Medienspiegel 19. Januar 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++LUZERN
Ersatzabgabe in Luzern – Zu wenig Asylplätze: Gemeinden müssen weniger «Busse» zahlen
Die Kurzvernehmlassung ist fertig: Neu müssen Luzerner Gemeinden, welche ihre Aufnahmepflicht von Personen aus dem Asylbereich nicht erfüllen, 15 Franken pro Tag und nicht aufgenommene Person bezahlen.
https://www.zentralplus.ch/politik/zu-wenig-asylplaetze-so-viel-ersatzabgabe-muessen-gemeinden-zahlen-2512108/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/einheitliche-ersatzabgaben-fuer-saeumige-luzerner-gemeinden?id=12321460


+++ZUG
Flüchtlingsunterkunft für vulnerable Personen
Der Krieg in der Ukraine fordert das Schweizer Asylwesen immer wieder. Nicht nur Frauen und Kinder flüchteten in die Schweiz, sondern auch Ältere und Menschen mit gesundheitlichen Problemen. Damit man auch ihren Bedürfnissen gerecht werden kann, hat der Kanton Zug in Oberägeri im «Ländli» eine neue Asylunterkunft eingerichtet. Heute ist die erste Bewohnerin eingezogen.
https://www.tele1.ch/nachrichten/fluechtlingsunterkunft-fuer-vulnerable-personen-149746892


+++ZÜRICH
Container-Dorf für Flüchtlinge auf der Hardturm-Brache (ab 03.38)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/stadt-zuerich-soll-vorwaerts-machen-beim-solar-ausbau?id=12321094



tagesanzeiger.ch 19.01.2023

Unterbringung von Asylsuchenden: Drückt sich Mario Fehr um die Aufnahme von Flüchtlingen?

Zürich nimmt laut anderen Kantonen weniger Asylsuchende auf als vorgeschrieben. Regierungsrat Fehr zieht die Berechnungen des Bundes in Zweifel.

Charlotte Walser

Die Ampel steht in vielen Kantonen auf Orange oder Rot: Die Kantone haben nur noch wenige freie Plätze zur Unterbringung von Asylsuchenden. Die Reserveplätze reichten voraussichtlich bis Ende Februar, teilte die Aargauer Regierung vergangene Woche mit. Sie hat aus diesem Grund die Notlage ausgerufen. Die Luzerner Regierung hatte dies bereits im November getan. Damit schaffen Kantone zusätzliche Möglichkeiten, um Unterkünfte zur Verfügung zu stellen. Sie können Gemeinden etwa verpflichten, Zivilschutzanlagen zur Verfügung zu stellen.

Wie die Asylsuchenden auf die Kantone verteilt werden, ist genau festgelegt: Die Zuweisung erfolgt proportional zur Bevölkerung. Der bevölkerungsreichste Kanton Zürich muss 17 Prozent aufnehmen. Doch ob er seine Pflicht erfüllt, ist fraglich. Laut gut informierten Personen nimmt der Kanton Zürich zurzeit pro Woche über 100 Personen zu wenig auf. Insgesamt hat der Kanton demnach schon mehr als 1000 Personen weniger aufgenommen, als er müsste.

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) äussert sich nicht zu diesen Zahlen, bestätigt aber das Problem: «Der Kanton Zürich liegt bei den Zuweisungen nach unseren Berechnungen unter dem Soll», schreibt das SEM auf Anfrage. «Das SEM und der Kanton Zürich sind daran, die Zahlen in diesem Bereich zu bereinigen.» Dass ein Kanton vorübergehend weniger Asylsuchende aufnehme, als er müsste, könne verschiedene Gründe haben. Entscheidend sei, dass dies im Laufe des Jahres ausgeglichen werde.

Der zuständige Zürcher Regierungsrat Mario Fehr nennt ebenfalls keine Zahlen, zieht aber die Berechnungen des SEM in Zweifel. Er habe das SEM dazu aufgefordert, die Zahlen sauber aufzuarbeiten, sagte Fehr auf Anfrage. Es fehle an Transparenz. So sei etwa unklar, ob das SEM die Rückführungen berücksichtige.

Fehr betont, dass es immer Schwankungen gebe. Zu Beginn des Ukraine-Krieges habe Zürich während Monaten deutlich mehr ukrainische Flüchtlinge aufgenommen als vorgesehen. Weiter weist Fehr darauf hin, dass der Kanton Zürich 40 Prozent mehr Medizinalfälle aufnehme, als er müsste. All das müsse berücksichtigt werden.

«Zutiefst unsolidarisch»

In anderen Kantonen stösst das Vorgehen des Kantons Zürich auf Unmut. Offiziell äussern sich die Kantone jedoch nur in allgemeiner Form. So schreibt etwa der Kanton Basel-Stadt, es könne zu Abweichungen vom Verteilschlüssel oder zu einem befristeten Aufnahmestopp in einem Kanton kommen. «Solange dies in Absprache mit dem Bund und den übrigen Kantonen passiert, ist dies unproblematisch. Alles andere wäre zutiefst unsolidarisch.»

Doch eine Absprache scheint nicht stattgefunden zu haben. Der Kanton Aargau jedenfalls schreibt, er kenne die Details nicht, die offenbar aktuell zur reduzierten Aufnahme von Personen im Kanton Zürich geführt hätten, und könne daher keine Einschätzung geben. Der Kanton Bern hält fest, im Moment ergebe sich daraus kein akutes Problem. «Aber wenn grosse Kantone wie Zürich deutlich weniger Personen aufnehmen, als sie müssten, und es dadurch zu Mehrzuweisungen an die anderen Kantone kommt, kann es rasch dazu führen, dass auch im Kanton Bern die Plätze knapp werden könnten.»

Das SEM und die Konferenz der kantonalen Sozialdirektorinnen und -direktoren betonen, die Zuweisung funktioniere «grundsätzlich gut». Das sei alles andere als selbstverständlich in Anbetracht der Belastungen, schreibt das SEM. «Es ist wesentlich dieser gut funktionierenden Zusammenarbeit zu verdanken, dass in der Schweiz jede schutz- und asylsuchende Person jederzeit ein Dach über dem Kopf und ein Bett hatte und auch weiterhin hat.»
(https://www.tagesanzeiger.ch/drueckt-sich-mario-fehr-um-die-aufnahme-von-fluechtlingen-450471241619)


+++SCHWEIZ
Deutlicher Anstieg irregulärer Migration in der Schweiz – Rendez-vous
Der Bund registrierte 2022 über 52’000 Fälle von irregulärer Migration. Fast drei Mal mehr als im Jahr davor. Die meisten davon stammen aus Afghanistan.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/deutlicher-anstieg-irregulaerer-migration-in-der-schweiz?partId=12321448
-> https://www.derbund.ch/bund-registriert-ueber-52-000-faelle-von-irregulaerer-migration-361678383110
-> https://www.toponline.ch/news/schweiz/detail/news/bund-registriert-2022-ueber-52000-faelle-von-irregulaerer-migration-1-00203635/
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/schweizer-grenzwache-gefordert-bund-registriert-starken-anstieg-von-irregulaerer-migration


+++KROATIEN
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt Kroatien
Am 17. Januar 2023 verurteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte Kroatien für den Tod und Körperverletzungen von geflüchteten Personen, denen der kroatische Staat die Freiheit entzogen hatte (vgl. unten die Stellungnahme des Centre for Peace Studies).
https://migrant-solidarity-network.ch/2023/01/19/europaeischer-gerichtshof-fuer-menschenrechte-verurteilt-kroatien/


+++GRIECHENLAND
Geheime Gefängnisse auf Fähren Angekettet übers Meer
Auf Mittelmeerfähren werden Flüchtlinge unter unwürdigen Bedingungen gefangen gehalten, um sie so von Italien zurück nach Griechenland zu bringen. Dies belegen Recherchen des ARD-Magazins Monitor und von Medienpartnern.
https://www.tagesschau.de/investigativ/monitor/fluechtlinge-geheimgefaengnisse-faehren-101.html
-> https://taz.de/Medien-Recherche-ueber-Pushbacks/!5910063/
-> https://taz.de/Medien-Recherche-ueber-Pushbacks/!5910063/
-> https://www1.wdr.de/daserste/monitor/sendungen/geheimgefaengnisse-in-europa-100.html
-> https://www1.wdr.de/daserste/monitor/extras/pressemeldung-asylsuchende-eingesperrt-auf-mittelmeerfaehre-100.html


