Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/
+++ZÜRICH
Stadt Zürich plant Flüchtlingsunterkunft auf Hardturm-Brache
Es kommen wieder mehr Flüchtlinge in die Schweiz; aus der Ukraine, aber auch aus anderen Krisenherden der Welt. Der Stadtrat will deshalb auf der Brache des Hardturmareals eine Container-Wohnsiedlung für 320 Personen erstellen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/stadt-zuerich-plant-fluechtlingsunterkunft-auf-hardturm-brache?id=12289888
-> https://www.watson.ch/schweiz/z%C3%BCrich/447937065-zuerich-plant-fluechtlings-dorf-auf-dem-hardturm-bis-stadionbau-beginnt
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/zuercher-fluechtlings-dorf-soll-bis-zu-17-millionen-kosten-00199200/
-> https://www.tagesanzeiger.ch/stadt-plant-siedlung-fuer-gefluechtete-auf-dem-hardturm-501142625563
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/ukraine-stadt-zuerich-will-fluechtlings-dorf-auf-der-hardturmbrache-bauen-ld.2375833
+++SCHWEIZ
Tausende neue Asylgesuche: Was hat die Schweiz seit 2015 gelernt?
Wieder kommen Tausende Geflüchtete über die Balkanroute in die Schweiz. Welche Neuerungen sich seit der Migrationskrise 2015 bewährt haben – und wo es weiter hapert.
https://www.beobachter.ch/migration/tausende-neue-asylgesuche-was-hat-die-schweiz-seit-der-migrationskrise-gelernt-548277
+++MITTELMEER
EU-Kommission will Migration über das Mittelmeer eindämmen
Das Mittelmeer ist laut Kommission „nicht der richtige Weg“, um in die EU zu kommen. Gemeinsam mit Herkunfts- und Durchreiseländern sollen Alternativen gefunden werden.
https://www.zeit.de/politik/2022-11/eu-kommission-migration-mittelmeer-nordafrika-ylva-johansson
+++DEMO/AKTION/REPRESSION
„Die Neonazis der Jungen Tat fühlen sich immer wohler und zeigen sich mit rechtsextremen Parolen in der Öffentlichkeit.
Heute in Basel. Doch Basel bleibt bunt, Basel bleibt stabil. Danke @BastA_BS und @jgbnordwest für diese spontane Gegenaktion.
¡No pasaran! 🖤❤️ #baselnazifrei“
(https://twitter.com/JUSOBS/status/1594332161540341761)
WM 2022: GSoA setzt Zeichen gegen Schweizer Rüstungslobby
Die GSoA hat heute Montag zu einer Demo gegen die Rüstungslobby aufgerufen. Hintergrund ist die WM 2022 in Katar.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/wm-2022-gsoa-setzt-zeichen-gegen-schweizer-rustungslobby-66340867
+++PSYCHIATRIE
In der Affäre rund um das Psychiatriezentrum Münsingen hat die Aufsicht versagt, sagt ein externer Untersuchungsbericht. Betroffen soll auch das bernische Obergericht sein. (ab 02:15)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/wie-aus-der-historischen-scheune-ein-tiny-house-dorf-werden-soll?id=12290059
Kanton Zürich baut Kinder- und Jugendpsychiatrie aus
In der Schweiz fehlen Plätze in den Kinder- und Jugendpsychiatrien. Kinder mit psychischen Problemen müssen teilweise monatelang auf eine Behandlung warten. Jugendliche kommen in die Psychiatrie für Erwachsene. Verschiedene Kantone haben deshalb ihr Angebot angepasst und ausgebaut. So auch der Kanton Zürich.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/kanton-zuerich-baut-kinder-und-jugendpsychiatrie-aus?partId=12290098
-> https://www.zh.ch/de/news-uebersicht/medienmitteilungen/2022/11/weitere-massnahmen-zur-verbesserung-der-versorgungssituation-in-der-kinder-und-jugendpsychiatrie.html
-> https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/kanton-zuerich-baut-angebot-fuer-junge-mit-psychischen-problemen-aus-00199223/
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/mehr-platz-fuer-psychisch-erkrankte-kinder-148842903
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/psychiatrie-kanton-zuerich-baut-angebot-fuer-junge-mit-psychischen-problemen-aus-ld.2375877
Unterbringung in die Psychiatrie: In der Schweiz gibt es 16’000 Zwangs¬ein¬wei¬sungen pro Jahr
Im europäischen Vergleich werden hierzulande überdurchschnittlich viele Menschen zwangsweise in eine psychiatrische Institution eingewiesen.
https://www.derbund.ch/in-der-schweiz-gibt-es-16-000-zwangseinweisungen-pro-jahr-924547079137
-> https://www.watson.ch/schweiz/psychologie/316972373-fast-16-000-menschen-werden-in-der-schweiz-jaehrlich-zwangseingewiesen
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/behandlung-in-psychiatrie-pro-mente-sana-kritisiert-hohe-zahl-an-zwangseinweisungen
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nzz.ch 21.11.2022
Wenn die Psychiatrie Zwang einsetzt: Tausende Schweizer werden gegen ihren Willen therapiert
Eine fürsorgerische Unterbringung kann für die Patienten traumatisierend sein. Neue Regeln sollen nun verhindern, dass die Freiheitsrechte unnötigerweise beschnitten werden.
Simon Hehli
An diesem Herbsttag im Jahr 2021 steht Alicia Meier* völlig neben sich. In den letzten Tagen hatte sie immer wieder Schüttelfröste und Wallungen, verlor viel Gewicht. Jetzt sitzt sie in der Notfallaufnahme eines Spitals im Kanton Zürich. Eine Pflegefachfrau will ihr eine Infusion legen, doch sie reisst die Nadel aus der Vene. Meier glaubt, die Kesb sei hinter ihr her – und ihr Partner stecke mit der Behörde unter einer Decke. Der Bruder, der in die Klinik gerufen wurde, sagt zu den Ärzten: «Sie hat wohl eine Psychose.» Das kommt vor in der Familie.
