Medienspiegel 8. Januar 2023

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++SCHWYZ
Flüchtlingszentrum in Schwyz – So leben ukrainische Geflüchtete auf dem Indoor-Zeltplatz
Die Wohnzelte bieten zwar kaum Privatsphäre. Trotzdem kommen Flüchtlinge damit gut zurecht.
https://www.srf.ch/news/schweiz/fluechtlingszentrum-in-schwyz-so-leben-ukrainische-gefluechtete-auf-dem-indoor-zeltplatz


+++ZÜRICH
„Tod eines Unerwünschten Der 53-jährige Y.B. starb im Dezember 2021 alleine in seiner Zelle im Zürcher «provisorischen» Polizeigefängnis. Krank, unerwünscht, «illegal».1/10“
Mehr: https://twitter.com/3rosen/status/1612112992337907713


+++SCHWEIZ
Bund versucht trotzdem, den Ball flach zu halten: Italien weigert sich weiter, Flüchtlinge zurückzunehmen
Italien weigert sich weiterhin, Flüchtlinge zurückzunehmen, für deren Asylgesuch das Land laut Dublin-Abkommen eigentlich zuständig wäre.
https://www.blick.ch/politik/bund-versucht-trotzdem-den-ball-flach-zu-halten-italien-weigert-sich-weiter-fluechtlinge-zurueckzunehmen-id18208166.html



beobachter.ch 05.01.2023

Abgewiesene Asylsuchende in der Langzeitnothilfe: Diese Kinder haben keine Perspektive

Seit Jahren harren abgewiesene Asylsuchende in einem Nothilfesystem aus, das auf wenige Wochen ausgelegt ist. Darunter befinden sich Hunderte Kinder. Nicht einmal ihnen will man helfen.

Von  Tina Berg

«Am Nervensystem eines Kindes kann ich ablesen, was für einen Aufenthaltsstatus es hat», sagt Sandra Rumpel. Die Psychotherapeutin arbeitet seit 2016 mit geflüchteten Kindern und Familien. Auch mit abgewiesenen Asylsuchenden in Nothilfezentren. Von diesen litten besonders viele unter psychischen Krankheiten, sagt sie.

Das grösste Problem sei, dass die Kinder teils über Jahre in einer Situation leben, in der sie sich nicht sicher fühlen und ständig retraumatisiert werden, sagt Rumpel. Etwa wenn im Rückkehrzentrum ihre Väter von der Polizei abgeführt oder die ganze Familie für eine Ausweiskontrolle aus dem Bett gerissen werde. «Das ist jedes Mal eine volle Ladung Panik.»

Fluchterfahrung, Gewalt und Isolation prägen das Leben der Kinder. Das führt zu schweren Entwicklungsdefiziten und Traumafolgestörungen. Therapien seien schwierig. «Man kann ein Trauma nicht behandeln, solange die Kinder nicht in Sicherheit sind. Nur stabilisieren – bis zum nächsten Mal, wenn die Polizei in der Nacht kommt», sagt Rumpel.

Erschwerend komme für viele Kinder hinzu, dass sie Heim und Umfeld mehrfach wechseln mussten. Rumpel erzählt, wie sich das beim Spielen äussern kann: Süüferli wird das Puppenhaus eingeräumt. Plötzlich schmeisst das Kind alles durcheinander und ruft: «Jetzt ist Transfer!» Es imitiert die Umzugssituation im Nothilfezentrum. Schon die ganz Kleinen kennen das Wort. Transfer bedeutet Horror.

Wer kein Asyl und keine vorläufige Aufnahme erhält, wird weggewiesen. Wer nicht freiwillig geht, wird notfalls ausgeschafft. So verlangt es das Gesetz. Viele kehren aber trotz Wegweisung nicht zurück in ihr Heimatland.

Mehr Kinder betroffen

Abgewiesene bekommen weder Sozialhilfe noch dürfen sie arbeiten. Sie sind illegal im Land und können jederzeit gebüsst oder inhaftiert werden, wenn sie die Polizei aufgreift. Ihnen bleibt nur die verfassungsmässig garantierte Nothilfe. Das ist etwa ein Viertel davon, was im Schweizer Sozialhilfesystem als Existenzminimum gilt.

Ziel: Abschreckung. Integration: unerwünscht.

Unter den Abgewiesenen befanden sich Ende 2021 auch 483 Kinder, die schon länger als ein Jahr nur von Nothilfe lebten. Die Behörden nennen sie «Langzeitbeziehende». 374 der Kinder waren noch keine zwölf Jahre alt. Die meisten lebten ein bis drei Jahre in der Nothilfe. 18 Kinder bereits sieben Jahre. Zwei sogar schon zwölf Jahre lang.

Vor zwei Jahren hat der Beobachter über diese Kinder geschrieben. Die damals Porträtierten leben alle noch in der Schweiz, haben aber unterschiedliche Schicksale erfahren (Mehr dazu: siehe Infobox). Die Situation der tibetischen Buben Khetsun und Lhundup etwa hat sich nicht verändert. Sie gelten noch immer als Illegale in der Nothilfe.

Trotzdem geht ihr Leben weiter: Lhundup kommt im Sommer in die erste Klasse, Khetsun in den Kindergarten. Beide sprechen Berndeutsch, lieben Turnen und Fussball. Ob Lhundup später in einem Fussballteam spielen darf, weiss die Mutter nicht. Vielleicht müsse er wegen der fehlenden Papiere aufhören. Nicht nur die Sorge um die Kinder quält die Eltern. Ihr Leben ist ohne Perspektive, ihr Alltag geprägt von Angst.

«Nicht menschenwürdig»

Heute sind es 25 Prozent mehr als vor zwei Jahren, zeigen Zahlen des Staatssekretariats für Migration SEM. Mit den seit 2019 beschleunigten Asylverfahren sollten eigentlich nicht mehr viele Neue in der Nothilfe landen, hofft man. Ob das eintrifft, lasse sich erst in ein paar Jahren feststellen, sagt ein SEM-Sprecher. Vom alten System harren insgesamt noch rund 2500 Langzeitbeziehende in der Nothilfe aus. Das Problem ist offensichtlich nicht gelöst – obwohl die Warnungen eigentlich unüberhörbar wären.

Die nationale Kommission zur Verhütung von Folter führte 2021 etwa eine Überprüfung der Rückkehrzentren in Bern durch – und beurteilte die Situation für Familien mit Kindern als «nicht menschenwürdig». Weil nur 13 Prozent der Nothilfebeziehenden 2019 ausgereist sind, müsse man sich fragen, «ob die geringe Wirkung dieser Massnahme die unbefriedigenden Lebensbedingungen von Kindern, Frauen und Männern in den Rückkehrzentren rechtfertigt», so der Bericht.

