Medienspiegel 6. November 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BALKANROUTE
NZZ am Sonntag 06.11.2022

Endstation Stacheldraht

Serbien ist zum Durchgangstor für Migranten in die EU geworden. Jene, die es über den Grenzzaun schaffen, werden von der ungarischen Polizei zum Teil brutal verprügelt.

Adelheid Wölfl, Subotica und Vladimir Velickovic (Bilder)

Der Gestank von Müll und Unrat, über dem die Fliegen surren, steigt einem als Erstes entgegen. Afghanen, Marokkaner, Syrer leben hier – etwa 200 Männer. Auch zwei Usbeken aus Afghanistan sind darunter. Die meisten tragen weisse Bandagen um ihre Schienbeine und Knöchel. Manche ziehen ihre Trainingshosen nach oben und schieben den Verband beiseite, um die Wunden zu zeigen.

«Die Soldaten auf der ungarischen Seite schlagen uns jedes Mal, wenn wir über den Zaun klettern. Sie hauen so fest zu, dass unsere Beine aufplatzen», erzählt Amar, ein 25-jähriger Marokkaner. Er ist vor zwei Monaten von zu Hause losgezogen. Er will nach Italien, am Schwarzmarkt arbeiten und Geld nach Hause schicken.

Doch nun steckt er fest, hier in der Nähe von Subotica, an der serbisch-ungarischen Grenze. Die meisten Männer sind aus der Türkei, über Bulgarien oder Griechenland und Nordmazedonien nach Serbien gekommen. Ihr gemeinsames Ziel ist die EU.

Ab und zu kommt ein Arzt vorbei und versorgt die Wunden. Doch weil es hier weder Wasser noch Sanitäranlagen gibt, entzünden sich die offenen Stellen wieder. Der 29-jährige Mimon kann sein Bein gar nicht mehr bewegen, es steckt in einem Gipsverband. «Ich muss wohl hier sechs Wochen warten, bis es so abgeheilt ist, dass ich wieder versuchen kann, über den Zaun zu klettern», meint er.

Frontex hat aufgegeben

In der Nacht frieren die Männer, die sich oft zu zweit eines der Wurfzelte teilen, die zwischen verfallenen Bauernhäusern aneinandergereiht stehen. Ein Mann rasiert gerade einem anderen die Nackenhaare, ein dritter schält Kartoffeln für eine Suppe.

Manche versuchen in den Zelten zu dösen, auf die Nacht zu warten, wenn sie wieder einen Versuch machen, den Stacheldraht zu überwinden. Sie schleppen dazu die Aluminiumleitern, die hier an der Hausmauer lehnen, an die Grenze. Der Zaun ist vier Meter hoch, dahinter verläuft eine Strasse, auf der die ungarischen Sicherheitskräfte mit Autos patrouillieren. Nochmals weiter steht ein zweiter Zaun, gespickt mit Stacheldrahtrollen, die im günstigsten Fall nur Löcher in die Socken der Männer reissen, oft aber hässliche Wunden zufügen.

In den vergangenen Monaten sind die Gruppen junger Männer, die an den Strassenrändern auf dem Balkan Richtung Norden wandern, wieder deutlich mehr geworden. Die meisten gelangen über Ungarn in die EU und ziehen dann weiter nach Österreich. Laut der europäischen Grenzschutzbehörde Frontex wurden seit Beginn 2022 mehr als 106 000 irreguläre Einreisen in die EU aus dem Balkan registriert, ein Anstieg von 170 Prozent im Vergleich zum Vorjahreszeitraum.

Mehr als ein Drittel der Migranten in Serbien stammt aus Afghanistan, doch in der derzeitigen Migrationswelle sind auch ganz andere Staatsangehörige zu treffen. Neun Prozent der Migranten kommen aus Burundi, zwei Prozent aus Indien und ein Prozent aus Kuba.

Diese seltsame Zusammensetzung ist dadurch begründet, dass Serbien Staatsbürger bestimmter Länder ohne Visum einreisen lässt. Es sind jene Staaten, die Kosovo nicht anerkennen und deren Regierungen dafür mit der Visumfreiheit belohnt werden. In den vergangenen Wochen reisten deshalb Hunderte Burundier nach Serbien.

Mit Rucksäcken wanderten sie über die Drina hinüber nach Bosnien-Herzegowina. Die Bosnier staunten nicht schlecht, als die Männer nach dem Bus Richtung Zagreb fragten. Ein Drittel der Migranten in Bosnien kommt bereits aus dem zentralafrikanischen Staat. Nun sind sie mitten auf dem Balkan steckengeblieben. Ohne Visum dürfen sie nicht in die EU. Das wussten die meisten nicht.

Nach wochenlangem Druck seitens der EU hat die Regierung in Belgrad die visumfreie Einreise aus Tunesien und Burundi aufgehoben. Doch viele – besonders indische Staatsbürger, die ebenfalls ohne Visum nach Serbien fliegen konnten – sind mittlerweile über die Balkanroute bereits in die EU gelangt. Das spüren etliche europäische Länder.

Auch in der Schweiz ist die Situation angespannt. Wegen der erhöhten Zuwanderung hat der Bund die Notfallplanung im Oktober aktiviert. Es werden 2022 insgesamt rund 22 000 Asylgesuche erwartet, zusätzlich zu den 80 000 Schutzsuchenden aus der Ukraine.

Jene, die es nach Mitteleuropa schafften, können sich nur glücklich schätzen. Die anderen müssen den eisigen Novemberregen Serbiens erdulden und den Schlagstöcken der Grenzpolizei ausweichen. Auf der linken Seite der Autobahn vor Subotica, auf einem Weg über die dunklen, fast schwarzen Felder, aus denen der Morgennebel dampft, wandern schlanke Gestalten mit Plastiksäckli in den Händen.

Sie kehren gerade vom drei Kilometer weit entfernten Supermarkt zurück. Eigentlich dürfen sie in Serbien gar nichts einkaufen. In Subotica wurden bereits Inhaber von Läden mit Strafen belegt, weil sie die «illegalen Migranten» bedienten.

«Die Bulgaren haben uns ziemlich geschlagen», erzählt ein Mann aus Marrakesch mit einem hippen Lockenschopf von seinen Erfahrungen mit der Polizei. Wie die meisten seiner Landsleute ist er über Istanbul nach Serbien gereist. «Die Mazedonier sind die Nettesten», meint ein anderer, und die meisten anderen stimmen zu.

