Medienspiegel 13. November 2022

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+++LUZERN
NZZ am Sonntag 13.11.2022

«Doch nicht hier bei uns!»

Die gegenwärtige Flüchtlingswelle bringt die Solidarität an ihre Grenzen. Zum Beispiel in der reichen Luzerner Gemeinde Meggen, wo Anwohner ein Asylzentrum blockieren.

René Donzé

Das Tor öffnet sich lautlos. Ein roter Sportwagen nähert sich auf dem Strässchen, das zum Vierwaldstättersee führt, und biegt ab ins Anwesen, das sich hinter einer hohen Hecke versteckt. Das Tor schliesst sich wieder, zu hören sind nur noch die Maschinen der Gärtner. Unten am Jachthafen dümpeln Segelboote. Ein schwarzer Tesla steht beim Bootshaus.

Wer hier wohnt, ist privilegiert. Gottlieben, das ist ein Vorort der reichen Luzerner Gemeinde Meggen. Villen am See, Neubauten mit Eigentumswohnungen am Hang, dazwischen die Hauptstrasse, eine Kirche mit Friedhof, ein Parkplatz und eine Wiese.

Nun ist diese Idylle gestört. Genau hier will die Gemeinde eine Wohncontainer-Siedlung für hundert Flüchtlinge erstellen. «Wir haben ein Leben lang gechrampft, um uns eine Wohnung für vier Millionen Franken zu leisten, und nun das», sagt eine etwa 40-jährige Frau, die ihren Hund beim Parkplatz Gassi führt.

Sie zeigt auf die Container. Sie stehen just auf jener Wiese, wo sie zuvor mit dem Hund Frisbee spielen konnte. Und sie verstellen den Blick auf den See und die Berge.

Die Empathie schwindet

Schnell aber zeigt sich, dass die Anlage nicht nur optisch irritiert. Es geht auch darum, dass damit in einer der reichsten Ecken der Schweiz der Krieg und das Elend dieser Welt plötzlich sehr nahe rücken: in einen Container-Kubus für hundert Personen, auf einem Areal nicht viel grösser als die nahen Villengärten.

Vor einem dieser Grundstücke steht nun ein älterer Anwohner in Hausschuhen und Trainerhosen. Er will zuerst nichts sagen, redet dann aber doch. «Das kann man diesen Menschen doch nicht zumuten, in solchen kleinen Containern zu wohnen», sagt er. Und: Er habe ja nichts gegen Flüchtlinge. «Doch nicht hier bei uns.»

Die Anwohner haben sich zusammengetan. Sie haben 20 Einsprachen gegen das Bauvorhaben eingereicht und für die Öffentlichkeitsarbeit ein renommiertes Büro engagiert. Doch die Gemeinde entzog den Beschwerden die aufschiebende Wirkung. Zwei Personen haben den Fall weitergezogen vor Kantonsgericht, das Ende Oktober den Bau gestoppt hat.

Es gebe keine Not, befanden die Richter, darum brauche es für den Bau ein ordentliches Bewilligungsverfahren. Nun steht der Rest der Container auf den Parkplätzen. Der Ärger ist gross über die Gemeinde, die «eigenmächtig» entschieden habe, «während wir Hausbesitzer jede Kleinigkeit bewilligen lassen müssen», wie ein Passant sagt.

Was in Meggen derzeit geschieht, steht für eine grössere Entwicklung in der Schweiz. Noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg hat das Land so viele Flüchtlinge aufgenommen wie dieses Jahr. Die bisherigen Strukturen kommen an den Anschlag.

Während die Solidaritätswelle mit den Geflüchteten aus der Ukraine abebbt, steigt die Migration aus anderen Ländern wieder an. «Insbesondere auf der Balkanroute bewegen sich derzeit mehr Menschen Richtung Westeuropa als in den vergangenen Jahren», schreibt das Staatssekretariat für Migration.

Bis Ende Jahr rechnet es mit rund 100 000 Flüchtlingen – davon 80 000 aus der Ukraine. Darum hat der Bund damit begonnen, Asylsuchende schneller den Kantonen zuzuweisen. Diese wiederum nehmen die Gemeinden in die Pflicht.

Und das geht nicht ohne Widerstand. Der Anwohner in den Hausschuhen regt sich schon jetzt darüber auf, dass bald «die Ukrainerinnen mit ihren dicken Autos» trotz Fahrverbot bis zum See hinunterfahren. Und überhaupt: «Wer sagt denn, dass nur Ukrainerinnen mit ihren Kindern in diesen Containern wohnen werden?», fragt er. Und wer garantiere dafür, dass die Container wie von der Gemeinde versprochen nach drei Jahren wieder abgebrochen würden?

Der Mann liegt damit ganz auf Linie der lokalen SVP. Sie befürchtet, «dass mit dieser Containersiedlung Tür und Tor für zukünftige Wirtschaftsflüchtlinge aus neuen Migrationsströmen geöffnet wird», wie sie in ihrer Einsprache schreibt.

Meggen zählt 7500 Einwohner. Der Ausländeranteil beträgt 17 Prozent, viele sind Expats. Die Gemeinde hat mit Abstand die höchste Steuerkraft im Kanton. Im Gemeinderat sitzen drei Freisinnige, ein Grünliberaler und Vertreter der Mitte-Partei. Die SVP bildet mit 24 Prozent Wähleranteil eine starke Opposition.

Ihr Kantonsrat Thomas Schärli, der aus Meggen kommt, sorgte mit einer Aussage für landesweite Schlagzeilen zum Streit ums Containerdorf: «Meggen ist ein spezielles Volk. Man will nicht, dass Menschen aus ärmeren Verhältnissen hierherkommen», sagte er zu «20 Minuten».

Eine Aussage, die in Meggen viele erzürnt. Man will das Image der reichen, unsolidarischen Gemeinde loswerden. «Natürlich sind wir eine privilegierte Gemeinde», sagt Gemeindepräsident Urs Brücker. Gerade deshalb wolle man ja auch Platz bieten für hundert zusätzliche Geflüchtete. Man hätte es sich auch leisten können, dem Kanton eine Maluszahlung zu entrichten und sich damit quasi von der Aufnahmepflicht loszukaufen.

«Doch wir haben uns für die Solidarität entschieden.» Er sagt, dass 90 Prozent der Bevölkerung hinter dem Containerdorf stünden. Eine halbe Million Franken hat Meggen dafür bereits investiert. Betreiben sollte die Anlage der Kanton. Er wäre auch für die Schulung der Flüchtlingskinder und die Sicherheit zuständig.

Diese Woche hat der Kanton die Notlage im Asylbereich ausgerufen – was die Ausgangslage für die Anlage verändert. Die Gemeinde zieht den Entscheid des Kantonsgerichts ans Bundesgericht weiter. «Spätestens Ende Jahr werden wir die Plätze brauchen», sagt Brücker.

Engagiert für Flüchtlinge

Es ist nicht nur der Gemeinderat, der sich gegen das entstandene «Zerrbild» einer reichen und egoistischen Gemeinde stemmt. Im Dorf klingt es ähnlich. «Reichtum darf kein Hindernis sein für Solidarität», sagt Michael Neumann. Der Musiker hatte im Sommer ein Benefizkonzert organisiert, mit dem ein Feuerwehrauto für die ukrainische Stadt Charkiw finanziert wurde. Aufgetreten ist dort auch die Band von Gemeindepräsident Brücker.

Neumanns kleines Haus im Zentrum ziert eine Ukraine-Flagge und ein Plakat mit Bibelvers. Nun bereitet er einen weiteren Anlass für Flüchtlinge vor. Gespendet wird gern: sei es beim Benefizkonzert oder bei einer privaten Sammlung für die Reparatur zerbombter Fenster.

Aber mitten im Dorf will man die Flüchtlinge dann doch nicht haben. Ursprünglich war auch die Wiese neben dem Schulhaus eine Option für die Container. Der Gemeinderat entschied sich dagegen, weil das Gebiet auf drei Seiten bewohnt ist. «Die Schutzsuchenden wären dort ausgestellt», schreibt er im Dorfblatt.

Dagegen habe es in Gottlieben auf allen Seiten «Pufferzonen», das Umfeld sei ruhig: «Die kleine grüne Oase wirkt sich beruhigend auf die Schutzsuchenden aus.»

Im Aussenquartier kommt diese Begründung etwas zynisch an: Hier fehle die Infrastruktur für diese Menschen, der einzige Laden ist ein Tankstellenshop, das Dorfzentrum mehr als eineinhalb Kilometer entfernt. 2015, bei der letzten grossen Flüchtlingswelle, wurden die Asylsuchenden in der Zivilschutzanlage untergebracht.