Vor ein paar Monaten wiesen zudem fast 500 Ärzte, Psychiaterinnen und Psychotherapeuten in einem offenen Brief auf die dramatischen gesundheitlichen Auswirkungen hin und forderten eine humanere Behandlung von abgewiesenen Asylsuchenden.

Gibt es neue Lösungsansätze? Das SEM verneint – das Asylgesetz sehe für Härtefälle bereits ein Ventil vor. Darüber hinaus habe man nicht die Absicht, Menschen, die bereits ein rechtsstaatlich durchgeführtes Asylverfahren erfolglos durchlaufen haben, zu einem Aufenthaltsstatus zu verhelfen. Sonst werde das Asylwesen unglaubwürdig. Wer einfach bleibe, werde sonst belohnt.

Auch auf kantonaler Ebene gebe es keine grundlegenden Veränderungen, sagt Jürg Eberle, Präsident der Vereinigung der kantonalen Migrationsbehörden (VKM) und Leiter des St. Galler Migrationsamts. Man bewege sich in einem schwierigen Umfeld: «Migrationsämter haben den Auftrag, die Wegweisung zu vollziehen. Gleichzeitig müssen wir in der Nothilfe ein menschenwürdiges Leben ermöglichen. Täglich machen wir deshalb den Spagat zwischen Aufenthalt ermöglichen und Aufenthalt verunmöglichen.» Entscheidend sei, dass Abgewiesene verpflichtet sind, beim Vollzug mitzuhelfen. Der Grossteil der Langzeitbeziehenden verweigere das, etwa bei der Beschaffung von Reisepapieren.

Die Krux mit der Identität

Weil viele in der Langzeitnothilfe sozial und sprachlich gut integriert sind, hat der Kanton St. Gallen 2019 eine Sonderaktion für Härtefallbewilligungen durchgeführt. Dabei mussten die Betroffenen auch ihre Identität offenlegen. «Als sie eine Regularisierung in Aussicht hatten, haben einige plötzlich nigelnagelneue Papiere eingereicht», sagt Eberle.

Solche Verfahren hätten eine Kehrseite, sagt Ursula Fischer von der Berner Aktionsgruppe Nothilfe. «Es entsteht eine Art Generalverdacht, dass die Menschen lügen und ihre Identität verschleiern.» Natürlich gebe es solche Fälle. Aber man setze jene umso mehr unter Druck, die wirklich keine Papiere hätten. «Fatal ist, dass Leute vor lauter Angst bereit sind, sich notfalls falsche Ausweise zuzulegen, um dem Teufelskreis zu entkommen. Das bestärkt die Behörden wiederum in ihrer Haltung, dass Asylsuchende ihre Papiere beschaffen können, wenn sie nur wollen.»

Ob ein Härtefallgesuch überhaupt eine Chance hat, hängt wesentlich davon ab, wo man wohnt. Die Kantone sind nicht verpflichtet, solche Gesuche an das SEM weiterzuleiten. Einige tun das grosszügig, andere restriktiv.

«Wir sehen, dass das Rechtssystem an den Anschlag kommt. Wir können die Leute nicht immer zurück in ihre Heimatländer bringen. Das ist für alle unbefriedigend und belastend», sagt VKM-Präsident Eberle. Die Ämter setzten aber nur das um, was das Parlament im Gesetz festgelegt habe.

Ein Vorstoss macht etwas Hoffnung

Seit Frühling 2021 ist eine Motion im nationalen Parlament hängig, die eine ausserordentliche humanitäre Aktion für Nothilfebeziehende fordert, die vor 2019 ein Asylgesuch gestellt haben. Sie sollen unter bestimmten Umständen bleiben dürfen. Die kürzlich zurückgetretene EVP-Nationalrätin Marianne Streiff-Feller hat diese Einschränkung extra gemacht. «Betroffen sind nach neusten Zahlen ja nur rund 2500 Menschen. Die sind für unser Land wirklich verkraftbar. Für mich ist nicht nachvollziehbar, dass man in dieser Sache keine Lösung findet.»

Ob aus dem Vorstoss etwas wird, ist unklar. Wird er nicht innert zweier Jahre vom Parlament behandelt, wird er abgeschrieben.

Braucht es vielleicht unkonventionelle Massnahmen, um Bewegung in die Sache zu bringen? Zumal allen klar ist, dass etwa Tibeter über Jahrzehnte nicht in ihr Land zurückgeschickt werden können. «Man muss diese Realität akzeptieren und einen konkreten Ausweg für die rund 200 abgewiesenen Tibeter suchen», sagt der unabhängige Tibetexperte Martin Brauen. Etwa indem man ihnen Erleichterungen beim Härtefallgesuch einräumt. Im Gegenzug müssten sie sich zu einer Art Sozialdienst in der Pflege, in der Gemeinde oder Landwirtschaft verpflichten und so die öffentliche Hand finanziell entlasten. Mit solchen Pauschalregelungen könne man viele Leerläufe beim überlasteten SEM vermeiden, Geld sparen und dem Fachkräftemangel entgegenwirken, sagt Brauen. «Eine Win-win-Situation.»

Für Kinder in der Langzeitnothilfe hat sich in den letzten Jahren nichts getan. Immerhin wird ihre Situation jetzt erstmals systematisch untersucht, mit einer Studie im Auftrag der Eidgenössischen Migrationskommission.
-> https://www.mmi.ch/de-ch/forschung/forschungsprojekte/praxisforschung

Bis auf weiteres bleibt die Zukunft von Hunderten Kindern wie Khetsun und Lhundup aber ungewiss.



Schicksale in der Nothilfe

Vor zwei Jahren berichtete der Beobachter über Kinder in der Nothilfe. Die porträtierten Familien erfuhren seither unterschiedliche Schicksale. Die tibetischen Buben Lhundup und Khetsun sind zum Beispiel immer noch in der Nothilfe. Die kurdische Aynur* und ihre Eltern wurden vorläufig aufgenommen, erhielten den Status F. Weil der Vater schnell Arbeit fand, haben sie mittlerweile sogar eine B-Bewilligung. Die eritreische Senait*, ihre beiden Schwestern und ihre Mutter leben immer noch von Nothilfe, konnten aber vom Rückkehrzentrum in eine Wohnung umziehen. Der eritreische Jonathan* und seine Eltern mussten zweimal die Nothilfeunterkunft wechseln. Aber sie hatten Glück: Soeben wurde ihr Härtefallgesuch bewilligt. Die kurdisch-iranischen Schwestern Sara* und Nayla* wurden inzwischen mit ihren Eltern auch vorläufig aufgenommen. Nayla, die Ältere, kann eine Lehre in der Pflege absolvieren. Sara hatte damals nach dem negativen Asylentscheid in aller Verzweiflung einen Suizidversuch unternommen und kämpft auch heute noch mit psychischen Problemen.