Die Ungarn seien die Brutalsten, das gilt als Fakt. Von maskierten uniformierten Soldaten erzählen sie, welche die Migranten wie bei einer Treibjagd hetzten. Nach der Festnahme werden die Migranten in Autos wieder über die Grenze zurück nach Serbien gebracht.

So brutal ist in Ungarn der Umgang mit Migranten geworden, dass die EU-Behörde Frontex Anfang 2021 ihren Rückzug aus dem Land bekanntgab. Ungarn komme seiner Verpflichtung zur Gewährleistung eines wirksamen Zugangs zu Asylverfahren nicht nach, erklärte die Grenzschutzbehörde zur Begründung. Nun gibt es niemanden mehr, der die ungarischen Soldaten und ihr Treiben an der Grenze beobachtet.

In Ungarn werden Migranten und Flüchtlinge schon seit längerem als gefährliche Kriminelle dargestellt. Der Regierungschef zeichnete dort vor kurzem ein bizarres Bild. Viktor Orban warf Migranten und den Angriffskrieg der Russen gegen die Ukraine in einen Topf. «Im Osten donnern Kanonen, und der Krieg tobt, und im Westen strömen unzählige Waffen an die Front», sagte er.

«Und um das Ganze abzurunden, wird Europa von Hunderttausenden illegaler Einwanderer belagert. An unseren südlichen Grenzen streifen bewaffnete Gruppen durch die Felder», behauptete er. «Es ist an der Zeit, den Geist unserer Soldaten wiederzubeleben.»

Der Traum von Spanien

Die Propaganda wirkt. Die Migranten erzählen, dass auch Bauern sie zuweilen verjagen. Es ist eine hässliche Welt, in der sie gelandet sind. Dabei ist die Vojvodina, der nördlichste Zipfel von Serbien, doch eine so friedliche Landschaft.

Dörfer mit rosa- oder ockerfarbenen Häusern laufen entlang der Strassen. Ein Wassergraben gehört immer dazu. Das Land ist weit und so flach, dass man die grüne Wintersaat kilometerweit sehen kann. Ein verspäteter Zug von Störchen malt ein grosses V ins klare Blau der Luft.

Auf die Wand eines verlassenen Bauernhauses hat jemand «Crazy boys», «Bambino» und «Mohammed» gesprüht. Davor hocken vier Afghanen, die aus der Provinz Laghman im Osten des Landes geflüchtet sind. Einer von ihnen war Soldat, bevor die Taliban-Offensive im Vorjahr begann. Nun hat er Angst, dass sie ihn als Verräter einsperren.

Manche der Männer hier versuchten bereits zwanzigmal mithilfe der Aluminiumleiter in eine bessere Zukunft zu klettern. «Bis zu meinem letzten Atemzug werde ich das probieren», schwört Jusuf, ein Mann aus Marrakesch. Dabei ist er doch fürchterlich niedergeschlagen. Jahrelang habe es gedauert, bis er die 6000 Euro zusammengespart habe, nur um nach Europa zu kommen, erzählt er.

Mit seiner Familie ist er zwar über Whatsapp in Kontakt, doch diese weiss nicht, dass er hier vor dem ungarischen Grenzübergang Horgos im Dreck steckt. Dass ihn die Flöhe beissen, dass er friert, dass er sich dauernd in Bildern und Gedanken ausmalt, wie er nach Spanien gelangen wird, damit er nicht den Mut für den nächsten Tag verliert.

Und damit er glauben kann, dass er irgendwann seinen fünf Schwestern Geld schicken kann, das er als Bäcker in Marokko nicht verdienen konnte. Sein Schienbein verheilt aber schon seit Wochen nicht.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/serbien-endstation-stacheldraht-ld.1710846)


+++ALBANIEN
Immer mehr Albaner brechen nach Grossbritannien auf – Echo der Zeit
Die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die in Booten über den Ärmelkanal nach Grossbritannien gelangen, nimmt stetig zu. Letztes Jahr waren es noch rund 28’000 Menschen – dieses Jahr erwarten Fachleute eine Verdoppelung dieser Zahl. Dabei sticht eine Gruppe besonders hervor: Rund ein Drittel der Migtranten stammt nämlch aus Albanien. Weshalb? Das Gespräch mit der freien Journalistin Franziska Tschinderle in der albanischen Hauptstadt Tirana.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/immer-mehr-albaner-brechen-nach-grossbritannien-auf?partId=12282046


+++ITALIEN
Italien: Mehr als 140 Flüchtlinge haben deutsches Schiff verlassen
Die Mehrheit der Menschen auf der “Humanity 1” ist im sizilianischen Catania an Land gelassen worden. Mehr als 30 Migranten verbleiben aber weiterhin an Bord.
https://www.zeit.de/politik/2022-11/migration-fluechtlinge-italien-deutschland
-> https://www.derstandard.at/story/2000140577503/drei-schiffe-warten-noch-auflandehafen-auf-sizilien?ref=rss
-> https://www.br.de/nachrichten/deutschland-welt/deutsches-rettungsschiff-darf-im-hafen-von-catania-anlegen,TMOx8Jy
-> https://www.nau.ch/news/europa/mehr-als-140-migranten-verlassen-humanity-1-in-sizilianischem-hafen-66325830
-> https://www.srf.ch/news/international/179-migranten-an-bord-seenot-rettungsschiff-darf-in-italien-anlegen
-> https://www.tagblatt.ch/international/italien-selektion-auf-dem-rettungsschiff-die-ersten-fluechtlinge-duerfen-an-land-andere-muessen-wieder-aufs-meer-ld.2368777
-> https://taz.de/Fluechtlingspolitik-in-Italien/!5890318/
-> https://www.nd-aktuell.de/artikel/1168288.italien-italien-selektiert-schutzbeduerftige.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/nur-wer-schwach-und-zerbrechlich-ist-darf-an-land-787255471480


+++GRIECHENLAND
»Alle wissen, dass es für Frauen zuwenig Angebote gibt«
Verein bietet fahrenden »Safespace« für weibliche Geflüchtete in Griechenland an. Ein Gespräch mit Sophie Müller-Bahlke
https://www.jungewelt.de/artikel/438204.humanit%C3%A4re-versorgung-alle-wissen-dass-es-f%C3%BCr-frauen-zuwenig-angebote-gibt.html


