Medienspiegel 3. Januar 2023

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+++BERN
hauptstadt.be 03.01.2023

Solidarität ohne Ablaufdatum

Der Freiwilligenverein Offenes Scherli in Niederscherli ist von der spontanen Hilfsgruppe zur hartnäckigen Instanz in der Flüchtlingsdebatte geworden. Was braucht es, damit ausdauernde Solidarität entsteht?

Von Jürg Steiner (Text) und Danielle Liniger (Bilder)

Rolf Bornhauser, Jürg Schneider und Andreas Guler sinken ins Sofa, über ihnen das eindrückliche Bild einer iranischen Malerin, das Bornhauser an der Wohnzimmerwand seines Hauses in Niederscherli aufgehängt hat. Man sieht auf dem Bild Menschen, die sich über eine spiegelglatte Fläche bewegen. Man weiss nicht recht, ist es die flirrende Hitze des Südens oder die Kälte der ungerechten Welt.

Den drei Männern darunter fällt es erst gar nicht ein, sich im Sofa zurückzulehnen. Kaum sitzen sie, geht eine engagierte Diskussion los. Das Thema? Geflüchtete Menschen.

«Jetzt hat es sogar der Ständerat kapiert», sagt Jürg Schneider, «das ist ja wahnsinnig.» Was er damit meint: Die kleine Kammer des eidgenössischen Parlaments hat Mitte Dezember überraschend eine Motion angenommen, die verlangt, dass ausländische Lernende mit negativem Asylentscheid ihre in der Schweiz begonnene Berufslehre nun doch abschliessen können.

Zu Aktivisten geworden

Bundesrat und vorberatende Kommission waren dagegen, trotzdem macht der Ständerat nun den Weg frei für die Lösung eines Problems, das viele Lehrmeister*innen sowie die nach Fachkräften rufende Wirtschaft enerviert hatte. Auch Jürg Schneider und seine Mitstreiter*innen hatten sich dafür eingesetzt, «diese Ungerechtigkeit» aus der Welt zu schaffen.

Jetzt ist es passiert – und die Momentaufnahme auf dem Wohnzimmersofa fasst zusammen, was mit Bornhauser, Schneider und Guler in den letzten sieben Jahren passiert ist: Sie sind Menschenrechts-Aktivisten geworden. In Niederscherli, Gemeinde Köniz.

Begonnen hatte alles 2015, als der Kanton die unterirdische Zivilschutzanlage unter dem Schulhaus von Niederscherli als Notunterkunft für Asylsuchende öffnete, betrieben von der Heilsarmee. Über 100 meist junge Männer, viele von ihnen aus Afghanistan und Eritrea, wurden einquartiert.

Ziviles Widerstandsgen

Im Vorfeld machten rechte Kreise in Niederscherli Stimmung gegen die Asylunterkunft. Das weckte in Bornhauser und Schneider sowie in Dutzenden Frauen und Männern, etwa im damaligen Pfarrer Jochen Matthäus und der Kirchenkreispräsidentin Therese Riesen, das zivile Widerstandsgen.

«Offenes Scherli» war zuerst eine formlose Gruppe von Freiwilligen, die agil Sprachkurse, Sportangebote oder gemeinsame Nachtessen organisierten. Von biederen Vereinsstrukturen wollte niemand etwas wissen. Aber rasch zeigte sich, dass Kontinuität und Verbindlichkeit nicht entstehen, wenn der organisatorische Rahmen fehlt. Also tat man, was man in der Schweiz fast immer tut: Man gründete einen Verein. Und weil es sonst niemand machen wollte, wurde Jürg Schneider Präsident.
-> https://offenes-scherli.ch

Wenn man die Frage stelle, warum ausgerechnet in Niederscherli aus der spontanen Solidarität von 2015 ein langfristiges menschenrechtliches Engagement wurde, sei die Vereinsgründung ein entscheidender Punkt, sagt Andreas Guler: «Wenn Strukturen da sind, zieht man etwas eher durch, auch wenn es vorübergehend mal nicht so läuft.»

Persönliche Beziehungen

Auf Initiative von Pfarrer Matthäus begann «Offenes Scherli», einmal wöchentlich das sogenannte «Begegnungs-Kafi» auszurichten. Nicht immer war der Besucher*innenandrang gross, «aber wir fuhren einfach weiter». Längst ist aus dem «Kafi» der monatliche «Freitags-Treff» geworden, ein abendlicher Fixpunkt mit Geselligkeit, Informationsaustausch und Essen, zu dem ehemals in Niederscherli untergebrachte Geflüchtete mit ihren neuen Freund*innen von auswärts anreisen.

Der existierende Verein ist im Rückblick wohl ein Grund, warum «Offenes Scherli» seine Arbeit einfach fortsetzte, als die Asylunterkunft 2017 wegen rückläufiger Asylgesuchszahlen geschlossen wurde. «Wir merkten, dass wir jetzt nicht einfach aufhören können. Dass unsere Unterstützung nur dann nachhaltig wirkt, wenn sie langfristig und persönlich ist. Denn genau das ist es, was die Menschen, die damals geflüchtet sind, brauchen», sagt Rolf Bornhauser.

Persönliche Beziehungen begannen eine wichtige Rolle zu spielen. Bornhauser erzählt ein Beispiel: Er und seine Familie unterstützten eine syrische Kurdin, die mit ihren drei Kindern nach dreimonatiger Flucht auf dem Landweg in die Schweiz gelangt war und in Köniz unterkam.

Heute lebe die Frau in Niederscherli, sie arbeite als interkulturelle Dolmetscherin. Vor zwei Wochen, erzählt Bornhauser bewegt, sei er mit ihrer ältesten Tochter mitgegangen, als sie ihren Lehrvertrag als Mediamatikerin unterschrieb.

Bornhauser entwickelte sich im Rahmen seiner Freiwilligen-Arbeit quasi zum Spezialisten für den Gang durch die Sozialbehörden. Er sieht das auch als Akt der Auflehnung gegen die destruktive Kraft der Bürokratie.

18 Lehrverträge unterschrieben

Er habe mehrmals gesehen, sagt Bornhauser, wie Flüchtlinge alleine diesem Apparat gegenüberstanden, ungenügend informiert, ja gar unfair behandelt worden seien. «Mir», sagt er, «macht heute nicht mehr so schnell jemand etwas vor.» Seine Kompetenz werde von den überlasteten Behörden manchmal auch geschätzt. In den letzten Jahren unterstützte «Offenes Scherli» 18 junge Asylsuchende erfolgreich dabei, eine Lehrstelle zu finden.

«Klar», hält Rolf Bornhauser fest, «wir geben viel mit diesem Engagement. Aber wir erhalten auch sehr viel zurück. Das erwärmt das Herz.» Er selber verstehe seinen Einsatz auch als eine Art Prävention für sich selber, sagt Bornhauser.

Er habe in den letzten Jahren bei den unzähligen Behördengängen einiges an unterschwelligem Rassismus gesehen. Auch er selber sei nicht immer gefeit davor, sagt Bornhauser. Sich aktiv für Geflüchtete einzusetzen, sei für ihn auch ein Mittel, dagegen anzukämpfen.

Etwas anders verlief die Metamorphose zum Menschenrechts-Aktivisten bei Jürg Schneider. Er habe im Verlauf seiner Aktivität für die Geflüchteten «immer mehr Zweifel daran entwickelt, dass es eine gewisse Politik und die Behörden mit der Rechtsstaatlichkeit Ernst meinen».

Seiner Ansicht nach würden Grundrechte «gerade im Asyl- und Ausländerrecht zum Teil bis über die Grenzen zu Gunsten einseitiger Abschreckung strapaziert und verletzt». Der in der Präambel der schweizerischen Verfassung verankerte Grundsatz, wonach  sich «die Stärke des Volkes sich am Wohle der Schwachen misst», werde ausgeblendet: «Das erfüllt mich mit Sorge und auch Wut, die mich antreiben.»