*Namen geändert
(https://www.beobachter.ch/politik/langzeitnothilfe-unter-den-abgewiesenen-asylsuchenden-leben-hunderte-kinder-560319)



Basler Zeitung 08.01.2023

Wegen Migranten an der Grenze: «Bild»-Zeitung läuft Sturm – Berlin und Bern halten dagegen

Viele Migranten reisen via Basel unerlaubt nach Deutschland. Nun wollen die Länder das Problem an der Grenze gemeinsam angehen. Es gibt aber Zweifel am Nutzen des Deals – zu Recht?

Simon Bordier

Die Kritik am deutsch-schweizerischen Grenzregime reisst nicht ab. Letzten Herbst nahm die deutsche Öffentlichkeit erstaunt vom Vorgehen der Schweizer Behörden Kenntnis: Irreguläre Migranten, die auf ihrem Weg nach Nord- und Westeuropa die Schweiz passieren, müssen zwar mit Kontrollen rechnen. Nach diesem Check können sie aber in der Regel weiterziehen.

Weil die Zahl der Reisenden stark gestiegen ist, haben die SBB sogar einzelne Wagen für Migrantinnen und Migranten reserviert, um sie von Buchs SG nach Basel zu befördern. Die Menschen – oft junge Männer aus Afghanistan oder Nordafrika – haben Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien als Wunschziel. Dort haben sie bereits Freunde oder Bekannte.

Mittlerweile haben sich Deutschland und die Schweiz auf einen «Aktionsplan» geeinigt. Dieser sieht etwa gemeinsame Patrouillen in grenzüberschreitenden Zügen vor.

Nur: Auch dieser Plan vermag die Gemüter ennet dem Rhein nicht vollends zu beruhigen. «Hier wird mit Rhetorik versucht, das Sicherheitsgefühl der Bevölkerung zu stärken, aber faktisch schwächt man deren Sicherheit und die Sicherheitsbehörden aufgrund fehlender Zuständigkeiten», klagt der deutsche Polizeigewerkschafter Manuel Ostermann in der «Bild»-Zeitung. Die «rhetorischen Floskeln» der zuständigen deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD) würden nichts daran ändern, «dass es keine Grenzkontrollen gibt». Heiko Teggatz, Vorsitzender der Deutschen Bundespolizeigewerkschaft, spricht in der Zeitung von einem «Tropfen auf den heissen Stein».

Fallen zwischen Basel und Schaffhausen also bald die Schlagbäume? Teilt die deutsche Bundesregierung die Kritik der Gewerkschafter? Hier die wichtigsten Fragen und Antworten:

Wie reagieren die Schweizer Behörden auf die Kritik?

Auf Schweizer Seite kann man das Urteil der deutschen Polizeigewerkschafter nur bedingt nachvollziehen. «Wir verstehen, dass man sich in Deutschland an den vielen irregulären Migranten stört. Wir stören uns in der Schweiz ja auch an dieser Transitmigration», sagt Daniel Bach, Sprecher beim Staatssekretariat für Migration (SEM), im Gespräch mit dieser Zeitung. Das Problem entstehe aber nicht hierzulande, meint er.

Was ist aus Sicht des SEM das Problem?

Wenn die Migranten irregulär über die Ostgrenze der Schweiz ins Land gelangen, haben sie laut SEM-Sprecher Bach oft schon einen Asylantrag in Österreich gestellt. Gemäss dem Dublin-Verfahren wäre somit Österreich für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig. Die Schweizer Behörden können die irregulär eingereisten Migranten theoretisch ins östliche Nachbarland überstellen.

Dies nimmt allerdings einige Zeit in Anspruch, da es zwischen der Schweiz und Österreich kein erleichtertes Verfahren gibt – Zeit, in der die Migranten längst weitergezogen sind. Man könne die Leute in der Zwischenzeit nicht festhalten, so Daniel Bach. «Die irreguläre Einreise ist per se kein ausreichender Grund, um Leute festzusetzen.»

Teilt die deutsche Bundesregierung die Einschätzung des SEM?

Die Kritik mancher deutscher Politikerinnen und Politiker, die Schweiz lasse irreguläre Migranten zu einfach Richtung Deutschland passieren, teilt man beim Bundesinnenministerium des Innern und für Heimat (BMI) in Berlin nicht.

Es gebe zumindest keine Anhaltspunkte, die auf eine Nichteinhaltung der Dublin-Verordnung «oder gar auf eine aktive Unterstützung irregulärer Weiterreisen aus der Schweiz in andere europäische Staaten» hindeuteten, schreibt BMI-Mediensprecherin Sonja Kock auf Anfrage. Stichhaltigen Hinweisen auf Nichteinhaltung des geltenden Rechts «würden wir selbstverständlich nachgehen».

Frankreich schickt Migranten in die Schweiz zurück – Deutschland auch?

Tatsächlich hat die französische Grenzpolizei ihre Kontrollen in Zügen aus der Schweiz verstärkt – und schickt unerlaubt Eingereiste kurzerhand zurück an die Kollegen in Basel oder Genf. Das geschieht auf Basis des Rücknahmeabkommens zwischen Frankreich und der Schweiz, das ein erleichtertes Verfahren bei Kontrollen im Grenzgebiet vorsieht.

Ein solches Verfahren ist im Abkommen mit Deutschland nicht vorgesehen. Dafür aber eine sogenannte formlose Übergabe. Laut einem Sprecher des Bundesamts für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG) in Bern läuft dies auf etwas Ähnliches hinaus: «Im konkreten Fall werden festgestellte irreguläre Migranten von den deutschen Behörden in die Zuständigkeit der BAZG-Mitarbeitenden übergeben – und zwar ‹formlos› im Sinne eines möglichst geringen administrativen Aufwands.»

Vor diesem Hintergrund ist der kürzlich beschlossene «Aktionsplan» zwischen Berlin und Bern von Bedeutung. Denn ohne enge Absprache und Kooperation zwischen den Grenzbehörden beider Länder funktionieren solche formlosen Übergaben nicht. «Durch eine operative Zusammenarbeit und die damit verbundenen Absprachen können die Ressourcen der einzelnen Behörden effizienter eingesetzt werden», hebt man beim BAZG hervor.

