Dekret zum Ertrinkenlassen, Auslagerung von Asylverfahren, Routen zum Sterbenlassen

Die Schiffsunglücke und das Verschwinden von Booten mit Menschen auf der Flucht Richtung Italien, nahe der tunesischen Küste, häufen sich seit zwei Jahren

Was ist neu?

Italien: Ein Dekret fordert das Ertrinkenlassen

Es sei eine „Aufforderung zum Ertrinkenlassen“, schreibt Sea Watch. Um die von ihr angekündigte „Seeblockade“ zu errichten, hat die italienische Regierungschefin Meloni ein neues Dekret erlassen. Zivile Seenotrettungsschiffe müssen nach der ersten Bergung direkt einen ihnen zugewiesenen Hafen ansteuern und müssen tatenlos an weiteren Booten und Menschen in Seenot vorbeifahren.

Mit freier Sicht aufs Mittelmeer: Hätten die SVP, FDP oder Mitte ein anderes Dekret erlessen?

Während ihres Wahlkampfs hatte Meloni angekündigt, die Seeroute von Nordafrika nach Italien komplett dicht zu machen. Im November veranlasste sie in einem ersten Dekret, dass nur erkrankte gerettete Personen in Italien an Land dürfen. 1078 Menschen mussten in der Folge – verteilt auf vier Seenotrettungsschiffen – wochenlang ausharren, bevor sie europäisches Festland betreten durften.

Mit einem weiteren Dekret landet Meloni nun einen zweiten Coup: Seenotrettende, die sich weigern, nach einer Bergung unverzüglich die Such- und Rettungszone zu verlassen, um einen ihnen zugewiesenen „sicheren“ Hafen anzusteuern, riskieren die Beschlagnahme von Schiffen sowie Geldstrafen bis 50.000 Euro. Das Dekret verstösst gegen das Völkerrecht. Dort ist die Pflicht zur Rettung verankert. Halb leere Schiffe dürfen keinesfalls an weiteren Booten und Menschen in Seenot vorbeifahren.

Während sich Meloni weigert, als Faschistin bezeichnet zu werden, betreibt sie im Mittelmeer eine Todespolitik gegen (flüchtende) Migrant*innen in Seenot. Laut der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben dieses Jahr über 2000 Menschen im Mittelmeer. Seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 2014 sind es über 25.000 Menschen. Ein Genozid für den die europäischen Staaten die Verantung tragen.

In Italien wird die rassistisch-neokoloniale Gewalt nicht auf den Strassen gefordert. Sie kommt von oben und wird staatlich orchestriert. Als moderne Faschistin weiss Melonie demokratisch wirkende Dekrete zu benutzen, um zu entmenschlichen und Grundrechte auszuhöhlen bzw. abzuschaffen. Italiener*innen seien bedrohte „Opfer“. Um Italien zu verteidigen sei jede Form der Gegenwehr gerechtfertigt. Alerta.

https://sea-watch.org/ita-regierungsdekret/
https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-12/italien-seenotretter-mittelmeer-gefluechtete
https://taz.de/Italien-erlaesst-Dekret-zur-Seenotrettung/!5897423/
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1169716.italien-regierung-erschwert-seenotrettung.html

Flucht- und Migrationsrouten im Dezember 2022

Auf Flucht- und Migrationsrouten durch die Sahara, über das Mittelmeer und über den Balkan gab es auch im Dezember über 75 Tote. Die erhöhte Überwachung und die verstärkten Grenzkontrollen, sowie das sich immer weiter durchsetzende System von Push- und Pull-Backs führt weiterhin dazu, dass Menschen immer gefährlichere Routen auf sich nehmen und mehr Leid ertragen müssen.

Es führt jedoch nicht dazu, dass weniger Menschen kommen, wie von rechten Parteien, Hetzer*innen, Stimmungsmacher*innen behauptet wird. Dass Grenzschliessungen und Abschottung zu Kontrolle oder Verminderung von Migrationsbewegungen führt, sind rechte Fantasien, welche als Symbol für Wähler*innen funktionieren sollen. Doch diese Illusion wird auf dem Rücken der geflüchteten Menschen ausgetragen, die in einem entsetzlichen System von Entmenschlichung, Instrumentalisierung und Ausbeutung ausharren müssen. Die Militarisierung der Grenzen und die Verschärfung der Asylgesetze löst keine Probleme, sondern bestärkt ein verrottetes System und hält eigentlich unaushaltbare Situationen in unendlichen Zyklen aufrecht.