Um Meier kümmert sich ein junger Assistenzarzt. Wenige Wochen zuvor habe eine Patientin, die er betreut habe, Suizid begangen, erzählt er der Familie. Dieses Mal will er keinen Fehler machen. Er befürchtet, dass sich auch Alicia Meier das Leben nehmen könnte. Also tut er das, was Schweizer Ärztinnen und Ärzte pro Jahr laut dem Gesundheitsobservatorium rund 16 000 Mal machen: Er ordnet eine fürsorgerische Unterbringung an. Zwei Männer holen Meier auf der Notfallstation ab und führen sie gegen ihren Willen zu einem Kastenwagen. Sie merkt: Widerstand ist zwecklos. Die Ambulanz bringt sie in eine psychiatrische Klinik.
«Ich liess es über mich ergehen», erinnert sie sich heute. «Irgendwie fand ich, das habe schon seine Richtigkeit.»
Zehntausende von Weggesperrten
Psychiatrische Zwangsmassnahmen sind ein heikles Thema. Und ein historisch vorbelastetes. Im 20. Jahrhundert sperrten die Schweizer Behörden Zehntausende von Personen in Zwangsarbeitsanstalten oder psychiatrische Kliniken weg. Opfer dieser Freiheitsberaubung, euphemistisch «administrative Versorgung» genannt, wurden vor allem angeblich arbeitsscheue Arme. Aber auch Menschen mit «liederlichem» Lebenswandel wie Alkoholiker, Drogensüchtige, Prostituierte oder Zuhälter. Die Gesellschaft gewichtete den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung viel höher als das Recht auf ein selbstbestimmtes Leben.
Erst 1981 endete diese Praxis. Sieben Jahre zuvor hatte die Schweiz die Europäische Menschenrechtskonvention ratifiziert. Nun wurde der fürsorgerische Freiheitsentzug eingeführt, für den die Vormundschaftsbehörden zuständig waren. Das Wohl der betroffenen Person soll im Vordergrund stehen, und der Staat darf erst nach sorgfältigem Abwägen Zwang anwenden. So muss eine «ernsthafte Selbstgefährdung» bestehen – und allenfalls auch eine Gefährdung anderer Personen. 2013 kam die nächste Reform, das bis heute gültige Kinder- und Erwachsenenschutzrecht. Seither spricht man von fürsorgerischer Unterbringung (FU).
Der Begriff klingt harmloser, aber es handelt sich immer noch um eine staatliche Zwangshandlung: Wehrt sich eine Patientin gegen die Einweisung in eine Klinik, muss die Polizei ausrücken. Und schlimmstenfalls auch Gewalt anwenden. In grossen psychiatrischen Institutionen sind solche Szenen fast an der Tagesordnung. Etwa jede fünfte Person, die sich stationär in einer Psychiatrie aufhält, ist nicht freiwillig dort. Die Schweiz liegt bei den fürsorgerischen Unterbringungen statistisch in der europäischen Spitzengruppe, die Zahlen sind in den letzten Jahren gestiegen.
Was immer noch falsch läuft
Deshalb gibt es auch weiterhin Kritik – und dies nicht nur von zwielichtigen psychiatriefeindlichen Organisationen wie der Bürgerkommission für Menschenrechte (CCHR), hinter der Scientology steckt. In einem neuen Positionspapier listet auch die Stiftung Pro Mente Sana auf, was aus ihrer Sicht bei den FU falsch läuft. Und wie sich die Situation verbessern liesse.
Bei der Organisation für psychische Gesundheit findet man, die Zwangsmassnahmen würden hierzulande «viel zu häufig» ausgesprochen. Ein Indiz dafür sei, dass die FU-Raten sich in den Kantonen stark unterschieden: In Zürich kommt es, relativ zur Bevölkerungszahl, fast viermal so häufig zu einer solchen Massnahme wie in Appenzell Innerrhoden.
Diese Diskrepanz lasse sich nicht mit patientenbezogenen Merkmalen erklären, schreibt Pro Mente Sana. Der Grund müsse vielmehr in Unterschieden bei der Haltung zu Zwangsmassnahmen liegen – und bei den Möglichkeiten für psychisch Kranke, unkompliziert und schnell Hilfe zu bekommen.
Entwürdigend und beschämend
Für Betroffene kann die fürsorgerische Unterbringung traumatisierend sein. «Die Alarmierung der Polizei, etwa durch die Nachbarn oder Passanten, darauffolgende gewaltsame Szenen oder ein Abführen in Handschellen werden von betroffenen Personen als entwürdigend empfunden oder lösen Gefühle der Scham aus», hält Pro Mente Sana fest. Doch das geht nicht allen fürsorgerisch Untergebrachten so.
Alicia Meier kam an jenem Herbsttag vor einem Jahr um 22 Uhr in der Klinik an. Das Pflegepersonal wies ihr ein Bett in einem Zimmer mit einer anderen Frau in psychotischem Zustand zu und gab ihr Antipsychotika. Sie schlief zwölf Stunden am Stück. Als sie aufwachte, war Meier völlig orientierungslos. Nach zwei, drei Tagen verflüchtigte sich die Psychose, dennoch musste Meier noch länger als eine Woche in der Klinik bleiben. Sie lag vor allem im Bett, Energie für Gruppentherapien oder Spaziergänge mochte sie nicht aufbringen.