Lässt sich der irregulären Migration mit Patrouillen Einhalt gebieten?

Nur bedingt. «Die Identität der Migranten wird überprüft, man führt Sicherheitskontrollen durch und hält je nachdem auch Personen zurück», erläutert SEM-Sprecher Bach. Dabei dürfe man den Sicherheitsaspekt nicht unterschätzen. «Bei den Kontrollen haben wir auch schon Leute aufgegriffen, die polizeilich ausgeschrieben waren.» In vielen Fällen könne man die Menschen aber nicht länger festhalten (siehe oben). Die Betroffenen können ihr Glück also wieder und wieder versuchen. Zumindest werde mit den verstärkten Patrouillen deutlich, «dass man nicht ohne weiteres über die Grenze kommt», so Bach.

Führt Deutschland bald Grenzkontrollen ein?

Stationäre Kontrollen sind an Schengen-Binnengrenzen grundsätzlich nicht vorgesehen. Die deutsche Bundesregierung setzt vorerst auf den «Aktionsplan». Bereits 2016 hätten sich Deutschland und die Schweiz im Rahmen eines gemeinsamen Aktionsplans gegenseitig bei der Bewältigung der Migrationskrise «erfolgreich unterstützt», so BMI-Sprecherin Kock. Damit wolle man «in der wirtschaftlich und kulturell eng verbundenen deutsch-schweizerischen Grenzregion» schwerwiegende Massnahmen wie die vorübergehende Wiedereinführung von Binnengrenzkontrollen möglichst vermeiden.

Für eine Bilanz zum «Aktionsplan» sei es noch zu früh, so Sonja Kock weiter. Man habe mit der Schweiz vereinbart, die Massnahmen erst noch zu evaluieren. Die «verfrühte Kritik der Polizeigewerkschaft» in der «Bild»-Zeitung könne daher beim BMI «nicht nachvollzogen werden», so die Worte der deutschen Regierungssprecherin.

Warum reisen viele Migranten über die Schweiz?

Die Eidgenossenschaft liegt auf dem Weg der sogenannten Balkanroute: Etliche Menschen gehen oder fliegen zunächst nach Serbien, um von dort aus Richtung West- und Nordeuropa aufzubrechen. Die beliebteste Route führte bisher von Serbien via Ungarn, Österreich und die Schweiz weiter zu den Zieldestinationen in Deutschland, Frankreich oder Grossbritannien. Zuletzt wurde eine Verschiebung der Route beobachtet, die neu über Kroatien, Bosnien, Slowenien und Italien Richtung Schweiz führt.

Wären nicht Länder wie Ungarn für die Asylverfahren zuständig?

In der Theorie ja. Ungarn gehört wie die Schweiz zum Schengenraum, der grössten visumsfreien Zone der Welt. Da viele Migranten den Schengen-Raum über Ungarn oder auch über Schengen-Neumitglied Kroatien betreten, wären sie für deren Registrierung zuständig. So ist es im Dublin-Verfahren geregelt.

Doch nicht wenige Flüchtende versuchen, möglichst unbemerkt in Länder wie Österreich zu kommen, und stellen erst dort einen Asylantrag. «Der Grund ist offenbar, dass sie nicht in Länder zurückgeführt werden wollen, aus denen sie nach Österreich gereist sind (zum Beispiel Ungarn)», heisst es dazu beim SEM. Österreich bildet quasi die Rückversicherung, falls das Zielland – etwa Frankreich oder Deutschland – einen Weg findet, die irregulär Reisenden gemäss Dublin-Verfahren zurückzuführen.

Die Wahrscheinlichkeit einer schnellen Rückführung ist indes nicht gross. Denn längst nicht alle Länder haben untereinander erleichterte Verfahren vereinbart. Österreich hadert zudem mit dem Umstand, dass zwar viele Migranten einen Asylantrag in Wien oder Salzburg stellen, aber eigentlich ein anderes Land für die Personen zuständig wäre – nämlich jenes, über das sie den Schengen-Raum betreten haben (mehr dazu in diesem Bericht). Mit Blick auf Deutschland und die vertrackte Lage resümiert «Bild» erbost: «Im Klartext: Illegale Migranten müssen durchgelassen werden.»

Ein Problem sieht man beim SEM an den Rändern Europas. «Es geht um die Sicherung der Schengen-Aussengrenze und die konsequente Erfassung von Migranten im Erstland der Einreise.» Beides funktioniere heute «noch lückenhaft», so Mediensprecher Bach.

Mithilfe des «Aktionsplans» der Schweiz und Deutschlands wolle man nicht zuletzt die Registrierung und die Rückführung voranbringen, betonte die deutsche Innenministerin Nancy Faeser im Dezember.
(https://www.bazonline.ch/bild-zeitung-laeuft-sturm-berlin-und-bern-halten-dagegen-585312814987)


+++TÜRKEI
NZZ am Sonntag 08.01.2023

Erdogan will die Syrer loswerden

Die über drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei fürchten die Ausschaffung in die Heimat. Viele von ihnen werden deshalb Zuflucht in Europa suchen.

Meret Michel

Im Sommer 2022 hatte Mahmud Alseyad genug. Als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan andeutete, seine Regierung suche eine Annäherung an das syrische Regime von Bashar al-Asad, machte Alseyad sich auf den Weg Richtung griechische Grenze. Sein Ziel: Europa.

Über sechs Jahre lebt der Syrer bereits in der Türkei. Er ertrug rassistische Angriffe, sah, wie seine Bewegungsfreiheit immer weiter eingeschränkt wurde, und lebte in der Angst, deportiert zu werden. Kommt es zum Handel Erdogans mit Asad, dann, so fürchtet er, könnte sein grösster Horror Realität werden: eine Abschiebung zum Regime. Dorthin, wo er ein Jahr lang im Gefängnis sass und von Asads Schergen gefoltert wurde. «Das wäre mein sicherer Tod», sagt der 29-Jährige.

Seine Flucht über die griechische Grenze nach Europa scheiterte, ebenso ein zweiter Versuch über Bulgarien. Beide Male wurde Alseyad verhaftet, geschlagen und zurück in die Türkei gebracht. Die bulgarischen Grenzsoldaten hätten ihm, anders als die griechischen, wenigstens die Kleider am Leib gelassen. Abgeschreckt hat ihn das allerdings nicht.

Sobald das Wetter wärmer wird, will er es wieder versuchen. Viele der mehr als drei Millionen syrischen Flüchtlinge in der Türkei denken jetzt so. Europa wird sich dieses Jahr auf eine noch grössere Welle von Migranten einstellen müssen.

