Medienspiegel 15. November 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Auf dem Brünig: Kollektivunterkunft «Casa Alpina» wird wieder geöffnet
Weil die Zahlen der geflüchteten Menschen in den Bundesasylzentren stark gestiegen sind, wird die Casa Alpina auf dem Brünig wieder in Betrieb genommen.
https://www.bernerzeitung.ch/kollektivunterkunft-casa-alpina-wird-wieder-geoeffnet-586757739858


+++ZUG
Kanton Zug schafft Plätze für 400 Flüchtlinge in Modulbau
Auf der Äusseren Lorzenallmend der Stadt Zug soll bis im Sommer 2023 ein Modulbau entstehen, welcher Platz für maximal 400 Flüchtlinge bietet. Über das Vorhaben haben die Verantwortlichen am Montagabend informiert. Die Pläne sorgten dabei für Fragen, aber stiessen auf keinen Widerstand.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/kanton-zug-schafft-plaetze-fuer-400-fluechtlinge-in-modulbau?id=12287206


+++SCHWEIZ
Judith Kohlenberger: «Die grossen Fluchtbewegungen kommen noch» – Rendez-vous-Tagesgespräch
Die Schweiz bereitet sich auf eine Rekordwelle von Flüchtlingen vor, der grössten Flüchtlingskrise seit dem Zweiten Weltkrieg. Überhaupt steigen die Asylanträge in ganz Europa. Dieser Trend werde anhalten, sagt Fluchtforscherin Judith Kohlenberger. Sie ist zu Gast im «Tagesgespräch».
https://www.srf.ch/audio/tagesgespraech/judith-kohlenberger-die-grossen-fluchtbewegungen-kommen-noch?id=12287314


+++DEUTSCHLAND
Verschlusssache Lagebericht
Lageberichte über die Herkunftsländer von Geflüchteten sind als Verschlusssache eingestuft. Die Begründung dafür ist zweifelhaft und die Praxis inkonsequent. Öffentlich zugängliche Lageberichte könnten dagegen die Tatsachenermittlung in Asylverfahren verbessern.
https://www.proasyl.de/news/verschlusssache-lagebericht/


+++ÄRMELKANAL
Der Flüchtling als Feind
Mit militärischen Mitteln: London und Paris unterzeichnen Abkommen zur Bekämpfung von Migration über Ärmelkanal
https://www.jungewelt.de/artikel/438852.gef%C3%A4hrliche-%C3%BCberfahrt-der-fl%C3%BCchtling-als-feind.html


+++FRANKREICH
Seenotrettung: Frankreich schiebt 44 Migranten von der „Ocean Viking“ ab
44 Menschen, die an Bord der „Ocean Viking“ waren, haben laut Frankreich keinen Anspruch auf ein Asylverfahren. Das Rettungsschiff durfte zuvor in Toulon anlegen.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-11/frankreich-abschiebung-ocean-viking-seenotrettung


+++EUROPA
Asyl: Warum die Festung Europa nicht funktionieren wird
Noch mehr Kontrolle der EU-Außengrenzen führt nicht zwangsläufig zu weniger Schlepperei. Im Gegenteil: Immer mehr Menschen werden so in die Illegalität getrieben.
https://www.zeit.de/wirtschaft/2022-11/asyl-europa-migration-grenzschutz-gefluechtete


«Die EU kann europäisches Recht nicht durchsetzen»
Die Zahl der Migranten in Europa nimmt wieder zu. Dass rechte Parteien das zum Skandal machen können, haben sich viele Regierungen selbst zuzuschreiben, sagt der Migrations¬forscher Bernd Kasparek. Er fordert: «Man muss auch zeigen, dass die Integration dieser Menschen gelingen kann.»
https://www.republik.ch/2022/11/15/die-eu-kann-europaeisches-recht-nicht-durchsetzen


+++GASSE
20 Jahre Pfuusbus
Heute öffnet der Pfuusbus siene Türen und startet mit einem kleinen Fest in die 21. Saison.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/20-jahre-pfuusbus-148765764
-> https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/ich-habe-pfarrer-sieber-viel-zu-verdanken-148764289
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/zuerich-der-pfuusbus-feiert-seinen-20-geburtstag-ld.2372936