War die fürsorgerische Unterbringung gerechtfertigt? «Ja», sagt Meier heute. Als traumatisch hat sie das Ganze nicht empfunden. Dennoch bemängelt sie das Verhalten des Assistenzarztes im Akutspital und des Pflegedienstes in der Psychiatrie. «Sie haben mich ungenügend informiert, was ich genau habe und was sie dagegen unternehmen. Auch über meine Rechte haben sie mich meines Wissens nicht aufgeklärt. Sie haben wohl gedacht, das bringe nichts. Weil ich es ohnehin nicht verstehe in meinem Zustand.»
Rechtliches Gehör gewähren
Das ist eine der fünf Forderungen von Pro Mente Sana: Weil es sich bei der FU um eine Verfügung handle, müsse der einweisende Arzt den Patienten anhören und ihm die wesentlichen Gründe für den Entscheid nennen. Er müsse darlegen, worin die Selbstgefährdung bestehe und warum es keine Alternativen zur Einweisung in eine geschlossene Anstalt gebe.
Zudem brauche es – Forderung Nummer zwei – nach jeder fürsorgerischen Unterbringung zwingend eine Nachbesprechung mit der Patientin, dem einweisenden Arzt und dem Behandlungsteam. Auch das gab es bei Alicia Meier nicht. «Es hiess einfach, ich könne heim, ich hätte keine Anzeichen mehr für eine Psychose. Ich wurde mehr oder weniger meinem Schicksal überlassen.»
Manuel Trachsel ist Klinischer Medizinethiker am Universitätsspital Basel (USB) sowie an den Universitären Psychiatrischen Kliniken (UPK) Basel und hat zu ethischen Aspekten von Zwangsmassnahmen in der Psychiatrie geforscht. Er sagt, die Gewährung des rechtlichen Gehörs sei in vielen Notfallsituationen nur schwer umsetzbar. «Wenn sich eine Patientin in einer schweren psychotischen Episode befindet, kommt oft nur noch ganz wenig bei ihr an.» Es sei aber zentral, dass das medizinische Personal die Information so schnell wie möglich nachhole, sobald die Patientin wieder ansprechbar sei.
Zu wenig ambulante Angebote
Einverstanden ist Trachsel mit der dritten Forderung von Pro Mente Sana: Die fürsorgerische Unterbringung solle nur als Ultima Ratio eingesetzt werden. Die Stiftung kritisiert, dass es in der Schweiz kaum ambulante Angebote gebe, die Patienten in akuten Krisensituationen auffangen könnten. Zudem bestehe nach wie vor eine unzureichende Bereitschaft der psychiatrischen Dienste, dort rechtzeitig einzugreifen, wo die psychischen Schwierigkeiten entstünden – in der Familie, im Job, in der Schule. Da müssten die Kantone unbedingt nachbessern.
Zwar gibt es Pionierprojekte wie in Basel-Stadt, wo spezialisierte Pflegefachleute psychisch schwer kranke Personen daheim besuchen und so versuchen, Klinikeinweisungen zu vermeiden. Es fehlt jedoch schweizweit an Psychiaterinnen und Psychiatern sowie an Pflegefachleuten. Deshalb sagt der Medizinethiker Trachsel, es müsse viel investiert werden, wolle man die Zahl der FU stark und nachhaltig reduzieren. Dazu gehöre auch, die zuweisenden Ärzte besser auszubilden. «Es läuft auf die Frage hinaus, ob sich die Gesellschaft diese Investitionen zugunsten der besonders vulnerablen Menschen mit psychischen Erkrankungen leisten will.»
Pro Mente Sana fordert weiter, dass nur psychiatrisch ausgebildete Mediziner eine FU anordnen dürfen. Denn der Mangel an Routine sowie ungenügende Kenntnisse der gesetzlichen Voraussetzungen seien ein Grund für die hohe Zahl der Massnahmen. Die Kritik richtet sich an Kantone wie Zürich, wo praktisch alle Ärzte einen Patienten zu einem Klinikaufenthalt zwingen dürfen. In Basel hingegen haben nur acht Amtsärzte dieses Recht. Doch auch hier stellt sich das Problem, dass in vielen Gegenden gar nicht genug Psychiaterinnen zur Verfügung stehen.
Immer eine Zweitmeinung?
Fünftens verlangt Pro Mente Sana die Einführung des Vieraugenprinzips: Bei jeder FU soll eine nichtmedizinische Fachperson – etwa eine Sozialarbeiterin – beigezogen werden, um die Situation zu beruhigen. Diese Forderung hält Manuel Trachsel in ihrer Absolutheit für unrealistisch und nicht zielführend. Wenn ein Hausarzt in einem Dorf zu einer Person gerufen werde, die sich in einem psychotischen Zustand oder unter Drogeneinfluss selbst verletze, dann brauche es keine Zweitmeinung. Gelinge dem Arzt die Deeskalation nicht, führe kein Weg um eine FU herum. «Man sollte auch den Patienten zuliebe in einem solchen Fall keine Zeit verlieren.»
Dass es in der Schweiz zu viele fürsorgerische Unterbringen gebe, könne man nicht so pauschal sagen, findet der Medizinethiker. Er weist darauf hin, dass bis zu 30 Prozent der Schweizerinnen und Schweizer an einer psychischen Störung leiden. Aber lediglich 0,2 Prozent der Einwohner werden gegen ihren Willen in eine Klinik eingewiesen. «Für viele Menschen in einer akuten Krise bringt oft schon eine Nacht in der Klinik eine Entlastung», sagt Trachsel. Rund jeder vierte FU-Betroffene wird denn auch nach wenigen Tagen wieder nach Hause entlassen.
