Medienspiegel 22. Januar 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++SCHWEIZ
Migration – Von Klimaflüchtlingen bis Sans-Papiers: Das bedeuten die Begriffe
Migrationsrecht ist komplex. Es ändert sich regelmässig, befindet sich in einem Zusammenspiel zwischen Völker- und Landesrecht und verästelt sich in zahlreiche Verordnungen. Ein Überblick einiger wichtiger Begriffe.
https://www.srf.ch/news/schweiz/migration-von-klimafluechtlingen-bis-sans-papiers-das-bedeuten-die-begriffe


+++ÖSTERREICH
Was hinter den Asyl-Ideen von Kickl, Sachslehner und Co steckt
Pushbacks, Asylzentren auf Überseeinseln, Grenzschutz durch Mauern – es schwirren derzeit viele Forderungen im Bereich Asyl und Migration durch die heimische Politik. Ein Überblick mit Fakten
https://www.derstandard.at/story/2000142780850/was-hinter-den-asyl-ideen-von-kickl-sachslehner-und-co?ref=rss


+++POLEN
Grenze zu Belarus bleibt tödlich
Ein junger Arzt stirbt im Grenzsumpf, doch polnische Behörden diskreditieren Helfende
An der polnisch-belarussischen Grenze sind erneut Menschen gestorben. Der hohe Grenzzaun und die polnischen Sicherheitskräfte verschärfen die Situation.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1170360.illegale-pushbacks-grenze-zu-belarus-bleibt-toedlich.html


+++EUROPA
EU-Kommission: Zahl der EU-Asylanträge 2022 fast doppelt so hoch wie im Vorjahr
In der Europäischen Union werden immer mehr Anträge auf Asyl gestellt, die meisten von ihnen in Deutschland. Jeder dritte Antragsteller kommt laut EU aus Syrien.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2023-01/eu-kommission-asylantraege-vorjahr-verdopplung


+++GASSE
«Geschichte, jetzt!»: Geben oder nichts geben? Zur Geschichte des Bettelns
Britta-Marie Schenk forscht als Professorin an der Universität Luzern zur Neuesten Geschichte. Historiker Daniel Allemann ist Spezialist für das Mittelalter und die Renaissance in Luzern. Gemeinsam verbinden sie historische Ereignisse mit der aktuellen Zeit.
https://www.blick.ch/meinung/kolumnen/geschichte-jetzt-geben-oder-nichts-geben-zur-geschichte-des-bettelns-id18245632.html


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
tagesanzeiger.ch 22.01.2023

Unbewilligte Demonstrationen: Mehrheit der Zürcherinnen will Kosten von Polizeieinsätzen den Demonstranten verrechnen

Wer soll es bezahlen, wenn die Polizei zu unbewilligten Demonstrationen ausrückt? Vier von  fünf Zürchern sagen in einer Tamedia-Umfrage: die Demonstrantinnen.

Corsin Zander

Als 200 Aktivistinnen und Aktivisten der Umweltschutzbewegung Extinction Rebellion im Oktober 2021 die Uraniastrasse in der Zürcher Innenstadt blockierten, verursachten sie bei der Stadtpolizei Zürich Kosten von 290’417 Franken. Der Einsatz von Schutz und Rettung Zürich kostete 4735 Franken, wie das Sicherheitsdepartement im Nachgang auf eine schriftliche Anfrage der SVP-Fraktion im Zürcher Gemeinderat vorrechnete.

Das Geld bezahlten die Zürcher Steuerzahlerinnen und Steuerzahler. Die Stadtpolizei hätte zwar nach dem Polizeigesetz grundsätzlich die Möglichkeit, die Kosten weiterzuverrechnen, sie tut das aber in solchen Fällen nicht. «Wir sorgen bei solchen Einsätzen für die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Das gehört zur Grundversorgung und somit zum Kernauftrag der Polizei», sagt Mathias Ninck, Sprecher der Sicherheitsdepartements. Ausserdem könne man Einsatzkosten bei Demonstrationen kaum präzis einzelnen Personen zuordnen. Mache man einzelne Personen, die eine Sachbeschädigung begehen, ausfindig, würden die heute schon dafür bestraft.

4 von 5 Wählerinnen wollen Kosten überwälzen

Eine überwältigende Mehrheit von Zürcherinnen und Zürchern, die sich an einer Tamedia-Umfrage beteiligt haben, sieht dies anders. Auf die Frage, ob Personen, die unbewilligte Demonstrationen veranstalten, die Rechnung für Polizeieinsätze und angerichtete Schäden übernehmen müssten, antworteten 80 Prozent mit Ja oder zumindest eher Ja. Nur 18 Prozent sprachen sich gegen eine Weiterverrechnung der Kosten aus.

Gemäss der Umfrage ist man weit bis ins linke Lager der Meinung, dass die Organisatorinnen und Organisatoren unbewilligter Demonstrationen die Kosten tragen sollen. Bei den Wählerinnen und Wählern der Grünen sind 52 Prozent zumindest eher dafür, bei der SP sind es gar 58 Prozent. Bei den anderen Parteien weiter rechts sind es über 80 oder weit über 90 Prozent der Wählerinnen und Wähler.

Die Zahlen überraschen, zumal die Forderung im Parlament bisher chancenlos war. So reichte der Kantonsrat Marc Bourgeois (FDP) zusammen mit Roger Liebi (SVP) und Josef Wiederkehr (damals noch CVP) 2016 eine parlamentarische Initiative (PI) mit dem Titel «Chaoten statt Steuerzahler belasten». Damit wollten sie insbesondere die Stadtpolizei dazu zwingen, die Kosten entsprechend zu verrechnen.

