazi-Symbole. Für Suter sei die Einschränkung auf eine bestimmte Ideologie problematisch: «Es kann ja nicht sein, dass Nazi-Symbole verboten sind, aber solche des Ku-Klux-Klans beispielsweise weiter öffentlich verwendet werden dürfen». Suter fordert deshalb, dass das bestehende Strafgesetz, welches nur für Propagandazwecke vorgesehen ist, auf alle Fälle ausgeweitet werden soll. Sie befürchtet, dass es bei der Spezialgesetzgebung dazu kommen werde, dass es dann bei einem Verbot von Nazi-Symbolik bleibe, ohne dass andere menschenverachtende und diskriminierende Symbole aufgenommen würden.

Parlament und Bundesrat hätten längst ein entsprechendes Verbot erlassen, wäre es ihnen genügend wichtig. Da sie sich seit Jahrzehnten nicht durchringen konnten, Nazi-Symbole sowie allgemeine rassendiskriminierende Symbole zu verbieten, konservieren und stärken sie in der Konsequenz pro-faschistische Strukturen und Werte. Der Bundesrat empfahl vor etwa einem Jahr, den Vorstoss von Binder-Keller abzulehnen, da sich Prävention besser eigne als Verbote und Strafen. Diese Argumentation scheint sehr zynisch:

Führen wir uns die bürgerliche Logik vor Augen: Wenn Werte in Form von Gesetzen zum Ausdruck kommen, und Bundesrat und Parlament einen rassismusfreien Staat und eine rassismusfreie Gesellschaft anstrebten, dann hätten sie seit Langem ein umfassendes Antidiskriminierungsgesetz erlassen können, das sowohl Prävention, Intervention und Repression umfasst und in verschiedenen öffentlichen und privaten Bereichen (Arbeit, Wohnen, Bildung, Aufenthalt, Stimm- und Wahlrecht, Polizei) greift. Sowohl der öffentliche als auch der private Sektor sind stark von strukturellem Rassismus durchzogen. Wenn es ihen tatsächlich um Prävention ginge, stellen sich folgende Fragen: Wurde in die Aus- und Weiterbildung von öffentlichen Beamt*innen genügend investiert, damit Racial Profiling nicht mehr angewandt wird? Haben staatliche Behörden veranlasst, dass ausführliche Studien zum Thema «Rassismus in der Schweiz» initiiert und finanziert werden? Haben alle Lehrkräfte eine Weiterbildung erhalten, um Diskriminierung und rassistisches Mobbing zu erkennen und das nötige Rüstzeug erhalten, um auf diskriminierende Situationen zu reagieren und sie zu bewältigen?

Wenn Bundesrat und Parlament wollten, hätten sie schon längst gehandelt, sei es in der Gesetzgebung als auch in der Prävention. Antirassistische und antifaschistische Praxis kann nicht auf Prävention und Repression des Staates warten, sie ist alltägliche Aufgabe der Menschen.

https://www.blick.ch/politik/schluss-mit-hakenkreuz-nazi-symbole-sollen-doch-verboten-werden-id18225400.html
https://www.swissinfo.ch/ger/wirtschaft/nazi-symbole-schweiz-verbot/47734842
https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-rk-n-2023-01-13.aspx
https://www.blick.ch/schweiz/rassismus-in-der-schweiz-wir-sind-doch-keine-tiere-id18268740.html?utm_source=whatsapp&utm_medium=social&utm_campaign=share-button&utm_term=blick_app_ios

Massnahmen gegen Gewalt in Bundesasylcamps

In einer Medienmitteilung des Eidgenössischen Polizei- und Justiz-Departements ist von einem Rückgang der sicherheitsrelevanten Vorfälle in den Bundesasylcamps (BAZ) die Rede. Die strukturelle Dimension der Gewalt wird darin ausgeblendet. Kompetenzen des Sicherheitspersonals sollen im März in der Asylgesetzrevision neu definiert werden.

Bild: Das SEM rühmt sich mit einer Abnahme der sicherheitsrelevanten Vorfälle. Von wem die Gewalt ausgeht, bleibt unerwähnt.

2021 hatten mehrere aktivistische Gruppierungen auf die Gewaltanwendung von Securitas-Angestellten in Asylcamps aufmerksam gemacht. Hierauf wurde ein ehemaliger Schweizer Bundesrichter vom Staat eingesetzt, um sich einen Eindruck davon zu machen. Wenig erstaunlich, kam er in seinem Bericht im letzten Herbst zu dem Schluss, dass in den BAZ keine systematische Gewalt angewandt wird. Als sicherheitsrelevante Vorfälle gelten laut SEM Tätlichkeiten, Belästigungen, aggressive Verhaltensweisen, Beschimpfungen und Drohungen. Von wem diese ausgehen, also ob von Lager-Bewohner*innen oder von den Angestellten, wird nicht ersichtlich. Mal abgesehen davon, dass die Verwaltung und Kontrolle von Menschen in Lagern per se systematische Gewalt ist, ist es auch mal wieder eine Farce, dass den von Rassismus betroffenen Menschen, welche die Gewalt am eigenen Leib erfahren haben, weniger geglaubt wird, als einem alten weissen Richter, der vermeintlich objektive Aufklärung walten lässt.