Das damalige Argument war die Nähe zum Dorfleben, was dort für Opposition gesorgt hatte. In Gottlieben sind dagegen viel weniger Anwohner betroffen. «Unsere Steuern aber nehmen sie gern», sagt einer von ihnen.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/doch-nicht-hier-bei-uns-ld.1711980)


+++SCHWEIZ
Unterwegs im Flüchtlings-Treck: Geisterfahrt durch die Schweiz
In Buchs reisen derzeit jeden Tag Hunderte illegale Migranten ein. Per Zug, Taxi oder Tram geht es dann weiter – meist in andere Länder. SonntagsBlick fuhr mit.
https://www.blick.ch/schweiz/unterwegs-im-fluechtlings-treck-geisterfahrt-durch-die-schweiz-id18048173.html


#19: Fluchthilfe konkret: Private tun, was der Staat tun sollte
Ein Gespräch mit WOZ-Redaktor Kaspar Surber und mehr
https://hoerkombinat.podigee.io/s1e19-neue-episode


„Jeden Tag bin ich geflutet von den Gefühlen dieser Abschiebung und den Folterungen, die danach hier in Sri Lanka folgten.“
M. erzählt uns über seine Abschiebung von der Schweiz nach Sri Lanka, die er erleben musste. Und gibt einen Einblick über die alltägliche Gefährdung und die Gewalt, welcher er nun in Sri Lanka ausgesetzt ist. Sein humanitäres Visum ist noch hängig.
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/11/13/jeden-tag-bin-ich-geflutet-von-den-gefuehlen-dieser-abschiebung-und-den-folterungen-die-danach-hier-in-sri-lanka-folgten/


+++ÄRMELKANAL
Frontex verlängert Einsatz am Ärmelkanal
Seit dem 1. Dezember 2021 ist ein Frontex-Flugzeug an der nordfranzösischen Küste im Einsatz. Die EU-Grenzschutzagentur wird ihre Präsenz am Ärmelkanal nun verlängern. Wie InfoMigrants berichtet, erklärte die Exekutivdirektorin von Frontex, Aija Kalnaja, am 10. November vor dem französischen Senat, man unterstützte „die französischen Grenzschutzbehörden durch eine Luftüberwachung“ und werde „dies auch im kommenden Jahr fortsetzen“.
https://calais.bordermonitoring.eu/2022/11/12/frontex-verlaengert-einsatz-am-aermelkanal/


Mehr als 40’000 Migranten illegal über Ärmelkanal eingereist
Der konservativen Regierung in London sind die illegalen Einreisen über den Ärmelkanal ein Dorn im Auge. Allein am Samstag wurden 22 Boote aufgegriffen.
https://www.nau.ch/news/europa/mehr-als-40000-migranten-illegal-uber-armelkanal-eingereist-66337507


+++ITALIEN
Die immer isolierteren Aufnahmezentren von Sizilien
Seit der Gründung von Borderline Sicilia beschäftigt sich der Verein damit, das von der italienischen Regierung etablierte Aufnahmesystem für Asylsuchende zu beobachten. Im Laufe der Jahre konnten wir die Unzulänglichkeiten des Systems und der Behandlung von migrierenden Menschen aufdecken und anprangern.
https://www.borderlinesicilia.it/de/monitoraggio/die-immer-isolierteren-aufnahmezentren-von-sizilien/


+++MITTELMEER
Vier Mittelmeerstaaten fordern Schritte der EU gegen Seenotretter
Vier Mittelmeerstaaten haben in einem gemeinsamen Schreiben über den Umgang Europas mit der Migrationskrise geklagt. Dazu haben sie Massnahmen angedeutet.
https://www.nau.ch/politik/international/vier-mittelmeerstaaten-fordern-schritte-der-eu-gegen-seenotretter-66337393
 -> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/mittelmeerstaaten-fordern-schritte-der-eu-gegen-seenotretter,TN4GuZK


Private Seenotretter : Harte Migrationspolitik: Italien macht Ernst
Der Konflikt um drei private Rettungsschiffe zeigt: Die neue rechte Regierung verschärft ihre Politik gegenüber Seenotrettern. Und die EU-Migrationspolitik versagt – wieder mal.
https://www.zdf.de/nachrichten/politik/seenotrettung-schiffe-migranten-italien-100.html


Italiens Migrationspolitik – Marquardt (Grüne): „Das Problem lösen, nicht weiter verschieben“
Im Streit über die Aufnahme aus dem Mittelmeer geretteter Migranten fordert EU-Parlamentarier Erik Marquardt (Grüne), Migration als Realität anzuerkennen. Rechtspopulisten verschöben die Probleme, die durch legale Perspektiven gelöst werden müssten.
https://www.deutschlandfunk.de/fluechtlingspolitik-italiens-und-der-eu-interview-erik-marquardt-gruenen-mdep-dlf-4c6ca8de-100.html


+++GASSE
«Fixerplätzli» direkt an der Reuss – Bahnt sich in Luzern eine offene Drogenszene an?
Regelmässig kommen am Kasernenplatz in Luzern Menschen zusammen, konsumieren Drogen und dealen. Entwickelt sich da eine offene Drogenszene – wie es Luzern zuletzt in den 1990er-Jahren kannte? Wir haben nachgeforscht.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/bahnt-sich-in-luzern-eine-offene-drogenszene-an-2487551/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Klimagrosseltern gehen nicht nur ganz legale Wege: Wenn das Grosi plötzlich Klima-Transparente bastelt
Seit zwei Jahren sieht man auf Luzerns Strassen nicht nur Junge für den Klimaschutz demonstrieren, sondern auch einige Senioren. Die Klimagrosseltern Zentralschweiz kleben sich zwar nicht auf die Strasse. Vor (leicht) illegalen Aktionen scheuen sie jedoch nicht zurück. Und auf die Strasse kleben?
https://www.zentralplus.ch/umwelt/wenn-das-grosi-ploetzlich-klima-transparente-bastelt-2488067/


+++ANTITERRORSTAAT
Links- und Rechtsradikale im Fokus: Bund sieht neue Terrorgefahr bei Polit-Extremisten
Der Bundesrat stuft gewalttätige Politextremisten neu als terroristische Gefährder ein. Das hat auch politische Gründe.
https://www.blick.ch/schweiz/links-und-rechtsradikale-im-fokus-bund-sieht-neue-terrorgefahr-bei-polit-extremisten-id18048342.html


+++KNAST
https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/meinungen/im-zweifel-fuer-den-staatsanwalt-ld.1711970

NZZ am Sonntag 13.11.2022

Im Zweifel für den Staatsanwalt

Die neue Haftanordnung im Fall Brian wirft ein grelles Licht auf die Zwangsmassnahmengerichte und ihre absurd hohe Haft-Quote. Höchste Zeit, deren Arbeit zu erforschen.

Andrea Taormina

Wird jemand einer Straftat dringend verdächtigt, und ist zu vermuten, dass diese Person zu fliehen droht, auf Beweise einwirken oder ihre Straftat wiederholen könnte, kann die Staatsanwaltschaft diese Person verhaften lassen und alsdann beim Zwangsmassnahmengericht gegen sie Untersuchungshaft beantragen.

Wie vor einigen Wochen aus einer Zeitung zu erfahren war, haben die Zwangsmassnahmengerichte des Kantons Zürich 2021 insgesamt 1069 Mal über die Anordnung von Untersuchungshaft entschieden, will heissen durchschnittlich jeden Tag dreimal. In 1009 von diesen Fällen wurde Untersuchungshaft angeordnet, nur 47 Anträge wurden abgewiesen.

Im Kanton Zürich wurde also 2021 in nur 4 Prozent der Fälle keine Untersuchungshaft angeordnet. Oder anders gesagt: Von 100 Personen wurden nur 4 Personen nicht in Untersuchungshaft versetzt. In einem anderen Kanton lag der Anteil der abgewiesenen Anträge auf Untersuchungshaft bei einem Zwangsmassnahmengericht während zwei Jahren gar bei 0 Prozent.

Ein Strafrechtsprofessor bezeichnete die schweizerische Praxis der Untersuchungshaft unlängst als das «düsterste Kapitel unserer gegenwärtigen Justizpraxis», auf welches man in hundert Jahren mit ungläubigem Kopfschütteln zurückschauen werde.

Über die Gründe dieser grotesken Haft-Quoten besteht keine Einigkeit – soweit überhaupt darüber diskutiert wird. Vonseiten der Strafverfolger und der Zwangsmassnahmengerichte wird gesagt, die Staatsanwaltschaft stelle eben nur in begründeten Fällen einen Antrag auf Untersuchungshaft. Diese Erklärung kann jedoch nicht empirisch belegt werden.

Sie blendet des Weiteren aus, dass es trotz angeordneter Untersuchungshaft später zu Einstellungen des Strafverfahrens oder Freisprüchen kommt. Der gegen dieses Argument erhobene Einwand, dass die Beurteilung der Haftgründe des Zwangsmassnahmengerichts – zumal sie ganz am Anfang eines Verfahrens erfolge – eben nur eine vorläufige Beurteilung sei, die zu einem späteren Zeitpunkt vom Richter im Hauptverfahren revidiert werden könne, überzeugt nicht.

Er entlarvt die strukturelle Schwäche der Zwangsmassnahmengerichte bei der Haftprüfung: Eine vorläufige Beurteilung der Haftgründe bietet der beschuldigten Person keinen Schutz und ist fehleranfällig. Salopp formuliert heisst dies: Die Zwangsmassnahmengerichte schauen nicht so genau hin, also passieren Fehler.

Diese Erkenntnis sollte in rechtsstaatlicher Hinsicht zu denken geben. Man kann sich durchaus die Frage stellen, wofür Zwangsmassnahmengerichte in dieser Form für eine Haftprüfung denn überhaupt gut sind.

Die tatsächlichen Gründe der hohen Haft-Quote müssen andernorts liegen. Versucht man sie zu eruieren, steht man vor dem Problem, dass in den Kantonen und auf Bundesebene wenig aussagekräftige Statistiken geführt werden und in der juristischen Lehre (mit wenigen Ausnahmen) keine umfassenden empirischen Untersuchungen zu Haft-Quoten bestehen.

Gestützt auf die immerhin vorhandenen Daten drängen sich unweigerlich Fragen auf. Zum einen stellt sich die Frage, ob bei einer Haft-Quote von über 96 Prozent die Zwangsmassnahmengerichte tatsächlich immer eine seriöse Prüfung der Haftgründe vornehmen.

Zum anderen stellt sich die Frage nach der Unabhängigkeit der Zwangsmassnahmengerichte. Sind diese aufgrund der Sozialisierung und des Selbstverständnisses ihres Personals und ihrer institutionellen und örtlichen Einbettung überhaupt geeignet, das rechtsstaatlich eigentlich erwünschte Korrektiv zur Staatsanwaltschaft zu bilden?