Seit 2009 haben die Polizeikorps im Kanton Zürich die Möglichkeit, ausserordentliche Polizeieinsätze ganz oder teilweise zu verrechnen. Doch die Kantonspolizei sagte damals, ihr reiche die Möglichkeit zur Verrechnung aus. Müsse sie die Kosten verrechnen – wie die PI das wollte –, entstünde ein grosser Mehraufwand, weil die Organisatoren unbewilligter Demonstrationen kaum oder nur mit einem sehr grossen Aufwand ausfindig gemacht werden könnten.

Die PI scheiterte 2020 insbesondere auch, weil sich die GLP dagegen stellte, mit 79 zu 88 Stimmen. Noch unrealistischer wäre die Zustimmung für dieses Anliegen im Stadtparlament.

Dabei zeigt die Umfrage von Tamedia: Auch in den grossen und kleineren Städten des Kantons fände das Anliegen grosse Zustimmung: 74 Prozent. In der Agglomeration (82 Prozent) und in ländlichen Gebieten (86 Prozent) ist die Zustimmung gar noch grösser.

In diesem Punkt zeigen die Zahlen ein etwas anderes Bild als eine Umfrage, welche die NZZ Ende vergangenes Jahr durchgeführt hatte. Dort war de Zustimmung in der Grossagglomeration inklusive der Städte mit 62 Prozent grösser als in der kleinen und mittleren Agglomeration (58 Prozent) und in ländlichen Gebieten (57).

Initiative der Jungen SVP im Aufwind

Dies freut Sandro Strässle, Präsident der Jungen SVP im Kanton Zürich. Er hatte im vergangenen November die sogenannte «Anti-Chaoten-Initiative» mit über 7000 Unterschriften eingereicht. Das Resultat überrasche ihn wenig, sagt Strässle auf Anfrage: «Die Leute wollen nicht von illegalen Demonstrationen in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt werden und das dann auch noch bezahlen müssen.»

Doch ihm ist auch klar: «Gewonnen haben wir noch nichts.» In den vergangenen Monaten habe es viele Demonstrationen gegeben, deshalb sei das Thema präsenter bei den Menschen. Und bei Initiativen zeige sich immer wieder: «Zu Beginn ist die Zustimmung hoch, und danach nimmt sie auf den Abstimmungstermin hin immer mehr ab.»

Nichts von der Initiative hält der grüne Gemeinderat Luca Maggi: «Die Kosten für Polizeieinsätze werden
korrekterweise bereits über die Steuern beglichen.» Öffentliche Sicherheit und Ordnung gehören zum
Grundauftrag der Polizei, hier dürfe es keine zusätzliche Verrechnung geben.

Ausserdem, bemerkt Maggi, riskiere heute schon eine Busse, wer an einer unbewilligten Demonstration teilnehme, und wer Gewalt anwende, werde dafür auch schon bestraft. «Wenn die Polizei auf der Hardbrücke eine Geschwindigkeitskontrolle macht, werden die Kosten des Einsatzes auch nicht auf jene überwälzt, die zu schnell fahren», sagt Maggi. Zudem könne man bei einer unbewilligten Demonstration nie alle Teilnehmenden und die Organisatoren ausfindig machen.

Dann müssten eben jene bezahlen, die man erwischt, sagt Strässle. Bei der Demonstration von Extinction Rebellion im Oktober 2021 hatte die Polizei 134 Personen kontrolliert, zudem war ihr eine der Organisatorinnen zum Voraus bekannt, weil diese ein Gesuch für die Strassensperre eingereicht hatte, das ihr die Stadt dann nicht bewilligte. Hätten diese 135 Personen also die Kosten von fast 300’000 Franken bezahlen müssen?

Luzern und Bern könnten Kosten bereits überwälzen

Wie genau die Initiative umgesetzt werden soll, will Strässle nicht vorgeben: «Da die Initiative als allgemeine Anregung eingereicht wurde, liegt es in der Hand des Kantonsrates, sie umzusetzen.» Die Kantone Luzern und Bern haben in ihren Polizeigesetzen bereits seit einigen Jahren Bestimmungen zur Verrechnung von Kosten, die bei unbewilligten Veranstaltungen entstehen. Den Veranstaltern und an Gewaltausübung beteiligten Personen werden maximal 10’000 – in besonders schweren Fällen höchstens 30’000 Franken verrechnet.

So hat die Stadt Bern, wo das Gesetz seit 2020 in Kraft ist, nach einer unbewilligten Corona-Demonstration im Herbst 2021 die Einsatzkosten der Polizei auf sechs rechtskräftig verurteilte Demonstranten teilweise überwälzt. Diese mussten laut der Direktion für Sicherheit, Umwelt und Energie jeweils zwischen 200 und 1000 Franken bezahlen, je nachdem, wie gross ihre Verantwortung oder ihr Beitrag an Gewalttaten war. Alle Corona-Kundgebungen im Jahr 2021 in Bern hatten Polizeikosten von knapp 7 Millionen Franken verursacht.

In Luzern ist das Gesetz seit 2017 in Kraft, bisher musste es aber noch nie angewendet werden, weil es zu keinen gewalttätigen Demonstrationen gekommen sei, heisst es beim Justiz- und Sicherheitsdepartement auf Anfrage.