MITTELMEER

Mehrere Bootsunglücke auf dem zentralen Mittelmeer und in der Ägäis forderten im Dezember mindestens 50 Todesopfer, darunter auch mehrere Kinder. Die staatlichen Rettungseinsätze der maltesischen, italienischen, spanischen und marokkanischen Küstenwachen wurden entweder verweigert oder waren so schlecht koordiniert, dass es ebenfalls unterlassener Hilfeleistung gleichkommt.
Vielmehr wird das Abfangen und Zurückschleppen von Menschen auf hoher See (z.B. von der tunesischen Küstenwache) weiter gefördert und durch Migrations-Deals (in diesem Fall mit der italienischen Regierung) finanziert.

Marokko: Nur drei Überlebende eines Bootes mit über fünfzig Menschen Bord schafften es am 19. Dezember bis auf die Klippen von Tan Tan, Marokko. Sie waren über zwölf Tage auf See und wurden ins Krankenhaus gebracht. Die restlichen Menschen an Bord des Bootes gelten als vermisst, unter ihnen mehrere Kinder.
Am Ende gingen ihnen Proviant und Wasser aus, sie waren am Ende ihrer Kräfte. Dass die Überlebenden schwimmen konnten, rettete ihnen vermutlich das Leben.
Am 7. Dezember ging der erste Notruf an die NGO Alarm Phone: Der Motor des Boots war ausgefallen, es war manövrierunfähig. Alarm Phone kontaktierte sowohl spanische, als auch marokkanische Behörden mit Koordinatenangaben, doch vergeblich.
Die Koordination zwischen den beiden Grenzwachen war katastrophal und die Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen gleich null. Die spanischen Behörden verwiesen auf die Verantwortung der marokkanischen Behörden und verweigerten ihre Unterstützung, während die marokkanischen Behörden entweder keine Informationen oder Fehlinformationen herausgaben (ob absichtlich oder aufgrund eines Missverständnisses ist nicht bekannt).
Alarm Phone gibt an, in der Nacht vom 7. auf den 8. Dezember seien mehrere Schiffe in der Nähe gewesen, auch von der spanischen und marokkanischen Küstenwache, diese seien jedoch wieder abgedreht. Auch nach wiederholter Weitergabe der aktualisierten Koordinaten des Bootes in Notlage sei von den Behörden nicht oder verzögert reagiert worden.

Italien: Am Sonntag, den 18. Dezember kenterte ein Boot mit 43 geflüchteten Menschen an Bord vor der Küste Lampedusas, Italien. Zunächst konnten alle gerettet werden, doch ein zweijähriges Mädchen befand sich in kritischem Zustand. Sie wurde mit ihrer Mutter in eine Klinik auf der Insel gebracht, verstarb allerdings wenige Stunden später. Die faschistische Politik Italiens unter Giorgia Meloni und die damit einhergehenden Verschärfungen der Asylpolitik werden dazu führen, dass solche Tragödien zunehmen werden. Unsere Gedanken sind mit der Mutter und der Familie des toten Mädchens.

Griechenland: Ein weiteres Bootsunglück erfolgte am Freitag, den 16. Dezember im östlichen Mittelmeer nahe Lesbos, Griechenland. Das Boot mit 35 Menschen an Bord wurde durch die stürmische See gegen die Felsen getrieben und zerschellte. 34 der Bootsinsass*innen konnten das Ufer erreichen, doch für ein Baby kam jede Hilfe zu spät. Es wurde von den Wellen ergriffen und auf die Felsen gedrückt. Im Krankenhaus der Insel konnte nur noch sein Tod festgestellt werden. Zwei Kleinkinder sterben an einem Wochenende im Mittelmeer: die Abschottungspolitik Europas hat ihren Teil dazu beigetragen. Im östlichen Mittelmeer hat sich die Zahl der vermissten und ertrunkenen Menschen dieses Jahr von 115 im Jahr 2021 auf 300 im Jahr 2022 mehr als verdoppelt. Unsere Gedanken sind mit der Familie des toten Mädchens.