+++MITTELMEER
Wegweisendes Urteil zur Schiffskatastrophe von 2013: Für den Tod von 268 Schutzsuchenden sind italienische Küstenwache und Marine verantwortlich
Gerichtshof in Rom zur Schiffskatastrophe vom 11. Oktober 2013: Für den Tod von 268 Schutzsuchenden  sind Italienische Küstenwache und Marine wegen unterlassener Hilfeleistung verantwortlich. Weiterhin gilt: Menschen in Seenot müssen immer vor dem Ertrinken gerettet werden!
https://alarmphone.org/de/2023/01/19/wegweisendes-urteil-zur-schiffskatastrophe-von-2013/
-> https://www.proasyl.de/pressemitteilung/wegweisendes-urteil-zur-schiffskatastrophe-von-2013-fuer-den-tod-von-268-schutzsuchenden-sind-italienische-kuestenwache-und-marine-verantwortlich/
-> Rundschau: ttps://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/gefesselt-unter-deck-italien-schiebt-migranten-auf-faehren-ab?urn=urn:srf:video:05d878bc-21df-47dd-b280-b4c8a68bbece


+++FREIRÄUME
Zürcher Gemeinderat unterstützt Hausbesetzer
Die Besetzer des Kesselhauses erhalten Unterstützung aus dem Zürcher Gemeinderat. Linke Politikerinnen und Politiker möchten das alte EWZ-Gebäude am Letten unter anderem für politische und kulturelle Veranstaltungen umnutzen. Das sorgt bei den Bürgerlichen für rote Köpfe: Das Kesselhaus sei baufällig und gefährlich, und eine illegale Besetzung dürfe nicht der Startschuss sein für eine millionenteure Sanierung mit Steuergeldern.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/zuercher-gemeinderat-unterstuetzt-hausbesetzer-149746785


+++GASSE
Methadon wird knapp
Heroin-Süchtige in der Schweiz, die von der Droge wegkommen möchten, werden meist mit Methadon behandelt. Rund 9000 Menschen sind dies aktuell. Das Schmerzmittel Methadon kommt in der Schweiz hauptsächlich von der Firma Amino AG. Dieser hat Swissmedic im Dezember aber die Bewillung entzogen. Bei den Abgabestellen wird Methadon deshalb immer knapper. So auch im Drop-In in Luzern.
https://www.tele1.ch/nachrichten/methadon-wird-knapp-149746888


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Communiqué SMASH WEF DEMO 17.1.23
Gegen das World Economic Forum in Davos demonstrierten am Dienstagabend 17.1.23 über 1000 Leute in Zürich. Während sich die Reichen und Mächtigen in Davos besprachen, zeigten wir, dass ihr kaputtes System nicht alternativlos ist: Die Strassen gehören uns, im Iran, in Peru und eben auch hier.
https://barrikade.info/article/5577


Queers und trans*Personen besetzen die Hardstrasse 99
Glitzernd, queer und militant – überall ist Widerstand!
Heute Nacht haben wir – ein Schwarm von Queers und trans*Personen – das Haus an der Hardstrasse 99 in Basel besetzt.
https://barrikade.info/article/5579


WEF: Alarm in Davos
Als Willkommensgruss für das WEF und seine Gäste haben wir innerhalb der roten Zone in Davos im Hotel Seehof eine Attrappe einer Sprengvorrichtung deponiert. Ein Ausdruck des Bruchs zwischen ihnen und uns – Aufruhr in ihrer “heilen Welt”!
https://barrikade.info/article/5580


+++KNAST
Vater-Kind-Programm hinter Gittern – Rendez-vous
In der Schweiz leben einer Schätzung zufolge rund 9000 Kinder, deren Väter oder Mütter inhaftiert sind. Kinder, deren Rechte und Bedürfnisse bislang gerne vergessen gingen. In einigen Gefängnissen hat man die Nöte dieser Kinder unterdessen erkannt. Das zeigt der Besuch in der JVA Deitingen im Kanton Solothurn.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/vater-kind-programm-hinter-gittern?partId=12321466
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/fatales-feuer-in-erlinsbach-brandursache-geklaert?id=12321685 (ab 13:50)


Regine Schneeberger: Erste Direktorin der JVA Thorberg – Rendez-vous-Tagesgespräch
Seit rund 100 Tagen ist Regine Schneeberger die neue und erste Direktorin der Justizvollzugsanstalt Thorberg. Den jahrelangen Problemen will sie mit einem Vollzug nach Mass und mehr Mitarbeiterinnen im geschlossenen Männervollzug begegnen. Auch die Bedingungen für die Verwahrten will sie verbessern.
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/regine-schneeberger-erste-direktorin-der-jva-thorberg?id=12321469
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/neue-thorberg-direktorin-will-strafvollzug-modernisieren?id=12321679 (ab


Nach Beschwerde von Häftling: Kanton St.Gallen muss Ausschaffungsgefängnis Bazenheid schliessen
Der Kanton St.Gallen musste das Ausschaffungsgefängnis Bazenheid per 2022 schliessen, weil die Haftbedingungen nicht den bundesrechtlichen Vorgaben entsprachen. Bis zur Eröffnung des Regionalgefängnisses Altstätten 2027 kommen sämtliche St.Galler Ausschaffungshäftlinge im ehemaligen Flughafengefängnis im Kanton Zürich unter.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/asyl-nach-beschwerde-von-haeftling-kanton-stgallen-muss-ausschaffungsgefaengnis-bazenheid-schliessen-ld.2402692
-> https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/st-gallen-hat-uebergangsloesung-fuer-ausschaffungshaft-gefunden-00203627/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/ausschaffungsgefaengnis-bazenheid-schliesst?id=12321442



beobachter.ch 19.01.2023

Todesfälle in der Untersuchungshaft: Harte Bedingungen, die tödlich enden können

Die Bedingungen in Schweizer Gefängnissen sind teilweise menschenunwürdig – vor allem in der U-Haft. Welche fatalen Folgen das haben kann, zeigen die Fälle von zwei jungen Männern.

Von Katharina Siegrist

Er dort. Sie da. Keine Umarmung, als sie sich sehen. Keine Hand auf der Schulter, um zu trösten. Eine dicke Glasscheibe trennt Ernestine K. und Sebastian B. von ihrem Sohn Raphael.

Wenn sie mit ihm sprechen wollen, müssen sie sich tief zum Mikrofon herunterbeugen und können ihm beim Reden nicht in die Augen sehen. Denn die Gegensprechanlage des Regionalgefängnisses Bern funktioniert nicht richtig.

«Kurz dachten wir, dass es vielleicht besser sei, wenn wir Raphael einzeln besuchen», erinnert sich die Mutter. Damit sie nicht beide total niedergeschlagen das Gefängnis verlassen. «Wir machten es ein einziges Mal. Es war aber noch schlimmer, weil wir das Erlebte nicht teilen und zusammen besprechen konnten.»

Raphael K. wird als Teenager auffällig, er ist immer wieder wie von Angst zerfressen. Ärzte stellen eine paranoide Schizophrenie fest. Der Jugendliche wird mehrmals stationär behandelt. Wenn er Alkohol getrunken hat, kann es vorkommen, dass er auf der Strasse Leute anpöbelt, sie beleidigt und anspuckt. Als er in einer Disco einen anderen Gast mit einer Flasche an der Stirn verletzt, ist das die eine Tat zu viel. Er wird verhaftet.

Der Staatsanwalt erfährt von der Krankengeschichte. Ein Arzt sagt, es spreche nichts dagegen, Raphael K. trotz seiner Krankheit zu inhaftieren. Darum kommt er nicht in eine psychiatrische Klinik, sondern in Untersuchungshaft. Dort, im Regionalgefängnis Bern, wird er fast sieben Monate bleiben – obwohl er nie von einem Gericht verurteilt worden ist.

Härteste Bedingungen

Gegen Untersuchungshaft wird immer wieder Kritik laut. Sie werde in der Schweiz viel zu häufig und für viel zu lange angeordnet, sagt etwa der Strafverteidiger Stephan Bernard. «Wenn man jemanden ohne Urteil einsperren will, braucht es dafür gute Gründe. Zum Beispiel, dass jemand untertaucht oder gleich wieder Straftaten begeht. Das Zwangsmassnahmengericht prüft solche Haftgründe aber oft nur oberflächlich und ordnet auf Antrag der Staatsanwaltschaft bei einem Tatverdacht nahezu immer U-Haft an.»