Zur Umfrage: 8800 Befragte

Die Wahlumfrage wurde vom Meinungsforschungsinstitut Sotomo im Auftrag von Tamedia zwischen dem 27. Dezember 2022 und dem 3. Januar 2023 online durchgeführt. Nach Bereinigung und der Kontrolle der Daten konnten die Angaben von 8836 im Kanton Zürich stimmberechtigten Personen übernommen werden. Da die Zusammensetzung der Stichprobe nicht repräsentativ ist, wurde den Verzerrungen mittels statistischer Gewichtungsverfahren entgegengewirkt. Damit wurde eine hohe Repräsentativität der Stimmbevölkerung erzielt. Der Stichprobenfehler beträgt noch +/–1,5 Prozentpunkte. (sch)
(https://www.tagesanzeiger.ch/mehrheit-der-zuercherinnen-will-kosten-von-polizeieinsaetzen-den-demonstranten-verrechnen-814005354118)


+++REPRESSION DE
Fotos Lützerath
https://www.flickr.com/photos/197434278@N07/albums
https://twitter.com/lang_ailyn


+++SICHERHEITSFIRMEN
In Dörfern und in Städten, im Knast – und sogar im Spital: zur Bewachung von Gefährdern: Die Schweiz ersetzt Polizisten durch Securitys
Verträge mit diversen Sicherheitsfirmen zeigen: Eskaliert die Situation, treffen im Justizvollzug auch Privatpersonen heikle Entscheidungen.
https://www.blick.ch/schweiz/in-doerfern-und-in-staedten-im-knast-und-sogar-im-spital-zur-bewachung-von-gefaehrdern-die-schweiz-ersetzt-polizisten-durch-securitys-id18249130.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/chef-schaffhauser-verkehrsbetriebe-wir-sind-mitten-im-umbruch?id=12322813
-> https://www.tagesanzeiger.ch/gefangene-werden-von-privaten-security-firmen-betreut-479521554009


16’000 Mitarbeitende, aber kein Gesicht: Securitas – ein diskreter Familienkonzern
Die Sicherheitsgruppe aus Bern hat seit der Jahrtausendwende ein unglaubliches Wachstum hingelegt. Die Verantwortlichen, die den Konzern steuern, sind jedoch kaum bekannt.
https://www.blick.ch/schweiz/16-000-mitarbeitende-aber-kein-gesicht-securitas-ein-diskreter-familienkonzern-id18249170.html


+++KNAST
Verwahrte sollen bessere Bedingungen erhalten
Straftäter mit einer besonders hohen Rückfallgefahr werden verwahrt. Sie müssen im Gefängnis bleiben, auch wenn sie ihre Haftstrafe abgesessen haben. Dabei werden sie hier in der Schweiz meistens genau gleich untergebracht wie normale Gefangene – obwohl sie eigentlich mehr Rechte hätten. Das wird zunehmend hinterfragt.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/verwahrte-sollen-bessere-bedingungen-erhalten?partId=12322816


Erste Frau in der JVA-Leitung – Thorberg-Direktorin: «Keine Frau darf allein mit Insassen sein»
Seit rund 100 Tagen ist Regine Schneeberger die neue und erste Direktorin der Justizvollzugsanstalt Thorberg. Den jahrelangen Problemen will sie mit einem Vollzug nach Mass und mehr Mitarbeiterinnen im geschlossenen Männervollzug begegnen. Auch die Bedingungen für die Verwahrten will sie verbessern.
https://www.srf.ch/news/schweiz/erste-frau-in-der-jva-leitung-thorberg-direktorin-keine-frau-darf-allein-mit-insassen-sein


+++BIG BROTHER
Stadt soll Verbot gesetzlich festlegen: (Junge) Grüne fürchtet sich vor Massenüberwachung
Die Jungen Grünen und Grünen der Stadt Luzern wollen ein Verbot biometrischer Erkennungssysteme im öffentlich zugänglichen Raum. Der Stadtrat soll ein entsprechendes Verbot auf Gesetzesebene schaffen.
https://www.zentralplus.ch/news/junge-gruene-fuerchtet-sich-vor-massenueberwachung-2513167/


+++POLIZEI CH
Sonntagszeitung 22.01.2023

Oberster Schweizer Polizist im Interview: «Gewalt gegen Beamte gibt es auch hierzulande – dazu gehören Tritte, Anspucken und Drohungen»

Mark Burkhard, Chef der Schweizer Polizeikommandanten, spricht über die Berliner Silvester-Krawalle, die zunehmende Gewaltbereitschaft in der Gesellschaft, Racial Profiling und Polizisten ganz privat.

Michèle Binswanger

An Silvester wurden in Berlin Polizei- und Rettungskräfte mit Feuerwerk und Böllern angegriffen. Herr Burkhard, wäre das in der Schweiz in diesem Ausmass denkbar?

Noch scheint mir das unvorstellbar. Zwar nimmt die Gewalt gegen Polizisten auch hierzulande zu: 2021 gab es über 3500 Delikte gegen Beamte, dazu gehören Tritte, Schläge, Anspucken und Drohungen. Aber es herrschen noch keine Zustände wie in Deutschland.

Warum nicht?

Man kann die beiden Länder nicht direkt vergleichen – wobei, auch in Deutschland sind die Städte, vor allem Berlin, stärker betroffen. Trotzdem macht mir das Sorgen. Die Frage ist, warum es sich so entwickelt. Eine Rolle spielt sicher die sogenannte Partykultur, wo meistens Alkohol und Drogen im Spiel sind.

Autoritäten werden heute in gewissen Milieus generell abgelehnt. Hat das auch mit Corona zu tun?

Die Entwicklung hat schon vorher begonnen. Dass zum Beispiel Rettungssanitäter angegriffen werden, die ja helfen wollen, ist besonders absurd. Die Gründe kann ich mir nicht ganz erklären. Teilweise geht das sicher auf den Konsum von Alkohol und Drogen zurück, das sehen wir auch beim Fussball.