Zumindest hat er ein paar Verbesserungsvorschläge gemacht, die laut des nichtssagenden Staatsjargons »vom SEM geprüft und wenn möglich umgesetzt« wurden. Hierzu gehörte unter anderem ein Konfliktpräventionskonzept, welches seit zwei Jahren speziell geschultes Betreuungspersonal einsetzt, um deeskalierend mit Menschen in den Lagern in Kommunikation zu treten. Dass die Lager und die Gesetze, die sie geschaffen haben und die damit einhergehenden Lebensbedingungen einen Grossteil des Konfliktpotenzials erst schaffen, wird dabei ausgeblendet. Zu disesen Strukturen zählen Mehrbettzimmer, Unterschriftensysteme zur Überprüfung der Anwesenheit, Arbeitsverbot, regelmässige Polizeikontrollen, die Ungewissheit des Lagersystems mit z.B. spontanen Verlegungen in andere Lager, das zermürbende Warten auf einen Entscheid oder die Perspektivlosigkeit eines abgelehnten Asylgesuches.

Immerhin wurde eine anscheinend externe Meldestelle eingerichtet, in der Vorfälle gemeldet werden können. Wie zugänglich und effektiv diese jedoch ist, darüber gibt es keine Daten. Die Zeitung »Der Bund« hat noch ein paar andere Theorien auf Lager, wieso die sicherheitsrelevanten Vorfälle in den BAZ gesunken sind. Wie gewaltvoll, repressiv und schlicht rassistisch diese Massnahmen sind, scheint der Journalistin nicht bewusst zu sein: In dem Artikel ist davon die Rede, dass die vermehrten Ausschaffungen in den Maghreb auch ein Grund für den Rückgang der Zahlen seien. Ausserdem bringt sie die Wiedereröffnung des Bestrafungslagers Les Verrières im Kanton Neuenburg als weiteren Grund an. Dort werden sog. »besonders renitente« Fälle untergebracht, also Menschen, die wiederholt aggressiv waren.

Zudem sollen weitere Massnahmen nun auch gesetzlich verankert werden. Bis März wird eine Revision des Asylgesetzes vorgenommen. Hier soll nun gesetzlich geregelt und festgelegt werden, in welchen Situationen / Bereichen Mitarbeitende des Staatssekretariats für Migration (SEM) polizeiliche Zwangsmassnahmen anwenden können und wie diese Zwangsmassnahmen auch von den Angestellten der privaten Sicherheitsfirmen angewandt werden können. Polizeiliche Befugnisse sind grundsätzlich kritisch zu betrachten, aber wenn diese auch noch auf private Sicherheitsangestellte übertragen werden können, ist dies verfassungsrechtlich problematisch und könnte gefährliche Folgen haben.

Auch das Einsperren in sog. »Besinnungsräume« soll gesetzlich geregelt werden. Es ist fraglich, ob die Verankerung von Abläufen bzgl. dieser »Besinnungsräume« im Gesetz Menschen vor dessen Missbrauch schützen wird. (Ganz abgesehen davon, dass das Einsperren von Menschen eigentlich dem Gewaltmonopol von Justiz und Exekutive vorbehalten ist, und auch in diesem Zusammenhang äusserst problematisch ist und wir über abolitionistische Praxis reden müssen). Dass es überhaupt möglich sein soll, in einer öffentlichen Einrichtung, in der Schutzsuchende einen temporären Wohnraum erhalten sollen, eben diese Menschen einzusperren, ist eine absurde und entmenschlichende Praxis.

In seinem Bericht untersuchte der ehemaliger Schweizer Bundesrichter zudem sieben Fälle von Gewalt von Sicherheitsangestellten in Bundesasylcamps. In drei dieser Fälle schätzte er die Gewaltanwendung als unverhältnismässig ein, in einem davon war er sich der Verhältnismässigkeit nicht sicher, in wiederum drei Fällen schätzte er die Gewaltanwendung als verhältnismässig ein. Wie auch immer er auf diese Einschätzung gekommen ist, und warum er alleine schon die Unverhältnismässigkeit in der Hälfte der untersuchten Fälle anscheinend nicht alarmierend fand, so setzt er noch hinterher, »dass in sechs von sieben untersuchten Vorfällen eine Strafuntersuchung eingeleitet worden ist und deshalb Gewähr für eine unabhängige und unvoreingenommene Untersuchung durch die Justizbehörden gegeben ist.« Welche Leser*in einen Überblick darüber hat, welche dieser Verfahren mittlerweile eingestellt wurden, möge sich bitte melden. Wie verblendet können Menschen aufgrund ihrer Privilegien eigentlich sein? Eine »unabhängige und unvoreingenommene Untersuchung«? Diese Aussage ist wirklich zum Lachen.

https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-92639.html
https://twitter.com/SEMIGRATION/status/1618276077465657344
https://www.derbund.ch/weniger-gewaltprobleme-in-asylzentren-780811731359
https://www.sem.admin.ch/sem/de/home/sem/medien/mm.msg-id-85485.html

Was ist aufgefallen?

Silvesterkrawalle in Berlin: Die rassistische Logik von Integration

Falsch interpretierte Polizeidaten traten in Deutschland die Migrationsdebatte von Neuem los. Die politische und gesellschaftliche Spaltung erfolgt aber von oben.


Berliner Polizist*innen werden an Silvester mit Feuerwerk beschossen.

