Todesfall in Auffanglager, Umweg humanitäres Visum, Demos für Kurdistan & Iran

Was ist neu?

Grossbritannien: Todesfall durch Diphtherie in Auffanglager

In Grossbritannien starb ein Mann sieben Tage nach seiner Ankunft über den Ärmelkanal. Vermutlich hatte er sich im überbelegten Auffanglager Manston in Kent mit Diphtherie infiziert. Ein vorhersehbarer Todesfall, den die Behörden hätten verhindern können.

Bild: Tausende Menschen waren in Manston in Zelten unter unwürdigen Bedingungen untergebracht.

Sieben Tage wurde ein Mann im Auffanglager Manston in Kent festgehalten, bevor er mit starken Gesundheitsproblemen ins Krankenhaus kam. Dort verstarb er. In Manston sollten eigentlich Menschen, die über den Ärmelkanal ankommen, während den ersten 24 Stunden untergebracht werden. Soviel Zeit sollten die Behörden maximal für die „Sicherheits- und Identitätskontrollen“ benötigen. Die Aufenthaltsdauer kann auf maximal fünf Tage verlängert werden. Dass der verstorbene Mann sieben Tage nach der Ankunft in Grossbritannien aus dem Lager ins Krankenhaus gebracht wurde, spricht dafür, dass er rechtswidrig dort festgehalten wurde.

Die Kritik am Lager ist seit Monaten laut. Manston bietet Platz für maximal 1‘600 Personen. Aber: Die ehemalige Militärbasis war mit  bis zu 4‘000 Menschen masslos überbelegt. Mehrere Organisationen haben dies als gesundheitsgefährdend eingestuft. Im Oktober war im Lager erstmals Diphtherie ausgebrochen. Die ansteckende Infektionskrankheit befällt die Haut, Nase und Rachen, kann zu Atembeschwerden führen und ohne Behandlung tödlich sein. Diphterie kommt in Grossbritannien praktisch kaum vor. Doch unter den Bedingungen in Manston, wo Menschen dicht an dicht in Zelten auf dem Boden schlafen, kann sie sich schnell ausbreiten. Es ist darum wahrscheinlich, dass es im Lager in Manston schon vorher einzelne Fälle gab, welche weder erkannt noch gemeldet wurden. Zuvor hatte es bereits einen Ausbruch des Norovirus gegeben und auch Krätze sei weit verbreitet, berichten Migrant*innen.

Hunderte Menschen protestierten vor dem Lager für dessen Schliessung. Clare Moseley, die Gründerin von Care4Calais, sagte: “Wenn die Menschen in Dover ankommen, sind sie erschöpft und leiden nach der 10-stündigen Reise über den Ärmelkanal unter der Belastung. Verbrennungen durch Benzin und Salz sind keine Seltenheit. Sie in Manston auf dem Boden schlafen zu lassen, kalt und hungrig, ist eine Schande. Die Regierung lässt sie und uns im Stich und muss dringend mehr tun”. Dieser erste Todesfall war lange vorhersehbar, sagen Aktivist*innen. Manston sei ein Lager, dass weit unter den Mindeststandards für Unterbringung, Gesundheitsversorgung und Sicherheit liege. Nach dem Todesfall des noch unbekannten Mannes wurde es geschlossen – zumindest dieses Lager ist Geschichte.

Zum Weiterlesen:
Nach Angaben des Scottish Refugee Council gegenüber der unabhängigen Untersuchungskommission zum Asylwesen in Schottland, die Anfang des Monats veröffentlicht wurde, kamen zwischen April 2016 und August 2022 142 Asylsuchende in Grossbritannien ums Leben.
https://static1.squarespace.com/static/62af1289a666c80e00b17253/t/636b9190408f81778746eaa7/1667994032702/AIS+Phase+2+Report+Full.pdf

https://i0.wp.com/theisleofthanetnews.com/wp-content/uploads/2022/10/manstonprocsap.jpg?fit=620%2C464&ssl=1
https://amp.theguardian.com/uk-news/2022/nov/26/manston-asylum-centre-death-may-have-been-caused-by-diphtheria

Was geht ab beim Staat?

Der Umweg über das humanitäre Visum 

Diese Woche berichtete das Migrant Solidarity Network von den Problemen von M., der in Sri Lanka von der Schweizer Botschaft kein humanitäres Visum erhält. Sein Fall zeigt, was die Zahlen allgemein bestätigen. Die Schweizer Behörden erschweren den Zugang zu humanitären Visa um jeden Preis.

Bild: Schweizer Botschaft in Colombo lässt M. abblitzen.