Sind die Leute heute generell aggressiver?

Die Gesellschaft wird anonymer, individualistischer. Jeder hat das Gefühl, er sei der Grösste und Wichtigste, das Gemeinwohl verliert an Bedeutung. Zwar betreffen die beschriebenen Zustände vornehmlich die grösseren Städte, aber auch im Strassenverkehr werden die Leute aggressiver. Das ist mein subjektiver Eindruck, man müsste das wissenschaftlich untersuchen.

Wie bereiten Sie die Polizisten auf brenzlige Situationen vor?

Wir ermuntern unsere Beamten auch, Anzeige zu erstatten, denn wir wollen die Botschaft vermitteln, dass wir das nicht tolerieren. Es geht einfach nicht, dass Staatsangestellte angegriffen werden, in welcher Funktion auch immer. Andererseits erwarten wir auch von lokalen politischen Behörden, sich gegen rechtsfreie Räume zu wehren, sei das nun im Fussball, im Umfeld von Jugendzentren oder Ähnlichem. Wir als Polizei können dieses Problem nicht lösen, das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

Sie haben sich in der Vergangenheit auch mehr Support aus der Politik gewünscht: Zieht man sich da aus der Verantwortung?

Generell kann man das so nicht sagen. Aber gerade in städtischen Gebieten – wir haben dort jeweils rund 300 Demos pro Jahr – braucht es noch mehr Unterstützung. Als Polizei sind wir Vertreter des Staates und der politisch gewollten Rechtsordnung. Wenn man dann ständig angegriffen wird, aus welchem politischen Lager auch immer, ist das bedenklich. Die meisten Abgänge aus den Polizeikorps sehen wir heute in den grossen Städten. Das ist kein Zufall.

Die grossen Städte werden links regiert – und die Linke steht der Polizei traditionell kritisch gegenüber. Stiehlt man sich da aus der Verantwortung?

Ich würde die Problematik nicht auf ein politisches Lager beschränken. Je nach Ereignis kann Kritik auch von rechts kommen. Die Städte sind einfach ein Brennpunkt, weil dort die Demonstrationen und die Partys stattfinden. Das heisst, es gibt mehr Polizeieinsätze, mehr Konflikte, und die politischen Behörden sind auch stärker gefordert.

Hat man in der Politik begriffen, dass das Ausmass an Gewalt gegen die Polizei langsam kritisch wird?

Das müssen Sie die Politiker fragen. Im Fussball wird das ja schon länger diskutiert. Wenn man Gewaltausbrüche unter dem Deckmantel der Fankultur akzeptiert, sendet das ein Signal. Uns geht es nicht um friedliche Fankultur mit Choreografien und Gesängen, sondern um die Gewaltkultur. Und wir sind der Meinung, dass wir ein Staatsorgan sind und politische Unterstützung verdienen, also offene Worte gegen Gewalt. Da muss man sich exponieren, und zwar in allen betroffenen Bereichen.

Demonstrationen, Hooligans, Wutbürger, Partykultur, Islamismus: Wo brennt es im Moment am meisten?

Die Lage verändert sich etwa alle zwei Jahre, und zwar überraschend schnell. In meinen zehn Jahren als Polizeikommandant hatten wir zuerst grosse Einbruchswellen, dann kamen die Terroranschläge im benachbarten Ausland, dann Cyberdelikte, dann Corona und jetzt der Ukraine-Krieg mit der Strommangellage. Entsprechend ändert sich auch der Fokus. Um den verschiedenen Bedrohungslagen zu begegnen, wäre ein Grundkonsens wichtig, dass die Gesellschaft nicht immer aggressiver werden soll oder dass man im schlimmsten Fall rechtsfreie Räume duldet.

Mit rechtsfreien Räumen meinen Sie zum Beispiel die Reitschule in Bern, die eine starke Rückendeckung aus der Politik geniesst und wo es immer wieder zu Konflikten mit der Polizei kommt?

Ich will keinen bestimmten Ort nennen, das muss jede lokale Behörde selber wissen. In allen grösseren Städten gibt es solche Vorfälle.

Es gibt also mehr zu tun für die Polizei – hat sie denn auch mehr Mittel dafür?

Die meisten Korps haben Personalengpässe, aber die Bestände hinken tendenziell immer den Bedürfnissen hinterher. Trotzdem sind die Korps in den letzten zehn Jahren gewachsen, es gibt Unterstützung aus der Politik, je nach Kanton unterschiedlich.

Wie schwierig ist es, Personal zu finden?

Zunehmend schwierig. Wir brauchen mehr Leute, aber viele junge Menschen sind für den Polizeiberuf nicht geeignet.

Warum nicht?

Es ist ein spezieller Beruf. Nicht geeignet sind Leute mit psychischen Problemen oder wenn sie nicht gut genug Deutsch sprechen – wir müssen ja auch viel schreiben. Sportliche Defizite sind ebenfalls ein Ausschluss-Grund. Kommt dazu, dass die Babyboomer langsam in Pension gehen und geburtenmässig schwache Jahrgänge nachkommen. Deshalb sind Lösungen gefragt.

Es gibt also genug Interessenten, aber sie sind schlecht geeignet?

Das stellen wir häufig fest, allerdings geht auch die Zahl der Interessenten zurück. Generell sind von den Interessenten nur etwa zehn Prozent für den Beruf geeignet.

Wie sieht es mit dem Frauenanteil aus?