Problematische Fixierungen
Dennoch sieht Trachsel insbesondere eine Praxis, auf die man wohl in einigen Jahrzehnten kopfschüttelnd zurückschauen werde: die Fünf-Punkte-Fixierung an Armen, Beinen und Bauch, wie sie im Rahmen von fürsorgerischen Unterbringungen gelegentlich noch vorkomme. «Viele Betroffene schildern, dass sie die Fixierung als besonders traumatisierend empfunden haben», sagt Trachsel. Deshalb komme man in immer mehr Kantonen von dieser Praxis weg. Dafür gebe es tendenziell häufiger Zwangsmedikationen mit Eins-zu-eins-Betreuung durch spezialisierte Pflegefachpersonen. «Das klingt vielleicht nicht besser. Aber viele Patienten sehen sedierende Mittel als das kleinere Übel an.»
Alicia Meier hatte Glück, bei ihr war eine Fixierung oder eine Isolation in einem speziellen Zimmer kein Thema. Heute arbeitet sie selbst bei Pro Mente Sana und sagt, sie sei seit dem Klinikaufenthalt im letzten Jahr psychisch stabil. «Ich fahre gut mit meiner Psychotherapie, meinen Psychopharmaka. Und bin optimistisch, dass für mich nie mehr eine fürsorgerische Unterbringung nötig sein wird.»
(https://www.nzz.ch/schweiz/wenn-die-psychiatrie-zwang-einsetzt-tausende-schweizer-werden-gegen-ihren-willen-therapiert-ld.1712754)
+++JUSTIZ
tagesanzeiger.ch 21.11.2022
Klimademonstrationen in ZürichRichter Harris muss Klimafälle abgeben
Laut dem Zürcher Obergericht erweckte Roger Harris, der zwei Klimaaktivisten freigesprochen hat, durch Äusserungen während der Urteilsbegründung den Anschein der Befangenheit.
Thomas Hasler
Am 19. September hat Einzelrichter Roger Harris eine Frau, die sich an einer Blockade der Uraniastrasse beteiligt hatte, vom Vorwurf der Nötigung freigesprochen. Das Onlinemagazin «Republik» zitierte den Richter zehn Tage später unter anderem mit der Bemerkung, er sei nicht mehr bereit, friedliche Demonstranten schuldig zu sprechen. «Wir sind an die Europäische Menschenrechtskonvention gebunden. Es gibt ein Mass an Behinderungen, das geduldet werden muss, damit die Meinungsäusserungs- und die Versammlungsfreiheit gewährleistet sind.»
Weil Harris am 8. November und am 14. Dezember über zwei weitere Klimaaktivisten hätte richten sollen, gelangte die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl am Erscheinungstag des «Republik»-Artikels ans Obergericht mit dem Antrag, Harris in den Ausstand zu versetzen. Mit seinen Äusserungen habe der Einzelrichter den Eindruck erweckt, auch bei zukünftigen Verfahren gleich zu urteilen, ohne den einzelnen Fall im Detail in sachlicher und rechtlicher Hinsicht unbefangen zu prüfen. Offenbar habe er eine vorgefasste Meinung und werde an dieser festhalten.
Originalaussagen von Harris nicht angehört
Den Befangenheitsantrag stellte die Staatsanwaltschaft allein gestützt auf den Bericht der «Republik», ohne an der damaligen Verhandlung selber anwesend gewesen zu sein oder die Tonbandaufnahme der Hauptverhandlung gehört zu haben. Sie stellte dem Obergericht zwar den Antrag, die Aufnahme beizuziehen. Doch auch das Obergericht verzichtet darauf, im Wortlaut zu hören, was Harris damals gesagt hatte.
Gegenüber dem Obergericht wies Harris darauf hin, dass die Berichterstattung der «Republik» nicht neutral gewesen und das von ihm Gesagte verkürzt wiedergegeben worden sei. Harris hob erneut hervor, dass «selbstredend jeder Fall vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des EGMR (Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte) zu beurteilen sein wird. Wenn dies auch zukünftig zu Freisprüchen führen wird, liegt das nicht an irgendeiner Einstellung des Richters, sondern an dessen Anwendung der massgeblichen Rechtsprechung des EGMR.»
Anschein der Befangenheit genügt
Diese Äusserung Harris’, so das Obergericht, erwecke den Anschein, dass er «nicht bereit ist, im anstehenden Gerichtsverfahren die rechtlichen Argumente aller Parteien zu prüfen respektive seine Auffassung betreffend die Rechtsprechung des EGMR jeweils aufs Neue zu hinterfragen». Fazit: «Das Vorliegen eines Anscheins von Befangenheit ist zu bejahen.»
Ob der 55-Jährige in der Beurteilung der Klimaaktivisten tatsächlich befangen ist, hatte das Obergericht nicht zu entscheiden. Es genügt bereits der Anschein, dass er es sein könnte. Gemäss Bundesverfassung hat nämlich jede Person Anspruch darauf, dass ihre Sache von einem unparteiischen, unvoreingenommenen und unbefangenen Richter ohne Einwirken sachfremder Umstände entschieden wird, wie das Obergericht betont.
(https://www.tagesanzeiger.ch/richter-harris-muss-klimafaelle-abgeben-987697411266)
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nzz.ch 21.11.2022
Ein Zürcher Richter wollte Klimaaktivisten konsequent freisprechen – das Obergericht hält ihn für befangen
Wie aktivistisch darf ein Richter sein?
Linda Koponen
Sein Aktivismus ist dem Zürcher Bezirksrichter Roger Harris zum Verhängnis geworden. Bei einer Gerichtsverhandlung Mitte September kündigte Harris an, Klimademonstranten fortan konsequent freizusprechen.
Jeder habe das Recht, gewaltfrei zu demonstrieren, sagte er laut einem Bericht der «Republik» bei der Urteilsverkündung. Eine derartige Nutzung des öffentlichen Bodens sei schlicht hinzunehmen, er sei nicht länger bereit, solche staatlichen Strafaktionen zu unterstützen. Nur bei Gewalt müsse eingegriffen werden.