Alseyad wohnt in Cerkesköy, einer Kleinstadt im europäischen Teil der Türkei. Nach Istanbul dauert es eine gute Stunde mit dem Bus. Trotzdem fährt er nur noch in Notfällen dorthin. Denn um seinen Wohnort zu verlassen, braucht er eine Reisegenehmigung, und die sei kaum zu bekommen. «Neulich musste meine Frau zum Arzt», sagte Alseyad. «Wir fuhren mit dem Taxi zur Praxis und danach wieder direkt nach Hause.»

Falls die Polizei ihn kontrolliert, so seine Angst, könnte es ihm ergehen wie dem Besitzer des kleinen Supermarkts in seinem Viertel. Dieser habe ohne Bewilligung Zigaretten verkauft. Als die Behörden ihn erwischt hätten, sei er nach Nordsyrien ausgeschafft worden. «Sie hätten ihn büssen können, seinen Laden schliessen», sagt Alseyad. «Doch sie haben ihn deportiert.»

Feindselige Stimmung

Vergangenen Oktober veröffentlichte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch einen Bericht über Dutzende ähnliche Fälle. Die Betroffenen werden erst festgenommen, dann sollen sie unter Androhung einer Haftstrafe eine Erklärung unterschreiben, dass sie freiwillig nach Syrien zurückkehrten.

Wie viele Syrer auf diese Weise in die von der Türkei und von Oppositionskräften kontrollierten Gebiete im Norden Syriens geschafft werden, ist unklar. Das Uno-Flüchtlingshilfswerk meldet, rund 15 000 seien im ersten Halbjahr 2022 «freiwillig» zurückgekehrt.

«Es reicht eine Anzeige, um deportiert zu werden», sagt Ghazwan Koronful, der Direktor der Vereinigung freier syrischer Anwälte (FSLA). Letzte Woche etwa soll ein Mann ausgeschafft worden sein, weil er einen Hund schlug, der ihn ins Bein gebissen hatte. Siebzig syrische Familien wurden aus Ankara abgeschoben, weil jeweils ein Familienmitglied eine Anzeige hatte.

Gleichzeitig schränken immer mehr Gesetze die Bewegungsfreiheit der Syrer in der Türkei ein. So dürfen sie etwa die Provinz, in der sie gemeldet sind, nur mit Genehmigung verlassen. Stadtviertel dürfen einen Ausländeranteil von 25 Prozent nicht überschreiten. Das führt dazu, dass in Hunderten von Quartieren keine Anmeldung für Syrer mehr möglich ist. «Wenn sie sich einfach nicht anmelden, droht ihnen die Ausschaffung», sagt Koronful. «Das ist die Realität, in der die Syrer hier heute leben.»

Die strengen Vorschriften und die Deportationen zeigen, wie sehr sich die Stimmung in der Türkei gewandelt hat. Noch vor ein paar Jahren präsentierte sich Erdogan als Gastgeber, der den sunnitischen Brüdern und Schwestern Schutz bot vor dem Krieg und vor der Repression des Asad-Regimes. Heute überwiegen in der türkischen Bevölkerung Ressentiments gegenüber den Geflüchteten. Laut einer Umfrage finden zwei Drittel, die Syrer sollten in ihre Heimat zurück. Streitereien und gewalttätige Zusammenstösse sind an der Tagesordnung.

Die Rückführung der Syrer ist denn auch ein zentrales Thema im Vorfeld der Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Juni. Kemal Kilicdaroglu, der Chef der grössten Oppositionspartei CHP, erklärte, er werde die Beziehungen zu Asad normalisieren und alle Syrer zurückschicken, wenn er gewählt werde. Erdogan ist unter Zugzwang: In den Umfragen liegt er zurück, die Opposition wirkt geeint wie selten zuvor.

Treffen in Moskau

Im Mai letzten Jahres kündigte Erdogan an, innerhalb eines Jahres eine Million Syrer nach Syrien zurückzuschicken. Ein Plan, den derzeit viele für unrealistisch halten. «Er will sich als pragmatischen Populisten präsentieren, der alles machen kann, um die Flüchtlingskrise zu lösen», erklärt Mustafa Gurbuz, Dozent an der American University und Experte vom Arab Center in Washington.

Um die Syrer tatsächlich in grosser Zahl zurückzubringen, müsste die türkische Regierung mit Damaskus ein Abkommen über Sicherheitsgarantien für die Rückkehrenden schliessen. Signale einer Annäherung gibt es. In einer spektakulären Kehrtwende in Anbetracht des früheren Kurses gegen Asad – Erdogan setzte zu Kriegsbeginn auf dessen Sturz –, trafen sich der türkische Verteidigungsminister und der Geheimdienstchef Ende Dezember in Moskau mit ihren syrischen Kollegen.

Die Türkei hält die nordsyrische Provinz Afrin und weitere anliegende Gebiete besetzt. Entsprechend gross scheinen die Differenzen für eine Verständigung. «Die Oppositionsgebiete bieten nicht genug Platz für dreieinhalb Millionen Menschen», erklärt der Anwalt Koronful. Und sicher wäre Syrien deswegen nicht. Die einzige Möglichkeit, sich sicher zu fühlen, sei, nicht unter Asads Kontrolle zu geraten.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/erdogan-will-die-syrer-loswerden-ld.1720199)


+++SPORT
«Haben etwas Beispielloses erlebt» – das sagen die Kantonspolizei St.Gallen und ZSC zur Hockey-Krawallnacht
Nach dem Hockeyspiel der Rapperswil-Jona Lakers gegen die ZSC Lions haben ZSC-Anhänger die Polizei gezielt mit Böllern attackiert. Nun äussern sich die Kantonspolizei St.Gallen und ein Sprecher des ZSC über die Krawallnacht.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/rapperswil-haben-etwas-beispielloses-erlebt-das-sagen-die-kantonspolizei-und-zsc-zur-hockey-krawallnacht-ld.2397742
-> https://www.fm1today.ch/zuerich/zsc-chaoten-bewerfen-polizei-in-rapperswil-mit-boellern-diese-prueft-massnahmen-149588129
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/zsc-fans-bewerfen-st-galler-polizisten-mit-boellern?id=12314806 (01:38)
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/fans-der-zsc-lions-provozieren-ausschreitung?id=12314842
-> https://www.sg.ch/news/sgch_kantonspolizei/2023/01/rapperswil-jona–ausschreitungen-anlaesslich-hockeyspiel.html
-> https://www.zsz.ch/zsc-fans-werfen-in-rapperswil-pyros-gegen-polizisten-883270733781