Die Folgen der hohen Haft-Quote sind für die beschuldigte Person, das Strafverfahren und die Gesellschaft weitreichend – aber ebenfalls noch weitgehend unerforscht. Für die beschuldigte Person bedeutet die Untersuchungshaft einen schwerwiegenden Eingriff des Staates, der lebensverändernde Folgen nach sich ziehen kann: Verlust des Arbeitsplatzes, Haftschock, sozialer Abstieg oder irreparabler Reputationsschaden.

Ebenfalls gravierend sind die Folgen der Untersuchungshaft auf den weiteren Gang des Strafverfahrens. Sie kann den Ausgang des Strafverfahrens in unzulässiger Weise präjudizieren. Grundlegende Rechte der beschuldigten Person wie das Aussageverweigerungsrecht oder das Siegelungsrecht können durch die Untersuchungshaft de facto ausgehebelt werden.

Alsdann besteht Anlass zur Vermutung, dass die Anordnung und Dauer der Untersuchungshaft einen Einfluss auf die spätere Verurteilung hat: Je länger die Dauer der Untersuchungshaft, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung.

Schliesslich ist auch in Erinnerung zu rufen, dass die hohe Haft-Quotein gesellschaftlicher Hinsicht unerwünscht ist, zumal sie zu unnötigen Kosten in erheblicher Höhe führt, die letztlich auf die Gesellschaft überwälzt werden.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/meinungen/im-zweifel-fuer-den-staatsanwalt-ld.1711970)


+++FRAUEN/QUEER
Literatur-Sensation Kim de l’Horizon treibt die Schweiz um: «Wir werden als Sündenböcke missbraucht»
Eine nonbinäre Person aus der Schweiz sorgt für die Literatursensation dieses Jahres: Kim de l’Horizon (30) spricht über den Debütroman «Blutbuch», Bundesrat Ueli Maurer und den bevorstehenden Schweizer Buchpreis.
https://www.blick.ch/people-tv/schweiz/literatur-sensation-kim-de-lhorizon-treibt-die-schweiz-um-wir-werden-als-suendenboecke-missbraucht-id18044027.html


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Knall bei Coronagegnern: Freunde der Verfassung stehen vor dem Aus
Einst gefürchtet stehen die Freunde der Verfassung vor einem Scherbenhaufen. Nach zahlreichen Rücktritten aus dem Vorstand soll der Verein aufgelöst werden.
https://www.solothurnerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/pandemie-knall-bei-coronagegnern-freunde-der-verfassung-stehen-vor-dem-aus-ld.2372297


Verschwörungstheorien – Experte erklärt: Deshalb hält sich die Chemtrail-Theorie hartnäckig
Beim Betrachten des Himmels werden sie häufig zum Gesprächsthema: Die langen, schleierhaften Wolkenstriche am Himmelsgrund, die hinter Flugzeugen herziehen. Manche sehen ein geheimes Programm zur Manipulation dahinter. Doch was steckt wahrhaftig in den Wolken?
https://www.baerntoday.ch/schweiz/experte-erklaert-deshalb-haelt-sich-die-chemtrail-theorie-hartnaeckig-148738023


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Warum „Meinungsfreiheit“ zum Kampfbegriff wurde
Die Debatten um „Cancel Culture“ werden oft verzerrt dargestellt. Es scheint, dass die Welt schlechter und die Gesellschaft gespalten ist. Der Generator-Podcast zeigt, warum hinter diesen Diskussionen jedoch finanzielles Interesse und PR steckt.
https://www.br.de/mediathek/podcast/zuendfunk-generator/warum-meinungsfreiheit-zum-kampfbegriff-wurde/1844822


+++HISTORY
50’000 Saisonnier-Kinder lebten laut Studie versteckt in Schweiz
Die Zahl der versteckten Kinder von Gastarbeitern in der Schweiz ist laut einer Studie höher als bisher angenommen. 50’000 Saisonnier-Kinder lebten dieser Untersuchung zufolge von 1949 bis 1975 im Geheimen hierzulande.
https://www.swissinfo.ch/ger/50-000-saisonnier-kinder-lebten-laut-studie-versteckt-in-schweiz/48053918



magazin.nzz.ch 12.11.2022

Wie die Schweiz Familien trennte

Eine halbe Million Kinder von Gastarbeitern durfte nicht bei den Eltern leben, 50 000 Kinder mussten sich in der Schweiz vor den Behörden verstecken. Das zeigt eine neue Untersuchung.

Alan Cassidy

Sie arbeiteten auf Baustellen, an Fliessbändern und auf den Feldern. Sie halfen mit, die boomende Schweizer Wirtschaft der Nachkriegszeit aufzubauen. Sie brachten ihre Kultur mit, ihr Essen, ihre Leichtigkeit fürs Leben. Und sie gelten als Beispiel für gelungene Integration.

Das ist die Geschichte, die sich die Schweiz heute über die ehemaligen Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter aus Südeuropa erzählt. Es ist eine schöne Geschichte. Aber es ist eine, die eine bittere Realität ausblendet: jene der italienischen, spanischen, portugiesischen, jugoslawischen und türkischen Eltern, die ihre Kinder vor den Behörden verstecken, in ein Heim versorgen oder in ihr Herkunftsland abschieben mussten – weil ihnen die Schweiz keine andere Wahl liess.

Was schuldet das Land diesen Menschen? Den Müttern, Vätern und Kindern?

Von 1934 bis 2002 galt in der Schweiz das Saisonnierstatut. Es verbot Gastarbeitern mit einer befristeten Arbeitsbewilligung, ihre Kinder und Ehefrauen mitzunehmen. Selbst jene Arbeitsmigranten, die über eine Jahresbewilligung verfügten, konnten ihre Familien nur unter bestimmten Bedingungen nachziehen. Faktisch verfolgte die Schweiz damit gegenüber Menschen aus der europäischen Nachbarschaft eine Politik der Familientrennung, die auch im internationalen Vergleich sehr weit ging.

Bis heute ist nicht klar, wie viele Kinder ohne ihre Eltern im Heimatland aufwachsen oder in der Schweiz illegal als sogenannte «Schrankkinder» leben mussten, um nicht aufzufallen. Offizielle Zahlen gibt es keine, nicht zuletzt deshalb, weil die fremdenpolizeilichen Akten in vielen Kantonen vernichtet wurden oder unauffindbar sind. Historiker und Beratungsstellen gingen bisher von 10 000 bis 15 000 versteckten Kindern aus. Nun zeigt eine neue wissenschaftliche Hochrechnung: Es waren viel mehr.

Toni Ricciardi ist Migrationshistoriker an der Universität Genf. Er hat im Rahmen eines Projekts des Nationalen Forschungsprogramms «Fürsorge und Zwang» die Fälle von italienischen Gastarbeitern untersucht, die bis zu 90 Prozent der Saisonniers ausmachten. Dabei kommt er zum Schluss, dass zwischen 1949 und 1975 fast 50 000 Kinder versteckt in der Schweiz leben mussten. «Die Kinder durften typischerweise zwischen drei bis sechs Monate als Besucher bleiben», sagt Ricciardi. «Danach mussten die Eltern sie ausser Landes schaffen. Oft brachten sie die Kinder dann heimlich wieder zurück über die Grenze.»

Ein Leben im Untergrund

Es waren Medienberichte in den 1970er Jahren, die erstmals auf das Schicksal dieser Kinder aufmerksam machten, wobei sich diese meist auf die Westschweiz beschränkten. 1992 sammelten die Psychologin Marina Frigerio und die Journalistin Simone Burgherr dann in einem Buch Erfahrungsberichte von betroffenen Kindern – und zeichneten Biografien nach, die von der permanenten Furcht geprägt waren, entdeckt und von den Eltern separiert zu werden.

Schon damals war klar, dass es sich dabei nicht bloss um Einzelfälle handelte. Trotzdem hielt das Eidgenössische Justizdepartement (EJPD) im gleichen Jahr fest, dass man «das Ausmass nicht überschätzen» dürfe: Es gehe «niemals um Tausende».

Das ist nach allem, was sich heute sagen lässt, falsch.

Toni Ricciardi begann seine Schätzung mit der Frage, wie viele Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter während des langen Wirtschaftsbooms überhaupt ins Land kamen. Das war schon deshalb schwierig, weil es bis Ende der 1960er Jahre keine einheitlichen Erhebungen gab. Zudem schwankte die Zahl der Saisonniers von Jahr zu Jahr stark.

Gestützt auf Statistiken von Kantonen und Bund ermittelte Ricciardi, dass zwischen 1949 und 1975 zwei Millionen Saisonniers in die Schweiz kamen. Indem er diese Zahlen mit den Geburtenraten jener Zeit verglich und mit anderen Quellen verknüpfte, ermittelte er die Zahl der knapp 50 000 versteckten Kinder. «Diese waren aber nur eine Dimension des Problems», sagt er. Noch viel mehr Kinder mussten bei Verwandten im Herkunftsland leben, meist bei den Grosseltern. Andere wurden in Heimen jenseits der Grenze oder in der Schweiz untergebracht. «Insgesamt muss man von einer halben Million betroffenen Kindern ausgehen», sagt Ricciardi.

Die Töchter und Söhne von Gastarbeitern erlebten, was Ricciardi eine infanzia negata nennt – eine verneinte Kindheit, geprägt von einem Leben im Untergrund, oftmals ohne Zugang zu Bildung.

In der Schweizer Öffentlichkeit war die Situation der Gastarbeiterfamilien lange Zeit kein Thema. «Dabei wussten die Bundesbehörden durchaus Bescheid über die Notlage der Kinder», sagt der Berner Historiker Benyamin Khan, der über den Umgang der Behörden mit versteckten Kindern geforscht hat. Bereits 1971 schrieb der freisinnige Nationalrat (und spätere Bundesrat) Georges-André Chevallaz einen Brief an Bundesrat Ernst Brugger, in dem er diesen auf einen Medienbericht aufmerksam machte: Es handle sich bei den versteckten Kindern um «ein schwerwiegendes Problem, vor dem wir nicht die Augen verschliessen dürfen».