Dabei gäbe es Alternativen. Etwa dass Verdächtige den Pass abgeben und sich regelmässig bei einer Amtsstelle melden müssen.

Auch die sogenannte Hafterstehungsfähigkeit werde nur rudimentär geprüft. Etwa die Frage, ob ein Betroffener die Haft wegen seiner psychischen Erkrankung überhaupt durchstehen kann, sagt Bernard.

Obwohl die Unschuldsvermutung gilt, herrschen in der Schweiz bei der U-Haft härteste Bedingungen. Die hat auch Raphael K. erfahren. Die Eltern dürfen ihn einmal pro Woche für eine Stunde im Regionalgefängnis Bern besuchen. 23 Stunden pro Tag verbringt er in seiner Einzelzelle, eine Stunde darf er in den schattigen, betongrauen Spazierhof. Dreimal pro Woche darf er duschen, und er erhält – wie alle Häftlinge – eine Extraportion Vitamin D, weil die Zellen derart düster und stickig sind.

In einem Gutachten empfiehlt der Psychiater, Raphael K. zu verwahren. Damit wäre es für ihn völlig ungewiss, wann und ob er jemals aus der Haft entlassen würde. Raphael liest das 180-seitige Gutachten des Psychiaters akribisch durch, dann bricht er zusammen. Er wird in die forensisch-psychiatrische Spezialstation Etoine verlegt; ein Gefängnis, das von den Universitären Psychiatrischen Diensten Bern betreut wird. Eine engmaschige psychiatrische Betreuung ist auch dort nicht möglich, und die einzige Zelle, die mit Kamera überwacht wird, ist gerade besetzt.

Die harten Bedingungen in der U-Haft hat die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter schon 2014 kritisiert. Trotzdem hat sich seither nicht viel verändert. In ihrem letztjährigen Bericht weist sie darauf hin, dass sich psychisch kranke Häftlinge nur schwer an Psychiaterinnen, Ärzte oder Sozialarbeiterinnen wenden können. Auch würden Häftlinge zu oft in Einzelhaft genommen, weil sie sich selbst oder andere gefährdeten. Eigentlich müssten sie dann in eine Klinik verlegt werden.

Die Kritik ist nicht verhallt. Der Kanton Zürich versucht, die Forderung umzusetzen, wonach Häftlinge in schwierigen Situationen ein besonderes Setting bekommen sollen. Im Gefängnis Limmattal wurde neu eine Abteilung eingerichtet für Häftlinge in akuten psychischen Krisen. Betroffene werden dort engmaschiger betreut, können Gespräche führen, mehr Besuch empfangen und sich sinnvoll beschäftigen.

«Ob sich die Haftbedingungen in den Zürcher Gefängnissen nun substanziell verbessern, muss sich noch weisen», sagt Strafverteidiger Stephan Bernard. Man spüre aber den Willen, etwas zu verändern. «Das ist grundsätzlich auch im Kanton Bern der Fall», sagt SP-Grossrätin Karin Berger-Sturm. Trotzdem wollte sie von der Berner Regierung wissen, ob sich tatsächlich etwas verbessert hat. Ihre Anfrage hat einen Grund: Raphael K. lebt nicht mehr. Eine Antwort hat Berger-Sturm bis heute keine bekommen.

Zu spät

Kurz nach seiner Einlieferung in Etoine fragt Raphael seine Eltern, ob sie wüssten, dass er sich habe das Leben nehmen wollen. Ernestine K. und Sebastian B. sind irritiert. Niemand hat sie informiert, obwohl sie die Einzigen sind, die in Krisensituationen Zugang zu ihrem Sohn haben.

Sie vermuten, dass er einen paranoiden Schub hatte, und verabreden einen Besuch in einer Woche. Zu dem Treffen kommt es nicht mehr. Raphael gehe es zu schlecht, ein Besuch sei nicht möglich, heisst es aus Etoine. Man vereinbart einen Telefontermin für den 5. August. Am Abend des 4. August erhängt er sich in seiner Zelle. Zwei Tage später verstirbt Raphael K. im Inselspital Bern. Er wurde 25 Jahre alt.

Trauriger Spitzenplatz

In Schweizer Gefängnissen kommt es regelmässig zu Todesfällen. Jedes Jahr sterben zwischen 10 und 30 Menschen hinter Gittern, fast die Hälfte durch Suizid. Die Suizidrate ist bei Gefangenen fast zwölfmal so hoch wie in der Bevölkerung. Im internationalen Vergleich belegt die Schweiz damit einen traurigen Spitzenplatz: Weltweit ist die Suizidrate von Gefangenen drei- bis maximal zwölfmal erhöht.

Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Denn in der Schweiz werden die Todesfälle in Haft nicht systematisch untersucht. Laut Fachleuten hängt die hohe Suizidrate auch mit den unmenschlichen Bedingungen in der U-Haft zusammen, wo das Suizidrisiko deutlich höher ist als im normalen Vollzug.
Gefängnis Limmattal in Dietikon. Blick in einen der Spazierhöfe.

2019 verbrachten Betroffene durchschnittlich 35 Tage in Untersuchungshaft, gut jede zwanzigste Person war länger als sechs Monate inhaftiert. In der Schweiz gibt es keine Maximaldauer bei U-Haft. Gemäss Artikel 5 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) muss jede Person innert einer angemessenen Frist verurteilt oder freigelassen werden.

Gemäss Bundesgericht darf die U-Haft nicht annähernd so lang sein wie die zu erwartende Freiheitsstrafe. «Teilweise wird die lange Haft wohl auch von der Staatsanwaltschaft als Druckmittel missbraucht, um von den Häftlingen ein Geständnis zu erhalten», schreibt die Menschenrechtsorganisation Humanrights auf ihrer Website. Sie unterhält seit einigen Jahren eine Anlaufstelle für Menschen im Freiheitsentzug (siehe Infobox).

Die Eltern suchten nach dem Tod ihres Sohnes nach Antworten. Sie tun es bis heute. Das erste Gespräch mit dem zuständigen Staatsanwalt sei katastrophal verlaufen, erinnert sich Sebastian B. Der Berner Staatsanwalt wollte den Todesfall nicht näher untersuchen. Ernestine K. und Sebastian B. beauftragten daraufhin zum ersten Mal in ihrem Leben einen Anwalt. So erreichten sie, dass die Staatsanwaltschaft doch noch ermitteln musste – und zwar gegen den Oberarzt der Station Etoine. Erst während dieser Untersuchung erfuhren die Eltern, dass ihr Sohn im Gefängnis vier Mal versucht hatte, sich das Leben zu nehmen. Die Untersuchung läuft noch.

Weil ein Teil ihrer Fragen in der Untersuchung nicht zugelassen wurde, gelangten die Eltern bis ans Bundesgericht und bekamen dort recht. Das juristische Hickhack ist zermürbend, doch Ernestine K. und Sebastian B. wollen weiterkämpfen, obwohl ihnen ihr Anwalt kaum Hoffnung macht. Er hatte ihnen erklärt, dass die Schweiz schlicht kein Interesse habe, solche Fälle aufzuklären. «Man muss sich doch um die Häftlinge kümmern, wenn sie krank sind, und darf sie nicht auf ihre Delikte reduzieren», sagt der Vater. Und die Mutter: «Wir haben nichts zu verlieren. Nichts mehr!»

Kerzen für die Toten

Am 10. Dezember 2022 schneit es in diesem Winter zum ersten Mal bis ins Flachland. Auf dem Berner Waisenhausplatz fallen die Flocken zu «Jingle Bells» auf Tannenzweige und in Tassen voller Glühwein. Weiter hinten, wo keine Lichterketten mehr hängen, haben sich 40 Menschen um eine Feuerschale versammelt. Grossmütter, Väter, Schwestern, Freunde und Töchter – alles Hinterbliebene von Menschen, die in Haft umgekommen sind.

Sie treffen sich an diesem Abend, weil der 10. Dezember auch der Tag der Menschenrechte ist. Die Namen aller seit 2018 im Freiheitsentzug Verstorbenen werden vorgelesen. Für jeden Namen stellt man eine weisse Kerze in die Mitte und entzündet sie. Am Ende werden es mehr als 50 sein. Auf einer steht der Name Kilian.