Denn: Auch unbewilligte Demos stünden unter dem Schutz der Versammlungs- und der Meinungsäusserungsfreiheit, und beide Grundrechte seien sowohl in der Europäischen Menschenrechtskonvention als auch in der Verfassung verankert.
Zu den Kindern der Beschuldigten, die der Verhandlung im Gerichtssaal beiwohnten, soll er gesagt haben: «Ihr könnt stolz auf eure Mutter sein!»
Mit seinen Aussagen brachte Richter Harris die Zürcher Staatsanwaltschaft gegen sich auf. Diese stellte in zwei bezirksgerichtlichen Verfahren, bei denen Harris als Richter wirken sollte, ein Ausstandsbegehren wegen Befangenheit. Die Prozesse waren im November und Dezember angesetzt. Angeklagt waren Klimaaktivisten, die Strassen blockiert hatten.
Kann ein Richter, der sich auf die Seite der Klimaaktivisten stellt, noch unbefangen urteilen?
Kann er nicht. Zu diesem Schluss kommt jetzt das Obergericht. Es hat die beiden Ausstandsbegehren gutgeheissen, wie aus den beiden Entscheiden hervorgeht, die der NZZ vorliegen.
Das Obergericht nimmt in seinem Entscheid Bezug auf den Artikel in der «Republik». Misstrauen in die Unvoreingenommenheit einer Gerichtsperson könne sich unter anderem aus Äusserungen ergeben, welche die gebotene Distanz zur Sache vermissen liessen. Dies sei vorliegend der Fall.
Die Äusserungen des Richters erweckten den Anschein, dass es ihm an der gebotenen Distanz fehle, hält das Obergericht fest. Der Richter sei nicht bereit, in anstehenden Gerichtsverfahren die rechtlichen Argumente aller Parteien zu prüfen. Der Ausgang des Verfahrens erscheine deshalb in dieser Hinsicht nicht mehr als offen.
Gegenüber dem Obergericht hatte Richter Harris versichert, dass er sich in keiner Weise befangen oder voreingenommen fühle. Die «Republik» habe seine Aussagen verkürzt wiedergegeben, die Berichterstattung sei nicht neutral. Er empfinde keinerlei Sympathien für Klimaaktivisten, habe aber den Kindern etwas Positives mit auf den Weg geben wollen. An der mündlichen Urteilseröffnung habe er mitgeteilt, jeden Fall neu zu beurteilen. Dies müsse jedoch vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erfolgen.
Der Entscheid ist noch nicht rechtskräftig. Laut dem Obergericht wurde ein Zwischenentscheid angefochten.
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UA220043-O/U/AEP und UA220042-O/U/AEP
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-obergericht-haelt-klima-richter-fuer-befangen-ld.1712871)
+++KNAST
Wie leben Verwahrte in einer WG im Gefängnis Deitingen. Ein Augenschein vor Ort. (ab 11:44)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/die-gemeinde-aarburg-will-sich-kuenftig-stadt-nennen?id=12290038
+++ARMEE
Erste grosse Militärübung seit 1989
Die Schweizer Armee führt vom 22. bis 29. November 2022 eine Militärübung mit 5000 Armeeangehörigen in den Kantonen Bern, Solothurn, Aargau, Luzern und Zürich durch.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/erste-grosse-militaeruebung-seit-1989?urn=urn:srf:video:aa8138b2-cd50-4639-9c55-5342bb7239bc
+++POLIZEI CH
Stärkung der Polizeikooperation mit Frankreich
Die grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Frankreich soll gestärkt werden. Die Direktorin des Bundesamts für Polizei fedpol und der französische Botschafter in der Schweiz haben am 21. November 2022 die Einsetzung einer Arbeitsgruppe vereinbart. Diese soll prüfen, wie die bilaterale polizeiliche Zusammenarbeit beider Länder an die aktuellen operativen Erfordernisse angepasst werden kann.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-91810.html
+++RASSISMUS
ANTIRA-WOCHENSCHAU: Europa im Herbst: Neuer Türsteher-Deal, neue Abschottungs-Abkommen, neuer Stacheldrahtvorhang
https://antira.org/2022/11/20/europa-im-herbst-neuer-tuersteher-deal-neue-abschottungs-abkommen-neuer-stacheldrahtvorhang/
+++RECHTSPOPULISMUS
Junge SVP sammelt über 7000 Unterschriften für «Anti-Chaoten-Initiative»
Die Junge SVP des Kantons Zürich hat 7151 Unterschriften für ihre «Anti-Chaoten-Initiative» eingereicht. Die Initiative richtet sich auch gegen Klimaaktivisten und fordert, dass Demonstranten die Rechnung für Polizeieinsätze und angerichtete Schäden übernehmen müssen.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/kanton-zuerich-junge-svp-sammelt-ueber-7000-unterschriften-fuer-anti-chaoten-initiative-ld.2375756
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/stadt-zuerich-plant-fluechtlingsunterkunft-auf-hardturm-brache?id=12289888 (ab 04:57)
-> https://www.blick.ch/politik/klimaaktivisten-sollen-zahlen-svp-reicht-anti-chaoten-initiative-ein-id18071522.html
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/initiative-im-kanton-zuerich-junge-svp-will-demonstrierende-zur-kasse-bitten
-> https://www.watson.ch/schweiz/svp/924552221-svp-sammelt-ueber-7000-unterschriften-fuer-anti-chaoten-initiative
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/svp-sammelt-ueber-7000-unterschriften-fuer-anti-chaoten-initiative-00199191/
Wegen steigender Asylzahlen: SVP will wieder Armee an der Grenze
Die Schweiz ist mit einer massiven Flüchtlingswelle konfrontiert. Immer mehr Asylsuchende gelangen zu uns. Die SVP will deshalb die Grenze wieder besser schützen – auch mit Hilfe des Militärs.
https://www.blick.ch/politik/wegen-steigender-asylzahlen-svp-will-wieder-armee-an-der-grenze-id18069114.html
+++RECHTSEXTREMISMUS
«Junge Tat»: Wie gefährlich ist diese Gruppierung?
