Medienspiegel 12. November 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Bundesasylzentrum in Bern am Anschlag
Weil das Bundesasylzentrum in Bern ausgelastet ist, werden Flüchtlinge aktuell schneller an andere Kantone weitergeleitet. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe warnt vor den Auswirkungen der verkürzten Asylprozesse.
https://www.baerntoday.ch/bern/kanton-bern/bundesasylzentrum-in-bern-am-anschlag-148721689


+++FRANKREICH
Tod im Terminal: Er lebte 18 Jahre im Pariser Flughafen
Der Flüchtling, der Steven Spielberg zu seinem Film «Terminal» mit Tom Hanks inspirierte, ist im Flughafenterminal verstorben.
https://www.derbund.ch/er-lebte-18-jahre-im-pariser-flughafen-324560394633


+++MITTELMEER
„Ocean Viking“: Gerettete Migranten gehen in Toulon an Land
Italien weigerte sich, deshalb sprang Frankreich ein: Nach Wochen auf See haben die letzten der 234 Menschen an Bord der „Ocean Viking“ das Schiff verlassen.
https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2022-11/ocean-viking-frankreich-italien-seenotrettung


+++GASSE
Wut in der Drogenszene von Interlaken BE: Wir werden von den Touristen begafft und von der Polizei schikaniert
Es herrscht Aufruhr in der Drogenszene Interlaken: Die Menschen fühlen sich schikaniert und diskriminiert und verlangen einen Platz, wo sie sein dürfen, ohne vertrieben zu werden. Die Gemeinde will handeln – die Polizei tat es schon.
https://www.blick.ch/schweiz/bern/wut-in-der-drogenszene-von-interlaken-be-wir-werden-von-den-touristen-begafft-und-von-der-polizei-schikaniert-id18045941.html


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Die Antifa zieht bei Gedenkzug durch Genf
In Genf fand am Samstag eine bewilligte Demonstration der Linksautonomen statt. Sie wollen mittels der Demonstration der «Blutnacht von Genf» gedenken.
https://www.20min.ch/video/die-antifa-zieht-bei-gedenkzug-durch-genf-919319770262


Von Extinction Rebellion bis Klimagrosseltern: Alle Akteure hinter den Protesten – und wie weit sie gehen wollen
Die Aktionen von Klimaaktivisten hierzulande häufen sich wieder. Eine Übersicht über die verschiedenen Gruppierungen.
https://www.blick.ch/life/wissen/klima/von-extinction-rebellion-bis-klimagrosseltern-alle-akteure-hinter-den-protesten-und-wie-weit-sie-gehen-wollen-id18047325.html


+++KNAST
Reform der U-Haft-Bedingungen – So hat sich die Zürcher Untersuchungshaft verbessert
Seit 2017 laufen im Kanton Zürich Reformen für die Verbesserung der U-Haft-Bedingungen. Nun zieht der Kanton Bilanz.
https://www.srf.ch/news/schweiz/reform-der-u-haft-bedingungen-so-hat-sich-die-zuercher-untersuchungshaft-verbessert


+++RECHTSPOPULISMUS
nzz.ch 12.11.2022

Krach im Bistum Chur: Deutscher Bestsellerautor wegen Antisemitismusvorwürfen und AfD-Nähe ausgeladen – jetzt droht ein Rechtsstreit

Der Chef der Degussa Goldhandel GmbH, Markus Krall, hätte bei einer kirchlichen Veranstaltung im Bistum Chur einen Vortrag halten sollen. Weil er rechtsradikal sein soll, kam es zu Turbulenzen.

Erich Aschwanden, Simon Hehli

Markus Krall ist definitiv ein Mann, der etwas zu sagen hat. Zum einen ist er als CEO der Degussa Goldhandel GmbH mit Sitz in München ein bekannter Manager. Zum anderen hat er mehrere Bestseller geschrieben. In diesen befasst er sich aus rechtslibertärer Optik mit wirtschaftlichen Crash-Szenarien und umstrittenen gesellschaftspolitischen Forderungen. Sein bekanntestes Werk ist «Der Draghi-Crash».

Der 60 Jahre alte Manager ist Katholik und sorgt mit seinen Thesen zur christlichen Gesellschaftsordnung immer wieder für Aufsehen. Krall ist Mitglied des für seine konservativen Ansichten bekannten päpstlichen Ritterordens vom Heiligen Grab. Der Verankerung in diesem Milieu dürfte er die Einladung als Gastreferent für die Vollversammlung des Dekanats des Bistums Chur zu verdanken haben.