+++FREIRÄUME
Ein fragwürdiger Leerstand – Kellerstrasse: Jetzt spricht die Erbin des besetzten Hauses
Dass das Haus an der Kellerstrasse 28a seit Jahren leersteht, habe juristische Gründe, hiess es bis jetzt immer. Jetzt meldet sich die Witwe des früheren Eigentümers zu Wort und sagt: Der Leerstand ist ungerechtfertigt.
https://www.zentralplus.ch/wohnen-bauen/kellerstrasse-jetzt-spricht-die-erbin-des-besetzten-hauses-2481521/


ETH-Professor solidarisiert sich mit Hausbesetzern – und kritisiert Stadt Zürich: «Massive Welle von Wohnungsabbrüchen»
Aktivisten besetzen das Kesselhaus im Zürcher Kreis 10. Am Donnerstag organisierten sie ein Podium. Ein Teilnehmer rief zur Gewalt auf. ETH Professor Christian Schmid teilt gewisse Ansichten der Besetzer.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/eth-professor-solidarisiert-sich-mit-hausbesetzern-und-kritisiert-stadt-zuerich-massive-welle-von-wohnungsabbruechen-id18027547.html


+++GASSE
Jedes gerettete Leben zählt
“Housing First” – ein Projekt im Kampf gegen die Obdachlosigkeit von Frauen. Und für ein Menschenrecht
Obdachlose Frauen leiden stärker als Männer unter Existenzangst, Stress und dem Gefühl der Demütigung. Ein in den USA in den 80er Jahren von einer Frau begründetes soziales Projekt, “Housing First”, kommt in Europa an.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1168249.frauenobdachlosigkeit-jedes-gerettete-leben-zaehlt.html


Müssen Kreditkarten-Bettler Steuern zahlen?
In Bern rüsten immer mehr Bettler auf Kartenlesegeräte und Twint um. Das Geld wird nachverfolgbar – muss es also auch versteuert werden?
https://www.nau.ch/news/schweiz/mussen-kreditkarten-bettler-steuern-zahlen-66323008


Bedürftige und Gassenküche leiden stark unter Teuerung
Es profitieren immer mehr neue Leute vom Angebot der Gassenküche in St.Gallen. Die Geschäftsführerin nimmt an, dass das mit der Teuerung zusammenhängt. Die steigenden Preise haben nicht nur eine starke Auswirkung auf die Bedürftigen, sondern auch auf die Gassenküche. Diese muss dafür kämpfen, diesen Winter über die Runden zu kommen.
https://www.toponline.ch/news/stgallen/detail/news/beduerftige-und-gassenkueche-leiden-stark-unter-teuerung-00197997/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Aktion gegen Huawei in Solidarität mit der Revolution im Iran
Huawei liefert Überwachungssoftware und Gesichtserkennungskameras an das iranische Regime. Darum wurden sie in Bern Liebefeld besucht.
Gestern, am Abend des 4.11.2022, klebten wir am Eingang von Huawei im Liebefeld Plakate und Bilder zu der Revolution im Iran. Damit prangern wir die Unterstützung des Megakonzerns Huawei für das Iranische Regime an und solidarisieren uns praktisch mit der Bevölkerung im Kampf gegen das Mullah Regime.
https://barrikade.info/article/5456


Tausende demonstrieren in Bern gegen die iranische Regierung – Tagesschau 05.11.2022
Mit einer politisch breit abgestützten Kundgebung in Bern fordern Teilnehmende Solidarität mit den Frauen im Iran und kritisieren die Sanktionspolitik des Bundesrats. Die iranische Regierung räumt inzwischen ein, vor dem Krieg in der Ukraine Drohnen an Russland geliefert zu haben.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/tausende-demonstrieren-in-bern-gegen-die-iranische-regierung?urn=urn:srf:video:d131a8e6-6987-4087-ac66-e02fae5adf49


+++REPRESSION DE
Proteste der »Letzten Generation«:  Union fordert offenbar Gefängnis für Straßenblockierer
Attacken auf Kunstwerke und blockierte Straßen: Die Union will Klimaaktivisten einem Bericht zufolge künftig mit härteren Strafen belegen. Die Entstehung einer Klima-RAF müsse verhindert werden, hieß es aus der CSU.
https://www.spiegel.de/politik/deutschland/letzten-generation-union-fordert-offenbar-freiheitsstrafen-fuer-strassenblockierer-a-0c22fe72-0b40-4971-b8cc-8210bee50b70
-> https://www.tagesschau.de/inland/klima-proteste-letztegeneration-101.html
-> https://www.br.de/nachrichten/bayern/keine-maerchen-mehr-klima-protest-am-schloss-neuschwanstein,TMOqkAu
-> https://letztegeneration.de/solidaritaet/
-> https://www.jungewelt.de/artikel/438186.repression-gegen-klebeaktivisten-auf-hetze-folgt-h%C3%A4rte.html


+++KNAST
Verwahrung in der Schweiz: Die Debatte flammt wieder auf
Sie ist immer wieder Thema: Die Verwahrung. Zuletzt kritisierte die nationale Folterkommission die Bedingungen. Doch Verwahrung ist nicht gleich Verwahrung. Wir klären auf.
https://www.blick.ch/schweiz/verwahrung-in-der-schweiz-die-debatte-flammt-wieder-auf-id18024551.html


Der Mann, der für Brians Freiheit kämpft
Brian (27), der bekannteste Strafgefangene der Schweiz, hätte das Gefängnis eigentlich am Montag verlassen können. Aber die Staatsanwaltschaft will ihn in Untersuchungshaft verlegen lassen. Brians Anwalt Philip Stolkin sagt im Wochengast-Interview, wie er Brian davor bewahren will.  (ab 05:10)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/der-mann-der-fuer-brians-freiheit-kaempft?id=12282013


+++GRENZWACHTKORPS
Aufstand beim Zoll: «Ich will, dass er geht» – Zöllner wollen keine Waffe tragen und rebellieren gegen Chef
Zöllner, die bisher einen Bürojob haben, sollen mit Waffe und Schutzweste an der Grenze stehen, so verlangt es eine Gesetzesrevision, die gerade in Bern beraten wird. Doch das bringt viele in ein moralisches Dilemma. Sie wollten im Ernstfall nicht auf Menschen schiessen, sagen sie. Stattdessen fordern sie nun den Rücktritt ihres Chefs im Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit, Direktor Christian Bock.
https://www.20min.ch/video/ich-will-dass-er-geht-zoellner-wollen-keine-waffe-tragen-und-rebellieren-gegen-chef-729467453682