Die «Junge Tat» hat auf dem Dach des Bahnhof SBB Petarden gezündet. Wie schätzt Extremismus-Experte Samuel Althof ihr Gewaltpotenzial ein?
https://telebasel.ch/2022/11/21/junge-tat-wie-gefaehrlich-ist-diese-gruppierung
Junge Neonazis kletterten auf Basler Bahnhofsdach – aus der Region kommt keiner
Sechs junge Männer der Neonazi-Gruppierung Junge Tat sind am Sonntag aufs Dach des Bahnhof SBB geklettert. Nun zeigt sich: Die Rechtsextremen sind gezielt nach Basel gereist.
https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/rechtsextreme-aktivisten-junge-neonazis-kletterten-auf-basler-bahnhofsdach-aus-der-region-kommt-keiner-ld.2376256
«Junge Tat»: Basler SVP distanziert sich von Neonazis
Nach mehreren Störaktionen in Zürich ist die «Junge Tat» am Wochenende nun auch in Basel negativ aufgefallen. Anders als in Zürich distanziert sich die lokale SVP hier klar von den Neonazis.
https://bajour.ch/a/clar1p7g244624854fsevnebsl4/basler-svp-distanziert-sich-von-junge-tat
Alle Jahre wieder: Neonazis treffen sich am Morgartendenkmal in Zug
Am Samstagabend kam es erneut zu einer Versammlung von Neonazis am Morgartendenkmal im Kanton Zug. Wie in den letzten Jahren liess sie die Zuger Polizei gewähren.
https://www.zentralplus.ch/news/neonazis-treffen-sich-am-morgarten-denkmal-in-zug-2495827/
+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Libertärer Autoritarismus: Das Ich regiert auf Kosten der Gemeinschaft
Querdenkerinnen und AfD-Anhänger wollen ihre Freiheit ausleben – auf Kosten demokratischer Stabilität. Die Literatursoziologin Carolin Amlinger und der Soziologe Oliver Nachtwey nennen das ein Merkmal für libertären Autoritarismus.
https://www.deutschlandfunk.de/das-ich-regiert-auf-kosten-der-gemeinschaft-100.html
++HISTORY
Held oder Teufel – die Schweiz und der Kommunist Fritz Platten
Ohne ihn wäre es vielleicht nie zur Russischen Oktoberrevolution gekommen – der Schweizer Kommunist Fritz Platten organisierte 1917 den Zug, der Lenin von Zürich nach Petrograd brachte. Später wanderte Platten in die Sowjetunion aus, wo er schliesslich in einem Arbeitslager Stalins ums Leben kam.
https://www.srf.ch/audio/zeitblende/held-oder-teufel-die-schweiz-und-der-kommunist-fritz-platten?id=12288295
Streit um Mumie – Stiftsbibliothekar könnte sich Tagung vorstellen
Seit über 200 Jahren liegt eine Mumie in der St. Galler Stiftsbibliothek. Ein Autor will sie nach Ägypten zurückführen. Jetzt könnte es eine Tagung dazu geben.
https://www.nau.ch/news/schweiz/streit-um-mumie-stiftsbibliothekar-konnte-sich-tagung-vorstellen-66345270
«Das war ein Mensch, kein Objekt»: Die Meinungen über Schepeneses mögliche Rückführung nach Ägypten teilen sich
Die «St.Galler Erklärung für Schepenese» fordert die Rückkehr der Mumie in ihre Heimat. Theatermacher Milo Rau befeuert damit die Diskussion über koloniale Kunst. Menschen in der St.Galler Innenstadt äussern sich zur Kontroverse.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/stadt-stgallen-die-mumie-soll-zurueck-wo-sie-herkommt-die-meinungen-ueber-eine-moegliche-rueckfuehrung-nach-aegypten-sind-geteilt-ld.2375895
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nzz.ch 21.11.2022
«Ich tötete einen Nazi»: David Frankfurter war der erste Jude, der zur Waffe griff. Er tat es auch aus Liebe zur Schweiz
1936 erschoss der Medizinstudent in Davos den Landesgruppenleiter der NSDAP, Wilhelm Gustloff. Vielleicht rettete er die Schweiz damit auch vor dem Anschluss an Nazideutschland.
Andreas Scheiner
Einmal, als er noch ein kleiner Junge war, pausbäckig und dick, da schoss David Frankfurter mit einer Pistole auf einen Spatz. Ein Schulfreund hatte die Schrotwaffe mitgebracht. Die Buben sassen im Garten, David zielte auf den Sperling im Geäst des Birnbaums.
Es sei ein stiller Sommernachmittag gewesen, erinnert sich David Frankfurter, «ahnungslos sass das kleine gefiederte Geschöpf in seiner luftigen Höhe». Und im nächsten Moment fiel der Vogel dem jungen Schützen «blutend und tot» vor die Füsse.
Entsetzt warf David die Waffe weg und rannte weinend davon. Dass er zu so einer Tat fähig war, erschreckte ihn. «Zum ersten Male hatte ich erlebt, was es heisst: ‹Du sollst nicht töten›, und wenn es auch nur ein kleiner Sperling war.»
Jahre später, er ist inzwischen 27, tötet David Frankfurter erneut. Dieses Mal ist es kein unschuldiger Spatz, der vor ihm im Blut liegt. «Ich tötete einen Nazi», so heissen die Erinnerungen des Mannes aus der Kleinstadt Daruvar im heutigen Kroatien, der als erster (und fast einziger) Jude zur Waffe gegriffen hat. Weil er kommen sah, was kommen sollte, hat David Frankfurter getan, was er tun musste.