Sucht, Schicksalsschläge und Resignation – Leben am Rand der Gesellschaft
In einer Garage in Burgdorf kommen Menschen zusammen, die den ganzen Tag reden, rauchen und trinken. An dieser Szenerie läuft rec.-Reporter Donat Hofer vorbei, wenn er sein Kind in die Kita bringt. Wer sind diese Menschen? Mit dieser Frage klopft der Reporter an die Garagentüre.
https://www.srf.ch/play/tv/rec-/video/sucht-schicksalsschlaege-und-resignation-leben-am-rand-der-gesellschaft?urn=urn:srf:video:d347c4f1-3fb9-40da-99dd-f3a724bd662f&aspectRatio=16_9


+++FREIRÄUME
Staatsanwaltschaft verzichtet auf Berufung: Das «Familie Eichwäldli» Urteil ist jetzt rechtskräftig
«Familie Eichwäldli» hat keinen Hausfriedensbruch begangen – so der Freispruch vor dem Bezirksgericht Luzern. Die Staatsanwaltschaft teilt jetzt mit, das Urteil nicht anzufechten.
https://www.zentralplus.ch/justiz/das-familie-eichwaeldli-urteil-ist-jetzt-rechtskraeftig-2491483/


+++KNAST
Fall Brian: „Der Begriff der Menschenwürde reicht nicht aus“
David Mühlemann hat das Leben eines der bekanntesten Häftlinge der Schweiz chronologisch aufgearbeitet. Ein Gespräch über Einzelhaft, Würde und Resilienz.
https://daslamm.ch/fall-brian-der-begriff-der-menschenwuerde-reicht-nicht-aus/


+++POLICE BE
Kommission beantragt Kredit für neues Polizeizentrum
Die Bau-, Energie-, Verkehrs- und Raumplanungskommission sagt Ja zum Verpflichtungskredit für den Neubau des Polizeizentrums in Köniz. Sie beantragt dem Grossen Rat, dem Verpflichtungskredit von 342 935 000 Franken zuzustimmen. Weiter unterstützt sie den Kauf eines neuen Passagierschiffes auf dem Thunersee und einen Kredit für die Brienz Rothorn Bahn.
https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=931539c4-a4c1-48fe-b221-32cfcd3af45e
-> https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/berner-grossratskommission-fuer-bau-eines-neuen-polizeizentrums-148760179


+++FRAUEN/QUEER
Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt: Vorschläge an die Schweiz zur Umsetzung der Istanbul-Konvention veröffentlicht
Wie gut bekämpft und verhütet die Schweiz Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt? Die internationale Expertinnen- und Expertengruppe des Europarats (GREVIO) hat die Umsetzung der Istanbul-Konvention in der Schweiz überprüft und ihre Vorschläge in einem Bericht publiziert. Zeitgleich wurde der Kommentar des Bundesrats veröffentlicht, den er an seiner Sitzung vom 2. November 2022 verabschiedet hat.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-91559.html
-> https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/schweiz/dok/2022/europaratskommission-kritisiert-vergewaltigungsdefinition-in-der-schweiz
-> https://www.derbund.ch/die-schweiz-muss-mehr-tun-gegen-haeusliche-gewalt-626077349596


Zwangshochzeiten im Haus der Religionen in Bern – Echo der Zeit
Jedes Jahr werden in der Schweiz mehrere hundert Frauen zwangsverheiratet, was eigentlich verboten ist. Selbst im staatlich subventionierten Haus der Religionen in Bern finden solche Zwangshochzeiten statt, wie Recherchen von SRF Investigativ zeigen. Die Geschichte einer Betroffenen.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/zwangshochzeiten-im-haus-der-religionen-in-bern?partId=12287521
-> https://www.derbund.ch/islamische-zwangsheiraten-im-haus-der-religionen-in-bern-251218579434
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/islamische-zwangsheiraten-im-haus-der-religionen-in-bern-66339795
-> 10vor10: https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/fokus-zwangsheirat-im-haus-der-religionen?urn=urn:srf:video:8a8b40f0-96a2-4638-95b6-5c12b0e006a7


+++RECHTSEXTREMISMUS
„Die Kameradschaft Edelweiss beim „Raclette gegen links“ in Baselland.“
(https://twitter.com/farbundbeton/status/1592259696920264704)
Foto: https://pbs.twimg.com/media/FhjWjghWYAEh08m?format=jpg&name=small


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Coronavirus: Basler Arzt mit Impfskeptiker-Nachrichten überhäuft
Die Studie der Uni Basel zu Herzmuskelschäden nach dem Booster gegen das Coronavirus führt zu einem Aufschrei. Das bekommt auch der Chef-Kardiologe zu spüren.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coronavirus-basler-arzt-mit-impfskeptiker-nachrichten-uberhauft-66334482



aargauerzeitung.ch 15.11.2022

Knatsch bei Freunden der Verfassung: Jetzt spricht der kritisierte Co-Präsident

Nach der Rückrittswelle im Vorstand brodelt es bei den Freunden der Verfassung. Unter Beschuss gerät auch Co-Präsident Roland Bühlmann. Dieser wehrt sich nun: Die zurücktretenden Vorstandsmitglieder würden «täubele».