Im Gespräch mit dem Dorf

Drei Jahre lang beherbergten Schneider und seine Frau in ihrem Haus einen jungen Äthiopier und begleiteten ihn durch zahlreiche Krisen. Schneider begann sich aufzulehnen gegen «die Ungleichbehandlung von Flüchtlingen».

Zum Beispiel dagegen, dass «Kinder und Frauen im Schengen-System wie Tomaten oder Vieh» herumgeschoben würden. Oder dagegen, dass Asylsuchende mit einem negativen Entscheid, deren Rückschaffung aber nicht vollzogen werden kann, «auf sogenannter Langzeitnothilfe in einem Rückkehrzentrum gehalten werden, ohne jede Perspektive, mit kaputtmacherischem Arbeitsverbot», wie sich Schneider ausdrückt. Dort würden sie mit der Zeit garantiert unfähig, ihr Leben selber zu gestalten.

Heute ist der pensionierte Professor, der einst Non-Profit-Management lehrte, mit seinem Knowhow als Aktivist im ganzen Kanton tätig, «nicht unbedingt zur Freude der Behörden», wie er heiter anfügt. «Ich bin bald 79-jährig, aber wenn ich ehrlich bin, treibt mich mein Engagement praktisch zu Vollzeitarbeit an», sagt Schneider und lacht.

Auch er bezieht aus seiner freiwilligen Langzeit-Solidarität Befriedigung. «Verbindliche Kontinuität ist für die Menschen, die wir unterstützten, unglaublich wichtig», sagt er. Allerdings ging auch ihm eine neue Welt auf. Jahrelang sei er von Niederscherli aus zur Arbeit gependelt, habe an seinem Wohnort kaum soziale Kontakte ausserhalb des Familienhaushalts gehabt: «Heute bin ich mit dem halben Dorf im Gespräch.»

Andreas Guler fand den Draht zu den geflüchteten Menschen auf dem Fussballfeld. Seit Jahrzehnten trifft sich eine Gruppe von Hobbyfussballern jahraus jahrein jeden Samstag auf dem Kunstrasen des Oberstufenzentrums Niederscherli. Ab 2015 luden sie Geflüchtete aus der Kollektivunterkunft ein, um mitzukicken. Manchmal waren so viele dabei, dass man gleich mit vier Mannschaften im Turniermodus spielen konnte.

Freundschaft und Fussball

«Als die Asylunterkunft 2017 schloss, dachte ich, das war es jetzt», sagt Guler. Aber der solidarische Fussballtreff findet bis heute jeden Samstag statt. Es gibt geflüchtete Afghanen, die über eine Stunde mit dem ÖV von ihrem heutigen Wohnort anreisen, um mit ihren Unterstützern Fussball zu spielen.

«Da sind echte Freundschaften entstanden», so Guler. Gerade kürzlich habe einer ein Empfehlungsschreiben gebraucht, weil er im Verfahren für den Aufenthaltsstatus B sei. Natürlich habe man das nach dem Training zusammen formuliert.

Mit einem Netzwerk Gleichgesinnter verbunden zu sein, das ist es, was Andreas Guler an seinem jahrelangen Engagement für Geflüchtete beflügelt: «Man soll es nicht romantisieren. Was wir machen, ist oft zäh, manchmal frustrierend. Aber man erhält eben auch Energie aus dem Kollektiv von Menschen, die am gleichen Strick ziehen.»

Vor zehn Monaten löste Russlands Krieg gegen die Ukraine eine Solidaritätswelle in der Schweiz aus. Zehntausende Familien nahmen Geflüchtete bei sich auf. Auch «Offenes Scherli» engagierte sich, jedoch merkte man schnell, dass in einer Art Hype so viele neue Gruppierungen entstanden, «dass es uns nicht auch noch braucht», wie Andreas Guler sagt: «Wir fanden es sehr wichtig, dass wir den früheren Flüchtlingen, die wir betreuen, versicherten: Wir sind weiterhin für euch da. Weil sie manchmal fast vergessen gingen.»

Erfahrungen abholen?

Inzwischen hat sich die Situation erneut verändert, aktuell befinden sich die Asylgesuchszahlen in der Schweiz auf Rekordniveau, die Geflüchteten kommen neben der Ukraine aus Syrien, Afghanistan oder der Türkei. Der Kanton Bern eröffnet kollektive Unterkünfte, unter anderem im abgelegenen Gurnigelbad und unterirdisch in Bern-Brünnen.

Aus der Erfahrung von «Offenes Scherli» könnte man den Schluss ziehen: Grossunterkünfte sind nur dann tragbar, wenn in ihrer Umgebung die Chance besteht, dass eine Solidaritätsbewegung von Freiwilligen aufblühen kann. «Ich finde es manchmal extrem schade», sagt Jürg Schneider, «dass die Behörden die Erfahrungen von bestehenden Freiwilligen-Organisationen nicht abholen, um wenigstens zu verhindern, dass frühere Fehler erneut gemacht werden.»

Anfang Dezember erhielt der Verein Offenes Scherli den Förderpreis Migration der reformierten Kirche Bern-Jura-Solothurn. Für Jürg Schneider, Rolf Bornhauser und Andreas Guler ist klar: Die Solidarität von «Offenes Scherli» soll kein Verfalldatum haben.
(https://www.hauptstadt.be/a/offenes-niederscherli)
-> https://offenes-scherli.ch/


+++LUZERN
Luzerner Regierung reagiert auf Kritik und will Abgaben für fehlende Flüchtlingsplätze senken
Der Luzerner Regierungsrat will die Ersatzabgaben für Gemeinden, die zu wenig Plätze für Flüchtlinge schaffen können, auf 15 Franken pro Tag festsetzen. Die SP spricht von einem Kniefall.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/asylwesen-nach-druck-von-gemeinden-regierung-koennte-ersatzabgaben-fuer-fehlende-fluechtlingsplaetze-senken-ld.2395756


+++SCHWEIZ
tagblatt.ch 03.01.2023

Wegen irregulärer Migration: Führt Deutschland bald wieder Grenzkontrollen zur Schweiz ein?

In Deutschland sorgt die stark gestiegene Einreise von Migranten über die Schweiz weiter für Kritik. Ein von Bundesrätin Karin Keller-Sutter ausgehandelter Aktionsplan sei Symbolpolitik und kein Ersatz für Grenzkontrollen, so die deutsche Polizeigewerkschaft.

Remo Hess, Brüssel

Lässt Deutschland an der Grenze zur Schweiz bald die Schlagbäume runter? Geht es nach der deutschen Polizeigewerkschaft, wäre es an der Zeit. Der von der deutschen Innenministerin Nancy Faeser (SPD) mit der Schweizer Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) ausgehandelte Aktionsplan zur Eindämmung der irregulären Migration sei mangelhaft: «Wenn man den Grenzabschnitt Schweiz zu Deutschland betrachtet – von Bahnstrecken bis zu Strassenübergängen –, dann ist der Aktionsplan ein Tropfen auf dem heissen Stein!», kritisiert Heiko Teggatz, Vizechef der Polizeigewerkschaft, in der grössten deutschen Zeitung «Bild». Kollege Manuel Ostermann wirft Faeser Symbolpolitik vor: «Die rhetorischen Floskeln der Ministerin ändern nichts an dem Fakt, dass es keine Grenzkontrollen gibt.» Für die Sicherheitsbehörden würde sich nichts ändern und der Migrationsdruck auf Deutschland bleibe unverändert gross.

