Medienspiegel 29. Oktober 2022

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+++BERN
ajour.ch 29.10.2022

Asylsituation im Kanton Bern: Die Ressourcen könnten knapp werden

Die hohe Zahl Flüchtender beschäftigen die Kantonsbehörden. Die Verantwortlichen suchen «händeringend» nach Unterkünften und Personal.

Carlo Senn

Normalerweise betreibt der Bund im Kanton Bern zwei Bundesasylzentren: eines in Kappelen und das andere in Bern im ehemaligen Zieglerspital. Derzeit ist allerdings nichts normal: Die Zahl der Asylgesuche steigt seit Monaten stark an, es kommen wieder so viele Menschen in die Schweiz wie seit der Flüchtlingskrise 2015 nicht mehr.

Die Asylsuchenden werden in der Schweiz nach Bevölkerungsanteil den Kantonen zugeteilt. Somit kommen rund 12 Prozent der Geflüchteten nach Bern.

Um den Kapazitätsengpässen etwas entgegenzuwirken, hat der Bund im Kanton Bern zwei neue Asylzentren in Betrieb genommen: den Sand in Urtenen-Schönbühl sowie eine Sport­halle auf dem Waffenplatz Thun.

Sie bieten je Kapazität für rund 200 Personen, beim Einrichten war die Armee behilflich. Die Armee unterstützt das Staatssekretariat für Migration (SEM) schweizweit zudem mit rund 20 Fahrerinnen und Fahrern. Sie transportieren die Asylsuchenden zu den Zentren.

Wie das SEM auf Anfrage bestätigt, sind beiderorts Asylsuchende untergebracht: in Thun rund 100 und in Schönbühl rund 60 Personen. Derzeit plant das SEM nicht, diesen Winter noch weitere Zentren in Betrieb zu nehmen. Dies dürfte denn auch schwierig sein. Zwar hat die Armee noch weitere Reserven, die sie zur Verfügung stellen könnte, allerdings sind diese lediglich für wenige Wochen frei, wie ein Sprecher auf Anfrage mitteilt. Als Grund gibt das Verteidigungsdepartement die Armee­reform an: In deren Folge wurde Infrastruktur abgebaut, die sich für längerfristiges Unterbringen eignet.

Über 100 Flüchtende pro Woche

Weil der Bund mit der Anzahl Flüchtender stark gefordert ist, verbringen sie deutlich weniger Zeit in den Bundesasylzentren. Im Schnitt bleiben die Asylbewerber derzeit rund 75 statt der üblichen 140 Tage in den Bundes­asylzentren. Dies betrifft letztlich insbesondere Migranten aus den nordafrikanischen Staaten, die nun rascher einen Asylentscheid erhalten.

Danach kommen viele in kantonale Kollektivunterkünfte. Diese sind im ganzen Kanton verteilt. So rechnet der Kanton pro Woche mit 100 neuen Schutzsuchenden, die nicht aus der Ukrai­ne stammen. Personen aus der Ukraine verbringen deutlich weniger Zeit in Asylzentren, weil sie oft rasch einen positiven Entscheid erhalten.

Nun gilt es für die Behörden, alle Mittel bereitzustellen, um die hohe Zahl Personen versorgen und betreuen zu können: «Alle Ressourcen könnten knapp werden», sagt Gundekar Giebel, Leiter Kommunikation der Berner Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion, auf Anfrage. Mit zunehmender Kälte rechnen die kantonalen Behörden mit ­einem weiteren Zustrom ukrainischer Flüchtender. Giebel sieht Bern jedoch gut vorbereitet.

Nächstes Jahr will der Kanton unter anderem das leer ste­hende Hotel Gurnigelbad neu als Kollektivunterkunft nutzen, wei­tere rund sechs Unterkünfte ­seien in Planung. Die Suche laufe aber weiter.

500 neue Mitarbeitende, 60 Stellen unbesetzt

Neben dem Mangel an Kollektivunterkünften ist besonders auch die Personalsituation sehr schwierig. Abhilfe sollen nun auch Zivildienstleistende schaffen, die im Kanton Bern ihren Dienst im administrativen Bereich leisten sollen.

Betreiber der Bundesasylzentren, der Rückkehrzentren und einiger Kollektivunterkünfte in Bern ist das private Unternehmen ORS. «Wir suchen händeringend nach Personal», sagt Mediensprecher Lutz Hahn. So habe man seit Jahresbeginn bereits 500 neue Mitarbeitende eingestellt, davon in den letzten acht Wochen 100 für die Bundesasylzentren. Dennoch seien 60 Stellen weiterhin unbesetzt.

Grundsätzlich habe man die geforderten Ressourcen zur Verfügung stellen können, so Lutz Hahn weiter. «Oberste Priorität hat in der jetzigen Situation, dass jeder Gesuchsteller ein Bett bekommt», sagt Hahn. Dennoch müssten bei den Betreuungs­angeboten teilweise Abstriche gemacht werden.

Doch die Rekrutierung von Fachkräften wie Sozialpädagogen oder medizinischem Pflegepersonal sei «im ausgedünnten Arbeitsmarkt» schwierig. «Wenn der Migrationsdruck weiter anhält, müsste möglicherweise auch der Zivilschutz stärker eingebunden werden», so Hahn.
(https://ajour.ch/story/asylsituation-im-kanton-bern-die-ressourcen-knnten-knapp-werden/37246)


+++AARGAU
In Aarau hat erstmals ein Flüchtlingsparlament getagt. Die Flüchtlinge konnten dort verschiedene Anliegen  (ab 05:39) anbringen – beispielsweise bessere Lebensbedingungen für vorläufig Aufgenommene.