Das Szenario war vorhersehbar. Nachdem es in Berlin in der Silvesternacht (wie jedes Jahr) zu Krawallen gekommen war, wurden in Medien und Politik die Täter schnell ausgemacht: Junge Männer mit Migrationshintergrund. Die Bilder von Polizist*innen und Krankenwagen, welche mit Raketen und Böllern beschossen wurden, gingen durchs Internet. Losgetreten wurde die Debatte mit der ersten Pressemitteilung der Berliner Polizei. 18 verletzte Beamt*innen, 103 Personen wurden zwischenzeitlich festgenommen, später stieg die Zahl auf 145. Auf Nachfrage der Bildzeitung musste die Polizei gemäss Öffentlichkeitsgesetz die Staatsangehörigkeit der Verhafteten nennen. Zwei Drittel hatten einen ausländischen Pass. Jedoch ordnete die Polizei nicht ein, auf welche Vorfälle in der Silvesternacht sich diese Zahlen denn beziehen. Erst später veröffentlichte die Pressestelle der Polizei detaillierte Erkenntnisse, welche aufgrund der laufenden Verfahren ebenfalls nur vorläufig sind. Demnach sind 43 Personen tatverdächtig, Polizei- und Rettungskräfte angegriffen zu haben, 60 Prozent davon sind Deutsche. Zahlen, mit denen sich der rassistische Diskurs von antidemokratischen, integrationsunwilligen Migrant*innen kaum aufrecht erhalten lässt. Dass im sächsischen Borna bei Randalen an Silvester «Sieg Heil» gerufen wurde, war auf der anderen Seite kaum einem Medium eine Erwähnung wert.

Die Pressearbeit der Polizei ist aber nur eine Folge und nicht die Ursache des Problems. Denn die Öffentlichkeit erwartet, dass die Polizei schnell informiert. Vor allem aber ist die Art der Datenerhebung und die Verpflichtung, welche Daten veröffentlicht werden müssen, höchst problematisch. Dabei ist längst erforscht und nachgewiesen, dass nicht Herkunft und Staatsangehörigkeit, sondern die soziale Situation und die ökonomischen Lebensumstände massgebend sind für abweichendes und von der Dominanzgesellschaft als kriminell betrachtetes Verhalten. Doch diese Umstände werden nicht erfasst, geschweige denn kommuniziert. Stattdessen will die Berliner CDU die Vornamen von Tatverdächtigen mit deutscher Staatsangehörigkeit erfahren. Und wie damals nach der Silvesternacht in Köln 2015 schrieen darum bereits am nächsten Tag von AFD bis SPD alle nach härteren Strafen für kriminelle Ausländer*innen. Dass diese Mechanismen längst bekannt sind, hilft wenig. Solange das Narrativ dauernd wiederholt wird, setzt es sich in einem Teil der Gesellschaft trotz anderweitiger Faktenlage fest.

Es ist eine bewusste politische Spaltung von oben, welche mit der Diskussion um Integration seit Jahrzehnten einhergeht. Von Beginn an wird ein gemeinsames, homogenes «Wir» allen anderen Menschen gegenübergestellt, welche je nach Land nicht «Biodeutsche» oder «Eidgenossen» sind oder sonstwie nicht in die Blut- und Boden-Logik passen. Integration bedeutet in dieser Vorstellung Anpassung. Und die Aufnahme ins «Wir» wird auch nur solange gewährt, wie das Verhalten der «Anderen» als genehm empfunden wird. Auch ist längst bekannt, dass unsere liberale Gesellschaft keineswegs Chancengleichheit für alle gewährt. Es sind nicht Migrant*innen, welche die Gesellschaft spalten, sondern die rassistische Stigmatisierung, der soziale Ausschluss und der Zwang zu Leistung und Integration. «Die wissenschaftliche Diskussion der letzten zwei Jahrzehnte hat vielfach herausgearbeitet, dass es gerade die Verbindung von Kulturalisierung und Ökonomisierung ist, die es dem Rassismus erlaubt, sich unter sich verändernden Bedingungen neu zu formieren und zu reproduzieren», schreiben Manuela Bojadžijev und Robin Celikates in ihrer Anaylse zum Diskurs um Integration.

Was wir brauchen, ist ein neues Selbstverständnis einer heterogenen, inkludierenden Gesellschaft. Eine solidarische Praxis, welche Fragen und Auswirkungen der Ökonomisierung in die Diskussion mitaufnimmt.

https://www.deutschlandfunkkultur.de/silvester-krawalle-berlin-fakten-polizei-100.html
https://geschichtedergegenwart.ch/spaltung-von-oben-zur-anti-demokratischen-und-rassistischen-logik-der-integration

EU-Innenminister*innentreffen: Grenzzaun, Abschiebungen und schöne Worte

Vergangene Woche haben sich in Stockholm die EU-Innenminister*innen versammelt, um über die europäische Migrationspolitik zu diskutieren. 50 Prozent mehr Asylanträge wurden 2022 in Europa im Vergleich zum Vorjahr gestellt. Dies wurde wie erwartet als grosses Problem dargestellt, ist es aber nicht. Die eigentlichen Probleme sind die Antworten, die die Innenminister*innen auf die steigende Anzahl an flüchtenden Menschen haben: mehr Härte, mehr Abschiebungen, mehr Grenzzäune. Eine Zusammenfassung der Diskussion in Stockholm.