«Intellektueller Krawallmacher»

Doch Krall wurde am letzten Mittwoch daran gehindert, seinen Vortrag mit dem Titel «Fünf Säulen zum Erhalt einer freiheitlich-christlichen Gesellschaftsordnung» zu halten. Kurz vor der Versammlung wurde der prominente Redner nämlich ausgeladen. Auslöser für den Rauswurf war eine Intervention von Professor Christian Cebulj, dem Rektor der Theologischen Hochschule Chur, wie das Portal kath.ch berichtet hat.

Die Vorwürfe, mit denen Krall an die Dekanatsleitung gelangte, sind happig. In der «Zeit Online» behauptete Cebulj, Krall sei «massgeblich an der Finanzierung der rechtsradikalen AfD in Deutschland beteiligt». «Er sympathisiert mit Verschwörungstheorien, muss sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen, will die Kirchensteuer ebenso wie die parlamentarische Demokratie abschaffen und bezeichnet sich auf Twitter gerne als intellektuellen Krawallmacher», hielt der Hochschulrektor fest.

Cebulj hielt es für seine politische und theologische Pflicht, den Dekan darauf hinzuweisen, «dass ein Redner mit solch reaktionären Positionen nichts auf einer Dekanatsversammlung verloren hat». Der Rektor der Theologischen Hochschule Chur war für eine Stellungnahme nicht erreichbar.

Dieses «Sündenregister» verfehlte seine Wirkung nicht. Jürg Stuker, der Generalvikar des Bistums Chur, lud den offenbar unerwünschten Gast wieder aus. Zusätzliche Munition für den Entscheid der Organisatoren lieferte kath.ch, das bevorzugt rechtskonservative Tendenzen in der katholischen Kirche aufs Korn nimmt.

Das Portal kontaktierte Michael Blume, den Beauftragten gegen Antisemitismus der Landesregierung von Baden-Württemberg. Dieser erklärte: «Markus Krall verbreitete Verschwörungsmythen über eine angebliche Kulturmarxismus-Weltverschwörung der deutsch-jüdischen Frankfurter Schule.» Blume schrieb 2021 in der «Zeit Online»: «Krall verstieg sich dann zu dem Vergleich, wie die Nazis als ‹nationale Sozialisten› strebe die ‹Frankfurter Schule› dabei nicht weniger als die langfristige ‹Erosion der Institutionen› und die Zerstörung des ‹liberalen Systems› an.»

Spenden an katholische Kirche statt AfD

Im Gespräch mit der NZZ bestreitet Krall, jemals die AfD finanziert zu haben. «Von mir hat die Partei noch nie auch nur einen Euro bekommen. Ich beschränke meine Spendentätigkeit auf die katholische Kirche.» Vorträge hat Krall bei der AfD schon gehalten. Aber das habe er bei allen Parteien mit Ausnahme von den Linken gemacht.

Dass er als Antisemit hingestellt werde, treffe ihn schwer, sagt Krall. «Das ist ein ungeheuerlicher Vorwurf, eine schwere Beleidigung.» Er sei schon Dutzende Male in Israel gewesen und habe sich stets für dessen Existenzrecht eingesetzt, er habe sich immer für das jüdische Leben interessiert und jüdische Institutionen ebenso wie den Verein gegen das Vergessen des Holocaust finanziell unterstützt.

Die Antisemitismusvorwürfe seien entsprechend völlig konstruiert. Sie basieren vor allem auf der kritischen Haltung von Krall gegenüber der Frankfurter Schule, deren «Kulturmarxismus» er ablehnt. Seine Missbilligung habe aber nichts damit zu tun, dass führende Köpfe der Frankfurter Schule wie Max Horkheimer oder Theodor W. Adorno jüdische Wurzeln gehabt hätten. «Und ich behaupte keineswegs, dass es sich dabei um eine ‹Weltverschwörung› handelt. Sondern ich kritisiere das politische Programm.»

Krall bezeichnet sich als Antisozialisten, denn aus seiner Sicht bedeutet Sozialismus Unfreiheit. Ganz anders als das christlich-freiheitliche Weltbild, das er vertrete. «Es basiert auf dem Individuum und nicht auf der Masse, auf dem Eigentum, ohne dass wir immer in Abhängigkeit leben, und auf der Familie als Keimzelle unserer Gesellschaft.» Die Corona-Massnahmen der deutschen Regierung hat Krall kritisiert, weil er sie nicht für evidenzbasiert hält. «Daraus haben gewisse Leute zu Unrecht böswillig gefolgert, ich sei ein Corona-Leugner und Verschwörungstheoretiker und das sei ein ‹antisemitisches Narrativ›.»