+++SCHWEIZ
Personal frustriert: SEM baute Stellen in Bundesasylzentren ab
Trotz angespannter Asylsituation hat das SEM hat im Sommer radikal Stellen in den Bundesasylzentren abgebaut. Mitarbeiter sind frustriert.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/personal-frustriert-sem-baute-stellen-in-bundesasylzentren-ab-66317991


Prekäre Flüchtlingssituation – Warum nehmen Asylanträge aus der Türkei zu?
Die Schweiz erlebt eine Flüchtlingssituation wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Viele Menschen kommen aus der Türkei.
https://www.srf.ch/news/schweiz/prekaere-fluechtlingssituation-warum-nehmen-asylantraege-aus-der-tuerkei-zu



tagblatt.ch 29.10.2022

«Mein Vater drohte mir, mich an meinem eigenen Kopftuch zu erhängen»: Iranerin flieht vor dem Regime – doch die Schweiz gibt ihr kein Asyl

Sara Mohammadi, 26, könnte bei «Burger King» arbeiten, doch sie darf nicht mehr. Sie muss die Schweiz sofort verlassen. Sie ist eine von vielen Iranerinnen, die hier in einer aussichtslosen Situation stecken.

Andreas Maurer

Schon als Mädchen wollte Sara Mohammadi auf eigenen Beinen stehen. Mit acht Jahren bestand sie darauf, alleine in die Schuhe zu gehen. Sie wollte nicht wie die anderen Kinder, vom Vater mit dem Auto gefahren werden. Dabei war der Schulweg wegen des vielen Verkehrs gefährlich. Sie wuchs in Sanandadsch auf, einer kurdischen Stadt im Westen Irans, nahe der Grenze zum Irak.

Mit 18 heiratete sie zum ersten Mal. Sie wählte ihren Ehemann zwar selber aus, doch schon während der Verlobungszeit bereute sie den Entscheid und wollte sich von ihm trennen. Ihre Eltern erlaubten ihr das aber nicht und so heiratete sie ihn trotzdem.

Die Ehe war von Anfang an unglücklich, weil ihr Mann ihr ständig vorschrieb, was sie zu tun hatte und was nicht. Erst als sie drohte, sich umzubringen, akzeptierten ihre Eltern eine Scheidung. Ihr Vater drängte sie allerdings, bald wieder zu heiraten, und schlug ihr einen 24 Jahre älteren Mann vor. Sie erzählt: «Mein Vater drohte mir, mich an meinem eigenen Kopftuch zu erhängen, falls ich seinen Freund nicht heirate.»

Beruflich hatte sie zwar eine Perspektive im Iran. Sie hatte an der Universität Recht studiert und arbeitete als Assistentin in einer Anwaltskanzlei. Aber sie hielt es nicht mehr aus, sich den Männern unterzuordnen. Als sie in einem pinken Mantel unterwegs war, wurde sie von Sittenwächtern festgenommen und musste eine Entschuldigung unterschreiben.

Eine Frau alleine auf der Flucht, drei Monate lang

Am Tag ihrer geplanten Hochzeit verschwand sie, ohne ihrer Familie etwas zu sagen. Eine Freundin wartete in einer Gasse in einem Taxi, mit dem sie zu einem Schlepper fuhr. Die inzwischen 22-Jährige reiste über die Balkanroute, überquerte alle Grenzen zu Fuss, fror in den slowenischen Bergen und rannte vor Einwohnern in kroatischen Dörfern davon, die mit Gewehren auf sie schossen. Heute sagt sie: «Welche Frau macht so eine gefährliche Reise wie ich, wenn sie vorher nicht in Lebensgefahr war?»

Nach einer dreimonatigen Reise kam sie in der Schweiz an. Sie dachte, im Land, wo die UNO ihren Sitz hat, werde sie sofort aufgenommen, wenn sie erzähle, dass sie als Frau vor einem frauenfeindlichen Regime geflüchtet sei.

Doch das ist nicht so. Sie muss eine persönliche Verfolgung nachweisen können. Das gelang ihr nicht.

Das Gericht glaubte ihr ihre Geschichte nicht

Das Staatssekretariat für Migration hielt ihre Schilderung der Zwangsheirat für unglaubwürdig. In zwei Befragungen erzählte sie ihre Geschichte unterschiedlich und verstrickte sich in Widersprüche. Die Migrationsbehörden wollten zum Beispiel wissen: «Wann haben Sie zum ersten Mal ernsthaft mit Ihrem Vater über die Heirat gesprochen?» Darauf nannte sie unterschiedliche Zeitpunkte. Es sei ein schleichender Prozess gewesen, den sie nicht so klar festmachen könne, sagte sie.

Ein Dreiergremium des Bundesverwaltungsgerichts – zwei SVP, ein SP – konnte sie mit solchen Einwänden nicht überzeugen. Ihre Angaben seien zu vage, heisst es im Urteil von Ende August. Es ist rechtskräftig.

Leere Drohung des Migrationsamts

Am 4. Oktober erhielt sie vom Luzerner Migrationsamt die Aufforderung zur Ausreise. Sie ist inzwischen 26 Jahre alt, lebt seit vier Jahren in der Schweiz und hat in dieser Zeit gut Deutsch gelernt. Doch nun müsse sie das Land sofort verlassen, sonst könne sie verhaftet und polizeilich ausgeschafft werden, heisst es im Brief. Falls sie freiwillig gehe, erhalte sie 6000 Franken für den Flug und den Wiederanfang im Iran.