Österreich will einen Grenzzaun für Bulgarien

Der österreichische Innenminister Gerhard Karner steht vor der Kamera: «Wir wollen die bulgarische Aussengrenze robuster machen.» 2 Milliarden Euro soll der Grenzzaun kosten und Menschen davon abhalten, von der Türkei nach Bulgarien einzureisen. Die EU solle den Zaun mitfinanzieren. Es gibt auch kritische Stimmen. So meint etwa die Präsidentin der Europäischen Kommision, Ursula von der Leyen, dieser Zaun widerspreche den Werten der Union. Eines steht fest: Die Diskussion über den Zaun hat erst begonnen. Denn in zwei Wochen treffen sich die Staats- und Regierungschef*innen in Brüssel zu einem Sondergipfel – wieder zum Thema Migration.

Alle wollen mehr Migrant*innen abschieben

2021 haben 21 Prozent der sogenannten ausreisepflichtigen Menschen die EU verlassen – unter anderem auch durch die Corona-Pandemie bedingt. Dies wollen die Innenminister*innen ändern. «Wir haben eine sehr niedrige Rückführungsquote und ich sehe, dass wir hier erhebliche Fortschritte machen können», sagte EU-Innenkommissarin Ylva Johansson in Stockholm. Diskussionspunkt war dabei hauptsächlich, ob die EU mit ihrer Visa-Politik Druck auf Herkunftsländer ausüben oder eher Anreize für die Zusammenarbeit geschaffen werden sollen. Während die deutsche Innenministerin Faeser den Weg über Migrationsabkommen befürwortet, sieht die schwedische Ratspräsidentschaft die Visapolitik als Schlüsselinstrument.

Neu dabei: Justizministerin Elisabeth Baume-Schneider

Lieb und nett gibt sich die neue Schweizer Justizministerin am Treffen in Stockholm. Ganz im Sinne der humanitären Tradition der Schweiz plädiert Baume-Schneider für Augenmass, für Gleichgewicht. «Man kann auf der einen Seite restriktiv sein», sagt sie und verweist auf die Aussengrenzen. Dann müsse man aber auch auf der anderen Seite «mit den Menschen auf der Flucht solidarisch sein». Die Schweiz arbeitet bereits seit längerem mit Migrationspartnerschaften und davon würden alle Vertragsparteien profitieren, so Baume-Schneider. Das zeige sich auch in der Schweizer Rückführungsquote von 31 Prozent.

«Im Gleichgewicht zwischen dem humanitären Völkerrecht und der Sicherheit» – so hätte es die Justizministerin gerne. Dass für flüchtende Menschen «restriktive» Massnahmen an den Aussengrenzen Gewalt, Gefängnis und Elend bedeutet, dass der Vorteil von Migrationspartnerschaften für Menschen im Ausschaffungsflugzeug nichtig ist, dass schweizer Vertreter*innen wie so oft nett reden können, aber dann doch bei allen Verschärfungen mitmachen, bleibt ungesagt.

https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/eu-innenminister-wollen-mehr-migranten-abschieben,TU4lzhh
https://www.srf.ch/news/international/eu-ministertreffen-eu-migrationspolitik-baume-schneider-plaediert-fuer-augenmass
https://www.swissinfo.ch/ger/alle-news-in-kuerze/eu-minister-diskutieren-ueber-effizientere-rueckfuehrung-von-migranten/48234480

Was nun?

Trotz EGMR-Entscheid gehen Dublin-Abschiebungen nach Kroatien weiter

Geflüchteten Personen, die über Kroatien in die Schweiz fliehen, droht die Ausschaffung. Obwohl Kroatien am 17. Januar 2023 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für das Töten und Quälen von geflüchteten Personen verurteilt wurde, wendet das Staatssekretariat für Migration (SEM) das Dublin-Reglement in voller Härte an. Diese Woche wurde wieder eine Person abgeschoben. Die Tendenz ist steigend. Nun wächst auch der Widerstand.

Bild: Auf zur Demo am 4. Februar in Bern.

Im Dezember mobilisierten sich rund 120 betroffene Personen – vorwiegend aus Burundi und dem Kongo – vor dem Bundeshaus und übergaben den Behörden eine Petition. 6’000 Menschen unterschrieben, dass es keine Dublinabschiebungen nach Kroatien geben solle. Die gleiche Gruppe ruft am 4. Februar zu einer Demo durch Bern auf. Die Besammlung ist um 14:15 Uhr auf dem Bundesplatz. Widerstand gegen ihre Abschiebung leistet auch die Familie Baytas. Sie hat eine Petition gestartet, die von über 1’000 Personen unterzeichnet wurde. Auch die Journalist*innenverbände Impressum und Reporter ohne Grenzen Schweiz bezogen Position. Sie kritisieren das SEM, welches die kurdische Journalistin Perihan Kaya nach Kroatien abschieben will. Kroatien könnte sie in die Türkei ausschaffen. Dort erwarten sie Gefängnis und grobe Menschenrechtsverletzungen.