Malta:
In der Nacht vom 18. auf den 19. Dezember wurden 45 Menschen von der Crew der SEA-EYE 4 in der maltesischen Such- und Rettungszone aus Seenot gerettet. Die Menschen befanden sich bereits seit sechs Tagen auf einem seeuntauglichen Kunststoffboot. Am 17. Dezember war die SEA-EYE 4 bereits mit 63 Menschen an Bord in Richtung ihres zugewiesenen Hafens in Livorno unterwegs, als sie den Notruf erhielten. Sowohl die italienischen, als auch die maltesischen Behörden unterliessen die Rettung. Zwei Handelsschiffe näherten sich dem Boot, um einzugreifen, doch daraufhin wiesen die maltesischen Behörden sie an, unverzüglich die Hilfeleistung zu unterlassen und den Kurs zu ändern, drohten ihnen sogar mit Konsequenzen. Das Schiff MTM SOUTHPORT beteiligte sich dennoch an der Rettungsaktion. Das politische Kalkül, welches hinter der aktiven Verhinderung von Rettungseinsätzen steht, kostete bereits mehrere Menschen das Leben: Erst im September verdurstete die dreijährige Loujin in der maltesischen Such- und Rettungszone.

Tunesien: Seit Anfang des Jahres bis Ende November 2022 sind laut FTDES (Tunisian Forum for Economic and Social Rights) mehr als 575 Menschen auf der Mittelmeer-Route zwischen Tunesien und Italien ums Leben gekommen. Mehrere tunesische Organisationen und die NGO Alarm Phone sammelten Zeug*innen-Aussagen, Fotos, Videos und Internet-Posts, die aufzeigen, wie die tunesische Küstenwache sich daran beteiligt – von EU-Geldern finanziert. Schläge mit Stöcken, Schüsse in die Luft oder in Richtung des Motors, Messerattacken, gefährliche Manöver, um Boote zu versenken oder Geldforderungen im Austausch für die Rettung sind nur ein Teil davon. Erst letzten Monat rammte ein Schiff der tunesischen Küstenwache ein Boot mit geflüchteten Menschen an Bord, welches daraufhin nahe der Küste vor Chebba, Tunesien sank. Auch drei Kinder waren unter den Opfern. Des weiteren haben die illegalen Pull-Backs weiter zugenommen.
Laut FTDES wurden im Jahr 2022 bis Ende Oktober über 30.000 Menschen von der tunesischen Küstenwache auf dem Mittelmeer abgefangen und zurückgeschleppt. Dies sind fast vierzig Prozent mehr als im Jahr 2021 und sechs Mal so viel wie im Jahr 2018.
Diese ‚Rückführungen‘ betten sich ein in eine strukturelle Zusammenarbeit zwischen Italien und Tunesien: Zwischen 2011 und 2022 flossen 47 Mio. Euro von Italien nach Tunesien, um Grenzen und Migration zu kontrollieren. Des weiteren sind zwischen 2018 und 2023 30 Mio. Euro des EU Emergency Trust Fund for Africa eingesetzt worden, um ein „integriertes Überwachungssystem“ für Tunesiens Seegrenzen einzurichten. Gegenläufig nimmt Tunesien bis zu vier Charterflüge wöchentlich entgegen – Menschen mit tunesischer Staatsangehörigkeit, die aus Italien abgeschoben werden. Ein krankes System, das sich die EU, Italien und Tunesien dort aufgebaut haben.
https://alarmphone.org/en/2022/12/19/deadly-policies-in-the-mediterranean/
https://sea-eye.org/malta-fordert-handelsschiffe-dazu-auf-seenotfall-zu-ignorieren/
https://www.spiegel.de/ausland/lampedusa-boot-mit-fluechtlingen-kentert-zweijaehrige-stirbt-a-1e784861-7604-4fbe-9db1-01e70c19f93d
https://www.watson.ch/international/griechenland/924765382-fluechtlingsboot-auf-felsen-von-lesbos-zerschellt-kleinkind-stirbt
https://alarmphone.org/en/2022/12/26/left-behind-at-sea