Ähnlich wie Raphael K. war auch Kilian S. der Staatsanwaltschaft wegen geringfügiger Delikte bekannt. Doch er hatte sich aufgerappelt, sich in eine psychiatrische Klinik eingewiesen und von Drogen die Finger gelassen. Dann, an Heiligabend 2018, besuchte Kilian S. eine Goa-Party. In den frühen Morgenstunden war er nicht mehr ansprechbar. Eine Barfrau bemerkte ihn und wollte helfen. Sie rief die Polizei, und diese nahm ihn mit. Ein Drogenschnelltest war positiv. Man alarmierte den Notarzt, doch der hatte es nicht für nötig befunden, Kilian ins nahe gelegene Inselspital zu überweisen.

Später wird der Notarzt zu seiner Verteidigung sagen, dass eine Verlegung zu teuer gekommen wäre und Kilian S. einem «richtigen» Notfallpatienten den Platz genommen hätte. Kilian blieb in einer Polizeizelle, war weiterhin kaum ansprechbar. Man schaute alle zwei Stunden nach ihm, doch als man wieder einmal schaute, war der Zwanzigjährige bereits tot, höchstwahrscheinlich an einer Überdosis gestorben.

Das Verfahren gegen den Arzt wurde nach kurzer Zeit eingestellt. Ein Verfahren gegen die Polizei gar nie eröffnet. Angehörige und Freunde von Kilian wehren sich dagegen.

Verstoss gegen Völkerrecht

In der Schweiz gebe es in solchen Fällen keine unabhängige Untersuchung, kritisiert Anwalt Philip Stolkin. «Die Staatsanwaltschaften arbeiten tagtäglich mit der Polizei zusammen und leiten kaum je Verfahren gegen sie ein.» Genau das hat auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) gerügt.

Das zeigt ein weiterer Fall, der von S. F., der sich in seiner Zelle umgebracht hat. Im Prozess S. F. gegen die Schweiz hielt der EGMR fest, dass die Schweiz Artikel 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention verletze, das Recht auf Leben. Sie müsse alles unternehmen, damit solche Todesfälle in Zukunft möglichst verhindert würden. Dazu gehöre auch eine wirksame und unabhängige Untersuchung. Der nach einem Autounfall festgehaltene S. F. hatte gegenüber der Polizei Suizidgedanken geäussert. Trotzdem wurde er allein in eine Zelle gesperrt, wo er sich kurz darauf erhängte. Sämtliche Verfahren wurden von der Staatsanwaltschaft eingestellt.

Seit Dezember 2022 ist nun eine neue Beschwerde beim EGMR hängig: Kilian S. gegen die Schweiz.



Beobachter hilft

Der Beobachter hat die Mutter, Freunde und Angehörige von Kilian S. mit einem Beitrag an die Prozesskosten bei der Beschwerde an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte unterstützt, damit wichtige Grundsatzfragen geklärt werden und zukünftigen Inhaftierten geholfen werden kann.



In Haft: Was tun?

Menschen im Freiheitsentzug und ihre Angehörigen finden hier Hilfe:
– Beim Verein Perspektive gibt es für Angehörige Angebote in ihrer Nähe.
Angehoerigenarbeit.ch
– Die Beratungsstelle von Humanrights.ch berät, interveniert bei Behörden und vermittelt auch Anwältinnen.
Humanrights.ch (Beratung für Menschen im Freiheitsentzug)
(https://www.beobachter.ch/gesetze-recht/untersuchungshaft-in-schweizer-gefangnissen-ist-oft-menschenunwurdig-und-kann-zu-suizid-der-inhaftierten-fuhren-565258)


+++RECHTSEXTREMISMUS
No Nazis @ ZHAW
S.C. welche faschistisches Gedankengut vertritt und im Umfeld der jungen Tat aktiv ist, studiert an der ZHAW angehende Hebamme.
Vor Kurzem wurde bekannt, dass S.C. welche ein faschistisches Gedankengut vertritt und im Umfeld der jungen Tat aktiv ist, an der ZHAW als angehende Hebamme studiert. Zudem wurde darüber berichtet, dass sie die Freundin von Manuel Corchia ist. Manuel Corchia und Tobias Lingg sind Kopf der Jungen Tat und sichere Grenzen.ch.
Beide Gruppen sind als rechtsextrem zu verorten. Wir sind schockiert und fassungslos, dass eine Person mit einem derart gefährlichen und üblem Gedankengut an einer Fachhochschule für Gesundheitswissenschaften immatrikuliert wurde.
https://barrikade.info/article/5578



tagblatt.ch 19.01.2023

Experte zur Aktion der Neonazi-Gruppe «Junge Tat» am Bahnhof St.Gallen: «Der Tonfall erinnert an eine Kampagne der SVP»

Am Samstag hat die rechtsextreme Organisation Junge Tat ein riesiges ausländerfeindliches Banner an die Fassade des Bahnhofs St.Gallen gehängt. Rechtsextremismus-Experte Hans Stutz erklärt, wie die Gruppe versucht, ins Zentrum der Gesellschaft vorzustossen.

Enrico Kampmann

Nachdem bekanntgeworden war, dass ein ehemaliger Präsident der SVP Buchs heute Mitglied der rechtsextremen Gruppe Junge Tat ist, hat diese am vergangenen Samstag mit einer spektakulären Aktion am Bahnhof St.Gallen versucht, auf sich und ihre ausländerfeindliche Botschaft aufmerksam zu machen. Sie liess einen fünf auf zehn Meter grosses Banner mit einer entsprechenden Botschaft vom Bahnhofsdach über die Fassade herab. Dort hing es während rund 90 Minuten, ehe es die Feuerwehr im Auftrag der Stadtpolizei herunterholte.

Hans Stutz ist Journalist und langjähriger Beobachter der rechtsextremen Szene und ordnet den Vorfall ein.

Auffallend viele Aktivitäten der Jungen Tat (JT) finden in St.Gallen und dem Thurgau statt, nun auch diese letzte grosse Aktion am Bahnhof St.Gallen. Bereits 2016 wurde in Unterwasser eines der grössten Neonazi-Konzerte abgehalten, die Europa je gesehen hat. Ist die Neonazi-Szene in der Ostschweiz besonders gut vernetzt?

Hans Stutz: Das kann man so nicht sagen. Die JT hat in der ganzen Schweiz schon Aktionen durchgeführt, vor St.Gallen zuletzt in Basel und Zürich. Ausserdem ist es nicht zutreffend, die JT mit dem Neonazi-Konzert von Unterwasser in Verbindung zu bringen. Das sind zwei verschiedene Paar Schuhe.

Erklären Sie.

Unterwasser war die letzte grosse Veranstaltung der Naziskinhead-Subkultur in der Schweiz. Diese beruft sich explizit auf den Nationalsozialismus und verwendet auch dessen Symbole, also Hakenkreuze, SS-Runen und anderes mehr. Die JT hingegen orientiert sich heute an den Vorstellungen der Neuen Rechten und der Identitären Bewegung. Diese Neue Rechte ist ebenfalls rechtsextrem, unterscheidet sich aber von Nazi-Skinheads.

Inwiefern?

Nazis gingen und gehen von der Überlegenheit der arischen Rasse aus. Sie beanspruchen daher die Herrschaft über andere Völker. Die Neue Rechte vertritt die These, dass in einer Gesellschaft nur Menschen gleicher kultureller Herkunft zusammenleben können. Folglich hätten Menschen aussereuropäischer Herkunft Europa zu verlassen.

Bis vor kurzem trat die JT mit Sturmmasken mit der Tyr-Rune auf, ein Symbol der Hitlerjugend und der Sturmabteilung der Nazis. Am 131. Jahrestag von Hitlers Geburt störten Mitglieder eine Onlinevorlesung der Zürcher Hochschule der Künste (ZHDK) mit Hitler-Rufen. Ebenfalls sabotierten sie ein Zoom-Meeting der Jüdischen Liberalen Gemeinde Zürich.

Früher haben sich die Mitglieder der JT ideologisch ganz klar am Nationalsozialismus orientiert. Momentan scheint die Gruppe aber sehr darauf bedacht zu sein, in ihrem öffentlichen Auftreten jegliche Berührungspunkte mit dem Nationalsozialismus zu unterlassen.