Dass Kroatien für sie kein sicheres Land ist, wissen geflüchtete Personen, die über die Balkanroute nach Europa migrieren, längst. Ihre Erfahrungen werden seit Jahren vom Border Violence Monitoring Network (BVMN) sowie investigativen Recherchen von Medienschaffenden dokumentiert und belegt. Seit dem 17. Januar 2023 liegt endlich auch ein Urteil des EGMR vor. Das Gericht spricht Kroatien schuldig wegen Tötung und Körperverletzungen von geflüchteten Personen im Freiheitsentzug. All dies ändert am Ausschaffungswillen des SEM nichts. In den pauschalen Nichteintretens-Entscheidungen, die das SEM serienmässig raushaut, heisst es: „Der Abgleich der Fingerabdrücke mit der Datenbank Eurodac weist nach, dass Sie in Kroatien ein Asylgesuch einreichten. Die kroatischen Behörden hiessen das Ersuchen des SEM um Ihre Übernahme gut. Somit liegt die Zuständigkeit bei Kroatien.“ Punkt! Schluss! Dass die betroffenen Personen dem SEM gegenüber aufzeigen, dass sie in Kroatien (wiederholt) von Pushbacks, Vergewaltigungen, unrechtmässigem Freiheitsentzug, unmenschlicher Behandlung oder Folter durch die Polizei betroffen waren, wird nicht berücksichtigt. Die Personen sollen sich lockermachen und dem kroatischen Staat vertrauen. In den Entscheiden heisst es: „Hierzu ist festzuhalten, dass Kroatien ein Rechtsstaat mit funktionierendem Justizsystem ist. Sollten Sie sich durch kroatische Behörden ungerecht oder rechtswidrig behandelt fühlen, können Sie sich mit einer Beschwerde an die zuständige Stelle wenden.“ Das SEM leugnet die schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen nicht, doch behauptet, diese erfolgen ausschliesslich im Grenzgebiet zu Bosnien und Serbien. In der Hauptstadt Zagreb gäbe es keine Probleme mit Behörden oder Polizei. Dem SEM zufolge konnten nämlich „bis heute keine Hinweise auf eine generelle systematische Schwachstelle im kroatischen Asyl- und Aufnahmesystem festgestellt werden.“

Das SEM wäre frei, die sogenannte Souveränitätsklausel anzuwenden und diese Asylverfahren in der Schweiz durchzuführen. Abgesehen von den Menschenrechtsverletzungen würde auch der nicht oder kaum vorhandene Zugang für geflüchtete Personen zum kroatischen Gesundheitssystem dafür sprechen. Das SEM sieht auch dies nicht ein. Schwer traumatisierten und erkrankten Personen schreibt das SEM in den Entscheiden: „Dem SEM liegen keine Hinweise vor, wonach Kroatien seinen Verpflichtungen in medizinischer Hinsicht nicht nachkommen würde. (…) Es ergeben sich somit keine Gründe, die die Anwendung der Souveränitätsklausel anzeigen würden.“

Wenn Unrecht zu Recht wird, wird Widerstand zur Pflicht: z.B. am 4. Februar an der Demo in Bern; z.B. durch das öffentliche Sprechen über die Gewalterfahrungen in Kroatien (vgl. die französischen Berichte von Droit de Rester und die Übersetungen des Migrant Solidarity Networks; z.B. indem gegen die Nichteintretens-Entscheidungen Beschwerde eingereicht wird, obwohl die Gratisanwält*innen in den Bundesasylcamps diese nicht schreiben wollen, weil sie es als aussichtslos einstufen; z.B. indem solidarische Carestrukturen aufgebaut werden, wenn betroffene Personen aus der begründeten Furcht vor einer Abschiebung untertauchen müssen. Denn gemäss Dublin-Reglement wird die Schweiz für das Gesuch zuständig, wenn sich eine Personen 18 Monate in der Schweiz aufhält.

Die in diesem Artikel verwendeten Zitate stammen aus verschiedenen Nichteintretensentscheiden.
https://rabe.ch/2023/01/24/kurdische-journalistin-fuerchtet-rueckfuehrung/
https://frapp.ch/de/articles/stories/-34
https://www.change.org/p/schieben-sie-die-familie-baytas-nicht-ab
https://twitter.com/migrantsrights/status/1618881440397266946

Was schreiben andere?

41 Menschen starben, italienische Behörden wurden verurteilt, Griechenland ignoriert Menschen am Evros

Wöchentliche Updates aus der Seenotrettung und Berichte rund um das Thema Flucht nach Europa, recherchiert von Mitgliedern der Sea-Eye Landcrew. Hier abonnieren: https://t.me/searescue.

Bild: Im Jahr 2022 wurde das Alarm Phone im zentralen Mittelmeerraum zu 673 Booten in Seenot alarmiert. Dieser Anstieg der Alarmmeldungen spiegelt den allgemeinen Anstieg der Überfahrten und die wachsende Bekanntheit des Alarm Phone wieder.
  • „Im gesamten Mittelmeer sind in den ersten drei Wochen des neuen Jahres mind. 41 Menschen gestorben oder gelten als vermisst.
  • Die neue Central Med Analysis des Alarm Phones ist erschienen. Im Jahr 2022 wurde das Alarm Phone zu 673 Booten in Seenot im zentralen Mittelmeer alarmiert – das mit Abstand arbeitsreichste Jahr, das in dieser Region erlebt wurde.
  • Am 19. Januar waren 43 Menschen auf einem Boot nahe der libyschen Küste in Seenot geraten. Ein Handelsschiff hat das Boot gefunden und alle 43 Menschen an Bord genommen, um sie in Italien an Land zu bringen.
  • Anfang Dezember waren ~48 Menschen auf einer Insel im Fluss Evros zwischen Griechenland und der Türkei gestrandet. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Griechenland aufgefordert, für ihren Schutz zu sorgen, doch sie wurden gewaltsam in die Türkei zurückgedrängt. Die Gruppe ist auf der Insel weiterhin extremen Bedingungen ausgesetzt.
  • Die italienische Küstenwache und Marine wurden für den Tod von 268 Schutzsuchenden verurteilt. 2013 kam es vor Lampedusa zu einem Schiffsunglück. Die Angeklagten entgingen einer Verurteilung jedoch aufgrund von Verjährung. Entschädigungsleistungen durch Italien werden nun geprüft.
  • Lighthouse Reports hat illegale Rückführungen von Flüchtenden über Italien nach Griechenland untersucht: Flüchtende aus Afghanistan, Syrien und dem Irak riskieren ihr Leben, indem sie sich auf Fähren zu den italienischen Häfen verstecken, in der Hoffnung, Asyl zu beantragen. Stattdessen werden sie, wenn sie von den Behörden aufgegriffen werden, auf den Fähren eingesperrt und ohne jedes Verfahren nach Griechenland zurückgeschickt, was gegen internationales Recht verstößt. […]“