Sara Mohammadi verweigerte die Unterschrift. Sie befürchte, ihr Vater werde sie umbringen, wenn er sie wiedersehe. Als alleinstehende Frau könne sie sich im Iran kaum vor ihrer Familie verstecken. Der Name ihres Vaters stehe im Pass an erster Stelle. Im Iran gehe es immer schnell und irgendjemand melde der Familie, wo ihre Tochter gerade sei.

Eine Ausschaffung hat sie allerdings ohnehin nicht zu befürchten. Denn der Iran ist neben Eritrea das einzige Land, das keine zwangsausgeschafften Landsleute zurücknimmt. Deshalb hat sich mit der Ausreiseaufforderung des Migrationsamts vor allem etwas geändert: Sie darf nicht mehr arbeiten.

Solidarität bei Burger King: Ihr Team will ihr helfen

Sie hatte einen Job in einer «Burger King»-Filiale, der ihr gefiel. Ihre Vorgesetzten bedauern ihren Abgang und setzen sich in einem Brief für sie ein. Sara sei sehr gut integriert, eigne sich für eine höhere Position im Betrieb und werde vom ganzen Team vermisst, schreiben sie. Doch das hat nichts bewirkt.
-> https://img.chmedia.ch/2022/10/27/71f3921d-3f92-4266-b40f-9cc6dd810b26.jpeg

So wie Sara Mohammadi geht es vielen Landsleuten in der Schweiz. 254 Iranerinnen und Iraner leben hier, die eigentlich sofort ausreisen müssten. Da sie sich nicht daran halten, sind sie zum Nichtstun verurteilt. Nur jede fünfte Person aus dem Iran erhält hier Asyl.

    Stellungnahme der #Schweiz zu den Protesten in #Iran pic.twitter.com/E7nK90gBuq
    — EDA – DFAE (@EDA_DFAE) October 5, 2022

Der Fall ereignet sich in einem politisch brisanten Umfeld. Die Schweiz ist zwar offiziell «bestürzt» über die vielen Todesopfer bei den Protesten im Iran und will sich für die Frauenrechte einsetzen. Doch das bedeutet nicht, dass sie alle Frauen aufnimmt, die unter diesen Umständen nicht mehr im Iran leben wollen. Sie müssen nachweisen können, dass sie gezielt verfolgt und keinen Schutz erwarten können. Sara Mohammadi fragt: «Wie soll ich das nachweisen? Indem ich zurückreise und sterbe?»

Sie sitzt auf einem schwarzen Ledersofa in einer kleinen Wohnung in Rain, einem Dorf auf einer Hochebene zwischen Sursee und Luzern. Sie blättert in ihrem Dossier. Eine Träne tropft auf die amtlichen Papiere.

Sie wohnt bei ihrem Freund, einem Iraner, den sie auf der Reise in Bosnien kennen lernte. Er hat ebenfalls kein Bleiberecht, der Entscheid ist aber noch nicht rechtskräftig. Er sei der erste Mann, mit dem sie zusammen sei, der Verständnis für sie habe und ihr keine Vorschriften mache. Das Paar schläft in der Wohnung auf dem Boden; für ein Bett reiche das Geld nicht aus. Sie sagt: «Ich bin lieber arm, aber frei, statt im Iran mit etwas mehr Geld, aber ohne Freiheit.»

Die vielen mutigen Frauen, die in ihrer Heimat auf die Strasse gehen, würden ihr Hoffnung machen. Aber sie zweifle daran, ob langfristige Veränderungen möglich seien, solange das Regime so brutal dagegen vorgehe.

Sara Mohammadi hat an vier Kundgebungen in Bern und Zürich teilgenommen. Besonders bewegt sei sie, wenn die Demonstrantinnen jeweils den Protestsong anstimmten. Jeder Satz enthalte ihren Schmerz. Der Songtext ist eine Sammlung von Tweets und zählt die Motive der Aktivistinnen auf:

Für einen Tanz auf der Strasse
Für die Angst, geliebte Menschen zu küssen
Für meine Schwester, deine Schwester, unsere Schwestern (…)
Für Frauen, Leben, Freiheit
-> https://youtu.be/aNhEoQara9A

Was Sara Mohammadi nicht weiss: Die Proteste könnten ihr Leben dennoch verändern. Auf Anfrage teilt das Staatssekretariat für Migration mit: «Eine in Iran drohende Verfolgung aufgrund der Teilnahme an regimekritischen Protesten (im Iran oder in der Schweiz) führt zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Diese Praxis gilt auch für die aktuellen Proteste.» Ein Hoffnungsschimmer bleibt.
(https://www.tagblatt.ch/schweiz/frauenrechte-iranerin-flieht-vor-dem-regime-weil-sie-in-freiheit-leben-will-doch-die-schweiz-gibt-ihr-kein-asyl-ld.2364357)


+++ÖSTERREICH
Was die Flüchtlingszelte ausgelöst haben und wer daraus Profit schlägt
Der Aufbau von Zelten zur Unterbringung von Asylwerbern zeigt Wirkung. Die Bundesländer schufen vereinzelt Quartiersplätze. Mit Blick auf das Fluchtgeschehen dürfte das aber nicht genügen
https://www.derstandard.at/story/2000140389162/was-die-fluechtlingszelte-vom-zaun-gebrochen-haben?ref=rss