Hitlers Mann für die Schweiz
«Es bohrte in mir», schreibt Frankfurter. «Die Tat, die vergeltende, die aufrüttelnde, die unabwendbare Tat – sie musste vollzogen werden.» Ein Jude habe «den Mut aufbringen müssen, die Waffe gegen Hitler als das Haupt der tausendköpfigen Hydra zu richten».
Aber Hitler, «diese dämonische Gestalt des rasenden Spiessers, der von der Bierbank aufgebrochen war zur Vernichtung der Juden», war unerreichbar. Also suchte sich der Medizinstudent, der vor dem Antisemitismus in Deutschland nach Bern geflohen war, die nächstbeste Nazigrösse, die er finden konnte. Und das war Wilhelm Gustloff, Hitlers Mann für die Schweiz. Am 4. Februar 1936 streckte David Frankfurter den Landesgruppenleiter in dessen Wohnung in Davos mit vier oder fünf Schüssen nieder.
«Gustloff ist an Kopf und Hals tödlich getroffen. Schwer polternd stürzt er zusammen und liegt in seinem Blute vor mir.» So wird Frankfurter die Szene 1948 in seinen Aufzeichnungen schildern, die, fast 75 Jahre nachdem sie auf Hebräisch erschienen sind, nun endlich auch auf Deutsch vorliegen. Und die an eine Persönlichkeit erinnern, die abgesehen von dem Film «Konfrontation» (1974) von Rolf Lyssy nie die ihr gebührende Aufmerksamkeit erhalten hat.
David Frankfurter kommt aus einer alten Rabbinerfamilie. Der Vater ist eine patriarchalische Gestalt, deren «gütiges, kluges Antlitz ein langer, dunkler Bart umrahmt». Früh weckt er in seinem Sohn die Liebe zum Judentum und zum jüdischen Volk.
Als David zehn Jahre alt ist, erkrankt er schwer. Ein Furunkel führt zu einer Blutvergiftung, das rechte Bein schwillt grässlich an, mit über 40 Grad Fieber liegt das Kind im Delirium. Der Arzt hat ihn so gut wie aufgegeben.
Aber der Junge erholt sich. Im Krankenbett liest er die Bibel, er bewundert den starken Simson, der Israels Ehre rächt, er jubelt mit der «heldenmütigen Jael», die dem feindlichen Feldherrn den Zeltpflock durch die Schläfe schlägt. Vor allem aber ist er ein Fan seines biblischen Namensvetters, der den «maulaufreisserischen Riesen Goliath mit einem wohlgezielten Wurfgeschoss» niederstreckt.
Im Gymnasium wird David Frankfurter später auch zum «feurigen Anwalt» von Michael Kohlhaas. Er begeistert sich für Kleists Novelle vom Rosshändler, dem die Pferde gestohlen werden. Als Kohlhaas das Recht versagt wird, greift er zur Gewalt. Der junge Frankfurter kann nicht wissen, dass er bald selber zu einer Art Kohlhaas werden würde, dem ein Goliath gegenübersteht.
Er sah, was sich zusammenbraute
Mit Anfang zwanzig verlässt David Frankfurter seine Heimat, um in Leipzig Medizin zu studieren. In Deutschland, glaubt er, studieren die Besten. «Wie bitter sollte ich enttäuscht werden.» Jeder einfache Proletarier in seiner Heimat habe selbständiger gedacht als die deutsche akademische Jugend, «die wie alle Deutschen in einem blinden Kadavergehorsam gegenüber ihrer Parteidoktrin oder irgendeiner kritiklos verehrten Autorität befangen war». Schon 1930 erkennt Frankfurter, dass das «Führerprinzip» den Deutschen «im Blute liegt».
David Frankfurter versteht, was sich zusammenbraut. Viele hätten wohl gedacht, es sei «alles nur ein Unwetter, und wenn man den Kopf einzieht, wird der Sturm über einen hinwegziehen», so drückt es Moshe Frankfurter aus. David Frankfurters Sohn, ein 68-jähriger Anwalt aus Israel, schildert am Telefon, wie sein Vater früher als die meisten realisiert habe, was in Nazideutschland vor sich ging: Zwei Monate nach der Machtübernahme Hitlers habe es ja gleich die ersten KZ gegeben. «Mein Vater hat alles gesehen und vor nichts die Augen verschlossen», sagt Moshe Frankfurter.
Tatsächlich schildert David Frankfurter im Buch, wie ihn «das rätselhafte Phänomen» des Nationalsozialismus «mit magischer Gewalt anzog». Der Student besuchte Versammlungen der Nazis, denn er wollte ergründen, «was die Millionen an dieser Aneinanderreihung sinnloser Phrasen und blutrünstiger Hetze so faszinierte».
Dann begann 1933 die «chauvinistische Hysterie ihre Orgien auf offener Strasse zu feiern», von einem «geradezu chiliastischen Taumel, mit dem das Dritte Reich den Untergang Deutschlands einleitete», berichtet David Frankfurter. Und er sieht die Juden scheu «in diesem Hexentanz der Selbstbetäubung» an den Mauern ihrer fremd gewordenen Heimatstadt entlangstreichen. Diese «passive, ja feige Haltung» dem bösen Goliath gegenüber kann er nicht verstehen: Wo war «der David, der es wagte, im Namen Gottes dem lästernden Kraftmeier entgegenzutreten, das tödliche Geschoss in der Hand»?
Man soll nicht morden, weiss David Frankfurter, es steht «mit Feuerlettern vom Sinai» geschrieben. Doch «in der Tora und in unserem Herzen» heisst es auch: «Ausrotten sollst du das Böse aus deiner Mitte.» Zwischen diesen «kategorischen Imperativen Gottes» ist Frankfurter hin- und hergerissen.