+++FRAUEN/QUEER
Transfeindlichkeit: Radikalisierungs-Pipeline der amerikanischen Rechten
Die Rechte in den USA – aber auch andernorts – hat ein neues Angriffsziel entdeckt: trans Menschen. Was bedeutet es konkret, rechtlich und politisch, wenn die Religiöse Rechte ihre transfeindlichen Ressentiments umsetzen kann?
https://geschichtedergegenwart.ch/transfeindlichkeit-radikalisierungs-pipeline-der-amerikanischen-rechten/


Lealität – R(onj)a Fankhauser – queer, polyamor und non-binär
Autor:in und Student:in – R(onj)a Fankhauser über das facettenreiche Leben.
Ronja Fankhauser identifiziert sich selbst als non-binäre, polyamore und queere Person. Im Gespräch verrät Ra, warum Ra mit mehreren Personen eine Beziehung führt und sich ausserhalb des binären Geschlechterverständnisses positioniert.
https://www.srf.ch/news/gesellschaft/lealitaet-r-onj-a-fankhauser-queer-polyamor-und-non-binaer


Interview mit einer non-binären Person: Sigmond ist weder Mann noch Frau – sondern einfach Sigmond
Unsere binär geprägte Gesellschaft trennt noch immer streng zwischen Mann und Frau, dabei sind Genderidentitäten vielfältig. Sigmond Richli (35) erzählt, wie es ist, non-binär zu sein und mit welchen Diskriminierungen Sigmond im Alltag zu kämpfen hat.
https://www.blick.ch/equalvoice/interview-mit-einer-non-binaeren-person-sigmond-ist-weder-mann-noch-frau-id18001782.html


Co-Präsidentin von Queer Thurgau erstattet Anzeige  (ab 01:27)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/sp-praesident-wir-sind-in-innerrhoden-angekommen?id=12281875


+++RECHTSEXTREMISMUS
Häufung rechtsextremer Symbole: Hakenkreuze und Zahlencodes – wird Langenthal wieder zum «Nazi-Nest»?
In Langenthal BE finden sich vermehrt rechtsradikale Schmierereien und Aufkleber – auch von der Jungen Tat. Ein Stadtrat fordert vom Gemeinderat Präventionsarbeit und eine klare Positionierung.
https://www.20min.ch/story/hakenkreuze-und-zahlencodes-wird-langenthal-wieder-zum-nazi-nest-391432590426


+++HISTORY
Fragwürdige Zürcher Strassennamen: Umstrittene Schilder bei Nacht und Nebel abmontiert
Aktivistinnen und Aktivisten aus dem Umfeld der Juso haben eine Brücke und eine Strasse kurzerhand umbenannt – als Zeichen gegen Antisemitismus, Rassismus und Kolonialismus.
https://www.tagesanzeiger.ch/umstrittene-schilder-bei-nacht-und-nebel-abmontiert-389228488522
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/juso-benennt-in-nacht-und-nebel-aktion-strassen-um-148651879


+++ANTI-WOKE/DREADLOCKSMANIA/WINNETOUWHINING
Sonntagszeitung 06.11.2022

Interview zur Cancel-Culture-Debatte: «Es gibt da eine wahnsinnige Verletzung»

Winnetou-Debatte, Corona-Proteste und Diskussionen um kulturelle Aneignung: Warum sind Menschen so empört? Die Basler Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben zu dieser Frage ein Buch geschrieben, das selbst ihre Gegner mit Interesse lesen.

Andreas Tobler

Hitzige Debatte um kulturelle Aneignung, weil in einer Berner Beiz das Konzert einer weissen Reggae-Band abgebrochen wurde, Diskussion um rassistische Stereotypen beim Kindheitshelden Winnetou, Genderstern und Woke-Theater: Bei Diskussionen zu solchen Schlagworten wird in der Schweiz von einigen rasch die Einschränkung der Meinungsfreiheit beklagt, von Sprechverboten und Minderheitenterror ist die Rede. Oft wird es dabei sehr emotional. Warum ist das so? Und wie kommen wir da wieder raus? Die in Basel lehrenden Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey haben ein Buch veröffentlicht, das Antworten auf diese Fragen gibt.

Was würden Sie einer Person sagen, die angesichts aktueller Debatten und Diskussionen sich nicht mehr getraut, gewisse Dinge zu äussern, weil sie Nachteile fürchtet?

Carolin Amlinger: Als Soziologen würden wir zunächst einmal nachfragen, warum jemand das Gefühl hat, etwas nicht mehr sagen zu können. Ob es wirklich konkrete Alltagserfahrungen gab, in denen die Person für etwas kritisiert oder ausgeschlossen wurde, oder ob es etwas ist, was von den Medien an sie herangetragen wurde.

Oliver Nachtwey: Es kommt auch immer darauf an, was er oder sie sich nicht mehr zu sagen getraut. Man kann ja nach wie vor fast alles sagen – wird halt nur mittlerweile dafür auch öfter kritisiert.

Amlinger: Es ist ja auch gut, wenn gewisse Dinge nicht mehr gesagt werden.

Zum Beispiel?

Amlinger: Wenn sich jemand nicht mehr getraut, sich rassistisch oder antisemitisch zu äussern, dann ist das doch begrüssenswert. Oder wenn jemand sehr gerne noch den «Mohrenkopf» essen möchte, würden wir dafür sensibilisieren, welche Kolonialgeschichte mit diesem Begriff verbunden ist und warum es vielleicht angebracht ist, ein anderes Wort für besagtes Dessert zu wählen.

Nachtwey: Im 17. und 18. Jahrhundert hat man über Schwarzafrikaner gesagt, dass sie keine Menschen seien, sondern Tiere. Im sozialen Fortschritt hat man immer versucht, Befreiung und Gleichberechtigung mitzureflektieren. Das war ein ganz wichtiger Faktor. Ich finde es auch gut, gewisse Stereotype nicht mehr unreflektiert vorzubringen. Ich kann mich aus meiner Kindheit noch sehr gut an den typischen Herrenwitz erinnern, dass Frauen nicht einparkieren können.

Was ist mit der Sorge oder der Wut jener Menschen, die Sprechverbote beklagen und sich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlen? Würden Sie die gar nicht ernst nehmen, weil der soziale Fortschritt hin zur Gleichberechtigung wichtiger ist?