+++MITTELMEER
Hunderte gerettete Migranten warten im Mittelmeer auf sicheren Hafen
Auf den Schiffen von Hilfsorganisationen warten derzeit hunderte Flüchtlinge darauf, in einen sicheren Hafen gebracht zu werden.
https://www.nau.ch/news/europa/hunderte-gerettete-migranten-warten-im-mittelmeer-auf-sicheren-hafen-66318689


+++GASSE
Berner Bettler rüstet sich mit Kartenlesegerät aus
Ein Nau.ch-Leserreporter staunt nicht schlecht, als ein Bettler plötzlich den Kartenleser zückt.
https://www.nau.ch/news/schweiz/berner-bettler-rustet-sich-mit-kartenlesegerat-aus-66303339


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Am Boden festgeklebt: Polizei führt Klimaaktivisten von der Lorrainebrücke in Bern ab
Mal wieder kleben sich Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten auf der Strasse fest. Dieses Mal trifft der Protest die Stadt Bern.
https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/klimaaktivisten-blockieren-lorrainebruecke-in-bern-148556901
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/renovate-schlaegt-wieder-zu-klebe-aktivisten-blockieren-lorrainebruecke-in-bern-id18005193.html
-> https://www.handelszeitung.ch/newsticker/umweltaktivisten-blockieren-strassenbrucke-in-stadt-bern-542909?utm_term=Autofeed&utm_campaign=article_traffic&utm_medium=Social&utm_source=Twitter#Echobox=1667050251
-> https://www.derbund.ch/klima-aktivisten-blockieren-verkehr-auf-der-lorrainebruecke-931258910474
-> https://www.watson.ch/schweiz/bern/202373386-renovate-switzerland-umweltaktivisten-blockieren-bruecke-in-stadt-bern


Winterthur: Rehmasken-Hausbesetzer zu Geldstrafen verurteilt
Anfangs September besetzen Aktivisten ein Haus an der Römerstrasse in Winterthur. Mit Tiermasken im Gesicht verbarrikadierten sich die Besetzerinnen und narrten vom Dach aus die Polizei. Dafür wurden die vier jungen Frauen und Männer wurden nun zu Geldstrafen verurteilt.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/rehmasken-hausbesetzer-zu-geldstrafen-verurteilt-148530622


Klimaaktivisten demonstrieren gegen Notkraftwerk in Birr
Im Februar sollen in Birr acht neue Ölkraftwerke in Betrieb genommen werden. Dagegen gingen am Samstag in Birr erneut Menschen auf die Strasse. Die Bewegung Klimastreik Schweiz schreibt von 70 Demonstranten – die Polizei spricht von deutlich weniger Teilnehmenden.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/klimastreik-schweiz-klimaaktivisten-demonstrieren-gegen-notkraftwerk-in-birr-ld.2365409
-> https://www.blick.ch/schweiz/mittelland/aargau/erdoellobbyiste-ab-id-chischte-aktivisten-protestieren-gegen-reservekraftwerk-in-birr-ag-id18005500.html
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/protest-gegen-notkraftwerk-148560397
-> https://www.telem1.ch/aktuell/protest-klimaaktivisten-demonstrieren-in-birr-gegen-das-notkraftwerk-148560499


+++POLIZEI LU
Demütigende Leibesvisitationen: Heidi Joos erkämpft Praxisänderung der Luzerner Polizei
Wenn die Luzerner Polizei jemanden festnimmt, wurde immer eine Leibesvisitation durchgeführt, bei der sich die Personen ausziehen mussten. Diese Praxis verstösst gegen die Menschenrechte. Jetzt ändert sie ihr Vorgehen – dank der ehemaligen Politikerin Heidi Joos.
https://www.zentralplus.ch/justiz/heidi-joos-erkaempft-praxisaenderung-der-luzerner-polizei-2467357/


+++RECHTSEXTREMISMUS
suedostschweiz.ch 29.10.2022

Die gefährliche Wanderlust der jungen Neonazis

Die rechtsradikale Szene gibt sich neu sportlich und naturverbunden. Kein Grund, die jungen Leute zu unterschätzen. Auch in Graubünden nicht.

Pierina Hassler

Der junge Mann ist Elektroniker, kommt aus dem Prättigau, ist sportlich, wandert gerne und ist Mitglied der Jungen Tat. Keine Springerstiefel, keine Glatze, keine offen getragenen Hakenkreuze, ein seriöser Beruf: Die «moderne» rechtsradikale Szene hat sich gewandelt. Der «Sonntags-Blick»-Journalist und Extremismusexperte Fabian Eberhard sagt: Die Junge Tat sei aktuell die wohl aktivste rechtsextreme Gruppierung der Schweiz. Sie stehe für einen Generationenwechsel innerhalb der Neonaziszene. «Die Mitglieder der Jungen Tat sind naturverbunden, jung – aber inhaltlich genauso radikal wie die klassischen Neonazis von früher.» Das waren eben jene, die mit Glatze und Springerstiefeln auftraten. Und auch schon mal Asylheime anzündeten.

Die Junge Tat steht aktuell im Fokus, weil sich Mitglieder an einer Vorlesestunde von Dragqueens für Kinder im Zürcher Eventlokal Tanzhaus unter das Publikum mischten. Vor dem Tanzhaus zündeten ihre vermummten Kollegen Rauchfackeln, hielten Transparente mit der Aufschrift «Familie statt Gender-Ideologie» in die Höhe und griffen die Dragqueens mit Parolen frontal an. Der Veranstalterin der Show unterstellten sie eine «gender-ideologische und links-dogmatische Persönlichkeit». Ihre Aktion begründete die Junge Tat in einem Video auf den sozialen Medien mit homophoben Stereotypen und zeigte sich empört über die Skandalisierung ihrer Aktion. Der grössere Skandal sei die Vorlesungsreihe der Dragqueen-Show, so die Neonazis.