Dario Pollice

Die Freunde der Verfassung stiegen im ersten Pandemiejahr kometenhaft auf. Doch seither befinden sich die Verfassungsfreunde im freien Fall. Öffentlich ausgetragene Streitigkeiten zeichnen das Bild eines Vorstands, der kaum handlungsfähig erscheint.

Bereits zum Jahreswechsel gipfelte ein heftiger Streit im Rücktritt des gesamten Vorstands. Die Rede war von «internem Putsch» und «problematischer Kommunikation» gegen aussen. Zwischenzeitlich haben sich die Massnahmengegner neu aufgestellt und einen neuen Vorstand gewählt. Nun folgt der nächste Paukenschlag.

Am Sonntagabend gaben sieben Mitglieder bekannt, dass sie aus dem Vorstand des Vereins zurücktreten werden – «aufgrund unüberbrückbarer Differenzen». Weil der Vorstand aktuell nur noch aus drei Mitgliedern bestehe, erfülle er die statutarischen Voraussetzungen nicht mehr, um handlungsfähig zu sein. Aus Sicht der sieben zurückgetretenen Vorstandsmitgliedern verbleiben somit zwei Optionen: Neuwahlen oder die Auflösung des Vereins.

Co-Präsident: Rücktritt war eine «illegale» Aktion

Davon will Roland Bühlmann nichts wissen. «Von Auflösung ist aus meiner Sicht keine Rede», sagt der amtierende Co-Präsident der Verfassungsfreunde im Gespräch mit CH Media. Er hat die Mitteilung von Sonntagabend nicht mitunterzeichnet und kritisiert seine ehemaligen Mitstreiterinnen und Mitstreiter scharf. «Die Aktion der zurückgetretenen Mitglieder ist aus meiner Sicht illegal.» Die Kommunikation sei nicht mit Bühlmann abgesprochen worden.

Basierend auf den Vereinsregeln hätten die sieben Mitglieder kein Recht dazu gehabt, den Newsletter zu verschicken. «Unsere Regeln sehen vor, dass jeder Newsletter zuerst vom Co-Präsidium gelesen werden muss», sagt Bühlmann. «Das war nicht der Fall.» Gemäss dem IT-Unternehmer ging es im jüngsten Streit um die Ausrichtung des Vereins.

Stein des Anstosses war laut Bühlmann, dass er mit der Leistung des Vorstandes nicht zufrieden gewesen sei. Er habe deshalb an einer Sitzung im Oktober ein neues Konzept vorgestellt, das unter anderem die Unterstützung der sogenannten Souveränitätsinitiative des massnahmenkritischen Vereins Mass-Voll vorsah.

Gemäss Bühlmann haben vier von fünf anwesenden Vorstandsmitglieder die Strategie gutgeheissen. «Seitdem haben sich die Unterlegenen der Abstimmung geweigert, die Beschlüsse umzusetzen.»

Ehemalige Mitglieder wollen Auflösung

Wieso die zurückgetretenen Vorstandsmitglieder die Beschlüsse wieder rückgängig machen wollen, ist für Bühlmann ein Rätsel. «In meinen Augen ist das ein ‹Täubele›», sagt er. Im Nachgang an die Sitzung hätten sie ihm ein Ultimatum gestellt: «Entweder sie treten zurück oder ich. Ich lasse mich jedoch nicht erpressen.»

Dieser Darstellung widerspricht Prisca Guanter. Sie ist neben Bühlmann Co-Präsidentin und gehört zu den sieben Vorstandsmitgliedern, die ihren Hut genommen haben. Auf Anfrage von CH Media schreibt sie, dass Bühlmann andere Meinungen nicht respektiert habe. «Demokratische Abläufe hat er nicht eingehalten und er traf gravierende Entscheide ohne Absprache.»