Haben die Anführer der Gruppe deswegen im Herbst 2022 in einem Video erklärt, dass sich ihr Protest «im rechtsstaatlichen» Rahmen bewege und sie sich «klar von Nationalsozialismus und anderen Ideologien» distanzierten?

Es ist seit Jahren eine übliche Taktik von rechtsextremen Gruppierungen, die Nähe zum Nationalsozialismus zu bestreiten.

Bis vor kurzem verdeckten Mitglieder der JT stets ihre Gesichter. Während der Aktion am Bahnhof St.Gallen am vergangenen Freitag verteilten einige Mitglieder unmaskiert Flyer. Später luden sie ein Video davon in die sozialen Netzwerke. Woher nimmt die Gruppe die Selbstsicherheit, nicht mehr anonym zu agieren?

Für einige von Ihnen spielt es keine Rolle mehr, weil sie sowieso schon geoutet wurden.

Sie könnten untertauchen. Stattdessen zeigen sie sich öffentlich und posten Videos davon.

Sie sind eben überzeugte Aktivisten. Interessant ist vor allem, wie sie das tun.

Was meinen Sie?

Die Begründung für die JT-Aktion am Bahnhof St.Gallen ist in Argumentation und Tonfall sehr nahe der aktuell laufenden SVP-Kampagne wider die Einwanderung, beziehungsweise die «Überfremdung». Die verwendete Sprache und Symbolik sind ein klarer Versuch, an den Diskurs der SVP anzudocken und so jene Leute für sich zu gewinnen, die gegen Migration sind.

Wo liegt dann noch der Unterschied zur SVP?

Man kann nicht davon ausgehen, dass die Mitglieder der JT jedes Gedankengut, das sie vertreten, bei ihren Aktionen auch öffentlich machen. Sie suchen sich Themen aus, bei denen sie auf breite Zustimmung hoffen, um noch weiter ins Zentrum der Gesellschaft vorzudringen. Diese Strategie haben rechtsextreme Gruppierungen auch schon früher verfolgt.

Mit welchem Ziel?

Sie hoffen darauf, dass sie am breiten politischen Diskurs teilnehmen können und als politische Akteure akzeptiert werden.



Hipsterfrisuren statt Glatzen

Die rechtsextreme Gruppe Junge Tat drängt seit Monaten mit ihren äusserst professionell umgesetzten Aktionen und Videos aggressiv an die Öffentlichkeit. Statt mit Glatze und Springerstiefeln treten die Vertreter der neuen radikalen Rechten mit Hipsterfrisuren und Turnschuhen auf. Eines ihrer Mitglieder ist ein 28-Jähriger, der bis 2019 Vizepräsident der Jungen SVP St.Gallen und Präsident der SVP Buchs war. (eka)
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/interview-experte-zur-aktion-der-neonazi-gruppe-junge-tat-am-bahnhof-stgallen-der-tonfall-erinnert-an-eine-kampagne-der-svp-ld.2402620)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Strafverfahren gegen Stricker eröffnet – US-Behörde prüft Fall auch
Daniel Stricker behauptete, für eine USA-Reise ein Covid-Zertifikat gefälscht zu haben. Jetzt wird ein Verfahren eröffnet. Auch US-Behörden prüfen den Fall.
https://www.nau.ch/news/schweiz/strafverfahren-gegen-skeptiker-stricker-eroffnet-66397932
-> https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/urkundenfaelschung-thurgauer-staatsanwaltschaft-ermittelt-gegen-verschwoerungstheoretiker-daniel-stricker-ld.2402782
-> https://www.toponline.ch/news/thurgau/detail/news/strafverfahren-gegen-daniel-stricker-im-thurgau-00203628/
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/strafverfahren-gegen-massnahmen-gegner-daniel-stricker-149746792

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thurgauerzeitung.ch 19.01.2023

Strafverfahren wegen gefälschtem Impfpass am Hals – Daniel Stricker krebst zurück: «Ich bin ein Comedian»

Eigentlich wollte er sein «Buch der Schande» promoten, doch dann erzählt der Hinterthurgauer Daniel Stricker seinen Zuhörern in Bern, wie er es geschafft hat, ungeimpft in die USA einzureisen. Dafür könnte er jetzt sogar ins Gefängnis kommen. Nicht nur die Thurgauer Staatsanwaltschaft ist hinter ihm her.

Ida Sandl

Für Daniel Stricker könnte es ungemütlich werden. Die Thurgauer Staatsanwaltschaft hat ein Strafverfahren wegen Urkundenfälschung gegen ihn eröffnet, wie sie Donnerstag bekannt gab. Kein harmloses Delikt, das Strafgesetzbuch sieht dafür Freiheitsstrafen von bis zu fünf Jahren vor. Stricker lebt im Hinterthurgau, er ist das Gesicht der Schweizer Impfgegner und Corona-Verharmloser. Momentan tourt er durch die Deutschschweiz, um sein «Buch der Schande» zu promoten. Auf Twitter ruft er die Fans dazu auf, die Vorstellungen zu besuchen, «bevor ich ins Gefängnis muss».

Er wusste nicht, dass Journalisten im Saal sind

War die Geschichte mit dem gefälschten Impfpass also nur ein PR-Gag? Nein, sagt Stricker. Von den Ermittlungen gegen ihn habe er aus den Medien erfahren: «Ich bin aus allen Wolken gefallen.» Bei seinem Auftritt in Bern vor 200 Menschen habe er nicht damit gerechnet, dass Journalisten im Saal seien. «Sie haben sich mir nicht vorgestellt.»

Doch die Presse war da und hat die Geschichte vom gefälschten Impfausweis und wie Stricker damit relativ locker in die USA einreiste, publik gemacht. Er habe einfach das Zertifikat von jemand anders genommen und seinen Namen darauf geschrieben. Das habe er dann ausgedruckt. Die Frau am Flughafen habe das Dokument nur angeschaut und ihn dann durchgewunken.

Aber ist die Story wahr? Strickers Antwort lässt jedenfalls Interpretationsspielraum. «Ich bin ein Comedian», sagt er. Seine USA-Reise hatte schon im Dezember 2021 für Wirbel gesorgt. Damals allerdings unter den Corona-Skeptikern, es wurde die Frage laut, ob er sich vielleicht heimlich habe impfen lassen.

Auch die amerikanische Gesundheitsbehörde prüft den Fall

Nicht nur die Thurgauer Ermittler befassen sich mit dem Schweizer Frontmann der Corona-Skeptiker. Ungemach droht ihm auch aus den USA. Die US-Botschaft in Bern hat gegenüber dem Newsportal «nau.ch» bestätigt, dass auch eine Behörde des US-amerikanischen Gesundheitsministeriums den Fall prüfe. Stricker hatte bei seinem Auftritt in Bern auch erzählt, dass er während des Fluges nach Amerika ein Formular habe ausfüllen müssen. Er habe angekreuzt, dass er geimpft sei. «Da habe ich gelogen.»

Am Freitag will er den gefälschten Impfpass den Besuchern vorlegen

Dass er ins Visier der Justiz geraten ist, nimmt Stricker scheinbar gelassen: Bei seinem Auftritt am Freitag will er den gefälschten Impfpass sogar den Besuchern vorlegen. Er habe seine Fans bereits aufgefordert, dabei zu sein. Gefragt nach dem Grund dafür, bleibt er wieder nebulös: «Weil Licht das beste Desinfektionsmittel ist.» Diese Aussage wolle er einfach so stehen lassen. Dann redet er von Redefreiheit und künstlerischer Freiheit. Die momentane Entwicklung mache es für ihn als Entertainer spannender.

Noch habe die Staatsanwaltschaft keinen Kontakt mit Stricker aufgenommen. «Ich warte gespannt auf die Hausdurchsuchung, aber ich kann mich ja schon mal darauf vorbereiten.»
Die mit dem Strafverfahren verbundene Publizität kommt Stricker nicht ungelegen, seit vier Wochen ist das «Buch der Schande» auf dem Markt, er hat darin Schlagzeilen, Tweets und Plakate zum Thema Corona gesammelt und in der ihm eigenen Art deftig kommentiert. 8300 Exemplare habe er bereits verkauft, aber kein Medium habe je ein Wort darüber geschrieben, sagt er mit Enttäuschung in der Stimme. «Kaum ermittelt die Staatsanwaltschaft gegen mich, wollen alle mit mir reden.»
(https://www.thurgauerzeitung.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/impfgegner-strafverfahren-wegen-gefaelschtem-impfpass-am-hals-daniel-stricker-krebst-zurueck-ich-bin-ein-comedian-ld.2403005?mktcid=smch&mktcval=twpost_2023-01-19)



derbund.ch 19.01.2023

WEF-Verschwörungs­theorien: Sie haben Angst vor einer neuen Welt­ordnung

Gegen das Welt­wirtschafts­forum richtet sich eine neue Art von Protest, millionen­fach geteilt. So gefährlich sind die WEF-Verschwörungs­theorien der Telegram-Aktivisten.