Amlinger: Doch, diese Sorgen und Wut nehmen wir ernst. In der breiten Bevölkerung gibt es Unsicherheiten, was man jetzt noch wie sagen darf. Da hilft es wenig, wenn man rügend den Zeigefinger hebt. Vor allem, wenn die Person niemanden diskriminieren möchte, sondern es nicht besser weiss.

Nachtwey: Aber wenn Leute Angst haben, etwas nicht sagen zu können, dann sollten wir immer unterscheiden, ob diese Angst auf eine Erfahrung zurückgeht oder eine gesellschaftliche Konstruktion von «Angst haben müssen» ist.

Eine gesellschaftliche Konstruktion von «Angst haben müssen»? Können Sie dafür ein Beispiel geben?

Nachtwey: Bei den Corona-Protesten zum Beispiel hiess es, wir würden in einer Diktatur leben. Das war nicht der Fall. Sondern wurde von Angstunternehmern verbreitet. Ängste und Verunsicherungen, die ganz real und auch berechtigt sind, wurden instrumentalisiert. Während der heissen Phase der Pandemie waren alle – auch Journalisten und Politiker – unsicher. Der Zwang zur Schlagzeile und zur Zuspitzung hat zuweilen die allgemeine Angst befördert. Aber die Rede von der «Diktatur» durch den Bundesrat, die auch von Spitzenpolitikern aktiv eingebracht wurde, war nicht nur objektiv falsch, sondern zielte auf die Delegitimierung demokratischer Institutionen.

Es sind aber nicht nur die Gegnerinnen und Gegner der Corona-Massnahmen, die Einschränkungen ihrer Freiheit beklagen. So zum Beispiel, wenn das Konzert einer bisher unbekannten Reggae-Band in einer Berner Beiz wegen kultureller Aneignung abgebrochen wird oder ein neuer Winnetou-Film nicht in die Kinos kommt. Wie ist die Heftigkeit dieser Debatten zu erklären?

Nachtwey: Tatsächlich befinden wir uns in einer sehr aufgeheizten Lage. Wir sprechen in diesem Zusammenhang vom Tocqueville-Paradox. In der Kurzform besagt es, dass je geringer die Unterschiede werden, umso grösser die Empörung über die verbleibenden ausfällt. Mit jedem Schritt hin zu etwas mehr Gleichstellung sind die verbleibenden Ungleichheiten noch viel stärker erklärungsbedürftig.

Erklärt das, warum Minderheiten teils mit einer grossen Vehemenz um ihre Anerkennung kämpfen?

Nachtwey: Wir sehen das nicht nur bei Minderheiten, sondern auch bei den Mehrheiten. Etwa beim Schweizer Frauenstreik von 2019: Die Gleichstellung ist offensichtlich immer noch nicht erreicht, das heisst, es gibt noch viel zu tun. In den 50er- und 60er-Jahren war es gesellschaftlich akzeptiert, dass die Frau zu Hause bleibt, die Kinder hütet, für die Familie kochen soll – und dass der Mann arbeiten geht. Da gab es diese Anspannungen nicht, weil diese Unterschiede selbstverständlich waren.

Wie kommen wir da als Gesellschaft wieder raus, wenn die Spannungen mit jedem Schritt hin zur Gleichberechtigung grösser werden, wenn immer mehr Gruppierungen für ihre Anliegen kämpfen – und andere dadurch Machtverlust befürchten?

Nachtwey: Ich bin ein wenig optimistisch, dass sich das einspielen und der Druck rausgenommen wird. So etwa, wenn neue Arrangements entstanden sind, wenn Männer Macht und Privilegien abgeben und sich in neuen Rollen eingefunden haben. Zum Beispiel, wenn für sie klar ist, dass sie in der Care-Arbeit mehr machen müssen. Zu einer Abkühlung der aufgeheizten Situation wird es wahrscheinlich auch kommen, wenn wir uns auf neue Normen geeinigt haben – und verstehen, dass einige Menschen Wert darauf legen, ohne oder mit einem bestimmten Pronomen angesprochen zu werden.

Sie tun sich damit nicht schwer, wenn jemand ohne Pronomen angesprochen werden möchte?

Nachtwey: Es ist auch für mich sehr gewöhnungsbedürftig, aber ich kann das respektieren und akzeptieren. In einer gleichberechtigteren Gesellschaft könnten aber auch die verhärteten Forderungen nach strikten Sprachregelungen wieder zurückgehen.

Amlinger: Wenn man sich die Anerkennung von nichtbinären Geschlechtsidentitäten empirisch anschaut, dann ist sie in der gesamten Bevölkerung gestiegen. Aber auch sonst hat der Kulturkampf, wie er in den Zeitungen beschrieben wird, oftmals etwas Kontrafaktisches: Meist sind es Personen des öffentlichen Lebens wie Journalisten oder Autoren, die eine hohe Sichtbarkeit haben und die nun den Minderheiten den Vorwurf machen, sie würden den Raum der Meinungsäusserung verengen, wenn sie sich für ihre Anliegen Gehör verschaffen. Dabei haben nur die wenigsten Angehörigen dieser Minderheiten die Möglichkeit, sich über Zeitungen oder das Fernsehen direkt an eine breite Öffentlichkeit zu wenden.

Nachtwey: Wenn man das Feuilleton der NZZ liest, eine Zeitung, die ich ja an sich sehr schätze, dann findet sich darin wöchentlich ein Artikel, der die Identitätspolitik zum Feind der liberalen Gesellschaft erklärt: Das seien Antidemokraten, heisst es dann. Diese Artikel sind intellektuell wahnsinnig redundant, eigentlich ist es immer der gleiche Text. Ich finde das schade, weil damit keine wirkliche Auseinandersetzung mehr stattfindet.

Warum erscheinen diese Texte, obwohl darin immer das Gleiche steht?

Nachtwey: Es ist ein Zeichen, dass es da Kränkung, eine wahnsinnige Verletzung gibt. Und dass diese Artikel schon fast etwas Therapeutisches haben, weil damit dem Machtverlust und den Ängsten entgegengewirkt werden kann.

Als vor einigen Wochen der Ravensburger-Verlag zwei Begleitbücher zu einem neuen Winnetou-Film zurückzog und dieser nach zwei Aufführungen am Zurich Film Festival aus ökonomischen Gründen nicht in die Schweizer Kinos kam, hatten viele das Gefühl, jetzt dürften sie sich nicht einmal mehr an den Winnetou-Filmen und Büchern freuen, die sie als Kinder so gernhatten, die sie genossen. «Ich bin doch kein Rassist, das ist doch wieder nur dieser Minderheitenterror», heisst es dann.