Unter anderem habe Bühlmann den Vereinsserver inklusive Homepage für über einen Tag vom Netz genommen. Dies habe «vorübergehend zur Handlungsunfähigkeit des Vereins» geführt, so Guanter. Was nun mit dem Verein geschehen soll, ist für sie klar: «Im Moment empfehle ich die Auflösung von Freunde der Verfassung.»

Prall gefüllte Vereinskasse

Wird der Verein aufgelöst, wollen Guanter und die zurückgetretenen Mitglieder das vorhandene Kapital auf die massnahmenkritischen Vereine Aktionsbündnis Urkantone, Lehrernetzwerk, Aufrecht Schweiz, das Juristenkomitee und Aletheia verteilen. Dadurch erhielten sie «Verstärkung und zusätzliche Ressourcen».

Die Rede ist dabei nicht von wenig Geld. Zum Höhepunkt zählten die Verfassungsfreunde über 25’000 Mitglieder. Sie bezahlen einen Mitgliederbeitrag von 50 Franken, was der Bewegung jährlich 1,25 Millionen Franken in die Kasse spült. Damit liessen sich kostspielige Kampagnen aus dem Boden stampfen.

Nur noch drei statt fünf Mitglieder

Aktuell besteht der Vereinsvorstand aus drei Mitgliedern. Die Vereinsstatuten legen jedoch fest, dass es mindestens fünf Mitglieder sein müssen. Welche Konsequenzen das nun hat, weiss Bühlmann nicht. Er wolle das juristisch abklären lassen.

Für ihn steht fest: «Wir haben einen Auftrag von unseren Mitgliedern und müssen weitermachen». 10’000 Mitglieder hätten seit September einen Mitgliederbeitrag bezahlt – also mindestens 500’000 Franken. «Es ist sicher nicht in ihrem Sinne, dass der Verein nun aufgelöst wird», so Bühlmann.



Wer sind die Verfassungsfreunde?

Die Freunde der Verfassung wurden im Sommer 2020 gegründet und stiegen rasch zur Referendumskraft auf. Der Verein brachte zusammen mit Partnern zwei Referenden gegen das Covid-Gesetz zustande, die jedoch an der Urne scheiterten.

Mit 60’000 Unterschriften retteten die Verfassungsfreunde das Referendum gegen das Terror-Gesetz und steuerten überdies rund 50’000 Unterschriften zum Referendum gegen das Mediengesetz bei. Der Verein zählte zu seinem Höhepunkt über 25’000 Mitglieder. (dpo)
(https://www.aargauerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/pandemie-knatsch-bei-freunden-der-verfassung-jetzt-spricht-der-kritisierte-co-praesident-ld.2372828)


+++ANTI-WOKKE-POPULISMUS
Der verwirrende Gegenangriff als Strategie: Jede Kritik ist Cancel Culture!
Wenn Politiker:innen heutzutage Kritik ausgesetzt sind, greifen sie gern zu einer einfachen Strategie. „Du bist gecancelt!“ Sie vermeiden die inhaltliche Debatte und gehen in einen Gegenangriff über. Natascha Strobl erklärt diese Strategie.
https://www.moment.at/story/gecancelt-kritik-cancel-culture


Cancel-Culture an US-Universitäten: Zensur! Tugendterror! Cancel-Culture!
Seit 70 Jahren schwören sich Amerikas Konservative auf einen Feind ein, der sie eint: Die „politisch korrekten“ Universitäten. Rekonstruktion einer folgenreichen Erregung
https://www.zeit.de/2022/46/cancel-culture-usa-universitaeten-konservative/komplettansicht



zeit.de 14.11.2022

Meinungsfreiheit: Die Cancel-Culture-Strategie

Linke Identitätspolitik bedrohe die Meinungsfreiheit, dieser Vorwurf hält sich hartnäckig. Dabei verdeckt er vor allem eines: die Cancel Culture von rechts.

Ein Essay von Georg Diez

Im politisch-medialen Diskurs geht seit einer Weile schon so einiges durcheinander: Die einen beanspruchen mehr Raum und Sichtbarkeit, die anderen fühlen sich bedroht. Es vollzieht sich eine Veränderung der Gesellschaft, die insbesondere im Bereich der öffentlichen Rede umkämpft wird. Oft ist es ein eher triviales Niveau, etwa wenn es um Schnitzel mit einer scheußlichen bräunlichen Sauce oder Winnetou-Filme geht. Aber natürlich betreffen solche Fragen des demokratischen Diskurses schließlich die politische Verfasstheit einer Gesellschaft. Und weil Elon Musk, der selbst ernannte free speech absolutist, jüngst Twitter gekauft hat, stehen die Themen Meinungsfreiheit und Cancel Culture gerade auch wieder im globalen Kontext ganz oben auf der Agenda.

