Themen
- Alireza beging Suizid nach dem Abschiebeentscheid des Bundesverwaltungsgerichts
- München: «Fanclub Kurdistan»-Banner führt zu gewalttätigem Polizeieinsatz
- Ein würdiges Leben ermöglichen mit Sozialhilfe? So siehts in der Schweiz wirklich aus
- Leichte Verbesserungen beim Familiennachzug mit Ausweis F
- Genf: Proteste vor dem und gegen das UNHCR
- Mit Wehen gegen die Festung Europa
- Sachspenden Sammlung für Menschen auf der Flucht
Was ist neu?
Alireza beging Suizid nach dem Abschiebeentscheid des Bundesverwaltungsgerichts
Alireza war 19 Jahre alt. Er lebte im Camp Etoile in Genf. Zuvor war er aus Afghanistan geflüchtet und entkam dem Iran der Mullahs. Am 30. November stürzte er sich von der Brücke Pont de la Jonction in die Rhone. Die Schweizer Behörden und Gerichte wollten ihn nach Griechenland abschieben lassen. Der Entscheid nahm ihm jegliche Hoffnung.
Freund*innen und solidarische Menschen verfassten einen offenen Brief mit ihren Gedanken und Forderungen: „Alireza hatte sich sehr gut in die Gesellschaft integriert. Er glaubte, endlich in einem friedlichen Land leben zu dürfen, nachdem er der Gewalt der Taliban und dem Iran der Mullahs entkommen war. Er kam mit einer Hoffnung hierher, wusste aber nicht, dass seine Probleme noch nicht am Ende angelangt waren. Zwei Jahre lang schlug er sich mit der Schweizer Asylpolitik herum. Er konnte es nicht mehr ertragen, seine Geschichte und die Gewalt die er erlebt hatte, immer und immer wieder erzählen zu müssen. Er wusste nicht, dass das SEM und das BVG mit ihrer unmenschlichen Politik ihn ablehnen würden.
In Griechenland hatte er traumatisierende Gewalt erlebt. Eine Rückkehr dorthin war für ihn unvorstellbar. Nach dem negativen Entscheid dachte er mehrere Tage nach. Er nahm sich die Zeit, einen letzten Brief an das SEM zu schreiben, mit der Überschrift ‚den SEM-Richter‘ und dem letzten Satz ‚Die Mächte beachten unseren Tanz nicht‘.
Die Ärzt*innen hatten dem SEM mitgeteilt, dass Alireza Selbstmordgedanken hat. Doch trotz dieser Mitteilung änderten sie nichts an ihrem Entscheid. Den Schweizer Behörden war das hohe Suizidrisiko von Alireza bekannt, dennoch bestätigten sie seine Ausweisung aus der Schweiz und übernahmen die Verantwortung für die Folgen. Sie entschieden sich, ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen, indem sie es vorzogen, dass Alireza Suizid begeht, anstatt Menschlichkeit zu zeigen und den Rat der Ärzt*innen zu berücksichtigen. Wir sind somit der Ansicht, dass die Schweizer Regierung, das Schweizer Parlament, die Verantwortlichen der Schweizer Asylpolitik, das Mirgationsamt, das SEM, das BVG, die Genfer Regierung, das Genfer Parlament und das Hospice Général für diesen Suizid verantwortlich sind.“
Bereits 2019 beging im selben Camp Etoile in Genf ein anderer junger Mann Suizid. Auch er hies Alireza und war aus Afghanistan geflohen. Die Behörden schützen das Recht auf Leben von Geflüchteten in ihrer Obhut schlicht zu wenig. Beziehungsweise werden Geflüchtete zu fest entrechtet, isoliert und drangsaliert bis ein Teil von ihnen die Hoffnung verliert.
Wie immer fallen nach einem solchen ausserordentlichen Todesfall für Familie und Umfeld Kosten an. Zum Einen für die Bestattung, zum Anderen für einen allfälligen Prozess gegen die Verantwortlichen für den Suizid von Alireza. Spenden sind daher willkommen und gehen an: Coordination asile.ge IBAN: CH28 0900 0000 1202 2018 1. Vermerk (sehr wichtig): Alireza R.
Was ist aufgefallen?
München: «Fanclub Kurdistan»-Banner führt zu gewalttätigem Polizeieinsatz
Am 19. November kam es bei einem Fussballspiel der vierthöchsten deutschen Spielklasse in München zu einem gewalttätigen Polizeieinsatz. Vorwand dafür war ein Banner der Gästefans mit der Aufschrift «Fanclub Kurdistan». Der Fall zeigt eindrücklich, wie sich der deutsche Staatsapparat in der Kurd*innen-Frage verhält. Und dass sich Sport und Politik schlicht nicht trennen lassen.