Brugger erkannte dieses Problem – und riet Chevallaz trotzdem davon ab, einen parlamentarischen Vorstoss einzureichen. Er übernahm dabei die Haltung der Eidgenössischen Fremdenpolizei. Diese schob die Verantwortung für das Leid der Kinder alleine den Eltern zu. Diese handelten sicherlich aufgrund eines «legitimen Strebens nach Familienleben», wenn sie ihre Kinder bei sich behalten wollten. Doch letztlich entschieden sie sich damit «freiwillig» für die Illegalität.

Chevallaz verzichtete auf einen Vorstoss. Eine öffentliche Debatte: Das wollte fast niemand, auch angesichts der fremdenfeindlichen Stimmung im Land, die kurz zuvor in der Schwarzenbach-Initiative gegipfelt war.

Ruf nach Entschädigung

Das ändert sich nun, zumindest in Ansätzen. Es laufen verschiedene Forschungsarbeiten zum Thema, es gibt eine vermehrte Auseinandersetzung in der Kunst und der Literatur – und selbst politische Forderungen sind inzwischen zu hören.

Vergangenes Jahr schlossen sich Betroffene im Verein Tesoro zusammen. Dieser fordert eine historische Aufarbeitung, eine Entschuldigung der Schweizer Behörden – und eine finanzielle Entschädigung. «Die Schweizer Migrationspolitik war ein Attentat auf die Familien», sagt die Historikerin Paola De Martin, die den Verein seit der Gründung präsidiert. «Darunter litten die Kinder, die in Isolation, Angst und Unsicherheit leben mussten. Darunter litten aber auch die Eltern, und sie tun es zum Teil bis heute.» Die neuen Schätzungen würden das Ausmass der «strukturellen Gewalt» unterstreichen, von der die Familien betroffen waren.

Migrationshistoriker Ricciardi zieht Parallelen zu den Verdingkindern, die im 20. Jahrhundert auf Bauernhöfen als Arbeitskräfte ausgebeutet wurden und massive Gewalt erlebten. Auch bei diesem Thema habe es lange gedauert, bis eine breite Debatte in Gang kam. 2013 entschuldigte sich die damalige Justizministerin Simonetta Sommaruga im Namen des Bundesrats für das Leid, das durch die fürsorgerischen Zwangsmassnahmen ausgelöst wurde. «Das war wichtig», sagt Ricciardi. «Hingegen hat die offizielle Schweiz nie anerkannt, dass auch das Saisonnierstatut vielen Familien im Land grosses Leid zugefügt hat.»

Was die Kinder der Gastarbeiter angeht, wollte Sommaruga allerdings nicht aus eigenem Antrieb aktiv werden – so wie ihre Nachfolgerin Karin Keller-Sutter auch heute nicht. «Das EJPD hat diese Frage bereits 2018 geprüft», schreibt ihr Departement auf Anfrage. «Es kam zum Schluss, dass ein Auftrag zur politischen Aufarbeitung vom Parlament kommen müsste.» Doch auch dort tat sich bisher nichts.

Was schuldet die Schweiz den Gastarbeitern? Den Müttern, Vätern und Kindern? Noch steht die Debatte erst am Anfang.



Die Schweiz und die Zuwanderung

1934
Die Schweiz führt das Saisonnierstatut ein. Es erlaubt Firmen, ausländische Arbeitskräfte für eine Saison anzustellen. Danach müssen sie wieder ausreisen.

1948
Die grosse Zuwanderung der Nachkriegszeit beginnt mit einem Abkommen mit Italien über die Rekrutierung von Arbeitern .Ziel des Bundesrats: Die Migranten sollen unbedingt wieder in ihre Heimat zurückkehren.

1964
Auf Druck Italiens räumt die Schweiz den Migranten in einem zweiten Abkommen arbeits- und sozialrechtliche Verbesserungen ein. Doch die Bedingungen bleiben hart: Saisonniers leben oft in überfüllten Barackenlagern.

1970
Die seit Jahren verbreitete Angst vor einer «Überfremdung» gipfelt in der Volksabstimmung über die Schwarzenbach-Initiative. Sie wird 1970 nach einer ausländerfeindlichen Kampagne abgelehnt.

2002
Die bilateralen Verträge mit der EU treten in Kraft. Mit der Einführung der Personenfreizügigkeit wird das Saisonnierstatut aufgehoben und das Recht auf Familiennachzug garantiert.
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/wie-die-schweiz-familien-von-gastarbeitern-trennte-ld.1711979)


+++SPORT
Sonntagszeitung 13.11.2022

Gewalt durch Hooligans: Das sind die gefährlichsten Fans der Schweiz

Hunderte Fussballchaoten dürfen nach abgelaufenen Sperren wieder ins Stadion. Polizeiberichte, Videos und die Analyse von über 4000 Ereignissen zeigen, wie sie wüten – vor allem in Zürich.

Roland Gamp, Svenson Cornehls

4:0 haben die Grasshoppers ihr Cupspiel gerade gewonnen. Die Stimmung der Fans auf der Heimreise ist gut. Bis der Zug, in dem an jenem Samstagabend vor drei Monaten auch völlig unbeteiligte Passagiere sitzen, am Bahnhof im zürcherischen Urdorf hält.

Eine Gruppe von mindestens 20 Vermummten steht auf dem Perron. Einer hat sich mit einer Stange bewaffnet, andere ballen die Fäuste. Prügelnd verschaffen sie sich Zugang zur S-Bahn, wie ein Video zeigt. Dann ziehen sie die Notbremse, versprühen laut Augenzeugen Reizgas und attackieren jene, die als GC-Fans erkennbar sind. Fünf Verletzte bleiben zurück. Die Vermummten waren laut Zürcher Stadtpolizei «Anhänger des FC Zürich».

Ihr Angriff soll ein Racheakt gewesen sein. So ist es von mehreren Quellen aus der Szene zu hören. Anhänger der Grasshoppers hätten ihrerseits schon vor dem Spiel auf dem Hinweg eine Person attackiert – weil diese ein FCZ-Meistertrikot trug.

Wer den Streit angefangen hat, ist nur schwer zu eruieren. Sicher ist, dass ein falsches T-Shirt heute bereits reichen kann, um Gewalt auszulösen. Der Zwischenfall vor drei Monaten ist nur einer von diversen brutalen Konflikten im laufenden Jahr durch Schweizr Fussballfans. «Früher hat man sich 30 gegen 30 getroffen und geboxt», sagt ein Insider, der sich nur anonym zitieren lässt. «Heute sind Eisenstangen und Messer im Spiel.» Wie verschiedene Videos zeigen, wird selbst auf Personen eingetreten, die wehrlos am Boden liegen. Auch das war früher tabu in der Szene.

Fangewalt in der Schweiz
Sämtliche Szenen stammen aus dem Jahr 2022.
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv446855h.mp4

Eine mögliche Erklärung für die Eskalation: Nach Corona sind nicht nur die friedlichen Fans zurück im Schweizer Fussball. In der Hooligan-Datenbank des Bundes sind viel weniger Personen registriert als noch im Sommer 2019. Die Zahl der aktiven Stadion- oder Rayonverbote gegen Fans sank in drei Jahren von 944 auf 450. Denn während der Pandemie, als die Stadien leer blieben, gab es kaum Krawalle und somit keine neuen Sanktionen. Gleichzeitig liefen aber etliche Massnahmen gegen Hooligans aus. «Es ist nicht auszuschliessen, dass sich diese Personen nun an Gewalt rund um Sportveranstaltungen beteiligen», heisst es auf Anfrage beim Bundesamt für Polizei (Fedpol).

Tatsächlich wüten die Fans wie seit langem nicht mehr. Ihre Gewalt trifft neben verfeindeten Anhängern auch Polizisten, Mitarbeitende im ÖV – oder völlig Unbeteiligte.

4272 Ereignisse in vier Saisons

Wie regelmässig es zu Problemen kommt, verdeutlicht eine detaillierte Auswertung der «SonntagsZeitung» von Daten der Polizeilichen Koordinationsplattform Sport (PKPS). Diese erstellt jedes Jahr eine Liste der gewalttätigen Ereignisse im Schweizer Profifussball. 4272 Einträge erfolgten in den letzten vier Saisons. Allein von Januar bis Juni 2022 waren es 902 Ereignisse. So viele wie noch nie in einem Halbjahr.

Vor allem aber zeigen die Daten: Zürich hat eindeutig ein Problem mit Fussballchaoten. Der FCZ führt die unrühmliche Tabelle mit 534 Ereignissen an, auf dem zweiten Platz steht Rivale GC (456). Dahinter folgen der FC Luzern (399), der FC St. Gallen (392), die Berner Young Boys (367) und der FC Basel (358).

Die Zuschauerzahlen sind dabei in den Daten nicht berücksichtigt, auch die Anzahl Spiele ist nicht eingerechnet. So spielten etwa der FC Zürich oder der FC Basel im laufenden Jahr deutlich mehr Partien als andere Mannschaften. Schliesslich existieren auch deutliche Unterschiede bezüglich Schwere der Zwischenfälle. So gilt eine «Schlägerei» als gewalttätiges Ereignis, aber auch eine «verhinderte Konfrontation». Der FC Luzern landet zum Beispiel auf dem dritten Platz des Rankings, weil seine Anhänger regelmässig Fanmärsche durchführen, die selbst dann in die Statistik einfliessen, wenn sie friedlich ablaufen.

Schweizweit ging es in den vier erfassten Spielzeiten meist um das Zünden von Pyros (1030). Die meisten Spiele verlaufen ohne gravierende Gewalt. Auf der anderen Seite kommt es aber auch immer wieder zu schwerwiegenden Delikten wie etwa Böllerwürfen (345), Gewalt gegen die Polizei (116) oder Körperverletzungen (75).