Es ist dabei ein Phänomen unserer Zeit, dass Rechte es in diesem Zusammenhang geschafft haben, ein Thema für sich zu wenden, das zuvor auch und vor allem ein linkes war: die Freiheit. Sie haben es geschafft, in einer Art moralischer Panik ein Bedrohungsszenario aufzubauen, bestehend aus lauter Einzelphänomenen, geschickt zusammengeklaubt, polemisch aufgeplustert und leider auch oft arglos verstärkt durch viele Medien – die sich hier auf einen Trip in eine ganz eigene Art von Parallelwelt haben mitnehmen lassen, eine Art kollektive Hysterisierung.

Da wurde eine – manche würden sagen: mit antisemitischen Codes spielende – Kabarettistin ausgeladen, da wurde die Vorlesung eines rechtspopulistischen Politikers abgebrochen, der Vortrag einer Biologin wurde zunächst abgesagt (und später nachgeholt), zwischendurch klaute jemand Alexander Gauland die Badehose – alles in allem, so drang es durch die Presse, ein linkes Komplott, ein Zeichen für undemokratische Umtriebe, eine Bedrohung der Meinungsfreiheit und mehr.

Aber wie kam es überhaupt so weit? Ein kurzer Blick zurück: Vor ein paar Jahren wurden viele deutsche Journalisten wach, weil sie etwas über linke Machenschaften an Universitäten hörten, vor allem in den USA. Sie hörten, dass der eine Professor entlassen wurde, sie hörten, dass die eine Veranstaltung nach Protesten abgesagt werden musste, sie hörten, dass das eine Verschwörung sei, um die Freiheit zu beschneiden – und sie übernahmen den Diskurs aus den USA und übertrugen ihn auf Deutschland. Rückblickend muss man sagen: extrem einseitig und fast schon fahrlässig.

Denn es gibt ja eine Verschiebung, es gibt eine Bedrohung der Meinungsfreiheit – maßgeblich nur eben aus einer anderen Richtung, mit anderen Mitteln. In diesem Zusammenhang wirkt die Rede von Cancel Culture fast wie eine mutwillige Verdrehung von Tatsachen und spiegelt einen Teil des politisch-feuilletonistischen Milieus, das sich an sich selbst berauscht. Verloren gegangen ist dabei oft die journalistische Professionalität. Viele wurden, was sie ihren Gegnerinnen vorwerfen: Aktivisten im Dienst einer Idee, für die sie die Realität über Bord warfen. Was viele Journalistinnen in der Zeit, in der sie Artikel und Bücher darüber schrieben, wie eine „neue linke Ideologie aus Amerika unsere Meinungsfreiheit bedroht“ (René Pfister), vergaßen, was sie übersahen, was sie nicht interessierte, war das, was sich jenseits der Cancel-Culture-Hysterie ereignete – die ziemlich schonungslose bis brutale Machtverschiebung, die die eigentliche Einschränkung der Meinungsfreiheit bedeutete, auch hier mit den USA als erstem Beispiel.

Da sind etwa die Hunderte, ach was, Tausende von Büchern, die in verschiedenen US-amerikanischen Bundesstaaten auf dem Index stehen: 1.651 Titel im Jahr 2022, wie die American Library Association festhielt, vor allem Bücher, die sich mit Homosexualität, den Erfahrungen von Schwarzen und Native Americans oder der Darstellung von Sex beschäftigen. Mit den meisten Verbotsversuchen wurde etwa Gender Queer von Maia Kobabe belegt, eine Graphic Novel über Transgeschlechtlichkeit.

Konservative Lobbygruppen wie Moms for Liberty führen diese Kämpfe gegen die Freiheit, die sie selbst im Namen tragen. Ebenso die Mitglieder der Proud Boys, die auch am Umsturzversuch vom 6. Januar 2021 beteiligt waren, dem Sturm auf das Kapitol, und etwa auch bei einer Veranstaltung der Schulverwaltung in Illinois auftauchten, wo es um das Verbot von Büchern ging, oder in Kalifornien bei einem Erfahrungsaustausch von Dragqueens. Erst kürzlich wurde wieder ein Brandanschlag auf ein Lokal in Oklahoma verübt, wo zuvor Dragqueens aufgetreten waren.