https://missingmigrants.iom.int/region/mediterranean?region_incident=All&route=All&year%5B%5D=11681&month=All&incident_date%5Bmin%5D=&incident_date%5Bmax%5D=
https://twitter.com/alarm_phone/status/1615984656997916672
https://alarmphone.org/en/2023/01/18/contesting-borders-in-a-racist-environment/?post_type_release_type=post
https://twitter.com/alarm_phone/status/1616089062678450177
https://twitter.com/alarm_phone/status/1617511599291629568
https://www.proasyl.de/pressemitteilung/wegweisendes-urteil-zur-schiffskatastrophe-von-2013-fuer-den-tod-von-268-schutzsuchenden-sind-italienische-kuestenwache-und-marine-verantwortlich/
https://twitter.com/LHreports/status/1615743769604722689?t=zhx0-8dmTV-CPPTxv1dOeg&s=19

Wo gabs Widerstand?

Hungerstreik in einem polnischen Internierungslager

I was hoping to meet human rights here„. In einem polnischen Gefangenenlager in Bialystok befindet sich eine aus Syrien geflüchtete Person seit zwei Wochen im Hungerstreik. Entgegen aller Behauptungen der Verantwortlichen verschlechtert sich sein Zustand zunehmend. Ein Brief, welcher von ihm verfasst wurde, benennt, wie die Situation tatsächlich ist.

„Hello my Name is….I started my hungerstrike on Saturday January 14, 2023. I refuse to eat because I have been imprisoned by the Polish Border Guard for over two month in violation of international convention and local law. I am a Syrian refugee fleeing the torture and terror of war. I was hoping to meet human rights here in Europe. In Syria I spent over nine month in prison and was tortured after posting on facebook. In clossed spaces. I feel vulnerable and suffer from panic attacks. I couldnt use the subay or sleep with the door closed. But the humiliation and torture in Poland continues. I feel like I ve suffered so much in my life that I dont want to die slowly in prison.“

„Hallo, mein Name ist….Ich habe meinen Hungerstreik am Samstag, den 14. Januar 2023 begonnen. Ich weigere mich zu essen, weil ich seit über zwei Monaten vom polnischen Grenzschutz unter Verletzung internationaler Konventionen und lokaler Gesetze inhaftiert bin. Ich bin ein syrischer Flüchtling, der vor der Folter und dem Terror des Krieges flieht. Ich hatte gehofft, hier in Europa auf Menschenrechte zu treffen. In Syrien verbrachte ich über neun Monate im Gefängnis und wurde gefoltert, nachdem ich auf Facebook gepostet hatte. In abgeschlossenen Räumen. Ich fühle mich verletzlich und leide unter Panikattacken. Ich konnte die Toilette nicht benutzen oder bei geschlossener Tür schlafen. Aber die Demütigung und Folter in Polen geht weiter. Ich habe das Gefühl, dass ich in meinem Leben schon so viel gelitten habe, dass ich nicht langsam im Gefängnis sterben möchte.“

Seit seiner Flucht aus Syrien hat S. einundzwanzig Mal versucht, in Europa Asyl zu beantragen. Einundzwanzigmal wurde er von polnischen Grenzbeamt*innen zurück über die Grenze gedrängt.

Im Oktober 2022 hat Polen ein Gesetz verabschiedet, welches Pushbacks legalisieren soll – doch dies widerspricht internationalem Recht. Das Zurückdrängen von Menschen auf der Flucht über eine Landesgrenze, ohne dass diese die Gelegenheit hatten, einen Asylantrag zu stellen, ist illegal und widerspricht sowohl der Flüchtlingskonvention der Vereinten Nationen, dem Protokoll 4 zur UN-Menschenrechtskonvention, sowie der Europäischen Menschenrechtskonvention.

Bei seinem letzten Versuch, die Grenze zu passieren, um in Europa von seinem Recht Gebrauch zu machen, Asyl zu beantragen, wurde er festgenommen und in das geschlossene Lager in Bialystok gebracht. Menschen, welche die polnisch-belarussische Grenze überqueren konnten, ohne zurück gedrängt zu werden und deren Anträge auf internationalen Schutz in Polen vermeintlich geprüft wurden oder im Begriff sind, geprüft zu werden, werden unweigerlich, willkürlich und oft für lange Zeit in sogenannten geschlossenen Zentren für Ausländer*innen festgehalten, in denen das Personal die Gefangenen nur mit Nummern anstatt mit Namen anspricht. Es werden übermässige Strafen, einschliesslich Isolationshaft, für einfache Bitten, wie zum Beispiel um ein Handtuch, verhängt. Es fehlt an Einrichtungen und an Zugang zu Ärzt*innen, Psycholog*innen oder einem Rechtsbeistand. Zudem senkten die polnischen Behörden im September 2021 den formalen Mindestplatzbedarf von drei auf zwei Quadratmeter pro Person ab.