Der wächst, liegt aber immer noch nur bei ca 20 Prozent. Da gibt es also ein grosses Potenzial. Und da sind nun die Korps gefragt: Man muss eine gute Kultur haben, sodass die Leute gern dort arbeiten, man muss Werbung machen und man muss Leute anziehen und auch halten, die geeignet sind. Und dann muss man familienfreundliche Strukturen schaffen, also flexible Pensen, flexible Arbeitszeiten, den Frauen den Wiedereinstieg nach der Babypause ermöglichen etc.

Polizisten sind oft die Sündenböcke. Können Sie den Beruf guten Gewissens empfehlen?

Klar, es ist der beste Beruf! Kein Tag ist wie der andere, man weiss am Morgen nie, was passieren wird, es ist spannend, vielseitig, man kann in vielen Bereichen arbeiten, ohne den Job wechseln zu müssen. Und gerade weil sich viele Institutionen aus der Gesellschaft zurückziehen, wird die Rolle als «Freund und Helfer» zunehmend wichtig. Die Polizei ist nicht nur strafrechtlich unterwegs, sie muss auch Streitfälle schlichten, da kann man Gutes bewirken und der Gesellschaft dienen. Menschen, denen das wichtig ist, werden hier fündig.

Gleichzeitig sehen Polizisten in die Abgründe der Gesellschaft – da muss man auch den Magen dafür haben.

Durchaus. Man erfährt zwar sehr viel Positives als Polizist, aber natürlich gibt es auch schwierige Situationen. Wir haben bei uns im Korps gerade eine Umfrage zum betrieblichen Gesundheitsmanagement gemacht und gefragt, was die Leute am meisten belastet. Die erste Antwort war: das Überbringen von Todesnachrichten. Das hat mich überrascht. Aber gerade wenn ein Kind stirbt, ist das natürlich eine enorme Belastung für alle Beteiligten. Solchen Situationen muss man gewachsen sein, deshalb buchstabieren wir auch bei unseren Anstellungs­bedingungen nicht zurück.

Wie sieht es denn bei der Generation Z aus, deren Vertreter als sehr sensibel gelten?

Wir beschäftigen uns intensiv mit diesem Thema, haben dazu auch eine Firma beauftragt, wie man die verschiedenen Generationen führt. Die jüngeren Generationen haben durchaus Ansprüche punkto Arbeitsbedingungen, Sinnhaftigkeit einer Aufgabe, Kollegialität, sie sind auch weniger an den Arbeitgeber gebunden. Aber sie sind dennoch gewissenhaft, setzen sich nicht weniger ein, im Gegenteil. In den jungen Klassen haben wir tolle Leute, in den letzten Jahren hatten wir kaum je Schwierigkeiten. Und wir waren ja teilweise auch seltsam unterwegs, als wir jung waren.

Die Bürokratie nimmt auch bei der Polizei zu. Wie schlimm ist das?

Unsere Strafprozessordnung ist sehr formell, unsere Leute sind deshalb auch im Büro stark belastet und müssen unendlich Schreibarbeiten erledigen. Ich sehe wenig Absicht, dass es in eine andere Richtung geht. Ein Anliegen wäre auch, die Strafprozessordnung weniger täterfreundlich zu machen, jemand sollte sich für die Opferseite einsetzen. Aber wir sind auf der ganzen Linie gescheitert mit solchen Vorhaben. Das geht so weit, dass man manchmal Täterschutz betreibt.

Können Sie ein Beispiel nennen?

Wir hatten einen Fall mit einer Massenschlägerei mit etwa 40 Beteiligten. Bei der Einvernahme sitzen dann 40 Beteiligte im Raum mit ihren Anwälten. Man kann sich vorstellen, was der Einvernommene in einer solchen Situation noch sagt, nämlich gar nichts mehr. Das ist für uns sehr schwierig. Da braucht es eine Entwicklung hin zu weniger Aufwand und mehr Fokus darauf, Fälle zu lösen. Aber trotz unserer Bemühungen sehe ich keine Entwicklung hin zu weniger Administrativbelastung. Das heisst, die Leute sitzen mehr im Büro und sind weniger auf der Strasse unterwegs.

Opferschutz müsste ja eigentlich ein Anliegen der Bevölkerung sein. Warum kommt man da nicht weiter?

Tatsache ist, dass die Anwälte in der Politik sehr gut vertreten sind, die Polizei- und Justizseite hingegen praktisch kaum. Wir als Polizei können unsere Anliegen kommunizieren, aber wir betreiben kein eigenes Lobbying, das wäre nicht angemessen.

Mir hat mal jemand gesagt, es gebe drei Sorten von Polizisten: Ein Drittel sind Rambos, ein Drittel Schlitzohren und ein Drittel normal – trifft das zu?

Das kann ich überhaupt nicht bestätigen, aber es gibt natürlich verschiedene Leute, auch bei der Polizei.

Von jungen Leuten hört man immer wieder, dass sie unmotiviert kontrolliert werden, vor allem Dunkelhäutige. Wie stellen Sie sich dazu?

Grundsätzlich ist die Polizei ein Abbild der Gesellschaft. Aber die Polizisten sind nun mal jeden Tag unterwegs und entwickeln so ein Gespür für Menschen. Ich war selber schon bei Verkehrskontrollen an Grenzübergängen dabei und konnte dort beobachten, welche Leute kontrolliert werden. Da musste ich feststellen, dass bei denen, die angehalten werden, sehr oft auch etwas ist. Es ist nicht im Interesse der Polizei, Leute zu kontrollieren, bei denen alles in Ordnung ist. Und aus meiner Erfahrung sind da weder die Hautfarbe noch die Nationalität ausschlaggebend.

Auch der Vorwurf des Racial Profiling wird oft geäussert. Wenn man aber «gerecht» kontrolliert, werden Unschuldige behelligt – wie geht man mit diesen Vorwürfen um?