Amlinger: Das ist ein wichtiger Punkt, an dem viele Anstoss nehmen: Man darf nicht mehr unschuldig geniessen. Das Kinderbuch – wie der Konsum von Kunst und Unterhaltung – ist ja ein Bereich, der in der eigenen Selbstwahrnehmung frei ist von Politik. Oder frei sein sollte. Dadurch kommt es zu diesem sehr wirkmächtigen Gefühl, dass eigentlich etwas ganz Unschuldiges, die eigene Kindheitserinnerung, verschmutzt wird durch dieses vermeintliche Winnetou-Verbot.

Ein vermeintliches Verbot?

Amlinger: Ja, es verbietet einem ja niemand, die Bücher zu lesen oder einen Winnetou-Film zu schauen. Es gab lediglich die öffentliche Diskussion darüber, dass das, was in den Winnetou-Büchern steht, eminent politisch ist, und zwar in einer Art und Weise, dass bestimmte kulturelle Minderheiten verletzt und diskriminiert werden. Weil es in den Filmen und Büchern Schablonen gibt, die der Pluralität und Vielfalt der Indigenen nicht gerecht werden.

Sollte man also dennoch auf Winnetou verzichten?

Amlinger: Nein, aber man sollte gerade als Eltern reflektieren, wie junge Menschen die Welt wahrzunehmen lernen, wenn man ihnen Winnetou vorliest. Und was diese Bücher und Filme für Klischees und Stereotype weitererzählen, die einem selbst vielleicht gar nicht bewusst sind, die aber andere Personen verletzen können.

«Es ist eine sehr aufgeheizte Lage.» – Oliver Nachtwey erklärt, warum das so ist – mit dem Tocqueville-Paradox.
Video: Tamedia
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv446799h.mp4

Die Hauptthese Ihres Buches besagt, dass etwas grundlegend falsch läuft in unserer Gesellschaft: Das Freiheitsversprechen, dass jede und jeder sich selbst verwirklichen kann, könne vom Kapitalismus nicht erfüllt werden. Das führe zu Frustration und letztlich zu Ressentiments gegenüber anderen. Dennoch waren wir – mal abgesehen von der Pandemie – eigentlich noch nie so frei und wohlhabend wie heute. Sie aber sagen, dass wir Freiheit sinnvollerweise nur als «Freiheit in Abhängigkeit» denken und leben können.

Nachtwey: Wir haben keinen normativen Freiheitsbegriff, sondern einen soziologischen. Freiheit ist etwas zutiefst Gesellschaftliches. Wir sind nur individuell frei, wenn wir es auch gemeinsam sind.

Amlinger: Gerade in der Pandemie hat man ja gesehen, dass individuelle Entscheidungen, die von den Einzelnen vielleicht als Freiheit erlebt werden, für grosse Teile der Bevölkerung ganz gravierende Folgen haben können. Massnahmenkritiker begründeten ihr individuelles Freiheitsrecht, keine Maske zu tragen, oftmals damit, dass sie selbst sehr widerstandsfähig seien und über eine starke Gesundheit verfügen würden.

Oder dass sie mit Globuli gegen Corona vorbeugen können.

Amlinger: Genau, ausgeblendet wurde dabei, dass die individuelle Entscheidung der Maskenverweigerung dazu führt, dass das Gegenüber einer gesundheitlichen Gefahr ausgesetzt wird. Ausgehend von diesem Beispiel kann man sehr gut dafür sensibilisieren, dass wir nur miteinander agieren können, um als Gesellschaft überhaupt fortbestehen zu können. Und im Fall der Pandemie ja tatsächlich in einer ganz existenziellen Weise.

Nachtwey: Die Pandemie wurde lange als medizinisches oder als biologisches Phänomen betrachtet. Aber gerade das Beispiel der Maske zeigt, dass sie ein höchst soziales Phänomen ist. Nicht zuletzt, weil die Verbreitung des Virus auf sozialen Interaktionen beruht.

Einige würden da nun dagegenhalten und sagen, Freiheit ist, wenn ich selbst bestimmen kann, wenn ich niemandem etwas schuldig bin – und von niemandem abhängig, weil ich über Geld verfüge, das ich selbst erarbeitet habe.

Nachtwey: Es stimmt natürlich, dass man mit sehr viel Geld sehr frei ist. Aber auch wenn ich wohlhabend bin, bügelt irgendjemand meine Hemden, kümmert sich um die Kinder und macht dann die Wohnung oder das Haus sauber. Es ist im Prinzip auch gar nichts dagegen zu sagen, dass Leute auf ihrer individuellen Freiheit bestehen. Aber man muss auch diese soziale Bedingtheit der Freiheit mitdenken.

Und dies in einer Zeit, in der unsere Wahlfreiheiten noch nie grösser waren?

Nachtwey: Sicherlich sind unsere Wahlfreiheiten grösser. Aber nur, weil es grosse gesellschaftliche Vorleistungen gibt, etwa Schulen, das Gesundheitssystem, die Spitäler, die Universitäten, eine Verkehrsinfrastruktur, damit wir auf den Strassen fahren können. Das sind nicht die Errungenschaften von einzelnen Personen, sondern kooperative, also gesellschaftliche Leistungen.

Amlinger: Über die man auch mal fluchen kann, etwa über die zahlreichen Baustellen hier in Basel, wo wir wohnen. Uns ist es auch wichtig, zu vermitteln, dass es nicht unbedingt eine Gefährdung der individuellen Freiheit ist, wenn wir voneinander abhängig sind. Vielmehr ist mit Freiheit in Abhängigkeit ein Ermöglichungsverhältnis gemeint, das uns auch eigene Räume der Unverfügbarkeit verschafft, in die das Soziale überhaupt nicht eindringt.

Also dass ich freie Wochenenden habe oder in die Ferien kann, wo ich mich sehr frei fühle, weil dann andere in der Firma weiterarbeiten?

Amlinger: Genau, das wäre ein Beispiel dafür. Das Problem ist nicht die soziale Abhängigkeit, sondern eine Abhängigkeitsvergessenheit. Also dass Menschen glauben, sie würden isoliert und unabhängig von der Gesellschaft existieren.