Andreas Tobler

Protest gegen das WEF in Davos gibt es seit gut einem Vierteljahrhundert, er gehört quasi zum Programm, spätestens seit 2000 Autonome sich in der Bergstadt Scharmützel mit der Polizei lieferten, erst Schneebälle flogen und dann die Scheiben des McDonald’s zu Bruch gingen. Doch in diesem Jahr scheint sich etwas verschoben zu haben. Denn plötzlich kommt der Protest nicht mehr primär von links. Sondern vermehrt von Verschwörungsideologen, die von dunklen Mächten raunen, die mit dem WEF eine neue Weltordnung etablieren wollen. Mit dieser Neuordnung sollen normale Menschen von einer Elite und einem «digital-finanziellen Komplex» angeblich enteignet und versklavt werden.

Die WEF-Verschwörungstheorie scheint einige Anhänger so zu beunruhigen, dass sie in Onlineforen mit terroristischen Aktionen liebäugeln: Das Nachrichtenportal Nau.ch hat auf Telegram Beiträge entdeckt, in denen Verschwörungsgläubige mit einer Strommastattacke drohen. «Weiss jemand, wo die wichtigsten Hochspannungsleitungen durchgehen? Hat jemand Pfeil, Bogen und ein langes Drahtseil?», soll einer von ihnen gefragt haben. Ein anderer habe den Vorschlag gemacht, Pfeile mit dem mRNA-Impfstoff zu befüllen, um damit die «Elite zu jagen».

Auf Telegram millionenfach geteilt

Obwohl die Theorie einer neuen Weltordnung mit einer versklavten Menschheit wirr ist, wird sie in Varianten millionenfach auf Telegram und in anderen sozialen Medien geteilt. Nicht zuletzt, weil Personen des öffentlichen Lebens Versatzstücke aus dieser Theorie wiederholen – und damit die Verschwörungsgläubigen bestärken. «Das WEF entwickelt sich immer mehr zu einer nicht gewählten Weltregierung, die das Volk nie verlangt hat und nicht will», twitterte Elon Musk am Mittwoch.

In den Telegram-Kanälen werden Personen oftmals direkt angegriffen, etwa der WEF-Gründer Klaus Schwab, der mit seinem Buch «The Great Reset» von 2020 eine Art Blaupause für die Errichtung der neuen Weltordnung geliefert habe. Oder die Zürcher Regierungsrätin Natalie Rickli, die 2012 vom WEF als Young Global Leader gewählt wurde. Und die seither von den Verschwörungsmystikern verdächtigt wird, am «Komplott» beteiligt zu sein. «Was weiss und verschweigt Natalie Rickli, Regierungsratskandidatin im Kanton Zürich und Young Global Leader beim WEF?», heisst es in einem Posting, das auf Telegram geteilt wird.

Die Gefahr der Telegram-Aktivisten

Während der Corona-Pandemie wurde die Zürcher SVP-Regierungsrätin im August 2021 von einem Impfgegner mit einer Apfelschorle überschüttet. Und in Bern rüttelten nach dem Sturm auf das Capitol in Washington zahlreiche Schweizer Massnahmengegner an den Gittern vor dem Bundeshaus. Solche Taten mögen marginal wirken, doch sie zeigen, dass Telegram-Chats und Verschwörungstheorien ein Gefahrenpotenzial haben.

Verschwörungstheorien haben gerade durch die Corona-Pandemie kräftig Auftrieb erhalten. «Die Theorien rund ums WEF haben etwas gemeinsam: Dunkle Mächte wollen eine Weltregierung errichten», erklärt der Amerikanist Michael Butter, der an der Universität Tübingen ein Forschungsprojekt zu Verschwörungstheorien leitet. «Wenn vom ‹Great Reset› gesprochen wird und dabei auch noch die Corona-Massnahmen erwähnt werden, kann es für Aussenstehende so wirken, als hätten wir es hier mit verschiedenen Theorien zu tun. Aber für die Verschwörungsgläubigen sind dies oft nur Facetten ein und derselben Theorie.»

Angst vor dem Kommunismus und der «Klimaplanwirtschaft»

Im Grunde genommen nährt sich diese Verschwörungstheorie immer von einer Angst, «dass der Einzelne oder wir als Kollektiv unsere Autonomie verlieren könnten», sagt Butter. Die Theorie einer neuen Weltregierung existierte denn auch schon, lange bevor Klaus Schwab 2020 sein Buch «The Great Reset» veröffentlichte. Aber mit der Corona-Pandemie – so Michael Butter – «hat diese Theorie dann nochmals kräftig Auftrieb erhalten, weil sich viele Verschwörungsgläubige durch die Pandemiemassnahmen in ihrer Sicht bestätigt fühlten.» Von der Erfahrung der Corona-Pandemie zehren die Verschwörungsideologen noch heute.

Die Angst vor einer neuen Weltordnung kann dabei aber mit geradezu beliebigen Inhalten gefüllt werden. «In Brasilien zum Beispiel ist mit dem Great Reset die Angst verbunden, dass der Kommunismus eingeführt werden könnte», sagt Butter. In Europa dagegen wollen die Verschwörungsideologen bereits in der Europäischen Union einen Vorboten der neuen Weltregierung erkennen. Oder in den Massnahmen gegen den Klimawandel, die uns in unserer Wahlfreiheit einschränken könnten. Diese Massnahmen würden beweisen, dass ein grosser Umbau in der Welt anstehe, dass wir bald von einer Weltregierung unterjocht würden, sagen die Verschwörungsgläubigen.

In dieser Sicht können sich die Gläubigen auch von Roger Köppel bestätigt fühlen, wenn der SVP-Nationalrat in seinem Videoformat «Weltwoche Daily» vor einer «Klimaplanwirtschaft» warnt, die vom WEF als «Propagandaplattform» eines «grünen Umbaus der Wirtschaft und der Gesellschaft» angestrebt werde. Die Ängste vor einer Weltregierung sind nicht zuletzt auch mit Nationalismus kompatibel. «Eine nicht gewählte Elite trifft sich auf Schweizer Boden und bestimmt das Schicksal von Ländern und Völkern? Das lehnen wir ab», schreibt etwa Nicolas Rimoldi von der Gruppierung Mass-voll. Das WEF habe nichts mit «Schweizer Werten gemein» und müsse deshalb «aus der Schweiz verschwinden».

Die Angst vor «perfekt überwachten Smart Cities»

Mass-voll wird «voraussichtlich« nicht in Davos sein. In diesem Jahr will man sich auf die «Souveränitätsinitiative» konzentrieren, mit der «unsere verfassungsmässigen Rechte vor der Politik von WEF, WHO, EU und anderen grundrechtsfeindlichen Organisationen beschützt» werden sollen, wie Nicolas A. Rimoldi auf Anfrage mitteilt.

Wenn der Protest der Verschwörungstheoretiker sich in Davos leibhaftig manifestiert, erscheint er in Gestalt eines elegant gekleideten TV-Korrespondenten: Thomas Eglinski trägt bei seinen Auftritten in Davos Anzug, Krawatte und Wintermantel. Eglinski arbeitet für AUF1, ein verschwörungstheoretisches Digitalfernsehen aus Österreich, das seit mehreren Tagen aus Davos berichtet. Oder es zumindest versucht: Der Zugang zum Konferenzzentrum sei ihnen verweigert worden, erzählt Eglinski seinem Publikum, «anscheinend ist kritische Berichterstattung nach wie vor unerwünscht».