Welche Freiheit?

Besonders in den vergangenen beiden Jahren wurden diese Attacken auf die Meinungsfreiheit immer organisierter, offener, aggressiver – aber diese Cancel Culture von rechts ist nicht das, was die Medien in Deutschland übermäßig interessiert. Dabei zeigt sich hier besonders gut, was das Problem mit der Rede von Cancel Culture ist: Sie lässt die Frage von Macht außen vor, sie schaut nicht darauf, wo eine Mehrheit gegenüber einer Minderheit auftrumpft, sie schützt in den allermeisten Fällen die Mehrheit, die die Macht hat. Die Fälle von links sind Einzelfälle, die Fälle von rechts sind strukturell, durch politische Institutionen getragen, sollen Gesetz werden, werden oft begleitet von Gewalt oder Androhung von Gewalt und unterstützt von organisierten Trollhorden in den sozialen Medien, die Menschen bisweilen sogar in den Tod treiben.

Die darunter liegende Logik hat viel mit den Krisenphänomenen von Nation und Identität zu tun – in Polen etwa, wo die Erinnerung an die eigene Rolle bei der Vernichtung der Juden strafrechtlich geregelt werden soll, oder in Ungarn, Italien bis zu Schweden, wo die rechtsextreme neue Regierung die Kultur darauf verpflichten will, die „Einheit“ des Landes zu fördern. Andere Beispiele aus den USA sind etwa der Widerstand gegen das aufklärerische Projekt der New York Times, 1619, das sich mit den Ursprüngen der Sklaverei beschäftigt und die amerikanische Gegenwart mit historischem Scharfsinn durchleuchtet. Oder eine ganze Denkschule, die Critical Race Theory, die sich in ähnlicher Weise mit den Fragen des systemischen Rassismus in den USA beschäftigt, vor allem an Universitäten, manchmal auch an Schulen – verboten in einigen Bundesstaaten, ein eklatanter Eingriff in die Freiheit der Forschung, weitestgehend unkommentiert und unterreflektiert in Deutschland.

Für die USA hat der Autor P. E. Moskowitz diese massive diskursive Landnahme in seinem Buch The Case Against Free Speech sehr klar nachgezeichnet. Die Rede von der Meinungsfreiheit nannte er schon 2019 „ein Propaganda-Werkzeug“ und eine „dialektische Nebelmaschine“, sie gleicht in vielem der Rhetorik von vor 30 Jahren, als eine ähnliche Dynamik mit dem Begriff der Political Correctness verbunden war. Nun haben sich die gesellschaftlichen Verhältnisse, und damit die Härte der Auseinandersetzung, noch einmal verschärft: In einer zutiefst ungleichen Gesellschaft, schreibt Moskowitz, „in der einige wenige Unternehmen die Medienproduktion kontrollieren und eine kleine Gruppe Ultrareicher ganze politische Bewegungen finanzieren, kann es keine sinnvolle Definition von Meinungsfreiheit geben.“

Ein paar Tage nach der Übernahme von Twitter durch Elon Musk und damit der Kontrolle einer kritischen Infrastruktur der demokratischen Öffentlichkeit durch einen selbst erklärten free speech absolutionist, der zuletzt Sympathien für Floridas ultrarechten Gouverneur Ron DeSantis bekannte, sind diese Gedanken relevanter denn je. Meinungsfreiheit, so Moskowitz, wird nicht dadurch erreicht, dass man rechtsradikale Desinformation als demokratiestützend definiert – Meinungsfreiheit wird dadurch erreicht, dass man Rassismus und Ungleichheit beendet. „Was bedeutet Meinungsfreiheit für jemanden, der 60 Stunden in der Woche arbeitet und keine Zeit hat und keine Plattform, um dieses angebliche Recht auszuüben?“

Was einen dann relativ schnell zu der Frage bringt, von welchem Freiheitsbegriff überhaupt die Rede ist, wenn von Meinungsfreiheit oder dem Angriff darauf geredet wird, eben der sogenannten Cancel Culture: Ist es das, was man als „positive Freiheit“ bezeichnen kann, also die Freiheit, unter gleichen oder wenigstens ähnlichen materiellen Bedingungen zu leben? Oder ist es eine Form von „negativer Freiheit“, die sich beschreiben lässt als Abwesenheit mehr oder weniger aller Hindernisse, seine persönlichen Ziele umzusetzen? Oder in anderen, vom Philosophen Claus Dierksmeier vorgeschlagenen Begriffen: Geht es hier um quantitative Freiheit (je mehr, desto besser) oder qualitative Freiheit (je besser, desto mehr)? Anders gesagt: Ist es Freiheit ein Werkzeug der Emanzipation oder ist es Freiheit als Mittel von Interessen und Egoismen?