UPDATE SAHARA

Tschad: Am Dienstag, den 13. Dezember wurden die Leichen von 27 Menschen, unter ihnen 4 Kinder, in der tschadischen Wüste gefunden. Es wird vermutet, dass sie vor 17 Monaten die Stadt Moussoro, im westlichen Tschad per Pick-Up Truck verliessen. Wahrscheinlich blieb der Wagen liegen und die Menschen verdursteten. Die International Organization for Migration (IOM) hat seit 2014 den Tod und das Verschwinden von mehr als 5.600 Menschen dokumentiert, als sie die Sahara durchquerten, davon 149 alleine dieses Jahr. Viele durchqueren Tschad, um nach Libyen und von dort aus weiter nach Europa zu kommen. Nur Europa ist noch tödlicher: 9.000 Menschen sind laut IOM seit 2014 während Migrationsbewegungen ums Leben gekommen. Damit ist Europa tödlicher für Menschen auf der Flucht als der Kontinent Afrika.
http://www.infomigrants.net/en/post/45394/bodies-of-migrants-found-in-chadian-desert

UPDATE: BALKANROUTE

Eine Reportage von Lighthouse und anderen Medien berichtet von einem brutalen und abgekarteten System geheimer Haftanstalten und illegaler Push-Backs an den Grenzen zwischen Bulgarien und der Türkei, Ungarn und Serbien, sowie Kroatien und Bosnien. Käfige, Schiffscontainer, Gefangenenbusse – nichts wird gescheut, um Menschen auf der Flucht zu erdniedrigen, zu schikanieren und zu quälen. Alles finanziert von EU-Geldern.

Bulgarien: Am 11. Dezember wurden 70 Leute nahe Sliven an der bulgarischen Grenze zur Türkei festgenommen, weil sie ’irregulär’ das Land betreten hatten. 14 von ihnen wurden ins Krankenhaus gebracht, drei mussten zur Beobachtung dort bleiben. Die meisten flohen aus Afghanistan. Die bulgarische Regierung hat erst kürzlich die Kontrollen an der Südgrenze zur Türkei und im ganzen Land verstärkt. Die erhöhten Kontrollen sind eingebettet in ein systematisch aufgebaute und organisierte Strukturen. In der vorangehenden Woche war ein syrischer Geflüchteter von Grenzsoldat*innen ermordet worden. Wie die Reportage von Lighthouse und den anderen Medien nun deutlich macht, ist dieser Fall kein Einzelfall, sondern „ein breiteres System an den EU-Grenzen (…), das auf sog. ‚black sites‘ (also geheime Haftanstalten), Käfige und Folter setzt.“ Eine dieser geheimen Haftanstalten ist eine käfigartige Struktur nahe Sredets, 40 km von der türkischen Grenze entfernt. Die Journalist*innen berichten, dass sie zu fünf verschiedenen Gelegenheiten vor Ort waren und immer Menschen in den Käfigen gehalten wurden. Sie sprachen mit hunderten von Menschen, die davon berichteten, teilweise mehrere Tage dort eingesperrt worden zu sein. Einigen von ihnen wurde auch der Zugang zu Nahrung und Wasser verwehrt. Des weiteren berichten die Journalist*innen davon, dass zu drei verschiedenen Anlässen Frontex-Autos neben dem Gebäude geparkt waren. So geschieht dies nicht nur unter den Augen der europäischen Agentur für Grenz- und Küstenwache und mit dessen Mithilfe, sondern wird auch von der EU finanziert (und europäischen Steuergeldern). 320 Mio. Euro haben bulgarische Grenzbehörden in den letztem Jahren von der EU erhalten. 170.000 Euro davon flossen 2017 in die Renovierung der Polizeistation in Sredets, in der die Käfige eingerichtet wurden.