Im Februar 2022 wurde M. nach Sri Lanka abgeschoben. Nachdem er dort beobachtet, verfolgt, eingesperrt, gefesselt und geschlagen wurde, wandte er sich an die Schweizer Botschaft in Colombo und beantragte ein humanitäres Visum. Diese schmetterte sein Gesuch ab: „Die geltend gemachte Gefährdung stellt keine besondere Notsituation dar, die ein behördliches Eingreifen zwingend erforderlich macht.“

Das humanitäre Visum existiert seit zehn Jahren. Damals schuf das Parlament das sogenannte Botschaftsasyl ab. Zuvor hatten Menschen das Recht, auf einer Schweizer Botschaft im Ausland Asyl zu beantragen. Seither können Schutzsuchende auf den Botschaften nur noch ein sogenanntes humanitäres Visum beantragen. Doch um ein humanitäres Visum zu erhalten, reicht es nicht, einer allgemeinen Krisen- oder Kriegssituation ausgesetzt zu sein. Personen müssen zum einen eine überdurchschnittliche, individuelle, unmittelbare, ernsthafte und konkrete Gefährdung und Betroffenheit beweisen oder glaubhaft machen. Wenn dies gelingt, ist zum anderen ein Bezug zur Schweiz beispielsweise durch Familienangehörige oder Arbeit erforderlich. Von allen anderen flüchtenden Personen wird erwartet, dass sie die lange, gefahrenvolle und kriminalisierte Reise in die Schweiz auf sich nehmen, um hier Schutz zu beantragen.

Diese von den Behörden gewollte Absurdität zeigte sich auch anlässlich der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan. Da es in Afghanistan keine Botschaft mehr gab, wurden nur Gesuche von Afghan*innen bearbeitet, denen die Flucht in Nachbarstaaten gelang, wo es Schweizer Botschaften gibt. Wenn dies gelang, oblag es dennoch den beschriebenen Kriterien zu entsprechen. Oft lehnten die Botschaften in Islamabad und Teheran die Gesuche jedoch mit der Begründung ab, dass die in Afghanistan bestehende Gefahr für die Person in Pakistan oder Iran nicht mehr bestehe.

https://www.republik.ch/2022/10/11/zurueck-in-sri-lanka-begann-der-albtraum
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/11/24/m-erhaelt-in-sri-lanka-kein-humanitaeres-visum/
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/11/13/jeden-tag-bin-ich-geflutet-von-den-gefuehlen-dieser-abschiebung-und-den-folterungen-die-danach-hier-in-sri-lanka-folgten/
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/hohe-huerden-humanitaeres-visum-in-der-kritik?partId=12288358
https://www.fluechtlingshilfe.ch/fileadmin/user_upload/Hilfe_fuer_Asylsuchende/Humanitaere_Visa_Afghanistan/Informationsblatt_humanitaere_Visa_DE_Afgh.pdf

Wo gabs Widerstand?

Solidaritätsaktionen für die Protestierenden im Iran und Kurdistan

In verschiedenen Schweizer Städten hat es letzte Woche Demos und Protestaktionen gegen die erneute Bombardierung kurdischer Gebiete durch die Türkei gegeben. In Zürich wurde zudem der schweizerisch-iranischen Handelskammer ein Besuch abgestattet.

Bild: Solidaritätsaktion in Solothurn gegen die jüngsten Angriffe der türkischen Armee.

Am Donnerstag haben Kurd*innen und Internationalist*innen das Büro der Vereinten Nationen (UN) in Genf besetzt. Sie forderten, dass die türkische Armee den Krieg gegen die Bevölkerung der selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien sofort stoppen. In der Nacht zum Sonntag hatte die Türkei in mehreren Angriffswellen dutzende Luftschläge gegen die nordostsyrischen Autonomiegebiete sowie die Kurdistan-Region im Irak geflogen. Dabei wurden mindestens 35 Menschen getötet und Dutzende weitere verletzt. Viele der Angriffe richteten sich gezielt gegen zivile Siedlungsgebiete. Am Montag hatte der türkische Präsident Erdogan dann einen neuen Angriffskrieg gegen die kurdischen Regionen in den beiden Nachbarländern angekündigt.

Bereits in der Nacht auf Sonntag kam es in Bern zu einer ersten Spontandemo. Am Sonntagabend versammelten sich dann erneut rund 300 Menschen auf dem Berner Bahnhofplatz und zogen durch die Innenstadt. Dabei wurde auch die Schweizer Wirtschaft und ihre Investitionen in der Türkei angeklagt. In Luzern gingen dann am Mittwoch Menschen im Rahmen der internationalen Kampagne #RiseUp4Rojava auf die Strasse. Auch in Solothurn, Winterthur und Basel gab es Demos und Aktionen.