Wie die Fans dabei konkret vorgehen, belegen Polizeiberichte der letzten Jahre. Die «SonntagsZeitung» konnte diese beim Fedpol, gestützt auf das Öffentlichkeitsgesetz, einsehen. Zu lesen ist von GC-Fans, die am Bahnhof Sion Flaschen auf Passanten werfen und eine junge Frau am Kopf treffen. Während der Partie der damals abstiegsgefährdeten Grasshoppers sei der Einsatz von Pyros dann derart massiv gewesen, dass «die Sicherheit der Spieler nicht gewährleistet» war.

Die Rapporte zeigen, wie Fangruppen die Eingänge stürmen und unkontrolliert ins Stadion gelangen. Sie provozieren bei einem Eingang gezielt die Sicherheitskräfte, um an einem anderen verbotenes Material einzuschleusen. Pyros werden über Leitern ins Stadion geschmuggelt. «Während und nach dem Spiel brannten in der Gästekurve mehr oder weniger ununterbrochen pyrotechnische Gegenstände und Feuerwerkskörper, insgesamt einige Hundert», heisst es nach einem Match zum Verhalten von Fans der Berner Young Boys, die so ihren Meistertitel feierten.

Bei einer anderen Partie wird vermerkt: «Es wurden mehrere pyrotechnische Gegenstände in den GC-Sektor geworfen.»

Immer wieder werden Beamte attackiert, mit Flaschen, Steinen und brennenden Pyros. Die Einsatzkräfte ihrerseits greifen zu Gummischrot oder Tränengas. «Bei der Intervention wurde ein Polizist der Stapo ZH durch einen Brandsatz am Oberschenkel verletzt», heisst es nach einem Spiel des FC St. Gallen. Auch Mitarbeitende der öffentlichen Verkehrsbetriebe werden «bedroht» oder «bedrängt».

Es kommt zu schweren verbalen Attacken: «In der 80. Spielminute wird in der Schaffhauser Fankurve das Spruchband ‹Winti Fraue figge und verhaue› hochgehalten.» Und es ereignen sich gefährliche Auseinandersetzungen zwischen den Fans. Bei einer Partie in St. Gallen «überstiegen einige vermummte FCZ-Fans den Sektortrenner», so ein Rapport. «Angeblich waren diese mit Messer bewaffnet.» Fünf Personen werden verletzt.

Schon mehrmals prügelten sich im laufenden Jahr auch Anhänger von GC und vom FCZ am Zürcher Hauptbahnhof. So gingen laut einem Report im Februar je 40 Anhänger aufeinander los. Seither gleicht der grösste Schweizer Bahnhof, täglich von Hunderttausenden Passagieren frequentiert, nach jedem Derby einem Hochsicherheitsgebiet mit bewaffneten Beamten in Vollmontur.

Das Beispiel zeigt, wie sich die Gewalt aus den Sportstätten in den öffentlichen Raum verschoben hat. Von den 4272 Ereignissen in der Datenbank fanden nur 1316 während dem Spiel selber statt. Der Rest der Vorfälle ereignete sich davor, danach oder während der Reise der Fans.

«Innerhalb der Stadien, also im Wirkungsbereich der Klubs und der Liga, haben die gemeinsam getroffenen Massnahmen Wirkung gezeigt und die Lage ist gut», sagt Philippe Guggisberg, Kommunikationsverantwortlicher der Swiss Football League. «Schwieriger ist die Situation in einzelnen Fällen auf den Anreisewegen, wo es um die öffentliche Sicherheit geht.» Man setze sich zum Beispiel mit finanzieller Unterstützung der Fanarbeit oder auch Absprachen mit den Behörden dafür ein, die Situation weiter zu verbessern.

«Die Liga und die Klubs akzeptieren, dass sie bezüglich der Sicherheit an Fussballspielen für den Stadionbereich einen wesentlichen Teil der Verantwortung tragen und optimieren laufend ihre Massnahmen», sagt Guggisberg. Zentral sei, dass Straftäter identifiziert und zur Rechenschaft gezogen werden. «Liga und Klubs unternehmen alles in ihrer Macht Stehende, damit Verstösse nicht ungestraft bleiben.»

Familienvater blieb reglos liegen

Krawalle im Stadion, aber vor allem jene im öffentlichen Raum, haben ihren Preis. Allein bei der Stadtpolizei Zürich beliefen sich die Kosten für Fussballspiele in den letzten vier Jahren auf insgesamt 6,9 Millionen Franken, wie es auf Anfrage heisst. Wobei die Öffentlichkeit jeweils die ersten 200 Einsatzstunden berappen muss. Erst danach werden die Kosten zur Hälfte den Clubs auferlegt – aber auch nur bis zu einem Kostendach von je 500’000 Franken pro Jahr.

Neben den Einsatzkosten fallen Sachschäden in unbekannter Höhe an, der öffentliche Verkehr ist bei Hochrisikospielen regelmässig lahmgelegt. Und wenn man die Polizeimeldungen der Zürcher Polizeikorps nach GC oder dem FCZ durchforstet, so findet man seit 2018 zwei Dutzend Verletzte. Zum Beispiel einen Familienvater, der schwere Kopfverletzungen erlitt. Er stand mit seinen beiden Kleinkindern nach einem Spiel an einer ÖV-Haltestelle, als er einen derart starken Faustschlag kassierte, «dass er reglos neben dem Bus liegen blieb». Der Angreifer, laut Communiqué als FCZ-Fan erkennbar, «flüchtete mit mehreren ähnlich gekleideten jungen Männern».

Der FC Zürich liess sich nach dem Vorfall wie folgt zitieren: «Wir sind entsetzt und verurteilen jegliche Form von Gewalt aufs Schärfste.» Dem Verletzten wünsche man «gute und rasche Genesung».

Zuverlässig verurteilten die Clubs in der Vergangenheit nach jedem Skandalspiel immer wieder jegliche Form von Gewalt. Und heute?

Die «SonntagsZeitung» hat beide Zürcher Clubs konfrontiert. Unabhängig davon, wer nun zuoberst auf der Liste stehe, sei es von entscheidender Bedeutung, «dass wir einen Weg finden, solch gewalttätige Vorfälle zu minimieren», antwortet GC-Präsident Sky Sun. Die Geschäftsleitung sei oft im Austausch mit Fanverantwortlichen. Sun schreibt auch: «Wir sind uns bewusst, dass wir noch mehr tun können, und sind jederzeit bereit, Ideen und mögliche Lösungen mit anderen Vereinen, den Behörden und den Fans in Betracht zu ziehen.»

Der FC Zürich beantwortet einen ausführlichen Fragenkatalog nicht. In einer kurzen E-Mail kritisiert Vereinspräsident Ancillo Canepa aber, der Begriff «Gewalt» werde in den Statistiken «manipulativ verwendet». Auf Nachfrage gibt er an: «Jeder Pyro wird als ‹Gewaltaktion› gezählt, was schlicht absurd ist.»

Und die Krawallmacher selbst? Militante Fussballfans äussern sich in der Regel nicht gegenüber Journalisten. Die Gruppierungen «Sektor IV» (GC) oder die «Südkurve» (FCZ) liessen Fragen des Tamedia Recherchedesks unbeantwortet. Auch die Frage, ob man Gewalt auf Beamte oder gegnerische Fans verurteilt, bleibt offen. Zuletzt beklagte sich aber etwa die Südkurve in einem Statement über zu repressive Polizeikräfte.

Dutzende «Likes» für ein Video

Die Kurven von GC und dem FCZ seien in den letzten Jahren jünger geworden, sagt der Insider, der anonym bleiben möchte. Die Prioritäten der Alteingesessenen haben sich offenbar geändert, viele haben Familien. Jugendliche, die sich am Wochenende praktisch ohne Konsequenzen prügeln können, sind nun die Treiber. Kriterien bei der Rekrutierung seien nicht mehr nur, ob man mitsingt oder die Mannschaften feiert. «Im Vergleich zu früher ist die Bereitschaft zu kämpfen viel wichtiger geworden.»

Ein Ansporn können soziale Medien sein. Galt früher noch die Losung, keine Aufnahmen zu machen von den Auseinandersetzungen, so landen heute immer wieder Videos und Bilder im Netz und erhalten Dutzende Likes und Kommentare.

Verschiedene Anlaufstellen für Jugendliche bestätigen, dass die Kurven jünger werden. «Bereits Schulkinder werden von Fangruppierungen rekrutiert oder bedroht», heisst es bei der Jugendarbeit der Stadt Dübendorf, die als GC-Hochburg gilt. Es komme vor, dass Kinder «gewisse Aufgaben erledigen müssen, um im Rang aufzusteigen». Das kann von Graffiti oder Klebern bis zu tatsächlichen Übergriffen reichen. Mittlerweile sah sich die Stadt zu Massnahmen gezwungen. Ab der zweiten Sekundarstufe gibt es Präventionsvormittage zu den Themen Zivilcourage, Vandalismus und Gewalt sowie zu den strafrechtlichen Folgen.

Die Offene Jugendarbeit der Stadt Zürich stellte schon zwischen 2017 und 2019 eine Zunahme der Gewalt fest. Im Gegensatz zur Agglomeration sind die Anhänger von GC hier massiv in der Unterzahl. Man habe in den Jugendtreffs eigentlich nur noch Teenager, die sich als FCZ-Anhänger «outen», sagt Geschäftsführer Giacomo Dallo. Supporter der Grasshoppers würden sich nicht zu erkennen geben.

Von vielen ist auch zu hören, dass sie lieber ohne Fanutensilien an die Spiele gehen. «Dies entspricht leider der Realität, es ist traurig und inakzeptabel, dass es so weit gekommen ist», schreibt GC-Präsident Sun. Um das zu ändern, brauche es die Zusammenarbeit aller Vereine, Fans und Behörden «sowie strengere Massnahmen im Zusammenhang mit der Ermittlung und Bestrafung der Täter». Denn noch ist die Angst, das falsche Trikot zu tragen, zu gross.