Ungarn:
Auch in Ungarn gibt es laut des Lighthouse Reports ein System von geheimen Haftanstalten. In diesem Falle sind es Schiffscontainer, in die die Menschen über Nacht eingesperrt werden, sowie eine abgelegene Tankstelle. Ebenfalls teilweise ohne Zugang zu Wassern und Lebensmitteln. Einige von ihnen werden mit Pfefferspray attackiert, bevor sie in Gefangenenbussen illegal nach Serbien abgeschoben werden. Lighthouse berichtetdes weiteren, dass sie Fotografien und Drohnen-Aufnahmen von zivilen Polizei-Beamt*innen haben, welche mit Schlagstöcken bewaffnet sind und Menschen dazu zwingen, stundenlang auf dem Boden zu sitzen, bevor sie illegal nach Serbien abgeschoben werden. Auch und diesem Fall unterstützt die EU munter das Treiben. Die ungarischen Grenzbehörden erhielten in den letzten Jahren 140 Mio. Euro, im Jahr 2017 kauften sie u.a. zwei Gefangenenbusse für die Grenzpolizei, welche für die Push-Backs benutzt werden.

Kroatien: In Kroatien berichten die Journalist*innen des Lighthouse Report von überfüllten Vans, die oft stundenlang in der Sonne stehen gelassen werden und sich gefährlich aufheizen, bevor die Menschen illegal nach Bosnien abgeschoben werden. Die Strassen nahe der kroatisch-bosnischen Grenze sind laut des Berichts „speziell zur Durchführung von Push-Backs eingerichtet worden“. Auch sie sind von den 163 Mio. Euro finanziert, welche in den letzten Jahren an kroatische Grenzbehörden flossen. Um diesen brutalen Push-Backs zu entgehen, nehmen Menschen auf der Flucht immer gefährlichere Routen in Kauf – mit lebensbedrohlichen Folgen. So wurden erst am 23. Dezember die Leichen von drei Menschen gefunden, welche versucht hatten, den Fluss Save von Bosnien aus zu überqueren. Sie wurden am Ufer nahe der Stadt Slavonski an Land gespült. Die direkten Folgen der europäischen Grenzpolitik.
http://www.infomigrants.net/en/post/45344/dozens-of-migrants-intercepted-in-bulgaria-amid-human-rights-abuse-allegations
https://www.infomigrants.net/en/post/45282/europes-black-sites-allegations-of-torture-and-detention-along-eu-borders
https://www.lighthousereports.nl/investigation/europes-black-sites/
https://www.nau.ch/news/europa/drei-migranten-an-kroatisch-bosnischer-grenze-gestorben-66377728

Wo gab es Widerstand?

Widerständige Broschüre gegen Gewalt in Bundesasylcamps

„Drei Rosen gegen Grenzen“ veröffenticht eine neue Broschüre. Damit ist es die 4. Broschüre, die die Gruppe in den letzten 2 Jahre veröffentlicht. Dahinter stecken zahlreiche Menschen, welche direkt von Gewalt betroffen sind, sich wehren, organisieren und mit ihren gewaltvollen Erfahrungen an die Öffentlichkeit gehen wollen.

Der erste Text dreht sich um ein derzeitiges Gerichtsverfahren, gegen Sicherheitsangestellte im Camp in Giffers und der Zweite beschreibt, wie sich Asylsuchende organisieren, um sich gemeinsam gegen die miserablen Bedingungen und die Gewalt im Camp zu wehren und wie dies seitens des SEM unterbunden wird.

https://3rgg.ch/gewalt-in-den-schweizer-bundesasyllagern/
Gewalt in den Schweizer Bundesasyllagern PDFHerunterladen

Was ist aufgefallen?

SVP will Asylverfahren in Drittstaaten durchführen lassen

2023 ist ein Wahljahr. Es wird hart. Einen Vorgeschmack liefert SVP-Chef Chiesa. Dieser fordert, dassin der Schweiz eingereichte Asylgesuche in einem Drittstaat wie Ruanda behandelt werden sollen. BetroffeneGeflüchtete würden direkt nach ihrer Ankunft ohne Asylentscheid abgeschoben werden. Inwiefern lassen sich solche Auslagerungsphantasien umsetzen?

Bild: Blick und SVP in Symbiose

Chiesa verweist mit seine Forderung auf die Auslagerungsdeals zwischen den ruandischen Behörden und ihren Gleichgestellten in Grossbritannien und Dänemark. Diese Abkommen sind neu, die dahinterliegende Auslagerungsphantasie ist es nicht. Bereits Tony Blair, der damalige britische Premierminister, sprach 2003 davon. In der Schweiz war es Christoph Blocher, der sich als Bundesrat und Justizminister für die Auslagerung des Asylsystems stark machte. Beiden kamen mit ihren Plänen nicht weit.

