Legalisiert zurückgeschoben, notrechtlich untergebracht, angekettet abgeschoben

Auch wenn die Proteste auf der Strasse gerade weniger werden: Der Kampf im Iran geht weiter, vergessen wir ihn nicht. Jin, Jîyan, Azadî!
Auch wenn die Proteste auf der Strasse gerade weniger werden: Der Kampf im Iran geht weiter, vergessen wir ihn nicht. Jin, Jîyan, Azadî!

Was ist neu?

Neues von der osteuropäischen Migrationsroute: Push-Back-Legalisierung und Tote

Neues von der polnisch-belarussischen und litauisch-belarussischen Grenze: Während in Litauen ein Gesetzt zur Legalisierung von Push-Backs vorangetrieben wird, wurden in der polnischen Grenzregion innerhalb einer Woche vier Leichname von Menschen gefunden.  

Litauen auf dem Weg zur Legalisierung von Push-Backs

Push-Backs sind an der Grenze von Litauen zu Belarus längst zur Praxis geworden. Das Innenministerium publiziert regelmässig Zahlen, wie viele Menschen an der Grenze abgewiesen wurden. Nun will die litauische Regierung diese Praxis zu Recht werden lassen und hat in den vergangenen Tagen einen Vorschlag des Innenministeriums gebilligt, die Politik der Push-Backs von Migrant*innen an der Grenze gesetzlich zu verankern.

Damit würde sich Litauen gegen EU- und internationales Recht sowie die UN-Flüchtlingskonvention stellen. Die Regierung tut dies im vollen Bewusstsein. So teilt der Innenminister Agnė Bilotaitė gegenüber der Presse mit: «EU law is lagging behind developments» – Litauen wolle voranschreiten.

Der Gesetzes-Entwurf wird nun dem Parlament weitergeleitet. Stimmt dieses zu, werden die neuen Gesetze ab dem 1. Juni in Kraft treten.

Vier Tote an der polnisch-belarussischen Grenze

Im gleichen Zeitrahmen wurden an der polnisch-belarussischen Grenze innerhalb einer Woche die Leichname von vier Menschen gefunden. Weitere Menschen werden in dem Grenzstreifen vermisst. Einer der Verstorbenen hiess Ibrahim Dihiya, er war Arzt und kam aus dem Jemen nach Europa. Über die anderen Menschen ist bisher nichts bekannt.

Was geht ab beim Staat?

Asylregime: Notstand ist kein Zustand

Im Aargau haben die Behörden den Asylnotstand ausgerufen. Dieser erlaubt es ihnen, leerstehende Liegenschaften als Asylcamps zu nutzen, auch gegen den Willen von Besitzenden. In Luzern wurde das Asyl-Notrecht Ende Jahr eingeführt, damit Behörden Personal einstellen oder Gebäude mieten können, ohne die Ausgaben budgetiert zu haben. Was steckt hinter dem Notstand-Narrativ?

Notrecht klingt dramatisch. Geflüchtete Menschen werden durch solches Gerede als Not und gefährliche Belastung gebrandmarkt. Dies stellt eine Opfer-Täter-Verdrehung dar. Jene in Not, die sich durch Migration oder Flucht einem Krieg oder einer Krise entziehen mussten, gelten als Gefahr, während Privilegierte, die dafür gewählt und bezahlt werden, Asylcamps zu betreiben, sich als Opfer darstellen.

Offizielles Ziel der Behörden ist es, dringend Raum zu schaffen für ankommende geflüchtete Personen. Die Situation, die humanitäre Tradition, die Glaubwürdigkeit des Asylwesens erfordere es. Doch im Namen des Notrechts werden vor allem Grundrechte und Menschenwürde mit Füssen getreten. An sich hätten auch Asylsuchende ein Recht auf Bewegungsfreiheit, Privatsphäre, Gesundheit, Bildung, soziale Kontakte. Menschenrechtsverletzungen im Ausnahmezustand sind aber keine Schlagzeile mehr wert. Geflüchtete Menschen sollen sich stattdessen dankbar zeigen zu 30igst in einem Bunker isoliert zu werden. Dass Menschen sich auch selbstständig eine Wohnungen suchen könnten, liegt im Alarmzustand fern ab der Vorstellungskraft des Mainstreams.

Vom Notstandsdiskurs gehen zwei verschiedene Botschaften aus:

1. Einerseits richtet sich das Gerede vom Notstand an geflüchtete Menschen: Die kommenden flüchtenden Personen sollen von den harten Notstandsbedingungen abgeschreckt werden. Den Anwesenden wird der Eindruck vermittelt, „zu viel“, „zu belastend“ zu sein. Wer dieser Botschaft glaubt, macht sich vermutlich klein und gibt sich mit (zu) wenig zufrieden. Es ist nachvollziehbar, dass sich Menschen diesem Regime so schnell wie möglich entziehen wollen. Doch wer das Campregime verlässt, riskiert Prekarisierung. Viele Firmen profitieren von den entrechteten Sans-Papiers und bezahlen ihnen sehr niedrige Löhne. Dies hat für die Personen verheerende Folgen und kann in einem Betrieb oder gar in einer Branche zu einem allgemeinen Lohndurck, Spaltungen und Konkurrenz führen, von der erneut die Firma profitiert. In vielen Fällen kompensieren dies Solidaritätsstrukturen; aufnehmende Freund*innen oder Angehörige teilen sich die Kosten und Care-Tätigkeiten, die der Staat fortan einspart.