Mitarbeit: Marcel Rohner



Über die Daten

Seit 2018 rapportieren Polizeikorps, Sportverbände sowie die SBB alle gewalttätigen Ereignisse, die sie rund um Schweizer Sportveranstaltungen feststellen. Berücksichtigt werden im Fussball die Partien der obersten beiden Ligen, des Cups sowie internationale Spiele. Die Polizeiliche Koordinationsplattform Sport (PKPS) sammelt diese Daten und erstellt nach jeder Saison eine Ereignisliste. Die SonntagsZeitung hat nun die Daten der vergangenen vier Spielzeiten analysiert. Insgesamt kam es dabei zu 4272 Ereignissen. Die Zuschauerzahlen oder die Anzahl Spiele pro Mannschaft sind nicht berücksichtigt. Zudem variiert die Schwere der einzelnen Ereignisse stark.



Fünf Jahre Zürcher Fangewalt

Die folgende Chronologie enthält ausgewählte Ereignisse im Kanton Zürich ab dem Jahr 2018. Sie basiert auf Meldungen der Zürcher Stadt- oder Kantonspolizei, die in Zusammenhang mit mutmasslichen Anhängern des FCZ oder von GC stehen.

24. Februar 2018

Am Vorabend der Partie zwischen den Grasshoppers und dem FC Zürich marschieren rund 100 Personen, laut Polizei grösstenteils Fussballfans, durch die Stadt. «Während des Umzugs wurden im Niederdorf zwei zivile Fahnder der Stadtpolizei anfänglich mit Flaschen und Steinen beworfen, dann in eine Ecke gedrängt und mit Faustschlägen traktiert.» Ein Beamter rettet sich mit einem Sprung aus vier Metern Höhe. Der andere «zog aufgrund dieser Notwehrsituation seine Dienstwaffe, konnte die Angreifer so zurückdrängen und sich in Sicherheit bringen». Auch nach dem Spiel kommt es wieder zu Ausschreitungen. Unter anderem wird ein Mann in FCZ-Kleidung von mehreren Personen attackiert.

28. Februar 2018

Vor dem Cup-Halbfinal zwischen FCZ und GC kommt es beim Prime Tower zu einer wüsten Schlägerei. Dabei werden «GC-Anhänger von Unbekannten angegriffen und massiv mit Fäusten und Füssen gegen den Kopf geschlagen und getreten». Die Staatsanwaltschaft publiziert verstörende Bilder, um die Täter zu finden. Zu sehen ist, wie einzelne Opfer auch noch mit Tritten eingedeckt werden, als sie bereits wehrlos am Boden liegen. Mindestens zwei Personen werden verletzt, aber von Vermummten weggebracht, bevor die Polizei vor Ort ist.

7. April 2018

Zu Beginn des Zürcher Derby brennen in der Kurve des FCZ rund 100 Fackeln. Zwei Zehnjährige halten sich zu dieser Zeit dort auf. «Aus noch ungeklärten Gründen wurden die Buben von Fackeln getroffen und erlitten Verbrennungen an den Händen. In der Folge wurden sie durch die Begleitperson sofort zur Behandlung ins Spital gebracht.»

10. Mai 2018

Polizisten wollen zwei Sprayer kontrollieren. Es kommt zu einem Gerangel, einer der Verdächtigen kann flüchten und rennt in Richtung des GC-Fanlokals. «Gleichzeitig rannten mehrere Personen, mutmasslich Fussballfans, von diesem Lokal herkommend auf die Polizisten zu und traktierten den am Boden liegenden Beamten mit Schlägen und Fusstritten.» Er erlitt Kopfverletzungen sowie Schürfungen und wurde hospitalisiert.

18. August 2018

Wegen einer Messerstecherei müssen Polizei und Rettungskräfte an die Seepromenade ausrücken. Doch als sie dort ankommen, «wurden sie sofort von zahlreichen zum Teil vermummten Unbekannten, die mit FCZ-Fankleidung unterwegs waren, mit Flaschen und Steinen angegriffen». Damit die Beamten überhaupt zum Verletzten gelangen können, müssen sie Verstärkung anfordern. Mit Gummischrot und Wasserwerfer wird der Mob zurückgedrängt. «Auch während und nach dem Rettungseinsatz wurden Polizei und Sanität immer wieder von denselben unbekannten Angreifern mit Flaschen und Steinen attackiert.» Zwei Beamte werden verletzt.

25. Oktober 2018

Nach der Partie des FC Zürich gegen Bayer Leverkusen gehen mehrere Männer, die meisten in FCZ-Kleidung, auf Fans des deutschen Teams los. «Dabei wurden drei Fans des deutschen Clubs verletzt und mussten ärztlich behandelt werden.» Zehn Personen kommen vorübergehend in Untersuchungshaft und werden mit Massnahmen belegt. Ausserdem attackiert ein deutscher Anhänger einen zivilen Polizisten, der den Fanmarsch begleitete.

25. November 2018

GC-Fans beschädigen ein Tram, die Fans des FC St. Gallen einen Bus. Und im Stadion werden «mehrere Hundert Böller und pyrotechnische Gegenstände gezündet». Ausserdem greifen die Ostschweizer Polizisten mit Steinen und Pyros an. Sie treffen einen Beamten, der leichte Verletzungen erleidet.

14. Februar 2019

Schon vor der Partie zwischen dem FCZ und dem SSC Napoli kommt es zu Provokationen und Auseinandersetzungen zwischen den Fans. Die Polizei setzt Gummischrot, Reizstoff und Wasserwerfer ein. «Ein Polizist wurde durch einen Flaschenwurf leicht verletzt.» Nach dem Spiel wird ein Auto mit italienischem Kennzeichen in Brand gesteckt.

14. August 2019

Während des Matches des FC Zürich gegen den FC St. Gallen brennen Pyros, nach dem Spiel demolieren die Ostschweizer Fans einen Bus. Und schliesslich kommt es zu einem gravierenden Angriff: «Ein 40-jähriger Mann, der mit seinen beiden Kleinkindern und einem Kinderwagen in einen VBZ-Bus einsteigen wollte, wurde von einem Unbekannten, der mit FCZ-Fankleidung unterwegs war, am Einsteigen gehindert und durch einen Faustschlag ins Gesicht so schwer verletzt, dass er reglos neben dem Bus liegen blieb.» Das Opfer wurde mit schweren Kopfverletzungen hospitalisiert. «Der Unbekannte flüchtete mit mehreren ähnlich gekleideten jungen Männern in Richtung Hardbrücke.»

21. Juni 2020

Die Polizei rückt aus, weil ein junger Mann verletzt worden sei. Tatsächlich treffen die Beamten bei der Roten Fabrik auf einen 16-Jährigen mit Kopfverletzungen. Seine Gruppe gibt an, von einer Gruppe angegriffen und ausgeraubt worden zu sein. Signalement der mutmasslichen Täter: «Fünf Männer im Alter von 16 bis 17 Jahren. Sie trugen Kapuzenpullover mit der Aufschrift ‹FCZ› und weisse Schuhe.»

2. Mai 2021

Trotz Corona und geschlossener Tribünen wollen Fans des FCZ das Spiel gegen Lugano mitverfolgen. Hundert folgen einem Aufruf der «Südkurve», die Partie von aussen zu schauen und die Mannschaft zu unterstützen. Doch eigentlich wären wegen Covid-19 nur Versammlungen von 15 Personen erlaubt. Als die Polizei eingreifen will, wird sie «mit Steinen, Flaschen und Feuerwerkskörpern» angegriffen. Die Beamten setzen Gummischrot, Tränengas und Wasserwerfer ein.

20. Mai 2021

Nach der Partie der Grasshoppers gegen den SC Kriens werden die GC-Anhänger unvermittelt von mehreren Dutzend FCZ-Fans angegriffen, es kommt zu gegenseitigen Fackelwürfen. Die Polizei setzt Gummischrot, Reizstoff und Wasserwerfer ein, um die Lager zu trennen. Dabei werden die Beamten mit Flaschen beworfen. «Zwei Polizisten wurden dabei getroffen, blieben dank ihrer Ausrüstung aber unverletzt.» Elf Personen werden vorübergehend festgenommen, die jüngste ist erst 15 Jahre alt.

23. Oktober 2021

Nach dem Zürcher Derby rennen Vermummte über die Tartanbahn im Stadion «und warfen mehrere brennende Fackeln in Richtung der GC-Fans». Von dort fliegen brennende Fackeln zurück. Mittlerweile konnten die Ermittlungen abgeschlossen werden. «Insgesamt konnten 18 Personen identifiziert werden, die sich am Platzsturm beteiligt hatten, 14 Anhänger des FCZ und 4 Anhänger von GC.» Für die Beteiligten gilt die Unschuldsvermutung.

18. Dezember 2021

Nach der Partie gegen den FC St. Gallen stören mutmassliche FCZ-Anhänger den Trambetrieb und gehen eine Kundenberaterin der Zürcher Verkehrsbetriebe tätlich an. Später wird dann ein Tramchauffeur «von mehreren Personen tätlich angegriffen und erheblich verletzt». Er muss hospitalisiert werden. In der Stadt kommt es zu weiteren Auseinandersetzungen.

5. Februar 2022

Vor dem Derby zwischen GC und dem FCZ zünden die beiden Fanlager auf ihren traditionellen Fanmärschen Pyros, es kommt zu Sachbeschädigungen und Sprayereien. Bei der Abreise nach dem Spiel wird der Trambetrieb massiv gestört. «Kurz nach 23 Uhr wurden Polizistinnen und Polizisten am Bahnhof Altstetten von einer Fangruppierung mit Steinen beworfen und mussten Gummischrot einsetzen.» Etwas später gehen die beiden Lager im Zürcher HB aufeinander los und attackieren erneut Beamte, diesmal mit Flaschen.