Der Vorfall ereignete sich beim Gastspiel der zweiten Mannschaft des FC Bayern München bei Türkgücu München, einem Verein, der grösstenteils von Menschen mit türkischer Migrationsgeschichte gegründet und geführt wird. Die in der Fansprache sogenannte Zaunfahne «FC Bayern Fanclub Kurdistan» war in der Vergangenheit schon öfters bei Spielen des FC Bayern II zu sehen gewesen. Bereits im Vorfeld der Partie war sie darum zum Politikum geworden und die Vertreter*innen von Türkgücü fassten das Zeigen der Fahne als Provokation auf. Auf Druck der Vereinsoffiziellen hingen die Gästefans die Fahne schliesslich ab, weigerten sich aber, diese herauszugeben. Daraufhin stürmten Polizist*innen in Vollmontur von zwei Seiten den Gästeblock und setzten dabei Pfefferspray und Schlagstöcke ein. Das Ergebnis waren 19 verletzte Fans, darunter auch Kinder. Der detaillierte Ablauf der Geschehnisse ist hier nachzulesen.
Dass sich Fussballfans politisch äussern, Fankurven sich gegenseitig provozieren und Spruchbänder ohne Anmeldung ins Stadion gebracht werden, ist in Deutschland wie auch in anderen Ländern ‚part of the game‘ in der Fankultur. Genauso wie überharte Polizeieinsätze und das repressive Vorgehen gegen organisierte Fangruppen. Der Vorfall in München verdient eine genauere Betrachtung, weil er die klare und fragwürdige Haltung des bayerischen Polizeiapparates und Teile der deutschen Politik in der Frage der Kurd*innen aufzeigt. Das Banner enthielt entgegen einiger Verlautbarungen keine Symbole der in Deutschland verbotenen PKK oder der kurdischen Milizen YPG und YPJ und war daher auch strafrechtlich nicht relevant. Der gewalttätige Polizeieinsatz wurde von Seiten der Behörden mit dem Argument belegt, dass durch das Banner eine aufgeheizte Stimmung entstand und sie ein gewalttätiges Aufeinandertreffen der beiden (jederzeit friedlichen) Fanlager verhindern wollte. Eskalation durch Deeskalation.
Wie weit der Arm des türkischen Geheimdienstes MIT in Deutschland reicht, ist durch Studien klar belegt. Der deutsche Staat hat vom Verbot der PKK bis zum EU-Türkei-Türsteher-Deal immer wieder mit dem türkischen Staat und aktuell mit der Regierung Erdogan kooperiert. Bereits das Erwähnen des Wortes «Kurdistan» reicht offenbar aus, um einen gewalttätigen Polizeieinsatz zu rechtfertigen. In Bayern kommt es seit der Einführung des neuen Polizeiaufgabengesetzes (PAG) zu einer zunehmende Repression gegen Menschen, welche sich in antiautoritären Kontexten äussern und handeln, siehe die Präventivhaft gegen Klimaaktivist*innen der Letzten Generation. Welche Stellen im Fall dieses Fussballspiels wie beteiligt waren, ist nicht klar. Aber es zeigt sich ein sehr trauriges Gesamtbild.
Zur Kurdistan-Zaunfahne gehört erwähnt, dass sich Teile der organisierten Fanszene des FC Bayern München, insbesondere die Ultra-Gruppe Schickeria, seit Jahren gesellschaftspolitisch engagiert und äussert, vor allem im Kontext von Antifaschsimus und der jüdischen Vergangenheit des Vereins. Das Argument, dass Fussball doch bitte nicht mit Politik vermischt werden soll, wird und wurde schon immer von denen bemüht, welche im Namen des Sports selber Politik betreiben. Sei es als die NPD junge Fussballfans zu rekrutieren versuchte oder wenn FIFA-Präsident Gianni Infantino mit einer völlig verdrehten Definition von Rassismus zum Gegenschlag ausholt.