Es ist ein Problem der vergangenen Jahre, dass diese Diskussion um den Begriff der Freiheit von links zu defensiv und von rechts extrem offensiv geführt wurde – ohne jeweils klarzumachen, welchen Freiheitsbegriff man meint, wie sie sich zueinander verhalten, was die Geschichte, was das Nachdenken über diesen Freiheitsbegriff ist, wo die Widersprüche liegen. Und vielleicht rührt daher auch die aktuelle Aufmerksamkeit für das Buch Gekränkte Freiheit – Aspekte des libertären Autoritarismus von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Die beiden Soziologen beschreiben darin das „Driften“ von Menschen, die innerhalb einer komplexen Welt Regression und Ressentiment als Grundlagen ihrer Freiheitsvorstellung gewählt haben.

Amlinger und Nachtwey gehen dabei einerseits zurück zur Frankfurter Schule, zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer und Herbert Marcuse und deren Nachdenken über die Aporien und Pathologien von Freiheit, also die inneren Widersprüche der Freiheitskonzeption – analysiert damals im Widerschein der Fackelaufmärsche der Faschisten, der brennenden Bücher, der zerstörten und angezündeten Synagogen. Andererseits gehen Amlinger und Nachtwey dann aber auch ganz direkt in die Gegenwart, um die heutigen Ausprägungen einer radikalisierten Freiheitsidee zu untersuchen, im Angesicht neuer Fackelaufmärsche, neuer Zensur, neuem, altem Antisemitismus.

Ähnlich wie P. E. Moskowitz machen sie deutlich, dass viele Menschen heute einen anderen Freiheitsbegriff pflegen als den, „den sich das aufstrebende Bürgertum und die Arbeiterbewegung einst auf die Fahnen geschrieben hatten“. Es ging damals gegen die Monarchie, gegen die Kirche, gegen die staatliche Zensur. Das Freiheitsversprechen heute birgt hingegen „ein Kränkungspotential, das in Frustration und Ressentiment umschlagen kann“. Freiheit ist für eine wachsende Zahl an Menschen „kein geteilter gesellschaftlicher Zustand, sondern ein persönlicher Besitzstand. Der libertär-autoritäre Protest richtet sich gegen die spätmoderne Gesellschaft, rebelliert aber im Namen ihrer zentralen Werte: Selbstbestimmung und Souveränität.“

Der taktische Twist: Das Opfer wird zum Täter

Anders gesagt: Freiheit als Forderung wirkte historisch auf mehr Gleichheit hin, jedenfalls im rechtlichen Sinne, weniger im sozialen oder ökonomischen. Heute hingegen zielt Freiheit als forciertes Diskursmittel auf mehr Ungleichheit ab, soll bestehende Machtverhältnisse bewahren. Die Rede von der Cancel Culture nimmt in diesem Kontext eine zentrale Funktion ein. Sie richtet sich direkt gegen gesellschaftliche Emanzipationsbewegungen, seien es andere Formen von Geschlechterrepräsentation oder andere Redeweisen über Rassismus. Was oft als Identitätspolitik beschrieben wurde, ist tatsächlich Interessenpolitik – in den USA ist etwa die affirmative action seit den Sechzigerjahren ein Mittel, um für mehr Diversität und letztlich gesellschaftliche Gerechtigkeit zu sorgen. Auch diese historische Errungenschaft wird gerade durch den Supreme Court angegriffen.