20. August 2022

Nach der Cup-Partie zwischen den Grasshoppers und dem FC Wettswil reisen GC-Anhänger mit dem Zug nach Hause. Am Bahnhof Weihermatt in Urdorf ZH besteigen FCZ-Supporter die S-Bahn und ziehen die Notbremse. «Anschliessend attackierten sie erkennbare Sympathisanten der Grasshoppers.» Fünf Personen werden leicht verletzt, es entsteht ein Sachschaden von Zehntausenden Franken.

28. August 2022

Mehrere Hundert Fans des FC Basel marschieren nach dem Spiel gegen den FC Zürich durch die Stadt. Einige von ihnen greifen einen Mann an, der FCZ-Fanutensilien mit sich führt. «Der 36-Jährige wurde dadurch verletzt und musste durch die Sanität ins Spital gebracht werden.» Zudem werfen Basler Anhänger Pyros gegen die Polizeikräfte. Die Beamten setzen Gummischrot ein.

1. Oktober 2022

Als die GC-Anhänger nach dem Spiel am Zürcher Hauptbahnhof ankommen, suchen FCZ-Fans die Auseinandersetzung. Die Polizei geht dazwischen und wird «mit Flaschen beworfen und tätlich angegriffen». Die Beamten setzen Reizstoff ein und nehmen sieben Personen fest.

5. Oktober 2022

In der Nacht vor dem Europa League Spiel zwischen dem FCZ und dem PSV Eindhoven kommt es in der Stadt zu tätlichen Auseinandersetzungen zwischen Dutzenden von Fans, unter anderem in einem Restaurant. «Dabei wurden auch Stühle und Flaschen als Wurfgegenstände eingesetzt. Ein 22-jähriger Mann wurde dadurch am Kopf verletzt und musste mit der Sanität ins Spital gebracht werden.»
(https://www.derbund.ch/das-sind-die-gefaehrlichsten-fans-der-schweiz-108465535568)


+++RASSISMUS
Sonntagszeitung 13.11.2022

Fussball-Weltmeister Lilian Thuram: «Ich galt als unzuverlässig – nur wegen meiner Hautfarbe»

Vor der WM 2022 erklärt der 50-jährige Franzose, was Fussball für ihn mit Kolonialismus zu tun hat. Und warum das Spiel trotzdem die Kraft hat, Grenzen einzureissen.

Florian Raz

Sie haben ein sehr engagiertes, manchmal fast wütendes Buch über systematischen Rassismus geschrieben.

Ich bin nicht wütend. Es ist allerdings interessant, warum einige Menschen das Buch lesen und denken, ich sei wütend. Für mich ist das Buch eine historische Analyse. Ich stelle die Frage, warum wir Menschen aufgrund von Hautfarben in Kategorien einteilen. Sie zum Beispiel können sich als weiss bezeichnen. Dabei ist ihre Haut nicht wirklich weiss. Weiss zu sein, ist keine Realität. Es ist eine Idee, eine politische Konstruktion, der wirtschaftliche Wille, Menschen einzuteilen. Um aus diesen Kategorien ausbrechen zu können, müssen wir darüber reden.

Ihr Buch dreht sich kaum um Fussball. Aber der Fussball ist eine gute Möglichkeit, um über Dinge zu reden, zu denen sich viele Menschen lieber keine Gedanken machen.

Das weisse Denken, wie ich es nenne, kann man in jedem Bereich unserer Gesellschaft beobachten. Also: Wir können gerne über Fussball reden.

Ist denn der professionelle Fussball aus Ihrer Sicht weiss?

Aber natürlich! Das weisse Denken findet sich im Fussball, weil Sie aufgrund Ihrer Hautfarbe beurteilt werden. Ich bin in einer Welt aufgewachsen, in der es viele Vorurteile gegenüber schwarzen Spielern gegeben hat.

Welche?

Es hiess: Schwarze Spieler sind physisch sehr stark. Dafür sind sie nicht so aufmerksam. Als ich ein Kind war, gab es deswegen fast keine dunkelhäutigen Goalies oder Abwehrspieler. Mir als Verteidiger wurde stets unterstellt, ich sei nonchalant, ich sei unzuverlässig. Dieses Denken geht noch weiter: Schwarze können zwar sportlich sehr gut sein. Aber sie können kein Team führen, sie können nicht Trainer sein, nicht Sportchef. Weil es da andere Qualitäten braucht. Der schwarze Athlet wird zwar wegen seines Körpers geschätzt. Aber wenn es ums Denken geht, ist eine weisse Person vorzuziehen.

Woher kommt diese Überzeugung?

Sie kommt daher, dass man Rassen erfunden und diese in eine Hierarchie eingeteilt hat. Ganz oben sind die Weissen, die dominante Rasse – und ganz unten die Schwarzen. Die wurden auch als das fehlende Bindeglied zwischen Affe und Mensch bezeichnet. Die weisse Vorherrschaft hat sich als politisches System lange gehalten. In Südafrika waren in der Apartheid bis 1992 Menschen nach Hautfarbe getrennt. Noch heute existieren Strömungen von White Supremacy.

2018 wurden drei von fünf afrikanischen WM-Teilnehmern von Weissen trainiert …

… was eine interessante Feststellung ist. Weil es zeigt, wie das weisse Denken heute noch vorhanden ist. Weiss zu sein, heisst, besser zu sein. Weiss zu sein, heisst, das Wissen zu besitzen. Im Buch versuche ich darzulegen, dass es das weisse Denken nicht nur bei Weissen gibt. Es ist auch das Denken der Menschen mit anderen Hautfarben. Weil wir alle in derselben Welt aufgewachsen sind. Und in der wird uns beigebracht, dass es besser ist, wenn ein Weisser an der Spitze steht, weil er zum Führen geboren ist. Ich weiss nicht, ob es in der Schweiz auch dieses Vorurteil gibt, dass Schwarze im Sport besser sind.

Das gibt es hier auch. Es wird dann positiver Rassismus genannt.

Genau! Aber welche Botschaft ist dahinter versteckt? Dass die Weissen intelligenter sind. Wenn man sagt, dass die Schwarzen im Sport besser sind, dann sind sie besser als wer? Na, als die Weissen. Und wo sind die Weissen dann besser? Intellektuell.

An der WM 2022 werden alle fünf afrikanischen Teams von Einheimischen trainiert. Zufall oder mehr?

Es ist eine Entwicklung. Grundsätzlich ist es sehr selten, dass ein Nationalteam von einem Ausländer trainiert wird. Aber in Afrika war es lange die Regel. Weil galt, dass das Wissen von aussen kommt. In den USA waren übrigens lange alle Basketballtrainer weiss. Obwohl es sehr viele Spieler mit dunkler Hautfarbe gab.

Der Weltfussballverband wird an der WM überall hinschreiben: «Sag Nein zu Rassismus!» Aber ganz so einfach ist das Problem nicht zu lösen, oder?

Zunächst einmal ist es gut, dass man sich überhaupt bewusst ist, dass es Rassismus gibt. Es gibt genügend Menschen, die das Gegenteil behaupten. Die denken, Rassismus sei nicht ihr Problem. Darum ist es wichtig, dass sich die grossen Verbände engagieren. Aber natürlich dürfen wir nicht bei Slogans aufhören. Wir müssen uns bewusst werden, dass der Rassismus tief in unserer Gesellschaft verankert ist. Darum müssen wir uns immer wieder darüber unterhalten.

Wenn sich aber zum Beispiel Spieler in der englischen Liga vor dem Anpfiff hinknien, dann sorgt das für Irritation bei Zuschauern, die sich dadurch als Rassisten angegriffen fühlen.

Wenn Sie von Menschen reden, die irritiert sind, sollten Sie sagen: Es sind weisse Menschen. Das ist sehr wichtig. Denn die schwarzen Menschen sind sehr zufrieden. Man muss aufpassen, dass man nicht immer davon ausgeht, dass die Weissen die Normalität darstellen. Aber es stimmt, dass es Menschen gibt, die ungern über Rassismus reden. Das hat auch einen Grund: Bewusst oder unbewusst verstehen sie, dass sie vom Rassismus profitieren. Wenn Sie weiss sind, müssen Sie sich wohl oder übel damit auseinandersetzen, dass in unserer Geschichte die Vorstellung konstruiert worden ist, dass Sie die Norm darstellen. Und alle anderen die Abweichung.

Ist es nicht normal, wenn man sich nicht für die Taten unserer Vorfahren verantwortlich fühlt?

Ich sage nicht, dass jemand, der heute lebt, schuldig ist. Aber wir müssen den Mut haben, uns den Realitäten zu stellen. Wer heute lebt, hat diese Ideen nicht fabriziert, er war nicht Kolonialist. Aber den Kolonialismus, den gab es. Und die Kolonialisten haben eine Erzählung erfunden, die uns die Gewalt vergessen lässt, die sie ausgeübt haben. Würde die Geschichte nicht aus westlicher Sicht erzählt, würde die Kolonialisierung als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gelten. Warum zum Beispiel wird heute den Kindern noch erzählt, Christoph Kolumbus habe Amerika entdeckt, obwohl das ja nicht stimmt? Er konnte Amerika nicht entdecken, weil es da schon Menschen gab.

Warum?

Vielleicht, weil man sonst den Kindern erzählen müsste, dass danach rund 70 Millionen Menschen umgebracht worden sind. Und wenn man das erzählt, müsste man sich dann nicht auch die Frage stellen, ob das als Genozid bezeichnet werden sollte? Aber wenn ich das schreibe, heisst es: Ach, der Herr Thuram, der übertreibt mal wieder.

Viele Leute werden nicht gerne von solchen Gedanken gestört. Ihnen wurde gar vorausgesagt, dass Sie Ärger bekommen, sollten Sie Ihr Buch schreiben.