Im Zürich wurden zudem die Protestierenden im Iran mit einer Aktion unterstützt. In der Nacht auf Dienstag wurde dazu das Büro der schweizerisch-iranischen Handelskammer angegriffen. Auf der gegenüberliegenden Strassenseite wurde gut lesbar «CH-Kapital raus aus dem Iran!» angebracht. Und am Gebäude selber die kämpfenden Aktivistinnen im Iran mit «Jin – Jiyan – Azadi» (Frauen – Leben – Freiheit) gegrüsst. «Wer dem Schweizer Kapital hilft im Iran Fuss zu fassen ist Kollaborateur_in des iranischen Regimes», schreiben die Urheber*innen in einem Statement.

https://barrikade.info/article/5485
https://twitter.com/i/status/1595738685500268548
https://twitter.com/MegahexF/status/1595108094823976961
https://twitter.com/ag_bern/status/1595814925666250753
https://www.derbund.ch/kurden-protestierten-gegen-tuerkische-luftangriffe-737713591536
https://twitter.com/gegen_oben/status/1594368935574609920

https://www.instagram.com/p/ClMRJ0OLf1c/?igshid=MDJmNzVkMjY%3D
https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/demonstrationen-in-bern-148827970
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/ueber-100-kurden-demonstrieren-in-bern-wegen-angriffen-der-tuerkei-148824290

Was steht an?

Von Tripolis nach Genf: Bringen wir den Protest von „Refugees in Libya“ nach Europa!

09. – 10.12.22 I Genf
Vor einem Jahr hatten Tausende von geflüchteten Menschen mehr als 100 Tage lang vor dem UNHCR-Büro in Tripolis protestiert: Ein historischer Akt der Selbstorganisation unter härtesten Bedingungen. Anstatt zuzuhören und sich zu verbessern, kritisierte das UNHCR ihren Protest, ignorierte ihre Stimmen und schwieg angesichts der brutalen Räumung und Inhaftierung derjenigen, die ihre Grundrechte einforderten. Trotz der anhaltenden Repressionen und Drohungen bleiben die Forderungen von „Refugees in Libya“ bestehen und ihr Kampf geht in verschiedenen Formen weiter.
Um „Refugees in Libya“ in ihrem Kampf zu unterstützen und den Stimmen all jener Gehör zu verschaffen, die von einer Behörde, die sie eigentlich schützen sollte, ignoriert, bestraft und ungerecht behandelt werden, rufen wir zu zwei Aktionstagen vor dem UNHCR-Hauptsitz in Genf, am 9. und 10. Dezember 2022 auf.
https://unfairagency.org/call-to-geneva/

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Antirassistische Schule: «Das wäre unserer Gesellschaft würdig»
Vorurteile, rassistische Schulbücher, unfaire Selektion: Rahel El-Maawi, Mitautorin des Buchs «No to Racism», fordert Schulen zu Reformen auf.
https://www.woz.ch/2247/antirassistische-schule/antirassistische-schule-das-waere-unserer-gesellschaft-wuerdig

Schweizer Asylpolitik 2022: Geht das besser?
Dass Kurden oder Afghanen in einem reichen Land wie der Schweiz untertags schlafen müssen, ist kein Naturgesetz. Asylpolitik wird gemacht. Was können wir aus der Hilfsbereitschaft mit den Ukrainer*innen lernen?
https://bajour.ch/a/clamjkpzf30603854h5xisdi4us/schweizer-asylpolitik

Brian alias «Carlos» – Kommt er je frei?
Im «Club» spricht Brian alias «Carlos» über die neuesten Wendungen in seinem Fall und über sein Leben in Haft. Erneut gibt der Fall Anstoss zur Diskussion, wie die Schweiz mit Inhaftierten umgehen soll.
Ist Einzelhaft notwendig und ab wann wird sie zur Folter? Und wo liegt die Priorität: auf Prävention oder Resozialisierung?
https://www.srf.ch/play/tv/club/video/brian-alias-carlos—kommt-er-je-frei?urn=urn:srf:video:ec3704b5-cc9b-47cf-9781-6026c61d6471

30 Jahre nach Brandanschlag in Mölln: Idylle mit Brüchen
Der Brandanschlag von Mölln jährt sich zum 30. Mal. Wie blickt die Stadt heute darauf? Und: Werden die Opferfamilien zu wenig einbezogen?
https://taz.de/30-Jahre-nach-Brandanschlag-in-Moelln/!5893471/

Bild: 1992 kamen bei einem rassistischen Anschlag in Mölln drei Menschen ums Leben.

‘We were abandoned in the desert at 2 am’: Migrants expelled from Algeria to Niger
Every year, Algeria expels thousands of sub-Saharan Africans to Niger, abandoning them at a place called Point-Zero on the border in the middle of the Sahara. The Nigerien village of Assamaka, a few hours south by foot, has been overwhelmed by these waves of successive pushbacks. Mehdi Chebil reports for InfoMigrants.
http://www.infomigrants.net/en/post/44807/we-were-abandoned-in-the-desert-at-2-am-migrants-expelled-from-algeria-to-niger