Dass er vom Vortrag wieder ausgeladen worden sei, habe ihn nicht gestört, sagt Krall. «Ich habe als CEO eines Unternehmens genug zu tun, ich wollte mich niemandem aufdrängen.» Aber dass er medial durch den Kakao gezogen worden sei, könne er nicht auf sich sitzen lassen. Bischof Joseph Maria Bonnemain habe ihm sein Bedauern über den Vorgang ausgedrückt. Beim Bistum Chur bestätigt man, dass es ein Telefongespräch zwischen dem Bischof und Krall gegeben habe.

Bischöfe sollen Druck machen

Aber Krall erwartet von kath.ch, dass das Portal die Meldung über ihn korrigiert. «Das war Rufmord. Man hätte mich einfach anrufen können, dann hätte ich aufzeigen können, dass diese Vorwürfe Falschinformationen sind.» Besonders stört ihn die französische Übersetzung des Textes auf cath.ch. Dort wird Krall schon im Titel als «complotiste allemand», als «deutscher Verschwörungstheoretiker», bezeichnet.

Sollte die Redaktion seiner Forderung nicht nachkommen, müsste die Bischofskonferenz Druck auf ihr Portal machen, findet Krall. Falls das nichts fruchtet, behält sich Krall rechtliche Schritte vor. Diese würden sich gegebenenfalls gegen das Portal kath.ch und die Autoren richten, die dort falsche Behauptungen über ihn verbreitet hätten.

Raphael Rauch, Redaktionsleiter von kath.ch, bewahrt derweil ruhig Blut. «Mit Michael Blume und Christian Cebulj verfügen wir über sehr glaubwürdige Kronzeugen für unsere Artikel», erklärt er auf Anfrage der NZZ. Ihre Aussagen, auf die sich kath.ch gestützt habe, «seien wissenschaftlich untermauert». «Einer allfälligen Einsprache oder einer Beschwerde beim Presserat sehen wir deshalb gelassen entgegen», betont Rauch.
(https://www.nzz.ch/schweiz/wegen-angeblichem-antisemitismus-und-afd-finanzierung-vom-bistum-chur-ausgeladen-jetzt-droht-ein-rechtsstreit-ld.1711734)


+++ANTI-WOKE-POPULISMUS
Das Problem am „woken Kapitalismus“ ist nicht die Wokeness
Ultrarechte und bürgerliche Mitte haben ein neues Kampfterrain entdeckt. Manchmal dienen dabei auch „Linkskonservative“ als Feigenblatt. Ihnen gegenüber stehen Emanzipationsbewegungen, die vom System fast zu Tode umarmt werden.
https://www.heise.de/tp/features/Das-Problem-am-woken-Kapitalismus-ist-nicht-die-Wokeness-7338544.html


+++HISTORY
Gedenken ist nicht genug !
Wie jedes Jahr findet in Genf die öffentliche Erinnerungsfeier im Gedenken an die Ereignisse vom 9. November 1932 statt, der Tag, an dem eine antifaschistische Kundgebung von staatlichen Kräften gewaltsam niedergeschlagen wurde. Mit diesem Beitrag und anlässlich des 90. Jahrestages möchte das Kollektiv Silure eine Debatte über die Aktualität des Antifaschismus anstoßen.
https://barrikade.info/article/5468
-> https://renverse.co/infos-locales/article/1932-2022-on-n-oublie-pas-et-on-continue-le-combat-3712
-> https://de.wikipedia.org/wiki/Unruhen_von_Genf_1932
-> https://rabe.ch/2022/11/11/genfer-blutnacht-als-die-armee-antifaschistinnen-erschoss/


Commémoration des tirs de l’armée sur des manifestants à Genève en 1932: interview de Marie-Laure Graf
https://www.rts.ch/audio-podcast/2022/audio/commemoration-des-tirs-de-l-armee-sur-des-manifestants-a-geneve-en-1932-interview-de-marie-laure-graf-25874608.html
-> https://www.rts.ch/info/regions/geneve/13539658-manifestation-antifasciste-a-geneve-en-souvenir-du-9-novembre-1932.html


Im Knabenheim «Auf der Grube» – Die gestohlene Kindheit gibt ihnen niemand wieder
Das Knabenheim «Auf der Grube» bei Bern hätte Buben aus schwierigen Verhältnissen Schutz und Geborgenheit bieten sollen. Stattdessen prägten Gewalt und Missbrauch den Alltag. Ein Gespräch über das, was kaum zu erzählen ist.
https://www.srf.ch/kultur/gesellschaft-religion/im-knabenheim-auf-der-grube-die-gestohlene-kindheit-gibt-ihnen-niemand-wieder



landbote.ch 12.11.2022

Analyse zu Winterthur als Aussenseiterstadt: Winterthur, ein Hort des Extremismus?