2. Andererseits richtet sich der Diskurs an die Dominanzgesellschaft. Die Rede vom Notstand entfaltet dort gleichzeitig eine verunsichernd wie auch eine versichernde Wirkung: Verunsichernd, da ohne Gefahr oder Überforderung keine drastischen Massnahmen zu rechtfertigen sind. Im Subtext erklingt die helvetische Panikbotschaft: „Das Boot ist voll!“. Versichernd, weil die Regierenden sich nicht nur als Opfer, sondern gleichzeitig als starke Kraft präsentieren, die trotz der „Not“ Lösungen finden. Dritter (Neben-) Effekt: Innerhalb der Dominanzgesellschaft sagen sich wohl viele: „Naja, wenn da so viele herkommen wollen, wird es hier wohl nicht so schlecht sein können.“ In der Tendenz führt dies dazu, dass Menschen mehr als nötig akzeptieren, statt zu rebellieren.

https://www.srf.ch/news/schweiz/asylunterkuenfte-sind-knapp-kanton-luzern-ruft-notlage-im-asylbereich-aus
https://www.argoviatoday.ch/aargau-solothurn/kanton-muss-mehr-mittel-und-ressourcen-in-die-hand-nehmen-149694254
https://journals.openedition.org/conflits/1763

Was ist aufgefallen?

Angekettet auf der Fähre – wie Italien illegal Geflüchtete abschiebt

Zwischen Griechenland und Italien verkehren jeden Tag Fährschiffe, welche tausende Tourist*innen an ihre Feriendestinationen bringen. Ein Deck tiefer spielen sich für Migrant*innen, welche versucht haben, mit der Fähre nach Italien zu gelangen, deutlich weniger schöne Szenen ab. Recherchen decken Gefängnisse unter Deck und angekettet Transporte von Menschen auf.

Täglich versuchen Migrant*innen versteckt, mit Fähren von Griechenland nach Italien zu gelangen. Dies ist nicht ungefährlich – die Häfen sind gut gesichert, Beamt*innen suchen mit Spürhunden nach Flüchtenden und immer wieder verletzen sich Menschen am Stacheldrahtzaun, zwischen den Lastwagen oder erleben Gewalt durch die Beamt*innen. Die Überfahrt nach Italien, wenn es einem gelingt, sich z. B. unter einem Lastwagen zu verstecken, dauert sehr lange, manchmal sogar länger als einen Tag.

Das adriatische Meer ist ein wichtiger Teil der Migrationsrouten und Italiens Rückführungen von Geflüchteten auf den Fährschiffen werden seit Jahren kritisiert. Im Jahr 2014 wurde Italien vom europäischen Gerichtshof für Menschenrechte für illegale Pushbbacks mit diesen Fähren verurteilt. Es wird behauptet, dass diese Wege nicht mehr angewendet werden, in Wirklichkeit sieht dies aber anders aus. 

Menschen, die mit Fähren nach Italien kommen und am Ankunftsort auf die Grenzpolizei stossen, sehen sich oftmals mit gewaltvollem, illegalem Umgang konfrontiert. So werden Minderjährige genauso behandelt wie Erwachsene, obwohl sie ein Anrecht hätten, in Italien zu bleiben; den Menschen werden ihre Dokumente, Kleider und Telefone entwendet. Teilweise werden sie bis zu mehreren Tagen im Ankunftshafen eingesperrt, bis sie mit der Fähre illegal zurück nach Griechenland gebracht werden.

Auf diesen Fähren befindet sich oftmals sogar ein Gefängnis, in welches die Menschen gesteckt werden: Es ist auf dem Parkdeck, wo sich eigentlich gar keine Menschen während der Fahrt aufhalten dürfen. Bei einem dokumentierten Fall wurde eine Person in der Garage mit Handschellen an ein Gestell gekettet. Essen gibt es oftmals keines oder nur wenig – kalte Temperaturen müssen ausgehalten werden, dies für teils sehr lange Überfahrten. Die Polizei, zuständig für einen der betroffenen Häfen, sowie die Fährenbetreiberin „Attica Group“ weisen die Kritik zurück und beteuern, dass Gesetze eingehalten werden. Verantwortung für die illegalen Pushbacks will niemand übernehmen und mit einem Blick in die Vergangenheit, in der Italien bereits dafür verurteilt wurde, sieht es nicht so aus, als würde hier grosse Fortschritte passieren.

https://www.srf.ch/news/pushbacks-eingesperrt-auf-der-touristenfaehre-im-mittelmeer
https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/soeldner-fuer-die-ukraine-lehrlinge-gesucht-gefesselt-unter-druck?urn=urn:srf:video:1ca23001-66fd-4db6-9b36-bd4b1efeb1d4

Wo gabs Widerstand?