Hintergrund des Streits sind die vielen Einreisen irregulärer Migranten über die Schweiz nach Deutschland. Sie kommen seit dem Sommer wieder in stark gestiegener Zahl über Österreich via Balkanroute. Im Jahr 2022 wurden 9716 Migranten von der deutschen Bundespolizei an der Schweizer Grenze registriert. In Wirklichkeit wird die Zahl derer, die es unbehelligt nach Deutschland geschafft haben, aber noch viel höher liegen. Denn: Systematische Grenzkontrollen sind im gemeinsamen Schengenraum der EU verboten.

Deutschland nervt sich über «Durchwinken» – Aktionsplan ist nutzlos

Die deutschen Behörden können nur stichprobenartig kontrollieren oder im grenznahen Umland sogenannte «Schleierfahndungen» durchführen. Aus Deutschland wurde zuletzt der Vorwurf laut, die Schweiz würde Migranten gezielt «durchwinken». Das deutsche Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sagte, die Schweiz halte sich nicht an den Geist des Dublin-Abkommens.

Tatsächlich hatte die SRF-Sendung «Rundschau» Anfang Oktober berichtet, dass die SBB für eingereiste Migranten in Buchs im Kanton St.Gallen eigens Extrawaggons zur Weiterfahrt nach Zürich oder Basel zur Verfügung stellen. Das Schweizer Staatssekretariat für Migration (SEM) berief sich auf die Transportpflicht der SBB und sagte, es gebe keine Rechtsgrundlage, um die Migranten aufzuhalten.

Um den Streit zu entschärfen und die Zusammenarbeit zu verbessern, reiste die noch bis Ende Jahr als Justizministerin amtierende Keller-Sutter im Dezember nach Berlin. Der Aktionsplan sah neben gemeinsamen Patrouillen von deutschen und Schweizer Polizisten in Zügen unter anderem vor, dass Personen ohne Schutzbedarf schnell zurückgeführt werden könnten. Das sei aber unmöglich, kritisiert nun die «Bild» und schreibt mit Verweis auf die Rechtslage, dass Migranten auch nach bereits gestelltem Asylantrag und Feststellung einer Ausreisepflicht von der Bundespolizei durchgelassen werden müssten. Mit anderen Worten: Der Aktionsplan ist nutzlos.

Grenzkontrollen sind möglich – aber sie führen zu einem Chaos

Der Ruf nach systematischen Grenzkontrollen zur Schweiz dürfte daher in Deutschland immer stärker werden. Tatsächlich lässt der Schengenkodex eine vorübergehende Wiedereinführung aus Gründen der inneren Sicherheit oder öffentlichen Ordnung zu. Sowohl bei der Migrationskrise von 2015 als auch im Kontext terroristischer Bedrohungen und zuletzt während der Coronapandemie führten verschiedene EU-Staaten in den letzten Jahren systematische Kontrollen ein. Manche haben sie bis heute noch nicht abgeschafft.

Das Problem: Sollte sich Deutschland wirklich zu diesem Schritt entschliessen, ist das Chaos an der Schweizer Grenze programmiert. Immerhin pendeln jeden Tag fast 64’000 Deutsche zum Arbeiten in die Schweiz. Dazu kommt der normale Grenzverkehr auf einer der am stärksten befahrenen Nord-Süd-Verbindungen in Europa.
(https://www.tagblatt.ch/international/illegale-migration-aktionsplan-bringe-nichts-fuehrt-deutschland-bald-wieder-grenzkontrollen-zur-schweiz-ein-ld.2395539)


+++ITALIEN
700 Geflüchtete vor Sizilien gerettet
Mehr als 1.200 Migrantinnen und Migranten sind im Hotspot Lampedusas untergebracht. Die Einrichtung verfügt jedoch nur über 400 Plätze
https://www.derstandard.at/story/2000142259379/700-gefluechtete-vor-sizilien-gerettet


Seenotrettung im Mittelmeer „Die italienische Regierung hat ihre Taktik geändert“
Die italienische Regierung verweigert Rettungsschiffen mit Geflüchteten an Bord nicht länger das Anlegen. Dafür zwingt sie die Schiffe, mit den Geretteten weit von ihrem Einsatzort entfernte Häfen im Norden des Landes anzusteuern. „Dahinter steht das Ziel, das Ende eines Einsatzes zu erzwingen und so die Zeit der Schiffe im Einsatzgebiet zu verkürzen“, sagt Gorden Isler von Sea-Eye. Das Schiff des Vereins, die „Sea-Eye 4“, wird derzeit in Spanien auf einen neuen Einsatz vorbereitet.
https://www.n-tv.de/politik/Seenotrettung-im-Mittelmeer-Die-italienische-Regierung-hat-ihre-Taktik-geaendert-article23819078.html


+++FREIRÄUME
(Grindelwald) – Hotel Regina nicht mehr besetzt (ab 06:33)
 https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/dienstag-3-januar-2023-149334236


+++POLIZEI BL
Baselbieter Polizei will mehr Frauen im Korps – Schweiz Aktuell
Schweizweit herrscht bei den Polizeikorps Personalmangel. Nun will der Kanton Baselland vermehrt Frauen für die Polizei begeistern. Doch wie ist es als Frau in einer Männerdomäne zu arbeiten?
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/baselbieter-polizei-will-mehr-frauen-im-korps?urn=urn:srf:video:851180df-d20c-4a62-a913-7eabab54aba5


+++POLIZEI OSTSCHWEIZ
tagblatt.ch 03.01.2023

Die Polizei, dein Freund und Sozialarbeiter: Gewaltbereitschaft in der Ostschweiz nimmt zu – gleichzeitig fehlt es an Polizistinnen und Polizisten

In Berlin wurden Polizei- und Rettungskräfte an Silvester gezielt mit Böllern und Raketen beschossen. Und auch im Kanton St.Gallen ging es zum Jahreswechsel turbulenter zu als in anderen Jahren. Die Polizeikorps in der ganzen Ostschweiz vermelden eine zunehmende Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung. Hängen deshalb so viele Polizeikräfte den Job an den Nagel?

Aylin Erol

Brände, Verletzte, eine Bombendrohung – die Kantonspolizei St.Gallen hatte an Silvester alle Hände voll zu tun, und zwar wortwörtlich. Die Einsatzkräfte waren im Dauereinsatz. Und das in einer Nacht, in der es aus dem Nachbarland Deutschland noch schockierendere Nachrichten zu vernehmen gab: An Silvester wurden in Berlin Polizei- und Rettungskräfte mit Böllern und Raketen beschossen und die Feuerwehr von Unbekannten gar absichtlich in einen Hinterhalt gelockt. Die Berliner Polizei meldet 41 Verletzte in ihren Reihen.

Es stellen sich deshalb durchaus die Fragen: Hat die Gewaltbereitschaft gegenüber Rettungs- und Polizeikräften auch in der Ostschweiz zugenommen? Und kehren deshalb so viele Polizistinnen und Polizisten ihrem Beruf den Rücken?

Auf die erste Frage kommt von allen Ostschweizer Polizeikorps dieselbe Antwort: «Ja, die Gewaltbereitschaft in der Bevölkerung gegenüber einander, aber auch gegenüber Polizeikräften hat zugenommen.» Diese Entwicklung beobachtet man im Thurgau, in St.Gallen und den beiden Appenzell gleichermassen schon seit einigen Jahren.

Der Respekt gegenüber Beamten hat allgemein abgenommen und bei Streitereien wird schneller die Polizei gerufen als selbst geschlichtet, heisst es von allen Seiten. Das kostet die Polizistinnen und Polizisten im Alltag heute mehr Nerven als noch vor 20 Jahren. Ganz so einfach lassen sich damit die Personalprobleme der Korps aber nicht erklären. Immerhin kommt jeder Kanton unterschiedlich gut über die Runden.