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Einbürgerungsverfahren: Der Schweiz nicht würdig
Die Behörden entscheiden teils völlig willkürlich, wer den Schweizer Pass erhält. Damit muss Schluss sein – für eine Einbürgerung braucht es objektive Kriterien.
https://www.blick.ch/meinung/kommentare/einbuergerungsverfahren-der-schweiz-nicht-wuerdig-id18206803.html


+++RECHTSEXTREMISMUS
Mitte-Binder: «Nazisymbole jetzt verbieten!»
Nationalrätin Marianne Binder-Keller (Mitte/AG) erklärt im Gastbeitrag, weshalb sie ein landesweites Verbot von Nazi-Symbolen verlangt.
https://www.nau.ch/news/stimmen-der-schweiz/mitte-binder-nazisymbole-jetzt-verbieten-66387741


Reichsbürgerbewegung: Die Macht der Verschwörungsideologen
Im Dezember flog die Reichsbürger-Gruppe um Heinrich XIII. Prinz Reuß auf. Ihr Verschwörungsglaube findet weiter tausendfache Zustimmung.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2023-01/reichsbuerger-verschwoerungstheorien-rechtsextremismus-heinrich-xiii-prinz-reuss



tagesanzeiger.ch 08.01.2023

Querulanten in Zürich: Sie lehnen den Staat ab, bezahlen Bussen nicht und belasten die Ämter

Vermehrt machen Personen den Behörden zu schaffen, die einer Verschwörungstheorie anhängen: Für sie ist die Schweiz nur eine «Firma». Die Justiz warnt vor einer «Reichsbürger-Ideologie».

David Sarasin

Die Einvernahme verläuft ganz und gar nicht im Sinne des Statthalters.

Peter Kunz (Name geändert) hat eine Vorladung erhalten, weil er nicht erschienen war, als eine Pfändung bei ihm durchgesetzt werden sollte. Zudem hatte der Frühpensionär Auskünfte zu seinem Vermögen verweigert.

«Können Sie sich ausweisen?», fragt der Statthalter des Bezirks Pfäffikon beim Vorladungstermin Ende November 2022. «Nein, ich habe keine Dokumente dabei», antwortet Kunz.

Kunz weigert sich, auf die Fragen des Statthalters einzugehen. Er spricht von «sogenannten Beamten», behauptet, dass gar keine Ämter existierten. Er erklärt, dass er alle Briefe, die er vom Statthalter erhalten habe, ungeöffnet und mit vorgefertigter Etikette versehen zurückgeschickt habe. «Das mache ich seit eineinhalb Jahren so, das wissen Sie», sagt Kunz, der im Bezirk Pfäffikon wohnt.

Während der Einvernahme verweist er darauf, dass Vor- und Nachnamen nicht in «korrekter Reihenfolge» aufgeführt seien und er die Briefe deshalb nicht geöffnet habe. Er sagt zum Statthalter: «Sie kennen das Thema.» Am Schluss fragt der Statthalter: «Sind Sie der Meinung, dass der Staat gar keine Legitimation hat?» Kunz sagt: «Die Ämter sind nichts anderes als Firmen.»

Ein Mitschnitt der dreiviertelstündigen Einvernahme liegt dieser Zeitung vor. Kunz hat die mutmasslich illegal aufgezeichnete Aufnahme kurz nach dem Besuch beim Statthalter im November 2022 auf einem Telegram-Kanal veröffentlicht. Dem Kanal folgen knapp 600 Leute. Er beinhaltet Verschwörungserzählungen ganz unterschiedlicher Art: Der Klimawandel sei Hysterie, es gebe eine globale «Gesundheitsdiktatur», die Impfung führe zu Unfruchtbarkeit.

Hauptsächlich kommt darin aber eine bei «Reichsbürgern» beliebte Verschwörungstheorie zum Ausdruck, die Kunz’ verweigerndes Verhalten beim Statthalter erklärt. Wichtiger Teil dieser Verschwörung ist, dass die Schweiz eine Firma sei und die Behörden deshalb keine Grundlage hätten, Leute einzuvernehmen – sie sind «nicht Teil des hoheitlichen Rechts».

Es wird empfohlen, auf eine bestimmte Schreibweise des Namens zu pochen. Als richtige Reihenfolge gilt: zuerst Familienname, dann Vorname – getrennt durch ein Komma. Andere Schreibweisen würden darauf hinweisen, dass die «Firma Schweiz» eine «doppelte Buchhaltung» führe und «dem Volk das Geld aus den Taschen zieht». Es gibt zudem Veranstaltungshinweise zur «Namenstheorie», und es kursieren vorgefertigte Formulare, die verschiedenste Einsprachen auf den Ämtern erleichtern sollen.

So wirr die Theorie klingen mag, diese Darstellung ist längst nicht mehr nur Teil einer Verschwörungserzählung in den Telegram-Kanälen, sondern Realität auf den Zürcher Ämtern. Hansruedi Kocher war bis Ende 2022 Statthalter in Pfäffikon. Er ist auf Kunz’ Aufnahme die einvernehmende Person. Auf Anfrage sagt er: «Ich hatte im vergangenen Jahr fast wöchentlich mit einem solchen Fall zu tun.»

Für Kocher hiess das: zahlreiche Bussen, die von beschuldigten Personen nicht bezahlt wurden, Personen, die nicht zu Einvernahmen erschienen oder mit denen «kein normales Gespräch möglich war». «Die Leute argumentieren, dass sie keinen Vertrag mit uns hätten», sagt Kocher. «Ich merkte mit der Zeit rasch, wenn es sich wieder um Personen handelte, die der Reichsbürger-Szene zuzuordnen sind.»

Reichsbürger auch in der Schweiz?

Reichsbürger glauben der Verschwörungserzählung, nach der die Bundesrepublik Deutschland nicht existiert. Stattdessen sagen sie, es gelte das Recht des «Deutschen Reichs» von 1871 bis 1945. Staatliche Vertreter sowie Institutionen lehnen sie ab. Den Behörden gegenüber treten sie teilweise aggressiv auf. Der deutsche Verfassungsschutz schätzt die Anhängerschaft auf 23’000 Personen; rund 5 Prozent davon gelten als rechtsextrem.

Haben sich die Reichsbürger auch in der Schweiz verbreitet? Jerome Endrass ist stellvertretender Leiter des Zürcher Amts für Justizvollzug und forscht zu Radikalisierung. Endrass sagt, dass die in der Schweiz auftretende Verschwörungsideologie viele Ähnlichkeiten mit den deutschen Reichsbürgern habe. Insbesondere die durch Verschwörungstheorien gestützte radikal staatsablehnende Haltung. Der Mythos des Deutschen Reichs fehlt laut Endrass aber hierzulande.