Ein brillanter Erzähler
Einmal findet er sich zufällig in einem Strassenumzug wieder, Göring, «dieser fette Popanz», wird gefeiert. Frankfurter fasst kurzerhand den Entschluss, auf diesen Goliath zu schiessen, «um das Gewissen der Welt zu wecken und die jüdische Ehre wiederherzustellen». Aber eine Kugel will er zurückbehalten – für sich selbst.
David Frankfurter ist ein brillanter Erzähler. Unterstützt von dem deutsch-israelischen Journalisten und Religionsgelehrten Schalom Ben-Chorin, hat er gleich nach dem Krieg seine noch frischen Erinnerungen sprachgewaltig niedergeschrieben. Atemlos liest man die Szenen weg, wie er etwa dem Schuss auf Göring entgegenfiebert: «Mein Leben wog leicht in meiner Hand, in der lauen Frühlingsnacht, in der die Fackeln der Nazis blutig rot zu einem gestirnten Nachthimmel aufleuchteten, hinter dem ich einen gerechten Gott wusste, der von uns selbst die Tat der Ausrottung des Bösen verlangt.»
Frankfurter ist bereit, als Märtyrer zu sterben, die Spannung baut sich auf wie in einem Thriller. Aber es folgt, geradezu lakonisch verknappt, die Ernüchterung: Frankfurter hat Göring verpasst. «Ich musste erfahren, dass er vor drei Minuten abgefahren war.»
Und so sollte es statt Göring also Gustloff treffen. David Frankfurter fühlt sich zunächst wohl in der Schweiz, in Bern setzt er sein Studium fort, nachdem es in Deutschland nicht mehr auszuhalten gewesen ist. Er schätzt die selbständig denkenden Schweizer, hier ist er unter seinesgleichen, immerhin war «der Tyrannenmord die eigentliche Stiftungsakte dieser europäischen Demokratie». Doch dann stellt sich wie ein Fanal «das alte böse Leiden des Knochenfrasses» wieder ein. Und an die Knochen gehen auch die Nachrichten aus Deutschland.
Die meiste Zeit verbringt Frankfurter im Kino, wegen der Wochenschauen. «Ich musste es immer wieder sehen, das Furchtbare, das die Anderen nicht sehen wollten.» Das «braune Gespenst des Nazismus» lässt ihn mitten in der Nacht auffahren, er träumt von gefolterten Juden, «die Schmähverse und Mordlieder» gellen ihm in den Ohren.
David Frankfurter will Rache. Aber fürchtet er nicht auch die Rache Hitlers? Ja, er habe gebangt, dass die deutschen Juden für seine Tat kollektiv bestraft werden könnten, räumt er ein. Dass Hitler die Ermordung Gustloffs nicht als Vorwand für ein Pogrom genutzt habe, habe mit der bevorstehenden Olympiade in Garmisch-Partenkirchen zusammengehangen, ist sein Sohn Moshe Frankfurter überzeugt. Die Nazis hätten die Spiele nicht gefährden wollen. Aber er habe geglaubt, letztlich mit der Aktion mehr Menschen zu retten, als er durch sie womöglich gefährde. «Und was er darüber hinaus wollte, war, die Schweiz zu retten.»
So schreibt es David Frankfurter auch: Die freie Schweiz will er «vor der Einverleibung ins Nazi-Höllen-Reich bewahren». Und dann fügt er noch hinzu: «Es hat lange gedauert, bis man in der Schweiz selbst den Mut fand, auch dieses Motiv anzuerkennen.»
Hat David Frankfurter die Schweiz gerettet, indem er den Mann ausschaltete, der den Anschluss des Landes an Nazideutschland von innen heraus ausgeführt hätte? Es wäre «schmeichelhaft», so von seinem Vater zu denken, sagt Moshe Frankfurter. Aber die Ermordung Gustloffs sei «sicher nur einer von mehreren Gründen» gewesen, weshalb «Unternehmen Tannenbaum», wie die deutschen Planspiele zur Besetzung der Schweiz heissen, nie umgesetzt wurde. Hitler hatte Interesse an einer unversehrten Schweizer Rüstungsindustrie, auch konzentrierte er seine Truppen für eine mögliche Invasion Grossbritanniens.
Dass die Schweizer Möchtegern-NSDAP, die Nationale Front, ab 1938 verstärkt von den Behörden überwacht wurde, dürfte aber eine Folge des Frankfurter-Prozesses gewesen sein. Zu seiner Tat bekennt er sich ohne Wenn und Aber, er hat sich selber der Polizei gestellt. Aber vor Gericht will er das «von Blut und Mord gezeichnete Gorgonenantlitz des Nazismus enthüllen». Die Nazis sollen die Angeklagten sein, er der Kläger.
Die Schweizer Richter, «ernste, kalte Männer, eingeschüchtert von der über ihnen drohenden Riesenfaust der Nazis», verurteilen Frankfurter zu achtzehn Jahren Haft. Mit dem Kriegsende wird er begnadigt, allerdings aus der Schweiz verwiesen. Er reist ins Gelobte Land und gründet eine Familie. «Ich bin stolz auf ihn», sagt Moshe Frankfurter. Der Vater konnte die Weltöffentlichkeit nicht wecken, er konnte den Holocaust nicht verhindern. Aber David Frankfurter hat einen Nazi getötet. Nicht mehr und nicht weniger.
David Frankfurter: Ich tötete einen Nazi. Erzählt und bearbeitet von Schalom Ben-Chorin. Marix-Verlag, Wiesbaden. 320 S., Fr. 34.90.
(https://www.nzz.ch/feuilleton/david-frankfurter-erinnert-sich-wie-er-gustloff-umbrachte-ld.1712599)