Die Junge Tat Schweiz ist mit militanten Neonazis in ganz Europa vernetzt. Der Nachrichtendienst des Bundes beobachtet die Gruppierung. Und sonst? Roman Heggli, Geschäftsleiter der Organisation Pink Cross, äusserte sich nach der Störaktion im Zürcher Tanzhaus mit den Worten: «Rechtsextreme ­werden in der Schweiz kaum beobachtet. Sie können machen, was sie wollen. Da versagt der Staat.»

Dieses «machen was sie wollen» ist auch dem deutschen Nachrichtendienst aufgefallen. Er warnte vor dem Wandel der rechtsradikalen Szene und stellte fest: In Deutschland sei es zuletzt verhältnismässig ruhig gewesen um die Szene der Rechtsextremen. Im Nachbarland, der Schweiz beobachte man eine gegenteilige Entwicklung: «Hier ist die Szene wieder deutlich aktiver geworden, besonders der Aufstieg der Neonazigruppe Junge Tat beunruhigt die Behörden». Die Schweiz sei ein beliebter Rückzugsort und eine operative Basis für deutsche Rechtsextreme, glaubt auch der deutsche Politikwissenschaftler Hajo Funke. Gegenüber verschiedenen Medien sagte er: Es seien vor allem rechtliche Differenzen, die das Land für sie attraktiv machten. «Beispielsweise sind rassistische Symbole, wie etwa das Hakenkreuz, in der Schweiz nicht grundsätzlich verboten. Auch der Hitlergruss ist erlaubt.»

Mitten unter uns

Zurück zum jungen Prättigauer, der bei der Jungen Tat eine wichtige Rolle spielt. Anfang September nahmen er und seine Gesinnungsgenossen in Schnellroda (Sachsen-Anhalt) an der Sommerakademie des Instituts für Staatspolitik (IfS) teil. Was harmlos tönt, ist in Tat und Wahrheit eine rechtsradikale Denkfabrik. Im Oktober 2021 stufte der Landesverfassungsschutz von Sachsen-Anhalt das IfS als «gesichert rechtsextreme» Gruppierung ein. Die Behörde attestiert dem IfS eine «rassistische und biologistische» Sichtweise und schätzt ihre Ausrichtung so ein, dass sie sich gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung richte.

In Graubünden ist die Neonaziszene überblickbar. Aber sie existiert – ausser Polizei und Politik verschliessen die Augen vor der nahen Kantons- und Landesgrenze. Das St. Galler Rheintal und Liechtenstein sind bekannte rechtsradikale Hotspots. Und der Prättigauer dürfte nicht das einzige Bündner Mitglied der Jungen Tat sein. Vielleicht wäre es jetzt an der Zeit, ein politisches Statement gegen Rechtsradikalismus abzugeben. Der Zürcher Stadtrat hat es nach der Störaktion im Tanzhaus getan. SP, GLP, FDP, Grüne, Mitte und AL gaben eine gemeinsame Erklärung ab: «Wir haben ein Problem mit Rechtsextremen und Neonazis, die sich sicher und salonfähig fühlen, um mit Namen und Gesicht an die Öffentlichkeit zu treten.» Rechtsextremismus bedrohe das Fundament einer freien Gesellschaft. Man dürfe dieses Problem mit Blick auf die Geschichte nicht verharmlosen.

Nach dieser Aussage hat diese Zeitung alle Parteipräsidentinnen und Parteipräsidenten von Mutter- und Jungparteien gefragt, ob sie auf die Frage «Ist Rechtsradikalismus mitten unter uns und muss sich die Politik vermehrt diesem Thema widmen?» eine Antwort liefern könnten. Zwei Parteipräsidentinnen und vier Parteipräsidenten haben sich geäussert.

Mit Gesicht und Namen

Andri Perl, Bündner SP-Parteipräsident, gibt folgende Antwort: «Der Faschismus wäre gerne mitten unter uns. Faschos haben sich an die Spitze von Coronademos gesetzt, sie stören Veranstaltungen, die nicht in ihr Weltbild passen, und ködern in den sozialen Medien Sympathisierende. Das muss alle beunruhigen, denen Demokratie und Menschenwürde etwas wert ist. Politik und Zivilgesellschaft müssen sich gegen jede faschistische Tätigkeit, gegen alles menschenfeindliche Gedankengut zur Wehr setzen.»

GLP-Präsidentin Géraldine Danuser sagt: «Ich verurteile jede Form von Extremismus, egal ob von links oder rechts. Zu beobachten ist, dass sich Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten mehr in die Öffentlichkeit trauen und beispielsweise sogar Gesichter und Namen zeigen. Sie versuchen damit, ihre Aktionen als legitime politische Aktivität darzustellen. Wichtig ist deshalb, dass der politische Diskurs gestärkt, für die Strategien der Extremistinnen sensibilisiert und der Dialog gesucht wird, damit die Integration aller Bevölkerungsschichten sichergestellt wird.»

«Ich habe keine Sympathien für extreme und undifferenzierte Positionen – weder von rechts noch von links. Sie schaden dem sozialen Frieden und beeinträchtigen das kulturelle Zusammenleben. Die Mehrheit muss klar Stellung beziehen und muss sich Gehör verschaffen. Dazu benötigt sie auch die Mitarbeit der Medien.» Dies das Statement von Mitte-Präsidentin Aita Zanetti.