Ein schwieriges Thema. Wir wollen kein Racial Profiling. Auf der anderen Seite kann die Lösung nicht sein, dass man neun Weisse auf einen Dunkelhäutigen kontrollieren muss, sondern eben die richtigen Leute. Es hilft, unsere Leute hinsichtlich anderer Kulturen und deren Sitten und Gebräuche zu schulen. Andererseits muss man sich auch auf die Erfahrung der Polizisten verlassen. Und man muss hinsehen, auch die Medien und die Politik, denn wir wollen, dass das korrekt abläuft.

Die Polizei hat sehr viel Macht, und die kann missbraucht werden. Wie verhindern Sie das?

Ich habe den Eindruck, dass das nicht sehr oft vorkommt. Und wenn, wird das meistens sehr schnell öffentlich und kann dramatische Konsequenzen haben. Zuerst gibt es ein Führungsgespräch, dann eine Verwarnung und dann die Kündigung. Wenn wir heute einen Polizeieinsatz haben, sind zehn Kameras auf die Polizisten gerichtet, das ist für sie natürlich schwierig, da vernünftig zu handeln. Ich habe den Eindruck, dass eher sehr vorsichtig agiert wird.

Kameras und verbale Provokationen sind heute allgegenwärtig, auch sonst können Einsätze sehr belastend sein. Wie gehen Polizisten damit um?

Es gibt viele Situationen, die belastend sein können. Von mir aus gesehen müssen einerseits die Polizisten einen minimalen psychischen Schutzpanzer haben, um das nicht an sich heranzulassen. Bei konkreten Ereignissen führen wir auch Debriefings durch, bei schlimmeren Situationen ziehen wir Psychologen bei. Manchmal verlassen die Beamten auch den Job, so wie das in den grösseren Städten momentan der Fall ist. Deshalb ist die politische Unterstützung sehr wichtig.

Letzten Herbst wurde eine Solothurner Polizistin auf einem Linksportal mit Name, Bild und Adresse an den Pranger gestellt. Denn sie spielt privat in einer Band und tritt in linken Lokalen auf: Passiert das oft?

Dass man Polizisten persönlich angeht, Wohnadressen bekannt gibt etc., kommt immer wieder vor. Heute treten Polizisten mit Namen auf, man gibt Visitenkarten und Telefonnummern ab, denn wir wollen ja den Kontakt zur Bevölkerung. Aber wenn das durch solche Taten zunehmend missbraucht wird, führt das zu einer anonymen Polizei; wir haben da einen zunehmenden Druck aus den Korps. Wollen wir das?

Es sind meistens die üblichen Verdächtigen für solche Taten verantwortlich: Wie schaffen es Polizisten, da keine Vorurteile gegenüber diesen Menschen zu entwickeln?

Wir sind nicht voreingenommen gegen Linke oder Rechte, die übrigens auch immer aktiver werden. Letztlich schauen wir, ob Straftaten begangen werden, das ist unsere Aufgabe. Wir schauen einfach, was passiert, und reagieren entsprechend.

Das hätte ich an Ihrer Stelle auch gesagt, aber nochmals: Polizisten sind ja auch nur Menschen. Bei der Reitschule etwa ist bekannt, dass es persönliche Fehden zwischen Polizisten und Reitschülern gibt. Wie verhindert man das?

Die heutige Grundausbildung nimmt den korrekten Umgang mit der Bevölkerung sehr wichtig. Polizistinnen und Polizisten müssen sich reflektieren und sind sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst. Zudem führt auch die Dienstplanung dazu, dass nicht immer die gleichen Polizistinnen und Polizisten bei solchen Brennpunkten im Einsatz stehen.

Heute inszenieren sich Polizisten auch in den sozialen Medien, sowohl offiziell wie auch privat. Begrüssen Sie das?

Es ist einfach die Realität. Aber natürlich, wenn man einerseits die Bestrebungen zur Anonymisierung der Polizei sieht, dann kann man sich schon fragen, wie geschickt das ist, wenn die Beamten ihr ganzes Privatleben auf Social Media kundtun. Ich sage das meinen Leuten auch. Andererseits haben sie ja auch ein Privatleben und einen Freundeskreis, mit dem sie kommunizieren. Letztlich muss das jeder selber beurteilen.



Der höchste Polizist der Schweiz

Mark Burkhard (59) studierte Technische Informatik an der Fachhochschule Biel und Volkswirtschaft an der Universität Freiburg. Nach mehreren Jahren beim Schweizerischen Nachrichtendienst wurde er im Jahr 2000 Vizedirektor des Bundesamtes für Informatik und Telekommunikation, danach Stabschef der Kantonspolizei Bern, bis er als Generalsekretär des Gesundheitsdepartements des Kantons Aargau Erfahrungen an der Schnittstelle zur Politik sammelte.