Wenn man also von der Spaltung der Gesellschaft spricht, die nicht zuletzt durch die Cancel Culture forciert würde, muss man genau sein: Es sind oft diejenigen, die von Cancel Culture reden, die bestehende Spaltungen bewahren wollen, weil sie ihren eigenen sozioökonomischen Interessen entsprechen. Der taktische Twist dabei: Die Rede von der Cancel Culture macht das Opfer zum Täter, den Schwachen zum Unterdrücker, präsentiert die mit der deutlich größten Politik-, Wirtschafts- und Diskursmacht als diejenigen, die nicht mehr sagen dürfen, was sie denken. In Deutschland etwa wird das gerade wieder deutlich am Beispiel der beiden Bestsellerautoren Richard David Precht und Harald Welzer.

Aber auch die BDS-Resolution des Bundestages wurde so verstanden – als staatlicher Übergriff auf Freiheit im kulturellen und akademischen Raum. Die nicht bindende Resolution wendet sich gegen die staatliche Finanzierung von Veranstaltungen, die in einem Zusammenhang mit der BDS-Bewegung gesehen werden, die zum Boykott israelischer Waren, Dienstleistungen, Künstler, Wissenschaftler und Sportler aufruft. Eine Allianz großer Kulturinstitutionen hatte das in der Initiative GG 5.3 Weltoffenheit als Einschränkung der Kunst- und Wissenschaftsfreiheit gesehen.

Hier wurde eine bestimmte politische Haltung in Bezug auf den israelisch-palästinensischen Konflikt sanktioniert. Und wenn man für Meinungsfreiheit eintritt, unabhängig von der politischen Position, muss man diesen Eingriff eigentlich ablehnen. Und weil das nicht geschieht, genauso wenig etwa wie bei anderen Beispielen – dem Prozess gegen Jan Böhmermann, der den türkischen Premierminister Erdoğan in einem Gedicht beleidigt hatte; dem Verfahren gegen den Whistleblower Julian Assange; der Kampagne gegen den Philosophen Achille Mbembe; der Ausladung der Band Feine Sahne Fischfilet bei einem Festival in Dessau –, weist das darauf hin, dass alle die, die sonst über Cancel Culture ellenlange Texte schreiben, offensichtlich ein strategisches Verständnis davon haben, was Meinungsfreiheit ist oder ob sie für alle gelten sollte.

In solchen Fällen zeigt sich die primär strategische Funktion von Cancel Culture als Generalverdacht: Es geht nicht um eine Verteidigung von Meinungsfreiheit, es geht darum, breite Veränderungsbewegungen durch symbolisch aufgeladene Einzelfälle zu bekämpfen, mit der Meinungsfreiheit als Mittel. Freiheitskämpfe können immer instrumentell sein. Interessant ist aber, wenn man dabei – wie auch Amlinger und Nachtwey es in ihrem Buch tun – auf die Kränkung als Motivation schaut, verbunden mit dem Narzissmus, der die massive Kränkung erst ermöglicht. Für viele Protagonisten dieser gegenaufklärerischen Rede von Cancel Culture gilt: Sie haben einen kränkenden Bruch in ihrer Karriere erlebt, sehen sich etwa durch Alter oder zunehmende Kritik als Opfer und radikalisieren sich dann angesichts dieser „gekränkten Freiheit“.

Diese Kränkung vollzieht sich durch wahrgenommene Einschränkungen der eigenen Freiheit, was in der Regel bedeutet: Man kann nicht mehr unumschränkt das sagen und tun, was man will, ohne sich dafür diskursiv auch rechtfertigen zu müssen oder Kritik einzustecken. Auf dem Level von Nationen lässt sich wiederum auch so etwas wie der Brexit als Reaktion auf eine wahrgenommene Kränkung bezeichnen: den Verlust kolonialer Größe. Die Rückkehr der Nation, der Wunsch nach Einheit, Übersichtlichkeit, dem Alten wirkt hier individuell wie strukturell.

Man kann es auch so sagen: Die lautstarke Rede von der Cancel Culture ist ein Instrument der Rechten, um einen Emanzipationsprozess zu stoppen, der ihre Hegemonie bedroht. Es ist der Versuch, sich gegen den Strom der Zeit zu stemmen und sich auf Deutungs- und damit Machtpositionen der Vergangenheit zurückzuziehen. Die Rede von der Cancel Culture offenbart sich damit als ein wesentliches Element autoritärer Politik. Die Grenze zum Faschismus, das zeigen die Beispiele am rechten Rand der US-Republikaner oder die Regierung Meloni in Italien, ist dabei fließend.
(https://www.zeit.de/kultur/2022-11/cancel-culture-meinungsfreiheit-politischer-diskurs-identitaetspolitik/komplettansicht)