SVP-Parteipräsident Roman Hug antwortet: «In jeder Gesellschaft gibt es gewisse Formen von Radikalismus. In Graubünden erlebe ich es aber nicht so, dass er mitten unter uns ist. Ich bin froh, dass in unserem Kanton keine Veranstaltungen torpediert werden und sich auch keine Menschen auf den Strassen festkleben. Sollte sich das ändern, werden wir als SVP Graubünden selbstverständlich dagegen ankämpfen.»

Nicolas Zogg, Co-Präsident der Grünen: «Gewaltbereiter Extremismus bedroht die Freiheit und Vielfalt unserer Gesellschaft. Eine grosse Gefahr besteht, dass sich Politikerinnen und Politiker fremdenfeindlich und genderfeindlich äussern und (rechts-)extremes Gedankengut damit salonfähig machen. Dies ermutigt zu Gewalttaten – und muss sanktioniert werden.»

Andrin Bluvol ist Co-Präsident der Juso. Die institutionelle Schweiz sei seit Längerem auf dem rechten Auge blind. «Dass Neonazis nun, auch als Auswirkung der reaktionären Bewegungen während der Coronapandemie, vermehrt offen und identifizierbar auftreten, muss die gesamte Gesellschaft alarmieren.» Weder die rechte Politik noch die Polizei reagierte angemessen. «Wenn wir in der Geschichte zurückschauen, wissen wir, dass diese menschenverachtende, hasserfüllte Ideologie nicht verharmlost werden darf.»
(https://www.suedostschweiz.ch/politik/die-gefaehrliche-wanderlust-der-jungen-neonazis)



nzz.ch 29.10.2022

«Die Rechtsextremen wollen Faszination für ihre Ideen auslösen – gerade bei den Jungen»

Neonazis marschieren in Zürich auf. Online gebärden sie sich wie Influencer. Warum überrascht uns das? Der Historiker Damir Skenderovic sagt: weil wir Teile unserer Geschichte vergessen haben.

Giorgio Scherrer

Eine Gruppe Neonazis stört mitten in Zürich eine Dragqueen-Vorlesestunde für Kinder, zündet Fackeln an und skandiert Parolen. Überrascht Sie eine solche Aktion?

Nein. Denn einerseits hat die Gruppe dahinter – die «Junge Tat» – schon diverse ähnliche Aktionen durchgeführt und ist auch in den sozialen Netzwerken sehr aktiv. Und andererseits sind solche inszenierten Störaktionen typisch für rechtsextreme Gruppen: Man will mit den kleinsten Mitteln die grösstmögliche Aufmerksamkeit erhalten.

Die Gruppe stellte am Wochenende ja auch ein professionell geschnittenes Video der Aktion in die sozialen Netzwerke, mitsamt Bildeffekten und dramatischer Musik.

Es ist kein neues Phänomen, dass die rechtsextreme Szene ihre Taten offensiv zur Schau stellt. Man geht hinaus, sucht die Öffentlichkeit, gerade auch in den sozialen Netzwerken. Bereits 2005 sorgte ja der Aufmarsch von 700 Skinheads auf dem Rütli für grosses Entsetzen und heftige öffentliche Reaktionen. Danach hielt sich die Szene lange zurück, wollte kein öffentliches Aufsehen erregen. Jetzt ist sie wieder da und sucht Aufmerksamkeit.

Es entsteht also eine Art Influencer-Rechtsextremismus?

Ja, es ist eine neue Art von Propaganda. Schauen Sie sich die Videos von rechtsextremen Gruppierungen an: Die sind effekthascherisch gemacht, mit Drohnenbildern und Animationen. Das soll nicht nur provozieren, sondern auch Faszination für diese Gruppen und ihre Ideen auslösen. Gerade bei den Jungen, für die der Zweite Weltkrieg weit weg ist. Das ist brandgefährlich.

Zwei Mitglieder der «Jungen Tat» standen gar mit Namen und Gesicht vor die Kamera. Ist das ein Tabubruch?

Es gab in der Schweiz immer wieder Rechtsextreme, die offen zu ihrem Gedankengut standen – und dafür kaum gravierende Konsequenzen zu fürchten hatten. 1989 nahm etwa Marcel Strebel – ein gewaltbereiter Rechtsextremer – am «Zischtigsclub» im Schweizer Fernsehen teil und verbreitete dort vehement rassistische Ideen. Das sieht man heute wieder bei der «Jungen Tat»: Sie scheuen sich nicht, ohne Maske in aller Öffentlichkeit ihre Ideen zu propagieren. Dass sie sich das getrauen, sagt auch viel aus über den Umgang der Schweiz mit Rechtsextremismus.

Inwiefern?

Wenn es nicht gerade zu krassen Gewalttaten kam, gab es seitens der Behörden selten ein starkes und repressives Vorgehen gegen solche Gruppen. Und auch medial oder in der Forschung wurden sie stets wenig beachtet. Die Schweiz – das kann man insgesamt sagen – ging in ihrer Geschichte meist zurückhaltend mit dem Rechtsextremismus um. Das Problem wurde immer wieder ignoriert.

Und doch ist laut einer ZHAW-Studie von 2017 jeder zwanzigste Jugendliche rechtsextrem eingestellt.