Gegen die ihnen im Internierungslager auferzwungenen unmenschlichen Bedingungen wenden die zu Unrecht festgehaltenen Menschen verschiedene Formen des Widerstands an. S. ist kein Einzelfall. In den letzten Monaten gab es eine Vielzahl von Menschen, welche in den polnischen Lagern in den Hungerstreik getreten sind. Wie jede Streikaktion ist der politische Hungerstreik als eine der radikalsten Formen des Widerstands eine öffentliche Demonstration mit einem konkreten Ziel. Die Geflüchteten sind in den Lagern massiver Isolation ausgesetzt. Sogar mit der Anwendung solch drastischer Protestmittel wird ihren Forderungen meist nicht nachgegeben. Zudem gelangen ihre Stimmen und Forderungen nicht oder nur sehr beschränkt an die Öffentlichkeit. Indem die Stimmen der Menschen, welche die Funktionär*innen des europäischen Grenzregimes versuchen zum Schweigen zu bringen, verstärkt werden, wird die Systematik der Isolation durchbrochen. Wer sich fragt, was getan werden kann, um die Menschen in ihrer miserablen Lage zu unterstützen, kann bei dieser einfachen solidarischen Handlung anfangen. 

S. Zustand ist mittlerweile derart schlecht, dass er sich kaum noch bewegen kann. Nichtsdestotrotz erlauben ihm die Grenzwächter*innen nicht, sich zur Kontrolle in ein Krankenhaus zu begeben. Der polnische Ombudsmann (RPO), eine Art Anwalt*in für Bürgerrechte, dessen Amt in Polen als nationale Menschenrechtsinstitution akkreditiert ist, hat in dem Fall „interveniert“, jedoch behaupten die Grenzwächter*innen – welche in Polen die Kontrolle über die Lager haben – S. Zustand sei stabil und es gäbe keinerlei Grund zur Beunruhigung. 

Vor einigen Tagen ist der Kontakt zu S. plötzlich abgebrochen. Laut anderen Inhaftierten wurde er in einem Auto abtransportiert. Für kurze Zeit wurde vermutet, dass er endlich in ein Krankenhaus gebracht wurde. Doch die Hoffnung war von kurzer Dauer. S. berichtete am späten Abend, dass Grenzwächter*innen ihn an einen unbekannten Ort gebracht hätten, um ihm dort unter Gewalt Suppe einzuflössen. Dies ist rechtlich gesehen ein unverhältnismässiger Eingriff in das Selbstbestimmungsrecht. Doch auch diese Tatsache wird von den Grenzwächter*innen verneint. S. sei zu jedem Zeitpunkt im Camp gewesen, behaupten sie.

Ein Hungerstreik ist ein menschliches Drama. Er muss als – oftmals letzter – Protestakt einer Person verstanden werden, der alle Möglichkeiten genommen wurden, sich auf andere Weise Gehör zu verschaffen. Diese Tatsache steht der von ihm in seinem Brief erwähnten Hoffnung, in Europa endlich auf Menschenrechte zu treffen, diametral entgegen.

Get angry, get organised. Spread the word!

Brief eines in Bialystok/Polen inhaftierten Menschen im Hungerstreik.

https://t.me/s/no_borders_team
https://www.globaldetentionproject.org

Öffentlichkeit gegen das ungesehene Verschwinden von Migrant*innen in Knästen

Am Wochenende hat Mahtab Sabetara in Bern und Winterthur über die Kriminalisierung ihres Vaters gesprochen. Dieser wurde in Griechenland zu 18 Jahren Haft verurteilt, weil er ein Auto mit Migrant*innen über die Grenze fuhr. Ein aktueller Bericht zeigt, dass allein in Italien im vergangenen Jahr 350 Menschen als «Boat Driver» inhaftiert wurden.

Während das Verfahren gegen die Iuventa und andere NGOs noch eine gewisse mediale Aufmerksamkeit und Solidarität erfährt, wird die Kriminalisierung Geflüchteter bei gleicher Anklage von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Wenn Schiffe an italienischen Häfen ankommen, stehen Frontex-Beamt*innen bereits am Pier, um zu ermitteln, wer das Boot gesteuert und wer ein Navigationsgerät bedient hat. So werden regelmässig mindestens zwei Menschen pro Boot der „Beihilfe zur unerlaubten Einreise“ beschuldigt und in der Regel auch verurteilt. Ein aktueller Bericht des Projekts ‚From Sea To Prison‘ geht von 350 solcher Inhaftierungen allein in Italien im Jahr 2022 aus. Bei 85’000 Menschen, die laut Innenministerium auf dem Seeweg nach Italien gekommen sind, entspricht diese Zahl der Verhaftung einer Person pro 300 Ankünfte. Diese Praxis führt dazu, dass nach Schätzungen seit 2013 allein in Italien ca. 2’500 Menschen verhaftet und zu Haftstrafen zwischen zwei und 20 Jahren verurteilt wurden.