«Nazis, Jihadisten, Antifa: Ist Winterthur eine Extremisten-Stadt?» Das fragte die NZZ am Sonntag und suchte nach Antworten in der Geschichte der Stadt. Dabei blieb einiges auf der Strecke. Eine Einordnung.

Miguel Garcia

Wenn es um Extremisten in der Deutschschweiz geht, drehe sich alles um Winterthur, war kürzlich im Magazin der NZZ am Sonntag zu lesen. Und: Winterthur habe sie alle, «die Neonazis, die Islamisten und die Linksradikalen». Weshalb? – Winterthur sei eine Stadt der Aussenseiter.

Nach einigen willkürlich zusammengewürfelten Beobachtungen zu Hausbesetzern in Stefanini- Liegenschaften, dem zweitklassigen Image des FC Winterthur und Winterthur als «Komikerhauptstadt» begibt sich die Autorin auf eine Spurensuche in der Stadtgeschichte, die sich von der Zürcher Herrschaft über den Kolonialhandel und die Industrialisierung bis zum Bauboom der Nachkriegszeit zieht – diese bleibt allerdings undifferenziert und lückenhaft.

Einige dieser Lücken sollen hier ausgeleuchtet werden. Denn über das angebliche Faible Winterthurs für Extremismus wird seit den Achtzigerjahren diskutiert.  Damals brachte die linksextreme Szene Winterthur landesweit in die Schlagzeilen, was auch mit der Schwäche der SP – und der Dominanz dieser Zeitung – zu tun hatte. Die Wurzeln rechtsextremen Gedankenguts lassen sich in Winterthur sogar bis in die Dreissigerjahre belegen. Winterthur, die Stadt der Extreme? Für die vermeintliche Häufung gibt es einen plausiblen Grund, den die NZZ-Analyse unterschlägt.

Aussenseiter-Sympathien seit 1467?

Doch der Reihe nach. Die NZZ geht davon aus, dass die vermeintliche Ballung von Radikalen in der Verpfändung Winterthurs an Zürich im Jahr 1467 wurzelt. Dadurch habe Winterthur eine Aussenseiterposition eingenommen und sei deswegen bis heute besonders tolerant gegenüber gesellschaftlichen Randgruppen.

Schon in den Achtzigerjahren diskutierte man über Winterthurs Sympathien für Aussenseiter. Eine radikale Gruppe innerhalb der Jugendbewegung verübte damals Brand- und Sprengstoffanschläge. Schweizweite Aufmerksamkeit erlangte sie mit dem Attentat auf das Haus von Bundesrat Rudolf Friedrich. Man sprach von den «Winterthurer Ereignissen».

Auch in dieser Zeit versuchten die Medien zu ergründen, wieso sich die «Bewegten» ausgerechnet in Winterthur so radikalisiert hatten. Ihr Fazit: Nicht die Offenheit für Aussenseiter sei Ursache der Radikalisierung der Jugend, sondern im Gegenteil der hohe Druck zur Konformität. Dieser sei auf die – auch im NZZ-Bericht prominent erwähnten – dörflichen Strukturen und die kleinstädtische Mentalität zurückzuführen.

Als typische Winterthurer Eigenschaften galten in den Achtzigern Korrektheit, Fleiss und Zurückhaltung. Das waren auch die Werte, die Bundesrat Friedrich nachgesagt wurden, und der so gewissermassen als Verkörperung des Winterthurer Geistes galt. Personen, die anders dachten oder sich anders kleideten, begegnete man in Winterthur mit Skepsis.