Nachtwey: Das ist unser Hauptpunkt. Wir wenden uns damit gegen das, was in den letzten 20 Jahren passiert ist. Dass man Verantwortung für sein eigenes Leben übernimmt, ist etwas Wichtiges. Aber wenn man sagt, Eigenverantwortung schliesse aus, dass man auch Verantwortung für andere übernimmt, dann verhält man sich wie Robinson auf seiner Insel. Jeder Mensch, der Kinder hat, weiss, dass das so nicht funktioniert. Kinder sind nicht nur von den Eltern tagtäglich existenziell abhängig, sondern von Freunden, Verwandten, Erzieherinnen.

Wenn von «Freiheit in Abhängigkeit» die Rede ist, dann werden einige befürchten, dass ihre Freiheit auf Kosten von Minderheiten beschränkt wird. Dass man gewisse Dinge nicht mehr tun darf, zum Beispiel Witze über Transpersonen machen. Ist mit «Freiheit in Abhängigkeit» eine Verzichtleistung gemeint? Und wenn ja, wo bleibt denn da noch die Freiheit?

Amlinger: An Witzen lässt sich unsere Theorie gut beschreiben. Einen Witz erzählt man meist nicht für sich, sondern man erzählt ihn anderen. Natürlich steht es jedem frei, rassistische oder sexistische Witze zu machen. Aber man muss dann eben auch damit rechnen, dass dem Gegenüber das Lachen im Halse stecken bleibt. Wenn jemand seine Missbilligung äussert, dann erfährt man sehr deutlich, dass die eigene Freiheit, zu sagen, was man will, gemeinsam ausgehandelt wird.

Aber von einigen wird genau dies sofort als Einschränkung oder Kränkung empfunden.

Amlinger: Klar, meist fühlt man sich doch gekränkt, wenn einem vorgeworfen wird: «Hör mal, du schiesst da jetzt übers Ziel hinaus.» Eine Einschränkung, die mit Zwang einhergeht, ist es indes nicht. Aber wenn das Lachen nach einem schlechten Witz ausbleibt, dann hat man vielleicht auch gar nicht mehr so eine grosse Freude daran, so frei zu sein, diesen Witz erzählen zu können.

Wenn es in aktuellen Debatten um Humor geht, ist es oftmals so, dass ein Teil der Gesellschaft einen Witz lustig findet, während der andere Teil sagt, das ist jetzt aber sexistisch oder rassistisch. Brauchen wir ein Schiedsgericht, das in diesen Fällen entscheidet?

Nachtwey: Ich bin nicht dafür, dass wir alle Anspielungen und auch alle Flirts abklopfen und überprüfen, ob sie politisch korrekt sind. Vielmehr gehört es zur Sprache dazu, dass es immer einen ungesagten Teil gibt, dass sie mehrdeutig sein kann. Das heisst, wir brauchen so etwas wie Ambiguitätstoleranz.

Also dass wir Vieldeutigkeiten und Unsicherheiten zur Kenntnis nehmen und aushalten können?

Nachtwey: Genau. Wenn mir aber jemand sagt, «für mich gehört zur Freiheit dazu, etwas Rassistisches sagen zu dürfen», dann würde ich entgegnen: Nein, das gehört für mich nicht zur Freiheit, andere Menschen zu erniedrigen. Es hat vielmehr etwas mit Rassismus zu tun. Und dass die Leute, die beleidigt werden, in ihrer Freiheit eingeschränkt sind.

Inwiefern?

Nachtwey: Sie müssen sich diese Kränkung gefallen lassen. Da geht es dann auch nicht um Freiheit, sondern um die Herstellung von Hierarchie zwischen Etablierten und Aussenseitern. Nicht zuletzt sind rassistische Äusserungen Teil einer gesellschaftlichen Normalisierung, die dann auch gesellschaftliche Folgen hat – in Form von Gewalt gegen Minderheiten aus rassistischen Gründen, die immer noch sehr stark existiert.

«Ich bin ein wenig optimistisch, dass mit dem Erfolg von sozialen Bewegungen später auch Druck rausgenommen wird.» Oliver Nachtwey und Caroline Amlinger im Interview.
Video: Tamedia
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv446800h.mp4

Aber was sagen Sie den Corona-Skeptikern und allen anderen, die darunter leiden, dass das Freiheitsversprechen sich für sie nicht erfüllt?

Nachtwey: Da müsste man mit Psychologen sprechen, was jetzt die konkrete Ansprache an Einzelpersonen wäre. Als Soziologen haben wir festgestellt, dass unsere Gesellschaft sehr stark auf Autonomie und Selbstverwirklichung aufgebaut ist. Aber in dem Moment, wo diese positiven Werte bis zu ihrem Ende getrieben werden, löst sich das Soziale und Solidarische auf.

Und das führt dann zu Verhärtungen?

Nachtwey: Genau, die Einzelnen fühlen sich ohnmächtig. Das führt dann oft zu Ressentiment und Wut. Da würde ich versuchen anzusetzen. Ich glaube, wir brauchen eine Gesellschaft, in der Menschen sich weniger ohnmächtig fühlen.

Amlinger: Und wir uns weniger auf uns allein gestellt sehen. Es geht jetzt auch nicht unbedingt darum, die Einzelnen anzusprechen, etwa im Sinn von: «Wir leben in Gesellschaft, sei mal ein bisschen solidarischer.» Sondern dass man sich die gesellschaftlichen Institutionen anschaut, wie sie verbessert werden können – und damit wegkommt vom reinen Prinzip der alleingelassenen Eigenverantwortung.

Nachtwey: Die Abhängigkeitsvergessenheit ist ja auch eine problematische Folge davon, dass die Gesellschaft sich selbst zu wenig thematisiert. Das klingt jetzt wahnsinnig soziologisch. Aber es gibt mehrere drängende Probleme, wo wir dies festmachen können. Etwa beim Klimawandel, der durch gesellschaftliche Entwicklungen entstand – und dem auch nur gesellschaftlich begegnet werden kann. Ebenso das Coronavirus, das ja auch mit der kapitalistischen Zivilisation zu tun hat.

Weil wir um die Welt jetten – und so das Virus verbreitet wurde?

Nachtwey: Genau. Man braucht nicht den alten Arbeitermilieus oder -quartieren nachzutrauern, da ging es auch nicht immer fromm und friedlich zu. Aber diese Milieus beruhen erst mal auf bestimmten Solidaritätsbindungen, die entlastend wirken konnten. Wenn man scheiterte, arbeitslos wurde und Probleme im Job hatte, war es immer eine Form von kollektiver Verarbeitung.