#SayTheirNames: Auslands-Aktivist*innen machen Hinrichtungen im Iran öffentlich

Das iranische Regime ermordet weiterhin Menschen, die gegen die Regierung protestieren. Um weitere offizielle Hinrichtungen von Gefangenen und inoffizielle Tötungen von Protestierenden zu verhindern, lenken Aktivist*innen auf der ganzen Welt Aufmerksamkeit auf Inhaftierungen und Todesurteile in Iran.
Sie versuchen damit, Hinrichtungen abzuwenden und die betroffenen Menschen sichtbar zu machen: #saytheirnames.
Beispielsweise im Podcast „Iran Update“ sprechen Gilda Sahebi und Sahar Eslah regelmässig über die Hinrichtungen im Iran und versuchen das Wenige, dass man über die Verurteilungen weiss, aufzudecken und den Opfern ein Gesicht zu geben.
Zum Podcast Iran Update: Gilda und Sahar Eslah fassen  dem Beginn der Revolution im Iran wöchentlich die wichtigsten Ereignisse und News zusammen und werfen einen kritischen Blick auf die Berichterstattung. Der Podcast hilft, in der Masse an Informationen, die über die sozialen Medien verbreitet werden, den Überblick über die aktuelle Situation zu behalten.

https://dasiranupdate.podigee.io

Plakat von #Saytheirnames mit den Bildern und Namen der vier hingerichteten iranischen Protestierenden.

6’000 Stutz für ein Auto an der lithauisch-belarussischen Grenze!

Sienos Grupė ist seit 2022 entlang der 679km-langen Grenze zwischen Litauen und Belarus aktiv. Dort treffen sie Menschen auf der Flucht in den Wäldern und versorgen sie mit dem Nötigsten. Doch ohne Auto ist das fast unmöglich. Bisher wurden Privatautos eingesetzt, doch nicht immer sind diese verfügbar oder intakt. Jetzt soll ein Fahrzeug her, das für Einsätze in den Wald herhalten kann – ein gebrauchtes Auto mit Allradantrieb für die eisigen Winter und verschneiten Strassen.

Hilf mit gemeinsam ein Auto für Sienos Grupė zu kaufen!

Hier gehts zum Crowdfunding: https://bit.ly/6k4lit
Facebook Seite der Sienos Grupė: https://www.facebook.com/sienosgrupe/

Plakat der Kampagne der Sienos Grupė.

Was steht an?

Iran – Europa – Knast: Kriminalisierung an der europäischen Grenze
27.01.23 I 20:00 I Bern, Brasserie Lorraine
28.01.23 I 17:30 I Winterthur, Hi&Da

H. Sabetara wurde in Griechenland zu 18 Jahren Haft verurteilt, weil er ein Auto mit Flüchtenden fuhr. Er ist einer von tausenden Menschen, die aktuell in Italien und Griechenland für ihre Migration kriminalisiert werden. Seine Tochter Mahtab Sabetara berichtet uns über die Anklage ihres Vaters in Griechenland, die aktuelle Situation im Iran und möglichen Widerstand gegen die Kriminalisierung von Migration.
https://seebruecke.ch/event/iran-europa-knast-kriminalisierung-an-der-europaeischen-grenze/ 
Infoanlass zu Besuchen in Nothilfeunterkünften
28.01.23 I 14:00 I Luzern, Hello Welcome
Wir sprechen über die Situation in der Nothilfe und die Besuche in den Camps. Menschen ohne Bleiberecht berichten von ihrem Alltag.
 
Demo: Stop Dubin-Deportation to Croatia
04.02.23 | 14:15 | Bern, Bundesplatz
Nein zu Dublin-Abschiebungen nach Kroatien!
Kroatien ist kein sicherer Ort für geflüchtete Menschen. Nein zu einer rassistischen, gewalttätigen Polizei, die kontrolliert, illegal abschiebt, terrorisiert, vergewaltigt und Verletzungen und Traumata verursacht.
https://migrant-solidarity-network.ch/2023/01/18/demo-stop-dubin-deportation-to-croatia/
 
 

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Abschiebungen um jeden Preis
Der Bund schiebt Ausländer in gecharterten Privatflugzeugen ab und vertuscht die Flüge. Werden die Menschenrechte eingehalten? Jetzt schaltet sich die Antifolterkommission ein.
https://www.republik.ch/2023/01/17/abschiebungen-um-jeden-preis

Neues Beweisvideo belastet griechische Behörden
Ein letzte Woche veröffentlichtes Video der forensischen Rekonstruktion zeigt, dass die griechischen Behörden im Jahr 2020 200 Migrant*innen illegal vor der Küste Kretas vertrieben haben.
https://legalcentrelesvos.org/2023/01/17/press-release-forensic-reconstruction-video-released-today-evincing-the-greek-authorities-illegal-expulsion-of-200-migrants-off-the-coast-of-crete-in-2020/