Die Anzahl Personen, die in der Schweiz dieser Reichsbürger-ähnlichen Ideologie nachhingen, liege zwar im Promille-Bereich der Gesamtgesellschaft, doch habe sich die Zahl in den Pandemie-Jahren vervielfacht. «Es handelt sich um ein loses Netzwerk, das sich vorwiegend in den sozialen Medien vernetzt», sagt er. Endrass benutzt auch den Begriff «Querulanten»: Personen, die durch Ablehnung und Störung der Behörden Selbstwirksamkeit erleben würden. «Für viele ist die Ideologie identitätsstiftend», sagt er.

Die Kantonspolizei als Firma

Wie die staatsablehnende Haltung in der Praxis aussieht, kann man in einem Video sehen, das Kunz ebenfalls in seinem Kanal hochgeladen hat. Wenige Tage nach der gescheiterten Einvernahme im Statthalteramt Pfäffikon klingeln zwei Polizeibeamte an seiner Tür. Das Video ist mit «Constellis Besuch heute» betitelt. Constelli ist der Name einer privaten Polizeiorganisation in den USA. Der Begriff ist unter Reichsbürgern verbreitet und soll verdeutlichen, dass die Polizei eine private Firma sei.

Mehrmals bittet Kunz die Beamten, sich auszuweisen. Wiederum pocht er darauf, dass er ihnen nicht als «amtliche Person», sondern als «Mensch» Auskunft erteilen wird, und verweist erneut auf seinen «falsch geschriebenen Namen». Schliesslich verweigert er die Aussage.

Alle Zürcher Statthalter kennen das Phänomen

Solche und ähnliche Erfahrungen machen derzeit Statthalter in fast allen Bezirken im Kanton Zürich. «Seit der Pandemie erleben wir vermehrt eine grundsätzlich staatsablehnende Argumentation», sagt Marcel Tanner, Statthalter im Bezirk Uster, übereinstimmend mit anderen. Man habe sich erst kürzlich unter allen zwölf Statthaltern zum Thema ausgetauscht. «In allen Bezirken ist das Phänomen bekannt.»

Von einem Massenphänomen möchte der Ustermer Statthalter Marcel Tanner zumindest im Bezirk Uster nicht sprechen. Von jährlich 9000 behandelten Fällen seien rund 30 durch staatsablehnende und querulantische Handlungen aufgefallen. Das ist weniger als im Bezirk Pfäffikon, wo es sich um rund 50 Fälle jährlich handeln dürfte.

Klar ist für Tanner aber: «Die Ablehnung geschieht systematisch.» Die vorgefertigten Formulare, mit denen man gegen die Behörden Einsprache erheben kann, finden die Querulanten auf der Website eines Architekten aus der Region. Laut Tanner war dieser der Erste im Bezirk, der die Verschwörungserzählung verbreitete.

«Bezirksgericht AG Dietikon»

Auch Betreibungsämter und Gerichte kennen das Phänomen. Die Bezirksgerichte in Dielsdorf, Horgen und Dietikon geben auf Anfrage bekannt, dass ihre Namen auf Google in «Bezirksgericht AG» umgeändert worden seien. Wiederum ein Verweis auf die Schweiz als Firma. Wie das umgesetzt werden konnte und wer die Abänderung veranlasst hat, wissen sie nicht. Nicht in jeder Region erleben die Behörden solche für sie unerfreulichen Konfrontationen gleich häufig.

Klar ist, dass die Zürcher Justiz die Verschwörungstheoretiker beobachtet. Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) sagt: «Die Erfahrungen vieler Behörden zeigen: Wir haben es zunehmend mit Leuten zu tun, die den Staat und seine Institutionen fundamental ablehnen und teilweise aggressiv gegen Behörden auftreten.» Natürlich dürfe man sich gegen die staatlichen Massnahmen demokratisch wehren, sagt Fehr, der die Statthalterämter unterstellt sind. Problematisch werde es, wenn daraus eine grundsätzliche Ablehnung staatlicher Autorität entstehe. Der Blick nach Deutschland und auf die dortige Reichsbürger-Bewegung zeige: «Wir müssen rasch und entschieden gegen solche Entwicklungen antreten.»

Statthalter sehen kein Gewaltpotenzial

Alle angefragten Statthalter betonen, dass sie bei der wachsenden Anzahl Personen, die den Staat ablehnen, bisher kein Gewaltpotenzial erkennen. Einige würden Gewalt sogar explizit ablehnen. Experte Endrass hingegen warnt: «In Deutschland radikalisiert sich die Bewegung gerade.» Er verweist auf die Razzia der deutschen Polizei im Dezember, bei der im ganzen Land Mitglieder der Reichsbürger-Bewegung festgenommen wurden. Diese sollen einen gewaltsamen Umsturz in Deutschland geplant haben.

Auch wenn die Schweizer Verhältnisse nicht mit den deutschen zu vergleichen seien, gibt Endrass zu bedenken: «Eine staatsablehnende Ideologie muss nicht per se gewalttätig sein, deren Verbreitung legt aber den Boden für extremistische Handlungen.» Der Schritt zur Gewalttat sei kleiner, wenn die Ablehnung des Staates zum Konsens gehöre.

Querulanten droht Haftstrafe

Die Ämter sagen, dass ihnen das querulatorische Verhalten einiger Bürgerinnen und Bürger vor allem viel Mehrarbeit beschere. Wer sich querstellt, dem droht eine mehrtägige Haftstrafe. Dies als Ersatz für eine nicht erfolgte Bussenzahlung oder Pfändung. Auch Kunz könnte Haft drohen. Zudem ist eine Anzeige gegen ihn hängig, weil er die Einvernahme beim Statthalter illegal aufgezeichnet hat.

Kunz selbst nimmt auf Anfrage schriftlich Stellung. Er betont noch einmal, dass die Ämter keine Ämter seien, sondern Firmen. Und er droht mit einer Anzeige bei der Polizei (sic!), falls Inhalte aus seinem Kanal für einen Artikel benutzt werden. Die Zeitungsanfrage hat er auf seinem Kanal publik gemacht. Diese Zeitung warnte er: «Es werden sehr viele Menschen darüber informiert sein.»