Kapo St.Gallen kann nicht mehr immer ausrücken

In ihrer Medienmitteilung vom 1. Januar schrieb die Kantonspolizei St.Gallen selbst: «Infolge fehlender polizeilicher Ressourcen konnte nur bei acht Ruhestörungen interveniert werden.»

Damit musste die Kantonspolizei St.Gallen wegen Personalmangels einmal mehr Abstriche machen. Bereits im vergangenen Sommer schloss sie die Polizeiposten in Goldach, Wittenbach, Oberriet und Walenstadt vorübergehend. Und im August 2022 beklagte die Kapo St.Gallen gar doppelt so viele Abgänge als in einem normalen Jahr. 30 Polizistinnen und Polizisten verliessen die St.Galler Korps. 20 davon kündigten. Aber auch die Kantonspolizei Thurgau vermeldete im vergangenen Jahr überdurchschnittlich viele Abgänge.

Hanspeter Krüsi, Mediensprecher der Kantonspolizei St.Gallen, zählt auf: «In St.Gallen haben wir alles: Grenzen zu Nachbarländern, Seen, Berge, eine Autobahn, die durch den ganzen Kanton verläuft, Ballungszentren, Städte, Migration.» Das alles seien Rahmenbedingungen, die bereits viele Polizeieinsätze mit sich bringen würden. «Und trotzdem haben wir im schweizweiten Vergleich im Kanton St.Gallen viel weniger Personal pro Einwohnende zur Verfügung», sagt Krüsi. Würde man die Stadtpolizei abziehen, befände sich der Kanton St.Gallen auf Platz 20.

Besetzung einer Stelle dauert lange

Im Thurgau versucht man optimistischer in die Zukunft zu blicken. Seitdem dort der Grosse Rat im Mai 2020 eine Erhöhung des maximalen Sollbestands der Kantonspolizei genehmigt hatte, konnte der Personalbestand von 384 Polizistinnen und Polizisten auf 417 erhöht werden. In den nächsten beiden Jahren sollen nochmals 48 dazukommen. Damit wären Ende 2024 allerdings noch immer zehn genehmigte Stellen offen.

Der Thurgau zeigt, dass es lange geht, bis eine Stelle bei der Polizei besetzt werden kann. Immerhin dauert die Ausbildung zwei Jahre. Für das bestehende Personal kann sich diese Zeit besonders lange anfühlen.

«In den letzten beiden Jahren hat die bereits hohe Belastung in den allermeisten kantonalen Korps der Schweiz und die damit verbundene Unzufriedenheit und Ungeduld von Mitarbeitenden nochmals zugenommen. Die Kantonspolizei Thurgau bildet hierbei keine Ausnahme», sagt Matthias Graf, Mediensprecher der Kantonspolizei Thurgau. Ob die zunehmende Gewaltbereitschaft gegenüber Polizistinnen und Polizisten ebenfalls ein Grund für diese Entwicklung ist, könne er nicht abschliessend beurteilen.

Die Polizei, dein Helfer und Sozialarbeiter

Während im Kanton Appenzell Innerrhoden noch alle Stellen besetzt sind und man mit diesem Personal bisher gut über die Runden kommt, kann es in Ausserrhoden immer mal wieder dazukommen, dass gewisse Einsätze aufgrund knapper Personalressourcen warten müssen. «Bei einem Unfall mit einem Wildtier kann es da schon vorkommen, dass wir die Betroffenen darum bitten, nach Hause zu gehen und sich am nächsten Tag bei uns zu melden», sagt Daniel Manser, Mediensprecher der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden.

Hanspeter Krüsi von der Kantonspolizei St.Gallen bereitet das Sorgen. Wenn es so weitergehe, werde die Polizei im Alltag immer häufiger darüber entscheiden müssen, wo sie ihre Ressourcen einsetzen will und wo nicht. «Das ist höchst problematisch für die innere Sicherheit des Kantons, ja gar der ganzen Schweiz.»

Die zunehmende Gewaltbereitschaft der Bevölkerung untereinander machten den Beruf nicht gezwungenermassen unattraktiv. «Dafür werden Polizistinnen und Polizisten ja geschult», sagt Krüsi. Doch zu den Aufgaben der Polizei gesellten sich immer häufiger Aufgaben von Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern: Streit schlichten, für Ruhe sorgen, gefährdete, psychisch labile oder unter Drogen stehende Personen betreuen. Und das alles 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag.

«Das sind keine Arbeitsbedingungen, die bei den jungen Leuten gut ankommen», sagt Krüsi. Dass Arbeitnehmende zunehmend Flexibilität, Vereinbarkeit von Freizeit und Arbeit und gute Entlöhnung für unregelmässige Arbeitszeiten fordern, beobachtet man in allen Ostschweizer Polizeikorps.

Kampf und Arbeitskräfte zwischen den Kantonen

Dem versucht man entgegenzukommen, so gut es die kantonalen Rahmenbedingungen eben erlauben. Denn wie Daniel Manser von der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden sagt: «Heute ist es einfacher, vom einen Polizeikorps zum anderen in einem Nachbarkanton zu wechseln.» Die Ausbildung sei in der Ostschweiz vereinheitlicht worden. Die Arbeitsabläufe unterschieden sich weniger stark. Die Kantonspolizeien als Arbeitgeber müssen konkurrenzfähig sein.

Das ist je nach Budget des Kantons aber schwierig, ganz besonders im St.Galler Linthgebiet. Dort würden sich gemäss Mediensprecher Krüsi schon die einen oder anderen überlegen, ob sie nicht für den angrenzenden Kanton Zürich arbeiten wollten. «Gerade in Bezug auf den Lohn oder auch beim Teuerungsausgleich bietet Zürich mehr», sagt Krüsi.
(https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/sicherheit-die-polizei-dein-freund-und-sozialarbeiter-gewaltbereitschaft-in-der-ostschweiz-nimmt-zu-gleichzeitig-fehlt-es-an-polizistinnen-und-polizisten-ld.2395781)


+++POLIZEI DE
Polizei prüft Beschwerden weiter selbst: Tut die Ampel-Koalition genug gegen Racial Profiling?
Die Ampel wollte unabhängige Möglichkeiten schaffen, gegen Kontrollen vorzugehen, die rassistisch sein könnten. Jetzt verteidigt sie das Vorgehen der Bundespolizei.
https://www.tagesspiegel.de/politik/racial-profiling-polizei-pruft-beschwerden-weiter-selbst-9092392.html


+++RASSISMUS
ANTIRA-WOCHENSCHAU: Dekret zum Ertrinkenlassen, Auslagerung von Asylverfahren, Routen zum Sterbenlassen
https://antira.org/2023/01/03/dekret-zum-ertrinkenlassen-auslagerung-von-asylverfahren-routen-zum-sterbenlassen/


Sanija Ameti: «Ich bekomme oft Morddrohungen»
Sanija Ameti, Co-Präsidentin der Operation Libero, veröffentlicht Hassmails, die sie regelmässig erhält. «Es ist dringend nötig, dass wir darüber sprechen», sagt Ameti zu watson. Experte Dirk Baier pflichtet dem bei: «Im Internet scheint für viele noch alles erlaubt.»
https://www.watson.ch/schweiz/gesellschaft%20&%20politik/274679587-hau-ab-du-jugo-was-sanija-ameti-taeglich-zu-lesen-bekommt
-> https://www.blick.ch/politik/morddrohungen-fuer-papierlischweizerin-sanija-ameti-erhaelt-bis-zu-100-hassmails-pro-tag-id18193976.html
-> https://www.20min.ch/story/ich-bekomme-bis-zu-100-hassmails-pro-tag-909636690374



derbund.ch 03.01.2023

Jahreswechsel mit: Mona-Lisa Kole: «Vielen waren die Rassismus-Diskussionen schlicht zu oberflächlich»

Die Seeländer Aktivistin erhofft sich nach einem harzigen 2022 frischen Wind in den Debatten um Rassismus und Feminismus.