Ob es heute zu einer Umsetzung kommen wird, ist offen. Zwar urteilte der britische Suppreme Court (vgl. antira-Wochenschau von letzter Woche), der Auslagerungsdeal mit Ruanda sei rechtens. Doch für eine effiziente Umsetzung des rassistischen Traums müssten zahlreiche rechtsstaatliche Prinzipien, Menschenrechte oder Flüchtlingskonvention verletzt werden. Dazu scheint bei den Herrschenden noch nicht genügend Bereitschaft vorhanden zu sein. Zumindest winkten das SEM und die NZZ rasch ab, nachdem Chiesa seine Pläne kurz vor Jahresende präsentierte.

Chiesa geht es aktuell wohl eher darum, seiner Wähler*innenschaft rassistische Entschlossenheit zu demonstrieren. Seit einigen Wochen bringt sich die Partei in Stellung. In ihren Stellungsnahmen wird ein „Asyl-Chaos“ diagnostiziert: „Mitte-Links hat unser Asylsystem komplett an die Wand gefahren“. Nun brauche es dringend eine starke SVP. „Die Flut von Asylschmarotzern ist endlich zu stoppen“. Sonst drohe der Untergang. Der hetzerische Ton und die rassistischen Stereotypen könnten auch von der Faschistischen Meloni oder dem Autokraten Orban stammen: „Jeder dritte Afrikaner, der arbeiten könnte, lebt auf Kosten der Allgemeinheit (…) Zu viele der Asylmigranten kommen aus frauenverachtenden Kulturen (…) Sie sind kaum oder gar nicht integrierbar“.

Nebst Chiesas Vorschlag das Asylregime auszulagern, will die SVP die Landesgrenzen militarisieren und dicht machen: „Wenn es die EU trotz Milliardenzahlungen nicht schafft, die Aussengrenzen zu schützen, dann muss unser Land dies selber in die Hand nehmen. Wenn also der Bundesrat die Armee aufbietet, dann zum Schutz unserer Landesgrenzen vor dieser schädlichen Form der Zuwanderung“.

Der Mix dieses gewaltvollen herabsetzenden Diskurses und der düsteren Stimmung aufgrund von Inflation, Kriegen und Energiekrise ist toxisch. Wenn es zusätzlich nicht gelingt, emanzipative, erfolgreiche und anti-rassistische Bewegungen zu stärken, die auf Hoffnung beruhen, ist es gut möglich, dass rassistische und faschistische Kräfte, die Ängste und Unsicherheiten bewirtschaften, Aufwind spüren werden.

https://www.nzz.ch/schweiz/schon-blocher-biss-sich-die-zaehne-aus-weshalb-die-verlagerung-von-asylverfahren-in-afrikanische-laender-nicht-funktioniert-ld.1719019
https://www.blick.ch/politik/wegen-ueberlastung-svp-chiesa-will-asylbewerber-nach-afrika-schicken-id18179024.html

https://www.20min.ch/story/svp-praesident-chiesa-will-asylsuchende-nach-afrika-abschieben-167929373508
https://www.blick.ch/politik/regierung-will-von-svp-forderung-nichts-wissen-bundesrat-will-keine-asylbewerber-nach-afrika-abschieben-id18184346.html
https://www.derstandard.at/story/2000142079855/gefluechtete-als-verhandlungsmasse
https://www.svp.ch/aktuell/publikationen/medienmitteilungen/die-flut-von-asylschmarotzern-ist-endlich-zu-stoppen/

Balkanroute: Umsetzung der europäischen Auslagerungsstrategie in Bosnien

Während SVP-Chiesa im Blick und Boris Johnson in der London Times mit ihren rassistischen Auslagerungsplänen in den Schlagzeilen stehen, arbeiten die europäischen Behörden seit Jahren an der sogenannten Externalisierung des Grenz- und Asylregimes. Ein besonderes Augenmerk erhält 2022 Bosnien und Herzegowina. Der Staat im der Westbalkan ist seit Jahren ein Nadelöhr auf der Balkanroute.

Bild: Das Asylcamp Lipa soll bald ein Asylknast werden.