Er sei beim WEF nicht reingelassen worden, sagt der verschwörungsideologische Reporter Thomas Eglinski.
Video: AUF1
https://gegenstimme.tv/w/65KnEs9G28crVJZLm35U7S

Das sei kein Wunder, fährt Eglinski fort, würden heute doch wichtige Themen beim WEF besprochen. Beteiligt seien daran WEF-Gründer Klaus Schwab, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz und EU-Kommissions-Präsidentin Ursula von der Leyen. Wahrscheinlich würden sich die Vertreter der Regierung und der EU «demütig Anweisungen für die Themen abholen, die uns in diesem Jahr noch häufiger beschäftigen». Darunter seien der «Klimaschwindel», eine «digitale Zentralwährung» oder dass uns allen die «Internierung in perfekt überwachten Smart Cities» drohe.

«Symbolisch» mit Farbsäcken gegen die ZKB

In den Sendungen des Digitalfernsehens AUF1 ist alles dabei, was die Verschwörungsideologien rund ums WEF ausmachen. Nicht zuletzt, weil in den Sendungen des Digitalfernsehens wiederholt von einem «digital-finanziellen» Komplex gewarnt wird – eine Anspielung auf den «militärisch-industriellen Komplex», der in der linken Theorie lange eine grosse Rolle spielte. «Die rechten und verschwörungsideologischen Gruppierungen sind extrem effizient in der Aneignung von linken Begriffen und Strategien», sagt der Soziologe Oliver Nachtwey von der Universität Basel, «nicht zuletzt, weil die Linke zurzeit schwach ist, wenn es um Herrschaftskritik geht.»

Und die Linke selbst? Die ist weiterhin aktiv im Protest gegen das WEF: Eine «Schande» nannte Juso-Präsident Nicolas Siegrist an diesem Dienstag bei einer Demo in Davos das Wirtschaftsforum. Sie seien zusammengekommen, «um den Reichen und Mächtigen zu sagen, dass wir sie nicht ungestört weitermachen lassen». Die Proteste der Linken in Davos waren in diesem Jahr bisher friedlich. Etwas anders war es in Zürich. Hier zogen mehrere Hundert radikale Linke durch die Stadt, um gegen das WEF zu demonstrieren. Zwei Dutzend Personen warfen Farbsäcke gegen die Wand einer Beratungsfirma.

Gegen Ende der Demonstration sei die Filiale der ZKB an der Langstrasse angegriffen worden, «symbolisch gegen alle die Konzerne, die täglich weltweit für Übel und Ausbeutung verantwortlich sind», wie es in einer Stellungnahme des linken Kollektivs heisst, das die Verantwortung für die Demo übernimmt.
Die Verschwörungsideologen wünschen sich die Welt der 1950er- und 1960er-Jahre zurück

Hat sich im Protest gegen das WEF eine unheilige Allianz gebildet – zwischen linken Antikapitalisten, den rechten WEF-Kritikern und den Verschwörungsideologen? Nein, sagt Oliver Nachtwey.

Seit Occupy Wall Street habe der linke Protest gegen die Globalisierung viel Kraft verloren. Die Gründe dafür seien vielfältig, sagt Nachtwey. Aber die linke Kritik am WEF könne immer noch sehr genau gegenüber rechts und den Verschwörungsideologien abgegrenzt werden. «Der linke Protest wandte sich schon vor über zwanzig Jahren gegen konkrete Missstände. Und die Linke hat immer Vorschläge gemacht, wie die Missstände bewältigt werden können.» So sei es um die Jahrtausendwende gewesen, als sich die WEF-Proteste gegen die Deregulierung der Märkte gerichtet hätten, mit der eine neoliberale Politik auf den Weg gebracht worden sei. Und so sei das auch noch heute, da linke WEF-Demonstranten von den Mächtigen konkrete Massnahmen gegen den Klimawandel forderten, sagt Nachtwey.

Der rechte und verschwörungsideologische Protest sei dagegen oftmals «raunend» und «regressiv». Also wenig konkret und rückwärtsgewandt. «Eigentlich wünscht man sich die 1950er- und 1960er-Jahre zurück, als die Welt vermeintlich noch in Ordnung war», sagt Nachtwey. Diese Rückwärtsorientierung zeige sich bei den Verschwörungsideologen unter anderem daran, «dass mit der neuen Weltordnung, von der man fantasiert, das Bargeld abgeschafft werden solle».

Das Raunende gebe es zwar auch bei der Linken, räumt Oliver Nachtwey ein, etwa dann, wenn früher vom «Verblendungszusammenhang» gesprochen worden sei. Heute gibt es dieses Raunende noch bei den Aktionen der Autonomen, bei denen es – so Oliver Nachtwey – oftmals nur darum geht, «sich in der Szene der linken Subkultur als radikal darzustellen». Dazu passe die «pseudoradikale» – und manchmal auch raunende – Sprache dieser Autonomen. Aber die klassische linke Kritik fusse auf empirischer Analyse, also auf Beobachtungen von Tatsachen, sagt Nachtwey.

Protest von links und rechts «vielleicht ein gutes Zeichen»

Bei den Organisatoren des WEF sieht man im Protest von links und rechts eine Bestätigung der eigenen Arbeit. «Wenn wir von beiden extremen Polen kritisiert werden, ist das vielleicht ein gutes Zeichen», meinte der WEF-Präsident Børge Brende Anfang dieser Woche in einem Interview mit der NZZ. Von der «extremen Kritik», die in Tausenden Telegram-Postings gegen das WEF erhoben wird, will sich Brende hingegen nicht beeindrucken lassen. Diese «extreme Kritik» stamme «von einigen verrückten Verschwörungsgruppen», die er nicht ernst nehmen könne und die er deshalb bewusst ignoriere, erklärte Brende gegenüber der NZZ.

Kann man es sich so einfach machen wie der WEF-Präsident – und den verschwörungsideologischen Protest ignorieren? Dafür sei das Mobilisierungspotenzial solcher Chats zu gross, sagt Oliver Nachtwey. «Wenn Eingriffe in unsere Wahlfreiheit vorgenommen werden, können solche Netzwerke ohne Probleme für die Organisation von Demonstrationen und anderen Aktionen genutzt werden», sagt der Soziologe.

So etwa, wenn in Zukunft staatliche Instanzen wegen des Klimawandels Massnahmen ergreifen. Dann können solch verschwörungsideologische Netzwerke «rasch wachsen» und zur Mobilisierung genutzt werden, sagt Oliver Nachtwey.

Bis dahin werden die Telegram-Chats mit immer wieder neuen Varianten ein und derselben Verschwörungstheorie einer Weltregierung gefüttert. «Die Varianten dieser Theorie lenken nicht zuletzt von berechtigten Protesten gegen das WEF ab, da bei profunden Kritikern die Angst entstehen könnte, mit Verschwörungstheoretikern in einen Topf geworfen zu werden», sagt Michael Butter. Tatsächlich war in diesem Jahr von profunder WEF-Kritik noch wenig zu hören. Dafür umso mehr dunkles Geraune.

Mitarbeit: David Sarasin
(https://www.tagesanzeiger.ch/so-gefaehrlich-sind-die-wef-verschwoerungstheorien-102832906687)


+++HISTORY
Wie Zürich vom Kolonialismus profitierte
Die Schweiz hat nie direkt andere Länder unterworfen und ausgebeutet, sie hat aber trotzdem davon profitiert. Spuren dieser kolonialen Verflechtung gibt es auch in Zürich. Die Stadt will diesen Teil der Vergangenheit aufarbeiten und präsentiert im Stadthaus eine neue Ausstellung.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/wie-zuerich-vom-kolonialismus-profitierte?id=12321412



nzz.ch 19.01.2023

Von Sklavenbesitzern bis zum «kleinen Mohren»: Ist Zürich eine koloniale Stadt?

Eine Ausstellung arbeitet Vergessenes auf – und vergisst dabei selbst etwas Wichtiges.

Giorgio Scherrer

Der Gentest war schuld. Deswegen erfuhr die Zürcher Tänzerin Stefanie Inhelder, dass ihr Urgrossvater ein Kolonialist war. Inhelders Vater hatte den Test gemacht und ein interessantes Resultat erhalten: «ein Viertel Südostasien».

Der Grund dafür war der besagte Urgrossvater, der – wie einige Schweizer Ende des 19. Jahrhunderts – auf einer Plantage in Indonesien gearbeitet und sich dort eine Frau gekauft hatte, mit der er drei Kinder zeugte. Die zwei Knaben wurden in die Schweiz geschickt, durften hier zur Schule gehen und wurden Teil der Familie. Von ihrer Schwester wie auch der Mutter fehlt heute jede Spur.