Michael Feller

Vielleicht waren es die absurdesten Fragen des Jahres 2022: Darf ich denn jetzt überhaupt noch Pasta essen? Und was ist mit Yoga?

Die Diskussion über kulturelle Aneignung hat dieses Jahr eine breite Öffentlichkeit erreicht, wegen Dreadlocks und Winnetou. Beide, die Frisur und Karl Mays Jugendbuchheld, standen einst für das Interesse am Fremden, zumindest für hiesige Bleichgesichter. Nun sollten sie plötzlich ihre Unschuld verloren haben. Das hat für manche ihr Weltbild gehörig durchgeschüttelt.

Nur: In der immensen Öffentlichkeit, die das Thema plötzlich erhielt, war die wichtigste Gruppe Menschen fast nicht zu hören. Jene, die direkt von Rassismus betroffen sind, sie waren rar in den Medien. Es war schwierig, Schwarze Menschen dazu zu befragen. Viele wollten nicht mitmachen. «Vielen von uns war die Diskussion schlicht zu oberflächlich», sagt Mona-Lisa Kole.

Die 30-jährige Seeländerin hat uns zum Gespräch ins Café Révolution im Berner Progr geladen. Der Raum, der mehr wie ein Wohnzimmer aussieht als ein Café, wurde von und für Menschen geschaffen, die Rassismus und Sexismus erleben. Dazu gehören der weisse Fotograf und der weisse Journalist sicher nicht, in der Regel wären wir hier nicht willkommen. Heute für dieses Interview allerdings schon.

Alles hängt zusammen

Rassismus, Feminismus, Queerness: Die gesellschaftspolitischen Themen, die das vergangene Jahr dominiert haben, sind auch die Themen von Mona-Lisa Kole. Sie studiert Global Governance, hat als Aktivistin Vernetzungsarbeit zwischen verschiedenen Gruppen geleistet und wirft dabei einen Fokus auf Intersektionalität – also die Analyse der verschränkten Wirkung von Mehrfachdiskriminierung, etwa von nicht-weissen Frauen. «Die Probleme hängen so sehr miteinander zusammen, dass es oft nicht möglich ist, sie auseinanderzuhalten.»

Im August hat sie ihre neue Stelle bei der städtischen Fachstelle für Migrations- und Rassismusfragen angetreten. Seit sie für die Stadt Bern arbeitet, konzentriert sie sich daneben auf wenige Herzensprojekte: auf eine «postmigrantische Late-Night-Show» etwa – oder das Café Révolution, das sie mitbegründet hat.

Sie kennt den Vorwurf gegen solche «Safer Spaces», die einem Teil der Gesellschaft vorbehalten sind, zur Genüge: «Ihr werdet ausgegrenzt, und jetzt macht ihr es selber.» Für sie und ihre Mitstreitenden ist es aber ein Rückzugsort für historisch marginalisierte Menschen. «Hier muss man niemandem erklären, dass es Rassismus tatsächlich gibt. Hier kann man freier diskutieren.» Für sie ist klar: Andere haben ebenfalls exklusive Räume. Ein Männer-Fussballgrüppchen muss das aber nicht in als «Safer Space» anschreiben, weil es selbstverständlich ist.

Die «Black Lives Matter»-Bewegung ist seit 2020, seit dem Mord des US-Amerikaners Georges Floyd in einer Polizeikontrolle, in den USA wieder ein dominierendes Thema, und sie hat dazu geführt, dass auch in Europa Rassismus wieder breit diskutiert wird. Für Direktbetroffene ist es ein zweischneidiges Schwert: Einerseits kommt eine Sache auf den Tisch, bei der vieles im Argen liegt, noch immer. «Andererseits ist der Rückfall auf die ganz grundlegenden Themen – etwa die Frage, ob es denn überhaupt Rassismusprobleme gebe – sehr anstrengend.»

Denn wer sich wie Kole und ihre Mitstreitenden intensiv mit dem Thema auseinandersetzt, ist an einem anderen Punkt, sucht Lösungen und den gesellschaftlichen Fortschritt zur Überwindung von historischen Ungerechtigkeiten. «Dass einem dann von irgendwem die rassistischen Erfahrungen abgesprochen werden, ist verletzend», sagt Mona-Lisa Kole. Für sie ist dieses Absprechen von Kompetenz eines der Hauptprobleme im komplexen Feld der Diskriminierungen. Und die Komplexität überfordert. «Die kulturelle Aneignung ist gewissermassen das Modul 3.4. im Rassismus-Lehrgang, dabei haben wir noch nicht einmal Stufe 1 geschafft.»

Austausch auf Augenhöhe

Viele Menschen hätten auch klare Erwartungen in diesem für sie neuen Feld. Sie möchten Handlungsanweisungen, sie wollen wissen, was nun erlaubt und was verboten gehöre. Darum gehe es aber nicht. «Es geht um einen kulturellen Austausch auf Augenhöhe. Um Respekt und um ein Interesse an den Dingen, die man konsumiert. Wenn man weiss, dass hinter dem Kopfschmuck der indigenen nordamerikanischen Bevölkerung mehr als Dekoration steckt – und wenn man sich über den Genozid im Zusammenhang mit der amerikanischen Kolonialisierung informiert: Dann hat man einen anderen Blick auf ‹Winnetou›.»

Sie hat Verständnis dafür, dass sich Menschen mit Rassismuserfahrung gut überlegen, ob sie sich öffentlich zu Rassismus äussern. Wer sich exponiert, stellt sich in einen harten Gegenwind und muss mit beleidigenden Nachrichten rechnen. «Der persönliche Nutzen ist also klein», sagt Mona-Lisa Kole. Sie als Aktivistin will aber Auskunft geben. Viel wichtiger ist ihr aber, dass direktbetroffene Menschen sich in ihrem Handeln nicht einschränken lassen. «Die Schweiz ist eine postmigrantische Gesellschaft. Wir sind längst da, wir haben Kinder und bauen Dinge auf.» Menschen sollen in Aktion treten. «Es ist wichtig, dass man nicht immer wartet, bis alle dabei sind.» Als Beispiel nennt sie die Ablehnung der Einführung eines dritten Geschlechts im Pass: Vorwärts machen kann man trotzdem.

Breiter Seeländer Dialekt

Was Mona-Lisa Kole sagt, sagt sie glasklar – und in einem breiten Seeländer Dialekt. Dabei sind ihre Muttersprachen Französisch und Lingála. Als sie zwei Jahre alt war, floh ihre Mutter mit ihr und ihrem jüngeren Bruder aus dem Kongo in die Schweiz. «In Orpund waren wir damals die einzige Familie mit Schwarzen Kindern.» Ihre Mutter sei sehr auf die Umgangsformen bedacht gewesen, auf die Art und Weise, wie die Kinder auftreten.

«Ich bin erst in der Schweiz Schwarz geworden», habe ihre Mutter einmal gesagt. Anders wahrgenommen zu werden, prägt einen. «Es ist ein grosser Unterschied, ob einem klargemacht wird: ‹Dir steht die Welt offen› oder ‹bitte störe nicht›.»