https://mena-studies.org/de/der-tuerkische-geheimdienst-in-deutschland-und-oesterreich-innenpolitik-im-ausland/
https://www.br.de/nachrichten/bayern/zwei-klima-aktivisten-ueber-weihnachten-in-praeventivgewahrsam,TPKQz4k
https://www.br.de/nachrichten/sport/fanforscher-zum-fahnen-eklat-provokationen-im-sport-aushalten,TNve71d
https://www.sueddeutsche.de/sport/fc-bayern-muenchen-ii-tuerkguecue-muenchen-gericht-abbruch-urteil-1.5708832
https://www.clubnr12.org/news/229-zuschauerausschuss-bei-wiederholungsspiel-nach-fragwuerdigem-polizeieinsatz-bei-dem-spiel-tuerkguecue-muenchen-bayern-amateure-welches-rechtsempfinden-herrscht-im-bfv
https://www.faszination-fankurve.de/news/49656/spielabbruch-entferntes-banner-gewaltsames-vorgehen-der-polizei-gegen-fc-bayern-fans
Ein würdiges Leben ermöglichen mit Sozialhilfe? So siehts in der Schweiz wirklich aus
Die Schweizer Sozialhilfe soll Menschen in finanziellen Notlagen unterstützen, aus denen sie sich nicht selbst oder mit Hilfe von Drittpersonen befreien können. Ebenso soll sie Menschen unterstützen, welche kein Recht auf andere Sozialversicherungen haben oder wenn diese nicht ausreichen. Doch in der Realität bietet die Sozialhilfe insbesondere für Menschen ohne Schweizer Pass nicht immer genügend Absicherung.
Die Sozialhilfe besteht aus 2 Teilen. Der Grundbedarf I soll die Existenzsicherung decken und betrifft die obgligatorische Krankenversicherung, die Wohnungsmiete sowie die Kosten des täglichen Bedarfs. Der Grundbedarf II soll darüber eine Teilnahme am sozialen Leben ermöglichen. Verschiedene Personengruppen beziehen jedes Jahr Sozialhilfe – besonders gefährdet sind Personen ohne offizielle Ausbildung oder mit einer in der Schweiz nicht anerkannten Ausbildung, Personen mit mehreren Kindern (v. a. Alleinerziehende), Personen mit tiefem oder hohem Lebensalter sowie Personen, die eine Invalidenrente beziehen (z.B. bei einer Arbeitsunfähigkeit). Insbesondere sind aber auch Menschen ohne Schweizer Staatsbürger*innenschaft betroffen.
Das Fehlen konkreter Vorlagen des Bundes bezüglich Sozialhilfe ist sehr kritisch zu betrachten und die Bundesverfassung besagt nur, dass wer „in Not gerät und nicht in der Lage ist, für sich selbst zu sorgen, Anspruch auf Hilfe und Betreuung und auf die Mittel, die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlich sind“ hat. Dies entspricht allerdings nur dem Existenzminimum, der Nothilfe, und nicht der umfassenderen Sozialhilfe.
Der Föderalismus der Schweiz ist ausschlaggebend für die Autonomie der Kantone, die somit sehr viel Spielraum haben. Es gibt keine einheitlichen Definitionen für Armut und Sozialhilfestandards und nach Angaben des Bundesamts für Statistik leben rund 580’000 Menschen in der Schweiz unter der offiziellen Armutsgrenze. Immer wieder wird versucht, Sozialhilfe noch mehr zu kürzen oder sich darum bemüht, die Definition von Armut auszuweiten. Gerade für Menschen mit Migrationshintergrund bedeutet ein Leben unter der Armutsgrenze eine Ausgrenzung aus der Gesellschaft – ihnen wird ein menschenwürdiges Leben verwehrt.
https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/armut-sozialrechte/menschenrechte-schweizer-sozialhilfesystem
https://www.swissinfo.ch/ger/gesellschaft/armut_kampf-um-sozialhilfe–ein-leben-mit-wenig-geld/38033782
Was war eher gut?
Leichte Verbesserungen beim Familiennachzug mit Ausweis F
Bisher missachteten die Schweizer Behörden das Recht auf Familienleben von Menschen mit einer vorläufigen Aufnahme. Ihre Gesuche um Familiennachzug wurden erst nach drei Jahren geprüft. Neu passt das Bundesverwaltungsgericht die Schweizer Praxis an ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte an.
Die gesetzliche Wartefrist von drei Jahren dürfe nicht mehr strikt und automatisch angewandt werden. Diese Trennungszeit gefährdet intensive Familienbeziehungen sowie das Kindswohl. Auch erschweren strukturell zerrütete Familienverhältnisse die Integration in der Schweiz und die Sicherheit von Familienangehörigen, die in Herkunftsstaaten wie Afghanistan, Iran, Äthiopien oder Eritrea allen Lebensgefahren zum Trotz warten müssen.
https://www.bvger.ch/bvger/de/home/medien/medienmitteilungen-2022/warterfristfamiliennachzuge.html
Wo gabs Widerstand?