Kommunikation über die Hausmauern

Den Grund für diese unbestrittene bürgerliche Dominanz sah man in der Schwäche der Linken: Die Arbeiterbewegung war zahnlos, deren Zeitung, die Arbeiterzeitung, befand sich im Sinkflug, bürgerliche Medien bestimmten die öffentliche Debatte: «Auch die Sozialdemokratische Partei und ihre Repräsentanten haben oft Mühe, sich Platz und Gehör zu verschaffen. Noch viel schwerer als für die SP ist es für die ausserparlamentarischen Gruppierungen. Wenn die Monopolzeitung es nicht will, so finden deren Versammlungen und Demonstrationen für den Winterthurer Leser nicht statt. Und der ‹Landbote› will sehr oft nicht», schrieb der Tages Anzeiger 1985. Deshalb habe die Jugend begonnen, über Sprayereien auf Hausmauern zu kommunizieren, sodass nicht mehr der Dialog gepflegt, sondern auf Konfrontation gesetzt werde. Es gab eine frühe Polizeistunde; Kulturinstitutionen und Freiräume für die Jugendlichen fehlten. Ausserdem kritisierte die Jugend die städtische Wohnbaupolitik und die flächendeckende Sanierung der Altstadt, die günstigen Wohnraum auf Kosten des Konsums zerstöre. So entstand anfangs 80er die Hausbesetzerszene.

Vergessene Vergangenheit

Doch nicht nur Links, auch Rechtsradikalismus hat in Winterthur eine Tradition. Die NZZ-Analyse zum Rechtsradikalismus beginnt erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Damit ignoriert sie die faschistische Frontenbewegung, die im «Frontenfrühling» 1933 auch hier aufblühte.  Diese war nicht nur im kleinbürgerlichen Milieu verankert: Auch unter den Industriellen-Familien, die im Text als Förderer von Wirtschaft, Wohlfahrt und Kultur dargestellt werden, fanden die Fröntler namhafte Unterstützer wie etwa Oskar Sulzer, Gönner der Eidgenössischen Sozialen Arbeiterpartei, oder die Gebrüder Ganzoni, von denen der eine den «Gau» Winterthur leitete und der andere eine Textilfabrik.

Den Fokus legt die Autorin auf den «zweiten Frontenfrühling» und die Neonazis der Neunzigerjahre. Als wichtiges Bindeglied für die Geschichte rechter Bewegungen müsste die Überfremdungsbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre ergänzt werden. So wurde die «Nationale Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» (heute Schweizerdemokraten) 1961 in Winterthur durch den SLM-Konstrukteur Fritz Meier gegründet als Reaktion auf die italienische Arbeitsmigration, welche die Industriestadt Winterthur jahrzehntelang trug.

Auch linke Bewegungen müssten bis zur Wende zum 20. Jahrhundert zurückverfolgt werden. Die Schwerindustriestadt Winterthur soll damals die höchste Streikdichte der Schweiz aufgewiesen haben. 1940 verlegte die Kommunistische Partei der Schweiz ihre Zentrale insgeheim von Zürich hierher, um deren Verbot zu umgehen.

Was der NZZ-Artikel fahrlässig ignoriert, ist das  «Friedensabkommen» von 1937 zwischen Arbeitgeberverband und Gewerkschaften der Metallindustrie, bei dem Winterthur und insbesondere die Firma Sulzer eine Rolle spielten. Die  beiden Kräfte einigten darauf, ihre Differenzen über ein Schiedsgericht auszutragen und keine Kampfmassnahmen wie Streiks zu ergreifen. Das führte zu einer Zähmung der radikalen Kräfte in der Arbeiterbewegung. Darin unterscheidet sich der Radikalismus der Linken von dem der Rechten, der eine klarere Kontinuität aufweist.

Drehscheibe Winterthur

Es gibt durchaus eine Geschichte radikaler Bewegungen in Winterthur. Allerdings existierten alle genannten Phänomene auch in anderen Teilen der Deutschschweiz. Sie auf eine spezifische extremismusfördernde Begebenheiten Winterthurs zurückzuführen, greift zu kurz. Was damals wie heute in der Diskussion vernachlässigt wird, ist die Drehscheibenfunktion Winterthurs in der Nordostschweiz. So war die Frontenbewegung in der ganzen Grenzregion zu Deutschland verwurzelt, NA-Gründer Fritz Meier stammte aus Eglisau und die im NZZ-Beitrag erwähnten rechtsradikalen Granatenwerfer der 90er-Jahre aus den Nachbarskantonen. Auch die linksautonome Szene der Nullerjahre bekam Zulauf aus den Kantonen Thurgau und Schaffhausen. Vielleicht ist die Anwesenheit radikaler Gruppen also eher ein Zeichen einer überregionalen Vernetzung und weniger Ausdruck einer Aussenseitermentalität.

Miguel Garcia ist freier Historiker, Geschichtslehrer und Buchautor in Winterthur.
(https://www.landbote.ch/winterthur-ein-hort-des-extremismus-300189743035)