Als Teenager reagierte Mona-Lisa Kole mit Überassimilierung: Sich anpassen bedeutet, weniger aufzufallen. «Mein Berndeutsch war noch breiter», sagt sie und lacht. Ihr gewinnendes Wesen hat ihr viele Türen geöffnet. Sie ist aber ihrer eigenen Strategie gegenüber auch kritisch. «Es muss auch möglich sein, ‹hässig› auf die rassistischen Erfahrungen zu reagieren.» Lächeln schafft keine Probleme aus der Welt, zumindest nicht die grossen. In ihrem Fall schafft es Zugänge – und hilft im besten Fall zum Verständnis. Zusammen mit ihrer Ausbildung und ihren vielen Engagements macht ihre umgängliche Art Kole prädestiniert für ihren neuen Job, in der sie viel Vermittlungsarbeit leistet.

Struktureller Rassismus benennen

Kole ist aber nicht nur ‹hässig› über die Dinge, die sich zu langsam verbessern. Sie ist durchaus zuversichtlich, dass die Gesellschaft in Bewegung ist. «Letztes Jahr hat auch gezeigt, dass viele Leute die Dringlichkeit und Ungeduld spüren.» Positiv sei etwa, dass man Rassismus nicht mehr nur als individuelles Problem wahrnimmt, sondern dass auch seine strukturelle Prägung zum Thema wird. Die städtische Aktionswoche gegen Rassismus, die Kole dieses Jahr verantworten wird, rücken den strukturellen Rassismus bereits zum dritten Mal in den Fokus.

Struktureller Rassismus bedeutet auch, dass wir mit Vorurteilen aufwachsen und das Diskriminierende somit in uns haben. «Dies anzuerkennen, ist ein wichtiger Schritt», sagt Mona-Lisa Kole.

Sie nennt ein Beispiel, in der ihr ihre kleine Schwester die Augen geöffnet hat – in einem anderen Feld. «Meine Schwester war bei der Tagesmutter, und ich ging sie ab und zu abholen. Ein Kind hatte keinen Vorderarm. Ich habe ihr stets geholfen, weil ich es gut meinte. Implizit heisst das aber, dass ich anderen Kindern mehr zugetraut habe. Meine dreijährige Schwester hat mir dann gesagt: ‹Du musst ihr nicht helfen, du kannst sie fragen.›» Sie habe realisiert, dass auch sie Behindertenfeindlichkeit in sich trage. «Bei Diskriminierungen geht es nämlich nicht um die Absicht, sondern um die Wirkung auf Direktbetroffene. Heute stresst es mich, wenn Räume nicht zugänglich sind für Menschen mit Behinderung.»

Wenn es nach ihr ginge, sollte rassistische, queerfeindliche oder sexistische Diskriminierung genauso auch jene stressen, die nicht davon betroffen sind. Weil nicht die direktbetroffenen Menschen ein Problem haben, sondern die Gesellschaft.



Schwarz mit grossem S

Auf Anregung von Mona-Lisa Kole schreiben wir das Adjektiv «Schwarz» in diesem Artikel mit grossem S, eine Schreibweise, die in der Rassismus-Debatte immer geläufiger wird. Die Idee dahinter: «Schwarz» ist nicht die Bezeichnung der Hautfarbe (die ja nicht wirklich schwarz ist), sondern ein soziales Konstrukt, das die lange Geschichte der Diskriminierung widerspiegelt. (mfe)



Drei Fragen zum neuen Jahr

Welchen Tag im Jahr 2023 haben Sie im Kalender dick angestrichen?

Ich muss drei nennen: Am 14. Januar findet im Progr Bern die nächste Late-Night-Show mit Fatima Moumouni und Uğur Gültekin statt. Dann die Aktionswoche gegen Rassismus der Stadt Bern ab 18. März. Und der feministische Streik am 14. Juni wird wieder ganz gross.

Was nehmen Sie sich auf keinen Fall vor?

Aufgeben kommt nicht infrage.

Was lassen wir besser im Jahr 2022 zurück?

Das geht an die Medien: Oberflächliche, sensationalistische Beiträge über komplexe Themen. Mehr Raum für Tiefe!
(https://www.derbund.ch/vielen-waren-die-rassismus-diskussionen-schlicht-zu-oberflaechlich-838830306500)


+++FREIRÄUME
nzz.ch 03.01.2023

In Zürich werden immer mehr Häuser besetzt. Eine Bewohnerin des Koch-Areals sagt: «Besetzen ist das einzig Vernünftige»

Wer sind diese Leute, die Immobilienbesitzern den Kampf ansagen?

Linda Koponen, Nils Pfändler (Text), Karin Hofer (Bilder)

Aus dem Fenster des baufälligen Gebäudes an der Köchlistrasse 7 im Zürcher Kreis 4 hängt ein Banner, das sich in den Dachziegeln verfangen hat. Ein Post auf Twitter verrät, was darauf steht: «Alles wird besetzt!» Kurz vor Weihnachten haben sich Hausbesetzer im Gebäude der Genossenschaft Wogeno niedergelassen. Es ist nicht die erste derartige Aktion in den vergangenen Monaten.

Seit September haben Aktivistinnen und Aktivisten Häuser in Seebach, Oberstrass, Wipkingen, Altstetten, Albisrieden und Höngg, das Kesselhaus der EWZ und einen Platz auf dem Juch-Areal besetzt. Sie gingen mehrmals auf die Strasse, demonstrierten für mehr günstigen Wohnraum, mehr unkommerzielle Kultur und mehr Freiräume in der Stadt.

Eine Kampagne begleitete die Aktionen im Internet. Auf Twitter, Instagram und einer eigens dafür eingerichteten Website dokumentieren die Besetzer ihre Taten und skandieren ihre Parolen.

«Kein Zürich ohne Koch-Areal!», «Bildet Banden!», «Häuserkämpfe aufkochen!» oder schlicht «Enteignen!», so lauten die Forderungen. Manche Aussagen kippen in Drohungen: «Reisst ihr unsere Häuser nieder, seht ihr uns in euren wieder.»

Der orchestrierte Auftritt hat einen Grund. Im Februar soll mit dem Koch-Areal die wohl grösste und bekannteste Besetzung der Schweiz geräumt werden. Dann fahren die Bagger in Albisrieden auf, und das Gelände wird mit 325 preisgünstigen Wohnungen, einem Gewerbehaus und einem Park bebaut.

Was dann mit den Besetzern geschieht, ist ungewiss. Seit der Besetzung des Koch-Areals 2013 war es lange ruhig um die Szene. Die Anzahl Besetzungen war deutlich gesunken. Nun verdichten sich die Zeichen, dass die Besetzer wieder aktiver werden.

Wer sind diese Leute, die den Hausbesitzern in Zürich den Kampf ansagen? Was treibt sie an? Und vor allem: Was haben sie vor?

«Nehmt euch die Häuser!»

An einer Podiumsdiskussion Anfang November im besetzten EWZ-Gebäude lernen wir Samuel kennen. Der junge Mann sitzt neben einer Frau und vier anderen Männern auf der Bühne, vor ihnen 150 Zuschauerinnen und Zuschauer, dicht gedrängt auf Holzbänken.

Samuel, der Hausbesetzer, der eigentlich anders heisst, schnappt sich das Mikrofon: «Wohnen ist ein Grundbedürfnis. Jeder braucht ein Dach über dem Kopf», sagt er. «Es braucht diesen Druck von aussen, um klarzumachen: Was die Politik macht, reicht nicht!»

Der Mann neben ihm blickt herausfordernd in die Menge. Er ruft in den Saal: «Schaut Leute, wir können kollektivieren! Das ganze Eigentumszeug ist doch völliger Quatsch! Nehmt euch die Häuser und wohnt darin!»

Klatschen hallt durch den Raum. Von Anarchie fehlt aber jede Spur. Die Zuschauer sitzen gesittet nebeneinander und strecken auf, wenn sie etwas zu sagen haben. Sie sprechen von «Narrativen» und «Diskursen», von «sozialer Durchmischung» und «reproduzierten Strukturen». Wären nicht die Bierflaschen auf dem Podiumstisch, könnte man sich fast in einem Soziologieseminar der Universität wähnen.