«Man erschrickt, wenn man plötzlich merkt, dass solche Dinge in der eigenen Familie passiert sind», sagt Inhelder heute. Darüber sei nie gesprochen worden – bis jetzt.

Der neue Blick auf ihre Familie habe sie dazu angeregt, über die Rolle von kolonialer Vergangenheit und kolonialem Denken in ihrem Leben nachzudenken, sagt Inhelder. Ihre Geschichte ist denn auch Teil einer eben eröffneten Ausstellung im Zürcher Stadthaus, die die Verbindungen der Stadt zum Kolonialismus aufzeigen will.

Die Schweiz im Kreis der Kolonialmächte

Die Ausstellung trägt den Titel «Blinde Flecken», und dieser Name ist Programm: Wie die Familie Inhelder im Kleinen soll sich hier auch die Stadt als Ganzes mit verdrängten Aspekten ihrer Geschichte befassen.

Etwa mit den zwei Zürcher Sklavenhändlern, die Ende des 16. Jahrhunderts von Dakar aus Afrikanerinnen und Afrikaner nach Amerika verschifften. Oder mit den lukrativen Investitionen der Stadt Zürich in den Sklavenhandel aus dem 18. Jahrhundert. Oder mit dem Zürcher Professor, der sich Ende des 19. Jahrhunderts als junger Mann tatkräftig an der deutschen Kolonisation von Namibia beteiligte.

Geradezu irritierend ist die Karikatur eines chinesischen Journalisten von 1904, die in der Ausstellung gezeigt wird. Dort erscheint neben den grossen europäischen Imperialmächten auch die Schweiz, deren Bürger in ostasiatischen Ländern teilweise über weitreichende Privilegien verfügten. So etwa über das Recht, Streitigkeiten nicht vor lokalen Gerichten, sondern vor dem Schweizer Konsul auszufechten.

Die Schweiz im Kreis der Kolonisatoren: Das ist ein ungewöhnliches Bild.

Auch sonst zeigt die Ausstellung eindrücklich, wie vielfältig und kompliziert die Verbindungen zwischen Zürich und dem Kolonialismus waren. Rassentheoretiker an der Universität kommen ebenso vor wie Völkerschauen und zweifelhafte Werbebotschafter – das Warenhaus Globus warb in den 1930er Jahren etwa mit einem «weissen Neger» für seine Produkte. Auch Kunst aus kolonisierten Gebieten landete in Zürich, etwa im heutigen Museum Rietberg.

Eine wichtige Rolle spielen schliesslich die Zürcher Plantagenbesitzer, die in der Ferne zu Reichtum kamen und danach in Zürich das Stadtbild prägten – etwa mit Bauten wie der Villa Patumbah.

«Zürich ist verstrickt», steht in grossen Lettern auf einem Plakat. «Zürich ist beteiligt», steht auf einem anderen. Der Kolonialismus, heisst es, war «die grosse Anmassung Europas», und die Schweiz war – obwohl sie über keine eigenen Kolonien verfügte – wirtschaftlich und ideologisch daran beteiligt.

Letzteres ist unter Historikerinnen und Historikern seit längerem unbestritten. Höchst umstritten ist dagegen der Umgang mit diesem historischen Erbe.

Aufarbeitung oder Selbstkasteiung?

Spätestens seit die Stadt Zürich beschlossen hat, einige als rassistisch empfundene Inschriften in der Altstadt abdecken zu lassen, wird heftig über eine erinnerungspolitische Grundsatzfrage diskutiert: Wo hört die kritische Reflexion der eigenen Vergangenheit auf – und wo beginnt die Selbstkasteiung?

Die Ausstellung im Stadthaus gibt darauf eine ziemlich klare Antwort: Es braucht noch mehr Kritik, noch mehr Aufarbeitung. Das ist der Grundton der Schau, die vom Historiker Andreas Zangger, der Historikerin Manda Beck und der Antirassismus-Expertin Anja Glover kuratiert und von der Stadt finanziert wurde.

Insgesamt fällt auf, wie sehr die Ausstellung auf die aktuelle Debatte ausgerichtet ist. So scheinen etwa die vielen interessanten Beispiele aus der kolonialen Vergangenheit der Stadt primär eine Belegfunktion zu haben: Schaut her, hier ist der Beweis, dass wir beim Kolonialismus auch dabei waren.

Das ist angesichts des zum Teil fehlenden Bewusstseins dafür zwar verständlich. Doch verstellt es auch den Blick auf historisch interessantere Fragen. Zum Beispiel: Wie haben die kolonialen Verstrickungen sich im Lauf der Zeit verändert? Und von welchen Ereignissen wurden diese Veränderungen geprägt?

Denn vom Sklavenhandel über die Plantagenwirtschaft bis hin zur imperialen Aufteilung Afrikas wandelte sich das koloniale Projekt der europäischen Mächte stetig. Diesen Wandel am Beispiel der involvierten Zürcherinnen und Zürchern aufzuzeigen, hätte der Ausstellung gut getan.

Stattdessen wird das Heute an jeder Ecke mit dem Damals verbunden. Interessante Fragen – «Welches sind meine Privilegien?» oder «Woher kommen die Kleider, die ich heute trage?» – wirken neben den Schilderungen historischer Greueltaten seltsam banal.

Wichtige Zwischentöne

Spannend sind dafür die Interviews mit Zürcherinnen und Zürchern von heute, die über ihren Umgang mit dem kolonialen Erbe und über das Schwarzsein in einer weissen Stadt sprechen. In einem Videobeitrag führt die Historikerin Ashkira Darman kenntnisreich durch das Zürich der umstrittenen Wandbilder und Inschriften – und zeigt dabei, dass sachliche Analyse und klare Haltung sich nicht ausschliessen.

Denn ob man nun für oder gegen dessen Abdeckung ist: Der stereotyp gezeichnete schwarze Knabe und die Aufschrift «Zum kleinen Mohren» an der Neumarkt-Fassade haben auf jeden Fall eine interessante Geschichte. Der Name des Hauses ist alt, wohl aus dem Mittelalter, als der Begriff «Mohr» noch nicht so abwertend war wie heute. Doch das Bild stammt vom Anfang des 20. Jahrhunderts, als eine Bäckerei das Motiv gezielt einsetzte, um mit einem Hauch Exotik Kunden anzulocken.

Solche komplizierten Geschichten und Zwischentöne sind wichtig, denn sie zeigen: Die Vergangenheit liefert auf die politischen Fragen von heute nicht immer jene einfachen Antworten, die wir uns wünschen.

Was passiert, wenn man das vergisst, zeigt die Ausstellung gleich selbst – in ihrem einzigen grösseren Missgriff. So scheint sie zu suggerieren, dass sich mit der kolonialen Vergangenheit nicht nur der Rassismus von heute, sondern Fremdenfeindlichkeit und Ausgrenzung insgesamt erklären lassen. Nur so lässt sich die Tatsache deuten, dass an mehreren Stellen auch die schlechte Behandlung italienischer Saisonniers den Weg in eine Schau zum Thema Kolonialismus fand.

Von einer drohenden Verwässerung des Kolonialismusbegriffs einmal abgesehen ignoriert diese Darstellung die anderen – zeitgenössischen und historischen – Ursachen von Phänomenen wie Rassismus oder Fremdenhass. Vor allem aber ist es gar nicht nötig, bei den Zusammenhängen zwischen dem Damals und dem Heute zu übertreiben. Denn diese Verbindungen kann jeder und jede selbst am besten ziehen.

So wie die Tänzerin Stefanie Inhelder, die wegen eines Gentests ihre verschollene indonesische Urgrossmutter wiederentdeckte und nun ihre Familiengeschichte auf die Bühne bringen will.

Von der Urgrossmutter gibt es in der Ausstellung übrigens ein Foto, das die Zeit überdauert hat. An Lak – so heisst sie – steht darauf neben ihrem Haus auf Sumatra. Von dort aus blickt sie ernst auf ihre Schweizer Nachfahren, die bis vor kurzem nicht wussten, dass es sie je gegeben hat. Und die sich heute wieder an sie erinnern.

Stadthaus Zürich, «Blinde Flecken – Zürich und der Kolonialismus», bis 15. Juli 2023. Eintritt frei.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-ausstellung-ueber-kolonialismus-arbeitet-auf-und-klagt-an-ld.1721770)