Eine frühere Studie von 2007 – die bisher umfassendste – ergab ähnliche Resultate. Unter Jugendlichen sympathisierte damals jeder Zehnte mit rechtsextremen Gruppen. Deshalb warne ich davor, diese Gruppen zu verharmlosen. Ihre Grösse ist zwar meist überschaubar. Doch gerade im Internetzeitalter ist es fast wichtiger, wie viele Menschen sie mit ihren Inhalten erreichen können – und wie viele ähnlich denken wie sie.

Wir denken bei Neonazis immer noch eher an rasierte Köpfe und Springerstiefel – und weniger an junge Männer mit gegeltem Haar und Youtube-Kanal.

Die rechtsextreme Szene hat sich wegbewegt von den Schlägereien und dem rabiaten Auftreten der Skinheads. Dieser Wandel hat bei vielen – auch bei den Behörden – zum Eindruck geführt, dass diese Gruppen auch weniger gefährlich geworden sind. Doch ihr Gedankengut ist noch immer dasselbe. Es handelt sich um Rassismus, Antisemitismus, Homophobie und die Leugnung historischer Verbrechen. Und diese Ideen schüren Gewalt, auch wenn die Gruppen das öffentlich nicht mehr so ins Zentrum stellen.

Laut dem Nachrichtendienst des Bundes hat der Wille zur Auseinandersetzung bei Rechtsextremisten in den letzten Jahren zugenommen. Weshalb fühlen sie sich genau jetzt berufen, ihre Ideen stärker an die Öffentlichkeit zu tragen?

Weil sie glauben, dass sie vermehrt auf Resonanz stossen werden. Der politische Kontext hat sich in den letzten Jahren verändert. Gewisse Ideen, die den Rechtsextremen wichtig sind, werden auch durch etablierte Parteien und Medien diskutiert. Sie sind in der Mitte der Gesellschaft angekommen.

Zum Beispiel?

Nehmen wir das Thema Gender. Wortmeldungen und Kampagnen gegen die Änderung der Geschlechtsidentität oder gegen Gender-Studies haben sich in den letzten Jahren vermehrt. Queere Menschen und Transmenschen werden zum Teil heftig angefeindet. Das erlaubt es den Rechtsextremen, dort aufzuspringen, sich in Szene zu setzen und zu verkünden: «Wir sagen ja nur etwas, das andere auch sagen.»

Die Gruppe in Zürich unterbrach eine Veranstaltung, die von Dragqueens durchgeführt wurde. Auf ihrem Plakat stand «Familie statt Gender-Ideologie». In ihrem Online-Video bemühte die «Junge Tat» dann homophobe Stereotype.

Sie hoffen, dass die Diskussion ins Extreme kippt und ihre diskriminierenden Ideen auf breiten Widerhall stossen. Dass Leute, die ihre Kritik an der angeblichen «Gender-Ideologie» teilen, auch ihre Anfeindungen von queeren Menschen übernehmen.

Und weshalb versuchen die Neonazis ausgerechnet das Gender-Thema zu kapern?

Es gab immer gewisse konservative Werte bei den Rechtsextremen: die Familie als Basis der Gesellschaft, eine natürliche Hierarchie und Rollenverteilung zwischen Mann und Frau. Neu ist, dass sie sozusagen auf den Gender-Zug aufspringen – und so versuchen, ihre Gruppierungen mitsamt ihrem restlichen Gedankengut zu normalisieren.

Was macht denn im Kern die rechtsextreme Ideologie aus?

Zentral ist die Vorstellung einer natürlichen und biologisch vorgegebenen Ordnung der Gesellschaft. Die Rollen – etwa der Männer und Frauen – sind naturbedingt und damit klar und fix. Und die einen Menschen gelten als wertvoller als die anderen. Historisch äusserte sich das in der Nachkriegszeit zunächst vor allem in Judenhass, später aber auch in rassistisch motivierten Angriffen auf Migrierende und Forderungen nach einer restriktiven Asylpolitik.

Die Schweiz war ja nie Teil von Nazideutschland. Wie ist die rechtsextreme Szene hier überhaupt entstanden?

Nach dem Kriegsende 1945 gab es bis in die 1980er Jahre eine lange klandestine Phase. Im Untergrund organisierte sich weltweit die sogenannte braune Internationale. Das war ein Netzwerk aus Einzelpersonen – oft auch ehemalige Nazis –, die Bücher schrieben, Zeitschriften herausgaben. Und einige von ihnen waren eben auch Schweizer.

Zum Beispiel?

Eine wichtige Figur war der Lausanner Gaston-Armand Amaudruz. Er gab eine der ersten Schriften überhaupt heraus, die den Holocaust leugneten. Und er verfügte über ein breites Netzwerk in ganz Europa.

In der Öffentlichkeit sichtbar wurden die Schweizer Neonazis aber erst wieder in den 1980er Jahren.

Dann erneuerte und verjüngte sich die Bewegung. Vorher waren da vor allem alte Männer, jetzt kamen, inspiriert von englischen Vorbildern, die Skinheads dazu. Und auch andere Junge wurden – vor allem über die rechte Musikszene – Teil der Bewegung. Es gab vermehrt Demonstrationen, öffentliche Auftritte und Gewalttaten. Man spricht vom «kleinen Frontenfrühling» . . .

. . . in Anlehnung an die Frontenbewegung in der Zwischenkriegszeit, die die Schweiz nach faschistischem Vorbild umbauen wollte.