Um das zu verstehen, müssen Sie erst verstehen, was es bedeutet, Rassismus zu erleiden. Wer Rassismus erlebt, dem wird Gewalt angetan. Wenn mir als neunjährigem Buben gesagt wird, dass ich ein dreckiger Schwarzer bin, dann erlebe ich Gewalt. Es ist nicht normal, dass mir das gesagt wird. Es ist nicht normal, dass ich dauernd von der Polizei angehalten werde. Es ist nicht normal, dass man mich im Stadion mit Affenlauten beleidigt. Aber für die Gesellschaft ist das alles nicht so schlimm. Weil es historisch gewachsen ist. Das geht so weit, dass man mir sagt, ich solle nichts sagen. Ich solle es akzeptieren.

Weil es immer so war.

Genau. Und Menschen, die Rassismus erleben, haben Angst vor den Menschen, die rassistisch sind. Die Geschichte sagt ihnen, dass es gefährlich sein kann, mehr Gleichberechtigung zu fordern. Darum wollte zum Beispiel meine Mutter nicht, dass ich dieses Buch schreibe. Weil sie dazu erzogen worden ist, Angst zu haben vor diesem System, das ihr sagt, dass weisse Menschen mehr wert sind.

Sie schreiben, dass wir nicht weiss oder schwarz geboren werden.

Wir werden dazu gemacht. Ich wurde mit neun schwarz, als man mich als dreckigen Schwarzen beschimpfte. Als ich meinen Sohn fragte, ob er der einzige Junge mit schwarzer Haut in seiner Klasse sei, sagte er: «Aber Papa, ich bin nicht schwarz. Ich bin braun.» Und als ich ihn fragte, welche Hautfarbe die anderen Kinder haben, sagte er: «Na, Rosa.» Kinder haben dieses Konzept von Schwarz und Weiss nicht. Es wird ihnen beigebracht.

Ihnen ist Ihre Hautfarbe bewusst, seit Sie neun Jahre alt waren. Jetzt verlangen Sie, dass weisse Menschen sich ihrer Hautfarbe ebenfalls bewusst werden. Das ist unbequem.

Ich weiss, was es bedeutet, schwarz zu sein. Ich wurde vor Restaurants oder Discos abgewiesen, weil ich schwarz bin. Es ist mir bewusst, dass ich wegen meiner Hautfarbe in eine Schublade gesteckt werde, in der ich nicht sein will. Aber die weissen Menschen müssen sich auch bewusst werden, dass ihre Identität damit zu tun hat, dass historisch alle anderen Hautfarben abgewertet wurden. Wenn Sie sich dessen nicht bewusst sind, wird sich nie etwas ändern.

Hat der Transfermarkt im Fussball auch etwas Kolonialistisches? Spieler werden wie Rohstoffe aus aller Welt nach Europa gebracht, um mit ihnen Profit zu erzeugen.

Der Kolonialismus war in erster Linie eine ökonomische Idee, es ging um Kapitalismus. Die Menschen und die Welt wurden ausgebeutet, um Gewinn zu machen. Genauso denken wir heute noch immer. Das gilt im Fussball nicht nur mit Blick auf jene Spieler, die nach Europa kommen. Wenn heute ein Club einen Jungen zum Fussballer ausbildet, dann tut er das in der Hoffnung, dass dieses Kind einmal einen gewissen Gewinn abwirft. Das weisse Denken tut eben allen Gewalt an – auch Menschen mit heller Hautfarbe. Und es endet nicht dort. Auch unsere Umwelt leidet darunter.

Aber wer im Fussball gut ist, verdient damit auch viel Geld. Wo also ist das Problem?

Das System zeigt Ihnen nur jene, die es geschafft haben. Aber die meisten schaffen es nicht, sie werden bloss ausgebeutet. Wenn Sie junge Fussballer aus Afrika holen – wie viele von ihnen machen Karriere? Die wenigsten. Aber wir leben in einer Welt, in der es akzeptiert wird, dass Menschen und die Natur ausgebeutet werden. Alles ist erlaubt.

Ich mochte Ihr Weltmeisterteam von 1998. Weil es die Geschichte erzählt hat, dass der Fussball Menschen mit Wurzeln in der ganzen Welt vereinen kann. Black-blanc-beur hiess es damals statt bleu-blanc-rouge. War das alles erfunden?

Solche Geschichten sind vor allem darum so wichtig, weil sie Realität herstellen. Das weisse Denken zum Beispiel erzählt von der Überlegenheit der Weissen. Darum fand ich die Erzählung von black-blanc-beur extrem positiv. Weil sie ein Frankreich anerkannt hat, in dem Menschen mit verschiedenen Hautfarben und Religionen leben. Aber man darf nicht naiv sein. Der Slogan wurde von den Medien erfunden, von Politikern aufgenommen – und er wurde rund um eine Mannschaft kreiert, die gewonnen hat.

Sobald das Team verliert, verliert die Geschichte also an Wert?

Sie bleibt extrem positiv, weil sie Fragen erlaubt hat, die man vorher nicht stellen durfte: Warum können wir die grosse Diversität in der Equipe de France akzeptieren, aber ausserhalb des Fussballs nicht? Das ist eine wichtige Frage. Genauso wichtig wie die Frage, warum gewisse Menschen die Diversität ausserhalb des Fussballplatzes nicht akzeptieren wollen. Na, weil sie Angst haben, ihren Platz in der Gesellschaft zu verlieren. Das ist Rassismus.

Die Angst, etwas zu verlieren?

Das Verteidigen eines Vorteils. Bewusst oder unbewusst. Das ist doch die Geschichte der US-Bürgerrechtlerin Rosa Parks. Wer weiss ist, hat einen Sitzplatz auf sicher. Egal, wann er in den Bus steigt. Weil es immer so war und weil ich so erzogen wurde. So funktioniert Rassismus. Darum wollen gewisse Menschen keine Veränderungen. Weil sie es sich gewohnt sind, bevorzugt zu werden. Menschen, die sich gegen Rassismus einsetzen, wollen nicht bevorzugt werden. Sie wollen einfach den Platz, den sie verdient haben. Und das ist offenbar sehr störend. (lacht)

In der Schweiz wird anhand des Nationalteams immer wieder diskutiert, ob es richtige Schweizer und andere Schweizer gibt. Es geht dann zum Beispiel um Nachnamen und um das Singen der Nationalhymne.

Was steckt hinter der Frage, ob jemand ein richtiger Schweizer ist? Die Frage, ob jemand dieselben Rechte haben darf wie ich. Denn was heisst das schon: ein richtiger Schweizer? Wenn es doch einmal eine Zeit gegeben hat, in der die Schweiz gar nicht existiert hat. Ab wann wird gezählt? Und werden in hundert Jahren die Nachfahren jener, die heute nicht als richtige Schweizer gelten, anderen sagen, dass sie nicht dazugehören? Wir müssen unbedingt über diese Kategorien reden, weil sie verhindern, dass wir uns alle als menschliche Wesen anerkennen.

Gehört es nicht auch zum Wesen des Menschen, dass er sich in Gruppen von anderen Gruppen abgrenzt?

Seit der industriellen Revolution sind sieben Prozent der Arten auf der Welt ausgestorben. Das muss uns doch alarmieren. Der Klimawandel, der muss uns doch aufrütteln. Dieses System der Gewalt hat uns an den Rand der Katastrophe geführt. Wir haben gar keine Zeit mehr, uns zu fragen, ob jemand ein richtiger Schweizer ist oder nicht. Wir haben viel wichtigere Dinge zu erledigen!

Ich hoffe immer, dass solche Polemiken rund um das Nationalteam auch ihr Gutes haben. Weil die Diskussion so Leute erreicht, die sich sonst nicht um diese Dinge kümmern.

Gesellschaften haben sich durchaus dank dem Sport entwickelt. Weil es eine emotionale Verbindung zu den Sportlerinnen und Sportlern gibt. Es geht um die Erzählung, die so verändert wird. Kinder werden sich nicht einmal mehr die Frage stellen, ob Granit Xhaka oder Xherdan Shaqiri Schweizer sind. Sie sind ja mit ihnen aufgewachsen. Gleichzeitig hilft es Kindern, die sich vielleicht nicht anerkannt fühlen in einem Land, wenn sie Spieler sehen, die ihnen ähnlich sind.

Fussball ist also politisch.

Fussball ist politisch. Viel politischer, als die meisten denken. Er hat die Kraft, das kollektive Bewusstsein zu verändern. Als die Schweiz an der EM Frankreich geschlagen hat, werden sich nicht viele die Frage gestellt haben, ob da richtige oder falsche Schweizer auf dem Feld waren.

Es war eher ein Taumel, der zumindest für kurze Zeit alle Schranken niedergerissen hat.

Weil Fussball mit Emotionen verbunden ist. Er baut Verbindungen auf, er schreibt gemeinsame Geschichten, er kreiert Bilder, die bleiben. Genau. Ich als Franzose war damals übrigens trotzdem nicht zufrieden. (lacht)



Der engagierte Weltmeister

Lilian Thuram zieht mit neun Jahren von Guadeloupe in einen Pariser Vorort, wo er erstmals rassistisch beschimpft wird. Seine professionelle Fussballkarriere beginnt er bei der AS Monaco. Der heute 50-Jährige ist mit 142 Einsätzen der Rekordspieler des französischen Nationalteams, mit dem er 1998 Weltmeister und 2000 Europameister wird. Nach seinem Karriereende 2008 gründet er die «Fondation Lilian Thuram», die über Rassismus aufklären will. Er hat mehrere Bücher und Graphic Novels veröffentlicht. Das neuste Buch heisst «Das weisse Denken» («La pensée blanche»). Seine Söhne Marcus und Khéphren sind beide Fussballprofis. (fra)
(https://www.derbund.ch/ich-wurde-mit-9-schwarz-als-man-mich-als-dreckigen-schwarzen-beschimpfte-825838643769)