Eine Woche nach der Podiumsdiskussion ist das EWZ-Gebäude geräumt, und wir treffen Samuel auf dem Koch-Areal. Gemeinsam mit Tanja und Robin, alle um die vierzig und alle in der Zürcher Besetzerszene aktiv, hat er sich bereit erklärt, der NZZ einen Einblick in ihr Zuhause zu gewähren.

Der Rundgang erinnert an eine Touristenführung. In den letzten zehn Jahren haben sich die Besetzerinnen und Besetzer ein kleines Dorf auf dem Koch-Areal aufgebaut – mit Bar, Kino, Siebdruckerei und Velowerkstatt, wobei uns der Blick in Letztgenannte verwehrt bleibt, weil sie zum Zeitpunkt des Besuchs nicht aufgeräumt sei.

Wer auf dem besetzten Areal offene Türen erwartet, wird eines Besseren belehrt. Alle Räume sind abgeschlossen, nur wer den passenden Zahlencode kennt, kann sich Zutritt verschaffen. Und auch wenn die Besetzerinnen und Besetzer Eigentum ablehnen, haben sie über die Jahre Unmengen an Material angehäuft.

Das Areal gleicht einem Wimmelbild. Zwischen zwei WC-Schüsseln hat jemand sein Velo parkiert. Daneben stehen vier Kisten mit Altglas und Dosen – fein säuberlich getrennt. Auf einem Leiterwagen stapeln sich Holzbretter und Kartonschachteln. Neben einem Wohnwagen steht eine griechische Säule. Vom Dachbalken der denkmalgeschützten Kohlehalle baumelt ein Kronleuchter, die Wände sind mit Graffiti verziert. Unter die Balken haben die Besetzer Baumhütten gebaut, die als Wohnraum dienen.

Samuel, Robin und Tanja wollen nicht stellvertretend für die gesamte Besetzerszene sprechen. Sie berichten hier über ihre eigenen Erfahrungen und Beweggründe. In Wirklichkeit heissen sie anders. Weil das Besetzen von Häusern in der Schweiz verboten ist, wollen sie sich nur anonym äussern.

Samuel: Für mich ist es ein bewusster Entscheid, hier zu leben. Andere lassen sich tragen. Und wieder andere haben keine Alternative. Sie könnten nicht in Zürich leben, wenn sie nicht hier leben würden. Viele Wohngruppen haben Zimmer, die explizit für prekarisierte und migrantische Personen reserviert sind. Es gibt auch viele Menschen, die die Dusche hier nutzen oder die Waschmaschine.

Tanja: Natürlich könnte ich mir woanders ein bequemeres Leben machen. Aber ich denke nicht, dass sich die Isolation in den eigenen vier Wänden besser anfühlen würde. Hier habe ich einen Handlungsspielraum, ich kann den Ort mit meinen Werten mitgestalten. Hier fühle ich mich gesehen, respektiert, ernst genommen und aufgefangen.

Robin: Und was heisst denn schon ein bequemes Leben? Wenn man Miete zahlen muss, ist man auf ein monatliches Einkommen angewiesen. In einer Stadt wie Zürich ist man da ständig unter Druck. Mein Leben wird nicht von der Lohnarbeit dominiert. Ich habe Zeit für Dinge, die Spass machen, wie lesen, Zeit mit Menschen verbringen oder Konzerte organisieren.

Für ihre Haltung und ihre Handlungen ernten die Hausbesetzer oft harsche Kritik. Nach der Besetzung des EWZ-Kesselhaus diesen Herbst schlug ihnen in den Kommentarspalten eine Welle der Verachtung entgegen, viele forderten ein härteres Vorgehen der Behörden. «Die Hausbesetzer leben auf unsere Kosten», schrieb ein Leser auf «20 Minuten». «Müssen diese Menschen nicht arbeiten?», fragte jemand anderes. «Ich frage mich, was diese Leute das Gefühl haben, wie unsere Welt aussähe, würde ein jeder so leben wie sie: sich alles nehmen, was man gerade haben möchte, ohne irgendetwas dafür zu tun.»

Die Besetzerinnen und Besetzer im Koch-Areal sind solche Vorwürfe gewohnt. Die Kritik lassen sie nicht gelten.

Samuel: Etwa 90 Prozent hier gehen einer Lohnarbeit nach – einfach nicht Vollzeit. Wir definieren uns nicht darüber.

Tanja: Die Frage ist ja auch, was arbeiten heisst. Wir machen hier alle mega viel: Wir sind unsere eigenen Barkeeperinnen, Schreinerinnen, Eventorganisatorinnen. Wir liegen niemandem auf der Tasche, beziehen keine Sozialleistungen. Wir machen einfach unser Ding. Die letzten dreissig Jahre haben gezeigt, dass der Kapitalismus zu nichts führt. Wir leben in der Schweiz in einer Bubble und blenden die Lebensrealität von prekarisierten Menschen aus.

Robin: Zu viel arbeiten ist ohnehin nicht gut – weder für den Planeten noch für den sozialen Zusammenhalt einer Gesellschaft. Reiche Menschen sind schmutziger als arme Menschen. Sie konsumieren mehr und belasten damit auch den Planeten stärker.

Samuel: Es ist absurd, wie die Welt und insbesondere die Schweiz funktioniert. Psychisch ist es wohltuend, sich dem entziehen zu können. Sonst würde ich durchdrehen.

Mit Buttersäure gegen Besetzer

Im Vergleich zu vielen anderen Städten pflegt Zürich heute einen liberalen Umgang mit den Hausbesetzern. Räumungen sind laut dem Merkblatt der Stadt nur mit einer Baubewilligung, wegen einer Neunutzung oder aufgrund von Sicherheitsbedenken möglich. Andernorts greift die Polizei weit schneller und rigoroser ein.

Die ersten politisch motivierten Besetzergruppen entstehen in Zürich in den siebziger Jahren. Sie fordern mehr Rechte für Mieterinnen und Mieter. Die Polizei räumt die Gebäude aber meist schon nach wenigen Stunden. Erst im Zuge der Achtziger-Bewegung formiert sich eine Szene, die es schafft, Häuser über mehrere Tage, Wochen oder gar Monate in Beschlag zu nehmen.

Doch die Hauseigentümer zeigen wenig Verständnis für die illegalen Eindringlinge, wie der Historiker Thomas Stahel in seiner Dissertation zum Thema beschreibt. Im Frühling 1981 wehrt sich ein Immobilienbesitzer gegen eine Besetzung, indem er im Haus stinkende Buttersäure versprüht, die sonst zur Vertreibung von Maulwürfen eingesetzt wird. Der Stadtrat tut: nichts. Er erklärt das Vorgehen als zulässig.

Die prägendste und berühmteste Besetzung findet Anfang der neunziger Jahre statt. Auf dem Wohlgroth-Areal im Kreis 5 direkt beim Zürcher Hauptbahnhof lassen sich ab 1991 für zweieinhalb Jahre rund hundert Besetzer nieder. Sie wohnen nicht nur dort, sondern errichten eine Kulturfabrik mit Jazzkeller, einer Bibliothek und unzähligen Kunstwerken, eine sogenannte Volxküche mit Essen für 5 Franken, aber auch ein Frauenhaus und eine Fixerstube für die Drogensüchtigen des benachbarten Platzspitzes.

Eine neugierige NZZ-Journalistin, die das Areal 1993 besucht, schreibt von einer «illegalen Besetzungsaktion» und einem «rechtsfreien Raum». Der Beschreibung schwingt aber auch eine leise Bewunderung mit. Es könne «ein zartes Flämmchen von Neid aufflackern beim Gedanken, dass diese Generation hier Grenzen überschreitet, welche einen selbst ein Leben lang eingeschränkt, aber auch gehalten haben».