Genau. Wie damals, jedoch in kleinerem Ausmass, bildeten sich vor allem in der Deutschschweiz rechtsextreme Gruppen. Sie übten Brandanschläge auf Asylheime aus, griffen Asylsuchende tätlich an und marschierten in Ku-Klux-Klan-Gewändern auf. Bei einem Anschlag in Chur wurden 1989 zum Beispiel vier wehrlose Tamilen getötet, zwei von ihnen waren Kinder. In dieser Zeit gab es im Verhältnis zur Bevölkerung mehr von Rechtsextremen verübte Morde als in Deutschland, wo die rechtsextreme Szene ebenfalls im Aufwind war.

Und was wurde dagegen getan?

Erst war die Politik ratlos. Es zeigte sich auch, dass die Sicherheitsbehörden jahrzehntelang auf dem rechten Auge weitgehend blind gewesen waren. Dann kam 1994 das Antirassismusgesetz zustande – gegen den Widerstand der Rechtsextremen, die im Abstimmungskampf sehr aktiv waren. Sonst musste die Schweiz sich damals jedoch eingestehen: Wir haben keine Ahnung, was im Bereich Rechtsextremismus läuft.

Wissen wir denn heute mehr?

Ehrlich gesagt: nicht viel. Viele Informationen über die Rechtsextremen haben nicht die Behörden, sondern die Aktivisten der Antifa – der politische Gegner also.

Sie kritisieren ja schon lange, dass die Schweiz sich zu wenig mit dem Rechtsextremismus und seiner Geschichte befasse.

Das Selbstbild der Schweiz ist stark von der Vorstellung eines Sonderfalls geprägt. Wir denken: «Während des Zweiten Weltkriegs hat das Land dem Faschismus standgehalten. Das demokratische Fundament ist stärker als das der anderen. Darum können Rechtsextreme bei uns gar keinen Erfolg haben.» Ein Beispiel aus dem Jahr 1975: Damals wurden gleich drei Männer in den Nationalrat gewählt, die in den 1930er Jahren der faschistischen Frontenbewegung angehört hatten – und keiner sprach darüber. Stattdessen hiess es stets: Rechtsextremismus – das ist in Deutschland oder Österreich ein Problem, aber sicher nicht bei uns!

Es gab doch auch immer wieder grosse öffentliche Empörung über rechtsextreme Gewalttaten – gerade nach den Morden und Brandanschlägen der 1990er Jahre.

Es herrscht eine Art Amnesie: Man regt sich kurzzeitig auf – und dann vergisst man die Rechtsextremen und ihre Taten wieder. Es besteht auch keine Erinnerungskultur, die solche Ereignisse nachhaltig ins kollektive Gedächtnis ruft. In Deutschland gedenkt man der Opfer rechtsextremer Gewaltakte aus den 1990er Jahren noch heute. In der Schweiz haben vom «kleinen Frontenfrühling» die wenigsten je gehört.

Was glauben Sie: Ist das rechtsextremistische Gedankengut heute auf dem Vormarsch?

Wir wissen es nicht. Das ist die Folge der fehlenden Sensibilisierung für das Thema: Wir wissen zu wenig über Rechtsextremismus in der Schweiz. Die Studien, die es gibt, liefern nur punktuelle Einblicke. Wir können deshalb nicht mit Sicherheit sagen, wie gross das rechtsextreme Potenzial in der Schweiz ist.

Zumindest die Szene scheint gegenwärtig ja zu denken, dass ihre Themen mit etwas mehr Publizität auf fruchtbaren Boden stossen werden.

Die Corona-Pandemie war hier sehr wichtig. Die Rechtsextremen waren von Anfang an bei den Corona-Skeptiker-Demos dabei und haben diese für ihre Mobilisierung genutzt – bis sie sich schliesslich gar an die Spitze eines Demonstrationszuges in Bern setzen konnten. Dass das möglich war und dass man sie gewähren liess, hat die Szene zweifellos bestärkt. Das war ja auch in vielen anderen Ländern so – denken Sie etwa an die USA mit den Anhängern der QAnon-Verschwörung. Ich frage immer wieder: Warum sollte das in der Schweiz so anders sein?

Die Schweizer Rechtsextremen bestehen aus sehr kleinen Splittergruppen. Ihr Ziel ist Aufmerksamkeit – dass man über sie spricht. Sollte man sie nicht einfach ignorieren?

Einerseits ist das schwierig, weil diese Leute genau wissen, wie sie Aufsehen erregen können. Das hat gerade die Aktion beim Tanzhaus in Zürich wieder gezeigt. Andererseits sind die Ideen dieser Gruppen schlicht menschenverachtend. Und was passiert, wenn man solche Ideen zu lange ignoriert – das wissen wir aus der Geschichte leider nur zu gut.
(https://www.nzz.ch/amp/zuerich/neonazis-in-zuerich-wie-die-schweiz-rechtsextreme-ignoriert-ld.1709029)


+++HISTORY
Zombies waren nicht immer Menschenfresser
Seit dem 17. Jahrhundert tauchen die toten Wiederkehrer in Bildern und Texten auf. Was die wenigsten wissen: Ihr heutiges Image hat viel mit Kolonialismus und Rassismus zu tun
https://www.derstandard.at/story/2000140294329/zombies-waren-nicht-immer-menschenfresser


Wie Mussolini die Schweiz irritierte
Vor genau hundert Jahren gelang Benito Mussolini als Führer der italienischen Faschisten mit dem „Marsch auf Rom“ die Machtübernahme. Die offizielle Schweiz reagierte mit Vorsicht auf die Ereignisse, um die guten Beziehungen zum Nachbarland nicht zu kompromittieren.
https://www.swissinfo.ch/ger/wie-mussolini-die-schweiz-irritierte/48008856