Inwiefern?

Nachtwey: Man hatte die Möglichkeit, in der Gemeinschaft das zu verarbeiten und die Schuld nicht nur bei sich zu suchen. Diese Entlastungsfunktion gab es nicht nur in der Arbeiterbewegung, sondern teilweise auch in christlichen und konservativen Milieus.

Heute scheinen diese Möglichkeiten des Austauschs und der Entlastung zu fehlen.

Nachtwey: Ja, aber dies hat natürlich auch sehr stark mit dem gesellschaftlichen Wandel zu tun. Die alten Milieus haben sich weitgehend aufgelöst. Heute haben wir New-Work-Büros. Ein Drittel der Leute ist dann gar nicht mehr da, sondern arbeitet im Homeoffice. Die Arbeitszeiten sind flexibler, die Familien kleiner. Aber in der Schweiz gibt es immer noch diese Kultur des Stammtisches in den Beizen.

Viele Intellektuelle haben Dünkel gegenüber dem Stammtisch. Sie nicht?

Nachtwey: Ich sehe das positiver: Der Stammtisch ist ein geselliger Ort, wo Emotionen und Ressentiments ausgetragen werden können. Wenn einer überschiesst, dann sagt der Kollege oder der Wirt: «Jetzt ist aber auch mal gut.» Die Entladung von Affekten findet also unter Beobachtung und einer gewissen sozialen Kontrolle statt. Deshalb sind auch der Fussball und andere Grossveranstaltungen so wichtig geworden, weil es ein emotionales Bedürfnis der Affektentladung gibt.

Die sozialen Medien haben heute für viele die Funktion des Stammtisches übernommen. Dort geht es sehr hart zu. Nicht zuletzt, weil diese Plattformen von Unternehmen betrieben werden, die ganz klar Gewinnabsichten haben – und die mit ihren Algorithmen alles dafür tun, damit die Leute dort möglichst viel Zeit verbringen. Und nichts verbraucht so viel Zeit wie Streit.

Amlinger: Wir stellen nicht in Abrede, dass es in den sozialen Medien sehr hart zugehen kann. Und dass es dabei auch zu Verhärtungen kommt, die verhindern, dass sich die Nutzerinnen und Nutzer argumentativ austauschen. Stattdessen werden Gegner hergestellt, verletzt und vernichtet. Das Paradoxe ist aber, dass gerade durch die sozialen Medien die Orte der Begegnungen sehr viel grösser geworden sind. Wir kommen dadurch nicht nur mit anderen Menschen, sondern auch anderen Meinungen in Kontakt.

Für Sie überwiegt das Positive an den sozialen Medien trotz Shitstorm-Ökonomie – und obwohl Elon Musk, der gerne mit dem Feuer spielt, gerade Twitter gekauft hat?

Amlinger: Wir würden eher darauf hinweisen, dass in den sozialen Medien gesellschaftliche Konflikte sichtbarer werden, weil sie öffentlich ausgetragen werden. Das ist auch das, was die sozialen Medien leisten: Sie erlauben es, Kämpfe um Teilhabe und um soziale Integration auf eine ganz andere Art und Weise auszutragen. Selbstverständlich kann damit einhergehen, dass es zu einer Verhärtung kommt, nicht zuletzt, weil die sozialen Medien in der Struktur der Aufmerksamkeitsökonomie so etwas natürlich auch begünstigen.

Nachtwey: Aber ansonsten fehlen Institutionen, in denen auch mal negative Gefühle in der Gesellschaft zum Ausdruck gebracht werden und sich wieder einspielen können. Stattdessen sind wir sehr stark auf uns selbst gestellt und müssen alles mit uns selbst ausmachen.

Was tun? Stammtische gründen und Quartierbeizen eröffnen?

Nachtwey: Nein, das würde wohl auch nicht funktionieren. Aber in der Schweiz gibt es mit dem direktdemokratischen Verfahren ja etwas Interessantes, was zur Entradikalisierung beiträgt. Das haben wir auch in der Corona-Pandemie gesehen, wo die Wut und die Empörung nach den Abstimmungen nachliessen. Abstimmungen sind auch sonst ein wichtiges Mittel, um etwas politisch sichtbar zu machen und für eine gewisse Abkühlung zu sorgen.

Nun könnten die Corona-Zahlen wieder steigen. Die Kantone haben schon mal mit dem Gedanken gespielt, die Maskenpflicht in Innenräumen einzuführen. Wie kann verhindert werden, dass sich grössere Gruppen angesichts solcher Massnahmen radikalisieren?

Amlinger: Zunächst einmal könnte man ja aus den Fehlern der vergangenen Jahre lernen, welche die Politik in der öffentlichen Kommunikation gemacht hat.

Nachtwey: Eine bessere Fehlerkultur könnte helfen. Das Bundesamt für Gesundheit hat sich quasi selbst evaluiert – und war dabei nicht wirklich selbstkritisch. Ich würde mir wünschen, dass man Fehler, die man gemacht hat, auch eingesteht, etwa bei den Masken.

Bei den Masken hiess es zu Beginn der Pandemie, sie seien nicht nötig, sie würden nichts bringen. Das war ein Irrtum.

Nachtwey: Ja. Es sollte deshalb auch gesagt werden, wie es zu dieser Fehleinschätzung kommen konnte. Wenn der Eindruck entsteht, die Politik wolle um jeden Preis ihre vergangenen Fehler zukleistern, dann schürt das nicht gerade das Vertrauen. Das ist fatal. Nicht zuletzt, weil Vertrauen etwas ist, was nicht eingefordert werden kann. Vertrauen muss erworben werden. Auch von der Politik.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Suhrkamp, 480 Seiten, ca. 42 Fr.



Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey

Die in Deutschland geborenen Soziologen Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey lehren in Basel, wo das Paar mit seinem Kind als Familie lebt. Carolin Amlinger, geboren 1984, veröffentlichte eine 800-seitige Studie über das Schreiben. Oliver Nachtwey, geboren 1975, gab ein Buch über verkannte Leistungsträgerinnen etwa im Pflegebereich und der Putzindustrie heraus. Für ihr gemeinsames Buch «Gekränkte Freiheit» führte das Paar über 60 Interviews mit Menschen, die sich meist in der Pandemie radikalisiert hatten.
(https://www.derbund.ch/es-gibt-da-eine-wahnsinnige-verletzung-714763448190)