Die Aufgaben des Statthalters

Statthalter übernehmen Verwaltungsaufgaben in einem Bezirk und sind der Justizdirektion unterstellt. Ihnen obliegt die Aufsicht von Ortspolizei, kommunaler Feuerwehr und Strassenwesen. Zudem ist der Statthalter Präsident des Bezirksrates. Als solcher ist er Rekursinstanz bei Anordnungen und Erlassen von Gemeindebehörden wie dem Konkurs- oder dem Betreibungsamt. Ebenso können Entscheide der Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) beim Bezirksrat mit Beschwerde angefochten werden. Im Kanton Zürich gibt es zwölf Statthalter. (dsa)
(https://www.tagesanzeiger.ch/sie-lehnen-den-staat-ab-bezahlen-bussen-nicht-und-belasten-die-aemter-889367375335)


+++HISTORY
nzz.ch 08.01.2023

Die Niederlande entschuldigen sich für die Sklaverei – Frankreich schweigt

Als frühere Kolonialmacht ist Frankreich mitverantwortlich dafür, dass Haiti ein Armenhaus ist. Doch anders als jüngst die Niederlande lässt das Land eine offizielle Entschuldigung missen.

Fredy Sidler

Vor knapp drei Wochen haben sich die Niederlande bei den Nachkommen der Sklaven in ihren ehemaligen Kolonien für das Unrecht der Sklaverei entschuldigt. Chapeau! Wie wäre es, wenn sich auch Frankreich entschuldigen würde? Es hätte deutlich mehr Anlass, dies zu tun. Aber Frankreich schweigt.

Es schweigt nicht nur zur menschenverachtenden Sklavenhaltung in seiner damaligen Kolonie Saint-Domingue, dem heutigen Haiti. Es schweigt auch darüber, dass es 1803 von Haiti die horrende Summe von 150 Millionen französischen Gold-Francs erpresst hat, damit es im Gegenzug die von den Sklaven erkämpfte Unabhängigkeit anerkennt. Der Betrag entspricht dem heutigen Gegenwert von 25 Milliarden US-Dollar.

Haiti war ausserstande, eine solche Summe zu bezahlen. Also tauchten am 7. Juli 1825 vierzehn französische Kriegsschiffe mit über 500 Kanonen vor der Küste Haitis auf, um der Forderung Nachdruck zu verleihen. Bereits am Tag darauf akzeptierten die verängstigten Haitianer die Rechnung, sie wollten nicht wieder französische Kolonie werden. Da Haiti aber über kein eigenes Vermögen verfügte, musste es bei Pariser Banken Kredite aufnehmen und diese Jahr für Jahr und mit Wucherzinsen abzahlen.

Das unabhängige Haiti war von Beginn an mausarm. Nichts hatten die Franzosen zurückgelassen, die Plantagen waren von den Sklaven abgefackelt worden, andere Wirtschaftszweige sowie eigenständige Verwaltungsstrukturen hatte Frankreich gar nie aufgebaut – anders als etwa die Spanier in Südamerika. Die indigene Bevölkerung war schon im frühen 16. Jahrhundert ausgestorben.

Als das Land am 1. Januar 1804 unabhängig wurde, bestand seine Bevölkerung zu über 95 Prozent aus früheren Sklaven, die keine Schulbildung hatten, kein Eigentum besassen, über keine beruflichen Kompetenzen verfügten und die noch nie Verantwortung tragen mussten – weder für sich noch für andere.

Im Jahrhundert vor seiner Unabhängigkeit galt Saint-Domingue als reichste Kolonie Frankreichs, «Perle der Antillen» wurde sie genannt. Grund dafür waren nicht besonders günstige natürliche Voraussetzungen oder eine besonders talentierte oder ausgebildete Bevölkerung. Grund war einzig die grauenhafte, fast industrielle Sklavenwirtschaft der französischen Kolonialherren.

Gegen 40 000 Sklaven kauften die Sklavenhändler Jahr für Jahr an der afrikanischen Westküste ein. Bezahlt haben die Sklavenhändler diese menschliche «Ware» mit dem Geld, das sie zuvor in Europa mit dem Verkauf von edlen Hölzern aus Saint-Domingue erlösten. 20 bis 30 Prozent der Sklaven überlebten die Überfahrt in die Karibik nicht. Kranke und Tote wurden über Bord geworfen.

Bei ihrer Ankunft in Saint-Domingue wurden die Sklaven katholisch getauft und notdürftig gepflegt, damit die Sklavenhändler für sie auf dem lokalen Markt bessere Preise lösen konnten. Ihre eigene Religion und Sprache durften sie nicht mehr praktizieren.

Im Untergrund entstanden eine neue Religion, der Vodou (in Gruselfilmen auch Voodoo genannt), und eine neue Sprache, das Kreolische. Essen und schlafen durften sie nur so viel, wie zum Erhalt der Arbeitskraft nötig war. Sklavenkinder gehörten dem Herrn der Mutter.

Mit ihrem Aufstand, der 1791 begann, strebten die Sklaven nicht die Unabhängigkeit von Saint-Domingue an. Sie wollten einzig die Sklaverei beenden. Ihr charismatischer Freiheitsheld Toussaint Louverture, ein freigelassener Haussklave der zweiten Generation, glaubte an das revolutionäre Frankreich mit seinen Idealen von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Er kämpfte als General auf der Seite Frankreichs gegen Spanier und Engländer in Saint-Domingue. Erst als die Franzosen seine Forderungen nach gleichen Rechten für die Schwarzen nicht erfüllten, wechselte er 1801 die Fronten und wurde Anführer der Sklavenarmee.

Haiti, wie sich Saint-Domingue seit der Unabhängigkeit nennt, war weltweit die zweite ehemalige Kolonie nach den USA, die sich aus eigener Kraft ihre Freiheit erkämpfte. Doch für die ratenweisen Rückzahlung und Verzinsung der von Frankreich erpressten Kredite blieb den Haitianern nichts anderes übrig, als weiter ihre Wälder abzuholzen. Die zum Teil sehr wertvollen Hölzer verkauften sie – wie früher die Sklavenhändler – in Europa. Haiti ist bis heute ein Land ohne Wälder.

122 Jahre lang stotterte Haiti die Kredite ab – bis 1947! Frankreich derweil schweigt weiter. Es hofft wohl, dass die Weltgemeinschaft vergisst, dass seine ehemaligen Sklaven bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts wichtige Teile der natürlichen und wirtschaftlichen Substanz ihres Landes vernichten mussten, um dafür zu bezahlen, dass sie einmal französische Kolonie und so dreist waren, sich daraus zu befreien – eine weltweit wohl einmalige Zumutung. Eine blosse Entschuldigung dürfte kaum ausreichen.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/meinungen/die-niederlande-entschuldigen-sich-fuer-die-sklaverei-frankreich-schweigt-ld.1720194)