Genf: Proteste vor dem und gegen das UNHCR
Um den Kampf von „Refugees in Libya“ weiterzuführen, fanden dieses Wochenende in Genf zwei Protesttage statt. Direkt vor dem Hauptquartier des UNHCR, dem Flüchtlingshilfswerk der UNO, ergriffen Menschen das Wort, die zwischenzeitlich der “Hölle in Libyen” entfliehen konnten und nun in Europa leben. Am Freitag sprachen sie an einer beeindruckenden Medienkonferenz und trafen eine Delegation des UNHCR. Am Samstag demonstrierten sie zusammen mit rund 300 Personen, die aus verschiedenen Ländern angereist waren, vor dem UN-Hauptsitz und in der Genfer Innenstadt.
Vor einem Jahr protestierten in Libyen tausende Geflüchtete vor dem Hauptgebäude des UNHCR in Tripolis. Die 100 Protestage von damals waren ein historischer Akt der Selbstorganisation unter härtesten Bedingungen. Doch statt zuzuhören und sich zu verbessern, kritisierte das UNHCR den Protest und schwieg, als es zu einer brutalen Räumung und anschliessender Inhaftierung derjenigen kam, die ihre Grundrechte einforderten.
Diese Tage boten Gelegenheit, sich zu vernetzen und zu stärken. Nun geht der Kampf dezentral weiter. Die Forderung an das UNHCR und die europäischen Staaten bleiben bestehen: Geflüchtete in Libyen brauchen Sicherheit und müssen deshalb dringend evakuiert werden. Es braucht humanitäre Korridore – auf See und in der Luft.
Informationen, um auf die Probleme und Forderungen hinzuweisen, finden sich auf der Website unfairagency.org. Was es braucht, ist mehr Druck und mehr Proteste. UNHCR-Vertretungen gibt es in jedem Land. In der Schweiz befindet sich das Büro übrigens in Bern 😉
https://unfairagency.org/
https://twitter.com/UNFAIR_agency
Mit Wehen gegen die Festung Europa
In einer spektakulären direkten Aktion gelang es einer Frau, ein Flugzeug notlanden zu lassen. Die Maschine war von Marokko aus unterwegs in die Türkei, als die schwangere Frau vorgab, Wehen zu haben. Während der unplanmässigen Zwischenlandung in Barcelona nutzten 27 Personen die Gelegenheit zur Flucht. Zwischenzeitlich wurden leider 13 Menschen von der Polizei wieder festgenommen. Fünf erklärten sich bereit, wieder einzusteigen, um nach Istanbul weiterzufliegen. Acht wurden laut spanischen Behörden per Flugzeug ausser Landes gebracht.
https://www.tagesschau.de/ausland/notlandung-flugzeug-migranten-101.html
Was steht an?
Sachspenden Sammlung für Menschen auf der Flucht
Sa. 17.12.2022 ★ 11 – 15h ★ Aula PROGR, Bern
https://www.openeyes.ch/single-post/sammlung1222
Mo. 12.12.2022 bis So. 18.12.2022 ★ Schwarzer Engel St. Gallen
https://www.instagram.com/p/CmCiWBhK2Tf/?igshid=YmMyMTA2M2Y%3D
Lesens -/Hörens -/Sehenswert
augenauf-Bulletin, Dezember 2022
Hintergrundberichte über die repressive Menschenrechtswüste Schweiz seit 1995
https://www.augenauf.ch/images/BulletinProv/Bulletin_112_Dez_2022.pdf
SOSF-Bulletin, Dezember 2022
Solidarité sans frontières setzt sich in Zusammenarbeit mit MigrantInnen und Asylsuchenden für deren Rechte und Anliegen ein.
https://www.sosf.ch/cms/upload/221129_SosF_Bulletin_Dezember_DE_LY3_Draft5.pdf
Historikerin enthüllt dunkles Kapitel über die Ems-Chemie
Die Firmengeschichte der Ems-Chemie gleicht einem Krimi. Historikerin Regula Bochslers Buch deckt gut behütete Geheimnisse auf.
https://www.workzeitung.ch/2022/11/historikerin-enthuellt-dunkles-kapitel-ueber-die-ems-chemie/
Buchtipp: Gerhard Sälter: NS-Kontinuitäten im BND
Wie braun war der BND? Die Integration von Mitarbeitern aus verschiedenen Institutionen des Dritten Reichs in den Bundesnachrichtendienst war lange ein Gegenstand von Spekulationen. Auf Basis umfangreicher und bislang unzugänglicher Quellenbestände kann Gerhard Sälter zeigen, dass die Verantwortlichen im BND tatsächlich kein Bewusstsein vom verbrecherischen Charakter der NS-Diktatur besaßen.
https://www.perlentaucher.de/buch/gerhard-saelter/ns-kontinuitaeten-im-bnd.html