Das farbige Graffito «alles wird gut» und der Schriftzug «Zureich» an den Hausfassaden, welche die Zugreisenden bei der Einfahrt in den Hauptbahnhof begrüssen, gelten bald als alternative Wahrzeichen der Stadt.

«Harmoniesüchtige Kompromisspolitik»

Die heutigen Besetzer knüpfen direkt an das Erbe dieser Grossbesetzung an. Ihre Klassenkampfrhetorik erinnert stark an die Parolen aus den 1980er und 1990er Jahren. Die Wortschöpfung «Zureich» taucht im Namen des Twitter-Accounts der Aktivisten wieder auf, der Leitspruch «alles wird gut» heisst nun «alles wird g̶u̶t̶ besetzt». Die Nostalgie macht auch vor linken Aktivisten nicht halt.

Die Stadtregierung ist für die heutigen Besetzer noch immer ein Feindbild, obwohl die Zeiten von politisch legitimierten Buttersäureangriffen und Polizeigewalt längst vorbei sind. Der rot-grüne Stadtrat und die Besetzer treffen einvernehmliche Abmachungen bezüglich Stromkosten, Abfallentsorgung und Partylärm. Bis vor kurzem war mit Richard Wolff sogar noch ein Mann Polizeivorsteher, dessen Söhne auf dem Koch-Areal verkehrten und der eine äusserst besetzerfreundliche Politik durchsetzte.

Doch die Stadtregierung kann machen, was sie will, die Kritik der Besetzer ist trotzdem laut und schrill. Es scheint, als müsse sich die Szene gegenüber der herrschenden Stadtregierung abgrenzen, weil sie sich über diese Abgrenzung definiert. Der Kampf gegen das als ungerecht empfundene System legitimiert das eigene, illegale Vorgehen.

Die Besetzer selbst widersprechen dieser Darstellung.

Samuel: Wenn es um die Achtziger-Unruhen und «Züri brännt» geht, dann klopfen sich die ganzen linken Politiker auf die Schulter und sagen: Seht, wie toll unsere Stadt durch diese Bewegungen geworden ist. Aber soziale Errungenschaften sind historisch gesehen immer aus Konflikten entstanden. Die Frustration heute ist: Man wählt links-grün, aber bekommt eine harmoniesüchtige Kompromisspolitik.

Tanja: Die Politiker verstecken sich hinter ihren Ämtern. Niemand hat den Mut, für eine Sache einzustehen. Es werden fadenscheinige Räumungsgründe vorgeschoben. Wie beim EWZ-Gebäude: An einem Tag geht es um den Denkmalschutz, dann gilt die Liegenschaft plötzlich als einsturzgefährdet. Das Narrativ ändert sich täglich. Der Stadtrat arbeitet gegen uns. Wir wollen Besetzungen nicht legalisieren, aber wir fordern die strikte Umsetzung des Merkblatts. Das war ein ausgehandelter Kompromiss.

Samuel: Die Stadt profitiert ja auch von den Besetzungen. Sie haben zu viel mehr Nutzung geführt, weil Besitzerinnen sich davor fürchten, ihre Häuser leer stehen zu lassen.

Robin: Es braucht Räume, wo man experimentieren kann. Wir machen ja keine bösen Sachen. Aber sobald etwas eine eigene Dynamik erhält, fürchten sich die Behörden. Es muss immer alles kontrolliert und reguliert sein.

Tanja: Es gibt kein vernünftiges Argument dafür, wieso etwas leer stehen muss. Besetzen ist das einzig Vernünftige, alles andere hat keinen Sinn. Wir machen ja niemandem etwas kaputt.
Freilaufende Hunde sorgen auf dem Koch-Areal immer mal wieder für kleinere Meinungsverschiedenheiten.
Freilaufende Hunde sorgen auf dem Koch-Areal immer mal wieder für kleinere Meinungsverschiedenheiten.

Hunderte von Polizisten, aber kein Kampf

Fest steht: Im Februar müssen die Besetzer das Koch-Areal verlassen. Was die Besetzer dann tun, ist unklar. Vor dreissig Jahre artete die Räumung der Grossbesetzung auf dem Wohlgroth-Areal in ein filmreifes Spektakel aus. Es beginnt im Morgengrauen des 23. Novembers 1993 mit einem Grosseinsatz der Polizei auf dem .

Einsatzkräfte in Vollmontur seilen sich aus zwei Helikoptern auf die Dachterrassen der Gebäude ab. Dutzende von Streifenwagen, mehrere Kastenwagen und Mannschaftsbusse, zwei Wasserwerfer und Fahrzeuge der Feuerwehr fahren unter den Buhrufen von Sympathisanten auf dem besetzten Areal vor. Hunderte von Polizisten, Bauspezialisten und Feuerwehrleute stehen im Einsatz.

Der grosse Kampf bleibt aber aus. Vonseiten der Besetzer kommt kaum Gegenwehr. Nur vereinzelte Bewohner leisten passiven Widerstand. Die meisten haben das Areal bereits vor dem Eintreffen der Polizei verlassen.

Krawall gibt es erst am Abend. Vermummte ziehen durch die Innenstadt und hinterlassen eine Spur der Verwüstung. Die Chaoten greifen Polizisten an, ein Passant wird von einem Pflasterstein am Kopf getroffen und schwer verletzt.

Die Einsatzkräfte verhaften 39 Personen, der Sachschaden beträgt rund eine halbe Million Franken. Stadtpräsident Josef Estermann spricht tags darauf von schwerwiegenden gesellschaftspolitischen Folgen der Aktion. Das Verhalten der Jugendlichen sorge für eine Polarisierung und Verhärtung des politischen Klimas, so der SP-Politiker.

«Auf zur nächsten Besetzung!»

Die Stadt steht nun vor der nächsten grossen Räumung. Sind die zahlreichen Besetzungen der letzten Monate, die Kampagne im Internet und die Demonstrationen auf der Strasse eine Antwort auf das Ende des Koch-Areals?

Tanja: Eine Antwort ist das schon, aber keine Rache. Klar ist, dass es einen neuen Raum braucht. Wo sollen wir sonst hin mit dem ganzen Zeug?

Samuel: Der grosse Slogan «Koch bleibt!» ist noch nicht gefallen oder nur vereinzelt. Was am Tag der Räumung geschieht, ist aber auch davon abhängig, was sonst passiert in der Stadt. Man darf sich die Besetzerinnenszene auch nicht als zentrale Organisation vorstellen. Es gibt viele einzelne Gruppen, und die entscheiden selbst, was sie tun.

Tanja: Es war von Anfang an klar, dass wir das Koch-Areal irgendwann verlassen müssen. Der Moment, wenn die Abbruchbagger vorfahren, wird sicher brutal sein. Aber das Soziale, die Netzwerke, das bleibt ja bestehen.

Robin: Am Schluss geht es nur um Materielles. Die Räumung ist auch eine Chance. Danach kann etwas Neues entstehen mit neuen Leuten und neuen Strukturen. Das muss man sich einfach neu erkämpfen.

Ideen, wo es hingehen könnte, schwirren aber schon herum. In der Wochenzeitung «WoZ», die das Podium im EWZ-Kesselhaus mitorganisiert hat, gab eine Kolumnistin noch am Tag der Räumung Empfehlungen für neue Besetzungen ab und schlug das weitgehend leerstehende Kasernenareal sowie das Stierli-Areal in Seebach vor. Der Titel des Texts: «Auf zur nächsten Besetzung!»
(https://www.nzz.ch/zuerich/koch-areal-in-zuerich-wer-sind-die-hausbesetzer-ld.1712360)