Bosnien schloss 2020 ein Abschiebeabkommen mit Pakistan ab. Diesen Sommer feierten die Behörden die ersten Abschiebungen. Flüchtende Personen, die auf der Durchreise nach Westeuropa waren, wurden nach Pakistan abschoben. Wer in Bosnien kein Asylgesuch einreicht, wird illegalisiert und entsprechend behandelt: Repression, Gewalt, Freiheitsentzug, Abschiebung.

Dass in Bosnien kein funktionierendes Asylsystem existiert, interessiert niemanden. Im Gegenteil: Für die durchgeführten Abschiebungen erhielt Bosnien internationale Anerkennung. Im November unterzeichnete die UN-Organisation für Migration (IOM) mit Bosnien ein Memorandum of Understanding. Darin wird festgehalten, dass „freiwillige Rückkehr“ und Zwangsausschaffungen ab Bosnien voranzutreiben seien.

Abgesehen von politischer Anerkennung gibt es auch finanzielle Belohnung, wenn ein Staat die rassistische Gewalt des europäischen Migrationsregime autonom in Taten umsetzt:

  • Die bosnische Grenzabwehr erhält dieses Jahr 6,4 Millionen Euro. Zudem liefert Westeuropa für eine engmaschige Grenzkontrolle neue Drohnen, Wärmebildkameras, Videoüberwachungssysteme, Überwachungsfahrzeuge und Kommunikationsnetze.
  • Damit weitere Kapazitäten für „freiwillige Rückkehr“ und Zwangsausschaffungen aufgebaut werden, gibt es zusätzliche 500.000 Euro für ein Pilotprojekt. Wenn es Erfolg hat, sollen auch andere Staaten im Westbalkan mitziehen.
  • Eine halbe Million Euro erhält schliesslich auch das umstrittene Camp Lipa unweit der kroatischen Grenze. Das Camp war immer wieder wegen katastrophaler Bedingungen und einer absurden Überbelegung in den Schlagzeilen. Nachdem es vor zwei Jahren niederbrannte, wurde es mit europäischen Geldern neu aufgebaut und in Betrieb genommen. Die weisse Containersiedlung erfüllt nun mehr europäische Standards als die zuvor dürftigen Partyzelte, in denen absurd viele Menschen im kalten Winter verharren mussten.

Das Pilotprojekt für Lipa zeigt auf, warum es für den Wiederaufbau europäisches Geld gab: Aus dem Asylcamp Lipa soll ein Asylknast Lipa entwickelt werden. Zellen sollen gebaut werden, um flüchtende Menschen aus dem Iran, Afghanistan, Pakistan usw. bis zu ihrer Abschiebung einzusperren.

Die Worte des für die EU-Ausweitung im Balkan zuständigen Kommissars Olivér Varhelyi sprechen Bände über das neokoloniale Selbstverständnis der EU-Behörden und ihrer Externalisieungspolitik: „Wir müssen unsere Hafteinrichtungen in Lipa und in der Region unter Kontrolle halten, was bedeutet, dass Afe-Asylbewerber so lange festgehalten werden müssen, bis sie in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Seien Sie versichert, dass Bosnien und Herzegowina und die westlichen Balkanländer weiterhin auf uns zählen können. Lassen Sie uns also weitermachen und gemeinsam etwas erreichen“

Das Funktionieren des Auslagerungsregimes hängt stark vom Willen der Eliten im ausführenden „Drittstaat“ ab. Wenn diese nicht fügsam mitmachen wollen, macht sich Europa potentiell erpressbar. Dies stört die rassistischen Herrschenden, spätestens seit den Erfahrungen mit dem EU-Türkei-Deal. Dafür, dass die türkische Armee, Polizei und Grenzwache Flüchtende drangsalieren und sie gewaltsam an der Durchreise Richtung Europa hindern, lässt sich Erdogans Regime teuer bezahlen. Um sich nicht von einem Akteur abhängig zu machen, diversifizieren sich die europäischen Externalisierungs-Hotspots. Fokussiert werden verschiedene Staaten, die aufgrund ihrer finanziellen Lage und wirtschaftlichen Situation selbst erpressbar bzw. von Europa abhängig sind. Beliebt sind auch Staaten, deren Eliten in Europa als zuverlässige*r Partner*in gelesen werden möchten. Nebst Ruanda gilt dies besonders für die Staaten im Westbalkan. Alle streben einen EU-Beitritt an und können leicht in Konkurrenz versetzt werden, wer die europäische Abschottungspolitik am entschiedensten umsetzt.