Eine komplette Entrechtung Geflüchteter findet in Griechenland statt. Grundlage dafür ist die griechische Gesetzgebung, nach der jede Person, die Fahrer*in eines Gefährts ist, mithilfe dessen Menschen ohne gültige Aufenthaltspapiere nach Griechenland einreisen, eine Schmuggler*in ist. Migrant*innen, die wegen illegaler Einreise verurteilt werden, sind mittlerweile die zweitgrösste Gruppe in den Gefängnissen. Die Verfahren dauern dabei im Schnitt nur 38 Minuten, die Haftstrafen betragen zwischen 50 bis 150 Jahren plus Geldstrafen von mehreren 100’000 Euro. Viele der betroffenen Menschen bleiben anonym. Die betroffenen Menschen aus der Anonymität zu holen und mit juristischer Unterstützung und Öffentlichkeitsarbeit Druck aufzubauen, hat in der Vergangenheit bereits zur Aufhebung von hohen Haftstrafen geführt. Nicht nur für ihren Vater, sondern auch für die zahlreichen anderen betroffenen Personen, wendet sich Mahtab Sabetara daher an die Öffentlichkeit.

Und auch europäische Unterstützer*innen lassen sich von den anhaltenden Schikanen der Behörden nicht einschüchtern. Das zivile Rettungsschiff Geo Barents hat vergangene Woche entgegen dem neuen Gesetzesdekret vom 2. Januar 2023 in mehreren Einsätzen über 230 Menschen aufgenommen. Es war nach der ersten Rettung bereits angewiesen worden, in den 1’200 km entfernten Hafen von La Spezia zu fahren. Zudem ist die »Seabird 2«, das Aufklärungsflugzeug von Sea-Watch, nach zehnmonatiger Zwangspause wieder im Einsatz. Das von Libyen verhängte Flugverbot stellte sich als völkerrechtswidrig heraus. Neben den tausenden kriminalisierten Migrant*innen werden aktuell etwa 240 Europäer*innen wegen sogenannter Solidaritätsverbrechen juristisch verfolgt, viele solidarische Organisationen werden behördlich an ihrer Arbeit behindert. Kriminalisierung soll einschüchtern und entmutigen. Sie soll Ressourcen binden. Sie soll Migration und Solidarität verhindern. Stehen wir dem weiter gemeinsam entgegen!

https://www.borderline-europe.de/unsere-arbeit/long-you-can-still-listen-criminalization-migrant-boat-drivers-2022
https://www.zeit.de/gesellschaft/2023-01/lesbos-humanitaere-hilfe-gericht-haft-pieter-wittenberg/komplettansicht
https://www.spiegel.de/ausland/aerzte-ohne-grenzen-mehr-als-230-menschen-aus-dem-mittelmeer-gerettet-a-5b7ec5d9-fa5a-4583-a807-d22ae87c0105
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170439.seenotrettung-sea-watch-fliegt-wieder.html
https://www.antifainfoblatt.de/artikel/italien-iuventa-crew-mitglieder-vor-gericht

Was steht an?

Demo: Stop Dubin-Deportation to Croatia

04.02.23 | 14:15 | Bern, Bundesplatz
Nein zu Dublin-Abschiebungen nach Kroatien!
Kroatien ist kein sicherer Ort für geflüchtete Menschen. Nein zu einer rassistischen, gewalttätigen Polizei, die kontrolliert, illegal abschiebt, terrorisiert, vergewaltigt und Verletzungen und Traumata verursacht.
https://migrant-solidarity-network.ch/2023/01/18/demo-stop-dubin-deportation-to-croatia/

Lesens- Sehens- Hörenswert

Von Menschlichkeit und Google Maps: Gefängnis, Pushbacks und Dublin
Wie man als Teenager auf die Idee kommt, seine Heimat zu verlassen. Wie man seiner Familie aus der Ferne helfen kann. Wieso ein Handy genau wie die Hilfe von mutigen Menschen überlebenswichtig ist. Und wie man Fluchthelfende*r wird – darum geht es in dieser vierteiligen Geschichte.
https://daslamm.ch/von-menschlichkeit-und-google-maps-gefaengnis-pushbacks-und-dublin-2-4/

Sozialhilfe: Menschen ohne Schweizer Staatsangehörigkeit werden strukturell benachteiligt
In den letzten Jahren sind Menschen ohne Schweizer Staatsbürger*innenschaft wiederholt Zielscheibe gesetzlicher Verschärfungen in der Sozialhilfe geworden. Aus Angst um ihre Aufenthaltsbewilligung verzichten deshalb viele Personen ohne Schweizer Pass auf den Sozialhilfebezug – obwohl sie darauf einen rechtmässigen Anspruch hätten.
https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/armut-sozialrechte/sozialhilfe-benachteiligung-menschen-schweizer-staatsangehrigkeit

«Jeder Bahnhof ist ein Welt­anschluss»

Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš hat einen Bestseller über das Zugreisen geschrieben. Im Speisewagen von Berlin nach Prag spricht er über die vergessene Geschichte Mitteleuropas und die hoffnungsvolle Zukunft der Eisenbahn.
https://www.woz.ch/2303/die-welt-im-zentrum-3-4/jeder-bahnhof-ist-ein-welt-anschluss/!ANVWHFS6GXB0