Seit 2013 führt er die Polizei des Kantons Basel-Landschaft. In dieser Funktion ist er Mitglied des Vorstands der Konferenz der Kantonalen Polizeikommandantinnen und -kommandanten der Schweiz (KKPKS) und leitete in diesem Gremium auch die Vorhaben zur Harmonisierung der Schweizerischen Polizeiinformatik. Anfang November 2020 wurde er zum Präsidenten der KKPKS gewählt. (mcb)
(https://www.derbund.ch/die-politik-darf-keine-rechtsfreien-raeume-dulden-384259712413)


+++POLIZEI DE
»Wir zeigen, dass das nicht nur Einzelfälle sind«
In Bochum wird eine Ausstellung mit Recherchen zu Todesfällen bei Polizeieinsätzen gezeigt. Ein Gespräch mit Tarek Bertrand
https://www.jungewelt.de/artikel/443271.polizeigewalt-wir-zeigen-dass-das-nicht-nur-einzelf%C3%A4lle-sind.html


+++RASSISMUS
Nach Fasnachts-Eklat in Walzenhausen AR: Strafverfahren gegen «schwarzen» Appenzeller Jodler eingestellt
Appenzeller Richter haben ein Strafverfahren gegen ein Jodlerchörli eingestellt. Bei einer Fasnachts-Stubete hatte sich ein Jodler das Gesicht schwarz angemalt und als Afrikaner ausgegeben. Das «Blackfacing» war offenbar nicht rassistisch und geht straffrei aus.
https://www.blick.ch/schweiz/ostschweiz/appenzell-ausserrhoden/aufatmen-in-walzenhausen-ar-strafverfahren-gegen-schwarzen-appenzeller-jodler-eingestellt-id18249472.html
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/appenzellerland/justiz-nach-blackfacing-vorfall-in-walzenhausen-staatsanwaltschaft-stellt-verfahren-ein-ld.2404006


Rassismuskritische Schulkultur
Die meisten Menschen sind keine Rassist*innen. Doch wir alle sind rassistisch sozialisiert und Sozialisation findet vor allem durch Institutionen statt. Die Institution, mit der wir alle wohl am meisten zu tun haben, ist die Schule. Um gegen Rassismus vorzugehen, ist es deshalb wichtig, eine rassismuskritische Schulkultur zu etablieren. Als Grundlage dafür haben die drei Autor*innen Rahel El-Maawi, Mani Owzar und Tilo Bur ein Buch herausgegeben: «No to Racism. Grundlagen für eine rassismuskritische Schulkultur» (hep, 2022).
https://rabe.ch/2023/01/22/rassismuskritische-schulkultur/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Antifeminismus – eigenständige Ideologie und Gegenbewegung zugleich
Der Begriff Antifeminismus wird aktuell vermehrt verwendet. Wir freuen uns über die zunehmende Aufmerksamkeit und werben gleichzeitig für eine Schärfung des Begriffs und eine differenzierte Nutzung. Der Text ist der Versuch eine Brücke zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und der Praxis politischer Bildungsarbeit, Recherche und Aktivismus zu schlagen.
https://www.antifainfoblatt.de/artikel/antifeminismus-%E2%80%93-eigenst%C3%A4ndige-ideologie-und-gegenbewegung-zugleich


+++HISTORY
Holocaust-Überlebende Agnes Hirschi:«Ich hatte einen Schutzengel»
Agnes Hirschi hat als Kind in Ungarn den Holocaust überlebt. Dank dem Schweizer Diplomaten Carl Lutz, der später ihr Stiefvater wurde und auch zehntausende andere Jüdinnen und Juden gerettet hat. Über sie und andere Holocaust-Überlebende in der Schweiz ist ein Buch erschienen. (ab 05:15)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/holocaust-ueberlebende-agnes-hirschi-ich-hatte-einen-schutzengel?id=12322765


Neonazis – DRS Aktuell 23.05.1989
Schweiz, Zug, ZG: Neonazis verprügelten Tamilen / Steckt die patriotische Front dahinter? Zunehmende Fremdenfeindlichkeit
https://www.srf.ch/play/tv/drs-aktuell/video/neonazis?urn=urn:srf:video:dafa96b5-7c45-4faa-9bdd-10b579d7014c



Zürichsee Zeitung 22.01.2023

Kampf gegen das Vergessen: Dank ihm wird das Internierungslager von Adliswil zum Schulstoff

In der ehemaligen Seidenstoffweberei wurden im Zweiten Weltkrieg bis zu 500 Flüchtlinge eingesperrt. Doch mit jeder Generation gerät das Thema mehr in Vergessenheit.

Zora Rosenfelder

Den Sprung vom Bauerndorf zu einem der bedeutendsten Industriestandorte Europas schaffte Adliswil Anfang des 20. Jahrhunderts dank der Mechanischen Seidenstoffweberei Adliswil. Die MSA, wie die gängige Abkürzung lautete, prägte die Geschichte Adliswils von ihrer Eröffnung 1862 bis zu ihrer Schliessung 1934 wie kein anderes Unternehmen. Als der Betrieb im Jahr 1934 der Weltwirtschaftskrise zum Opfer fiel, erhöhte sich der Steuerfuss der Gemeinde zwischenzeitlich auf 230 Prozent.

So steht der imposante Bau an der Webereistrasse gleich neben der Sihl bis heute unter Denkmalschutz und ist als geschichtsträchtiges Gebäude Teil des Adliswiler Stolzes. Dass die Geschichte der MSA jedoch auch weniger glanzvolle Zeiten hatte und sich während des Zweiten Weltkriegs mitten im Kreuzfeuer einer Menschenrechtsdebatte wiederfand, darüber weiss heute kaum mehr jemand Bescheid.

Zweitgrösstes Lager der Schweiz

Der Maturand Nils Kauf will das nun ändern. Im Rahmen seiner Maturaarbeit hat der Adliswiler die Geschichte der MSA aufgearbeitet. Denn diese wurde während des Zweiten Weltkriegs als Internierungslager für politisch verfolgte Flüchtlinge genutzt und beherbergte zeitweise bis zu 500 Personen. Das Lager in Adliswil war damit das zweitgrösste von rund 600 Internierungslagern der Schweiz.