https://ec.europa.eu/commission/commissioners/2019-2024/varhelyi/announcements/commissioner-oliver-varhelyi-bosnia-and-herzegovina-migration-signature-ceremony_en
https://pbs.twimg.com/media/FlPZfLxXoAI3r_z?format=jpg&name=900×900

Was war eher gut?

Crowdfunding: 60 001 Franken für Halbtax-Abos gegen Isolation

Innerhalb von zwei Wochen wurden 60‘001 Franken gesammelt, um geflüchteten Personen ein Halbtax-Abonnement zu ermöglichen. Das Geld vom Crowdfunding reicht für mehr als 300 Halbtax-Abos. 499 Personen haben sich an der Sammelaktion des Migrant Solidarity Networks beteiligt. Diese Solidarität ermöglicht es, die Isolation in den Asylcamps zumindest teilweise zu durchbrechen und stärkt die Perspektive auf Bewegungsfreiheit für alle.

Das erfolgreiche Crowdfunding ist ein kleiner Sieg gegen die Isolation.

In Rückkehrcamps erhalten Personen pro Tag 10 Franken und dürfen keiner Lohnarbeit nachgehen. Die zu knappen Mittel und die abgelegene Lage vieler Rückkehrcamps führen zu Isolation. Betroffene Menschen haben kaum Möglichkeiten, ausserhalb des Camps Freund*innen zu treffen, in einen Verein zu gehen, an Treffen teilzunehmen oder Teil von emanzipativen Anlässen zu sein. Ihnen wird auch das Recht verwehrt, den Kanton zu verlassen, dem sie zugeteilt sind. Nicht selten beschränken Behörden die Bewegungsfreiheit zusätzlich durch Eingrenzungen, Rayonverbote und Personenkontrollen.

Weltweit hat nur eine Minderheit Zugang zu Pässen und Visa-Berechtigungen, die eine fast uneingeschränkte Mobilität ermöglichen. Die globale Mehrheit hat aufgrund von Staatsangehörigkeit, gesellschaftlicher Position und neokolonialen Strukturen einen stark begrenzten Zugang zu Mobilität.In einer globalisierten Welt lässt sich Migration durch eine gewaltsame Kriminalisierung nicht verhindern.

Wer das Crowdfunding verpasst hat, die Idee aber gut findet, kann auch direkt unser Konto „Ticket for Protest“ unterstützen.
IBAN: CH15 0900 0000 1510 0908 8 (Vermerk „Halbtax“)

https://migrant-solidarity-network.ch/2023/01/01/nach-15-tagen-crowdfunding-60-001-franken-fuer-halbtax-abos-gegen-isolation/
https://wemakeit.com/projects/halbtax-gegen-isolation

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Cancel Culture: Verlogener Kampf um Freiheiten
Wer Cancel Culture schreit, kämpft nicht für Grundrechte, sondern gegen Vielfalt. Medien helfen mit, die Realität zu verdrehen.
https://www.infosperber.ch/freiheit-recht/cancel-culture-verlogener-kampf-um-freiheiten/

Diagnose Faschismus
Wie die heutige extreme Rechte Hass, Propaganda und pseudo-demokratische Methoden nutzt, um sich die Macht zu sichern.
https://www.ipg-journal.de/rubriken/demokratie-und-gesellschaft/artikel/diagnose-faschismus-6407/

Rassismus & patriarchale Gewalt
https://barrikade.info/article/5493

Brian Keller: «Das Gefängnis hat mich hart, stark und kalt gemacht»
Seit bald sieben Jahren befindet sich Brian Keller ununter­brochen im Gefängnis. Nun redet der berühmte Häftling über Hoffnung und Versöhnung, Wut und Aggression. Ein Gespräch zum Jahreswechsel.
https://www.republik.ch/2022/12/26/das-gefaengnis-hat-mich-hart-stark-und-kalt-gemacht