«Ich wohne selbst seit über 16 Jahren in Adliswil und hatte noch nie von diesem Lager gehört», begründet er seine Themenwahl. «Meinem Umfeld geht es gleich, das konnte ich kaum glauben», sagt er weiter. Doch dieses scheinbar zunehmend vergessene Kapitel der Adliswiler Geschichte sollte der breiteren Öffentlichkeit jüngeren Jahrgangs aus Kaufs Sicht nicht länger unbekannt bleiben.

In seiner Arbeit geht er deshalb Vermutungen über Antisemitismus, Frauenfeindlichkeit und unzumutbare Lagerumstände auf den Grund und schildert, was bis vor wenigen Jahrzehnten kaum je an die Schweizer Öffentlichkeit gelangte.

Angst um Beziehungen zu Deutschland

Denn ab 1940 herrschte in der Schweiz Angst um die wirtschaftlichen Beziehungen zum Nachbarland Deutschland. Von diesem war man unter anderem im Rohstoffhandel abhängig. Magazine und Zeitungen zum Beispiel wurden gemäss Kauf «teilweise deutschlandfreundlich» zensiert. Da die Internierungslager zudem der Kontrolle des Militärs unterlagen, war der Informationsfluss «nach draussen» stark eingeschränkt und überwacht.

Dies führte dazu, dass die heutige Quellenlage zur Zwischennutzung der Adliswiler Seidenstoffweberei nur spärlich ist. Erst in den 90er-Jahren begann ein langsamer Prozess der Aufarbeitung. Im Jahr 2010 startete der Geschichtsverein Adliswil dann ein Forschungsprojekt zum Internierungslager, unter der Leitung des lokalen Historikers Christian Sieber. Er hat Kaufs Maturaarbeit mit seinem Wissen unterstützt.

«Um mir trotz schwieriger Quellenlage ein Bild der damaligen Situation zu verschaffen und an Informationen zu gelangen, habe ich archivierte Briefe von Internierten des Lagers in Adliswil gelesen und versucht, die Vergangenheit zu rekonstruieren, indem ich oft auch zwischen Zeilen lesen musste», erklärt der Maturand. Dazu stieg er in die Tiefen des Ringier-Bildarchivs im Staatsarchiv Aarau, des Archivs für Zeitgeschichte der ETH sowie des Zeitungsarchivs der «Zürichsee-Zeitung».

Loses Stroh statt Betten

Während des Zweiten Weltkriegs suchten rund 259’000 Geflüchtete Schutz in der Schweiz, der grösste Teil davon Juden. Zivile Flüchtlinge wurden dabei in sogenannten Auffanglagern oder Internierungslagern untergebracht, wo sie teilweise für mehrere Jahre lebten.

In die Gesellschaft sollten die Flüchtenden damals aber keinesfalls integriert werden – in den Arbeitsmarkt erst recht nicht –, weshalb das mit Stacheldraht umzäunte Gelände an der Sihl Tag und Nacht durch bewaffnetes Personal bewacht wurde. Die Begründung: «Man wolle das Land nicht mit Leuten überschwemmen, die sich der schweizerischen Lebensart nicht anpassen können», heisst es in der Arbeit.

So wurden die Menschen in Adliswil «verwahrt», mit dem Ziel, sie nach Kriegsende wieder loszuwerden. Beschäftigung hatten sie abgesehen vom obligatorischen Morgenturnen und einem gemeinschaftlichen Spaziergang keine. Mehr als 20 kaum oder gar nicht geschulte Militärkommandanten reichten die Lagerleitung untereinander weiter. Das Sprechen mit Personal war den Flüchtenden untersagt, geschlafen wurde auf losem Stroh, bei tiefer Belegung immerhin auf Strohsäcken.

Aus den von Nils Kauf gelesenen Briefen gehe jedoch hervor, dass die Zustände im Internierungslager je nach leitendem Militärkommandanten sehr unterschiedlich geschildert würden, sagt er. So sei etwa in Briefen aus der Amtszeit von Hauptmann Albert Trüb oder Kommandant Oberleutnant Walter J. Bär die Rede von Dankbarkeit und Schutz an einem sicheren Ort. In Quellenberichten aus der Zeit des Hauptmanns Hermann Fischlin hingegen werde von Verletzungen der weiblichen Intimsphäre und antisemitischen Äusserungen gesprochen.

Wie er in seinem Fazit festhält, variierten die Bedingungen demnach von Kommandant zu Kommandant und blieben deshalb meist nur einige Monate gleich. Unter dem «schlimmsten» Hauptmann wurde von Aufenthalten in einem dunkeln Arrestkeller sowie auf den Misthaufen geworfener Kleidung als Bestrafung berichtet.

Schulstoff für die Sek Adliswil

Damit solche Erlebnisse aus der Vergangenheit der Mechanischen Seidenstoffweberei Adliswil zukünftig auch erhalten beziehungsweise überhaupt erst thematisiert werden, hat Nils Kauf zwei Arbeitsblätter für die Sekundarschule der Stadt Adliswil kreiert. Sein Ziel sei es, damit «dem Wissensverlust, welcher in der kleinen Stadt zu beobachten ist», entgegenzuwirken. Bereits im kommenden Jahr werden die zwei Adliswiler Sekundarschulen das Material in ihren Geschichtsunterricht integrieren.

Ausserdem konnte Kauf seine Maturaarbeit, deren Note er bisher noch nicht kennt, am Adliswiler Neujahrsapéro dem Stadtpräsidenten sowie dem Präsidenten des lokalen Geschichtsvereins überreichen. Doch «vom Internierungslager im Gebäude der MSA haben auch die meisten dort Anwesenden noch nie gehört».
(https://www.zsz.ch/dank-ihm-wird-das-internierungslager-von-adliswil-zum-schulstoff-462078544140)