Medienspiegel 27. Oktober 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BERN
Resultat einer «Ausländermotion»: Infos in Bern künftig auch auf Kurdisch
Dank eines Vorstosses von drei kurdischen Vereinen mit einer Partizipationsmotion wird die Stadt Bern künftig auch in kurdischer Sprache informieren.
https://www.derbund.ch/infos-in-bern-kuenftig-auch-auf-kurdisch-899245256020


+++AARGAU
Der Kanton Aargau prüft, ob man Flüchtlinge in Zivilschutzbunker unterbringen kann. Dies wäre allerdings nur im Notfall so. (ab 03:11)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/was-passiert-mit-der-leeren-wasserfabrik?id=12276544


Aargauer Flüchtlingssession: Kritik, weil die grossen bürgerlichen Parteien nicht eingeladen sind
Im Aargau findet am Wochenende zum 1. Mal eine Flüchtlingssession statt. Obwohl der Kanton den Anlass mit Geld unterstützt, sind nicht alle Parteien eingeladen. Konkret fehlen die 3 grössten bürgerlichen Parteien FDP, SVP und die Mitte, dies sorgt für Ärger.
https://www.telem1.ch/aktuell/aargauer-fluechtlingssession-kritik-weil-die-grossen-buergerlichen-parteien-nicht-eingeladen-sind-148532904


+++LUZERN
Temporäre Asylunterkunft: Kantonsgericht pfeift Meggen zurück
Meggen muss den Bau einer Containersiedlung für Flüchtlinge per sofort stoppen. Diese sollte im Schnellverfahren entstehen, um möglichst rasch genug Plätze zur Verfügung zu haben. Dabei wurde den Beschwerden die aufschiebende Wirkung entzogen. Dies sei nicht rechtens gewesen, urteilt das Gericht.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/temporaere-asylunterkunft-kantonsgericht-pfeift-meggen-zurueck?id=12276520
-> https://www.watson.ch/schweiz/luzern/996228859-meggen-muss-bau-von-fluechtlingsunterkunft-stoppen
-> https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/containersiedlung-meggen-kantonsgericht-stoppt-den-bau-2478775/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/gruenes-licht-fuer-hohe-mehrkosten-im-hochwasserschutz-obwalden?id=12276937 (ab 04:34)
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/meggen-muss-bau-der-containersiedlung-stoppen-148533726


Luzern rechnet mit steigenden Fallzahlen – Ukraine-Flüchtlinge: Herausforderung für die Kesb
Die Kesb Luzern hat alle Hände voll zu tun. Sie spürt Nachwirkungen der Coronapandemie – und rechnet zudem mit steigenden Fallzahlen aufgrund der Flüchtlingskrise.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/ukraine-fluechtlinge-herausforderung-fuer-die-kesb-2476887/


+++SOLOTHURN
Kantone bereit für mehr Asylsuchende
Die Bundesasylzentren sind voll, deshalb werden ab Donnerstag Asylsuchende schneller auf die Kantone verteilt. Der Kanton Solothurn öffnet das Zentrum auf dem Balmberg. Auch im Kanton Aargau hat man genügend Plätze.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/kantone-bereit-fuer-mehr-asylsuchende?id=12276397
-> https://so.ch/startseite/aktuell/news/kanton-solothurn-ist-auf-anstieg-der-asylgesuche-vorbereitet-1/


Ukraine-Flüchtlinge: Kosten für Kanton fallen deutlich niedriger aus, als im Frühling angenommen
Noch im Mai rechnete der Kanton mit über 22’000 Ukraine-Flüchtlingen und Kosten von 45 Millionen Franken für Unterkunft, Betreuung und Unterstützung im laufenden Jahr. Nun zeigt eine Nachfrage der AZ: Die Zahl der Geflüchteten ist markant tiefer, einen Grossteil der Kosten zahlt der Bund.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/fluechtlingswesen-ukraine-fluechtlinge-kosten-fuer-kanton-fallen-deutlich-niedriger-aus-als-im-fruehling-angenommen-ld.2363903



solothurnerzeitung.ch 27.10.2022

Traumatisierter jugendlicher Flüchtling unternahm einen Suizidversuch: «Der Kanton hat bei diesem Buben versagt»

Der Therapeut des Jugendlichen kritisiert den Umgang der Behörden mit dem Fall. So soll ein Arztzeugnis missachtet worden sein. Rückendeckung erhält der Psychologe aus der Politik.

Daniela Deck

Diese Aussage ist deutlich. Franziska Roth, SP-Nationalrätin und schulische Heilpädagogin aus Solothurn, sagt mit Blick auf das Schicksal des 15-jährigen Devran*, eines iranisch-kurdischen Flüchtlings: «Der Kanton hat in Bezug auf diesen Buben versagt.»

Und auch der zuständige Therapeut des Jungen hält mit Kritik nicht zurück. «Beim Auslöser des Traumas sind wir in der Therapie noch gar nicht angekommen. Doch die behördlichen Massnahmen machen die Situation für Devran* schlimmer statt besser», sagt er. Der Therapeut betreut den Jungen seit anderthalb Jahren .

Der Jugendliche hatte versucht, sich das Leben zu nehmen, weil er das Leben im Flüchtlingsheim nicht ertrug. Auch deshalb will der Kinder- und Jugendpsychologe das Schicksal seines Klienten – mit dessen Einverständnis und mit Unterstützung von SP-Politikerin Roth – an die Öffentlichkeit bringen. Er sagt: «Der Junge kann aufgrund unnötiger Ortswechsel nicht zur Ruhe kommen. Ihm fehlen zudem zwei Schuljahre, die er nicht nachholen darf.» Zum Schutz seines Klienten will der Fachmann seinen Namen nicht in der Zeitung lesen.

Er fährt fort: «Es ist bei traumatisierten Kindern und Jugendlichen von grosser Wichtigkeit, dass sie mit Tagesstruktur und Schulbildung Stabilität im Alltag erhalten, um nicht in noch grössere psychische Engpässe zu geraten.»

Was ist passiert?

Kaum in Gerlafingen angekommen, schon der Umzug

Vor zwei Jahren flüchtete der damals 13-jährige Devran mit seinem Vater aus der Stadt Sardascht im Kurdengebiet des Irans über die Türkei und Italien in den Kanton Solothurn. In Winznau lebt Devrans Onkel, doch ihm können und wollen Vater und Sohn nicht auf der Tasche liegen.

Nach fünfmonatigem Aufenthalt im Flüchtlingszentrum Flumenthal waren die beiden 14 Monate auf dem Balmberg untergebracht. Diesen Sommer konnten sie in eine Wohnung in Gerlafingen zügeln. Doch nach nur drei Monaten in Gerlafingen mussten sie vor kurzem in ein anderes Dorf im Wasseramt umziehen. Die grössere Wohnung in Gerlafingen benötigte der Sozialdienst Wasseramt zur sozialhilfekonformen Ausnützung des Wohnraums für eine dreiköpfige Familie.

Arztzeugnis sollte den Ortswechsel verhindern

Der Psychologe sagt dazu: «Wir haben per Arztzeugnis darauf hingewiesen, dass ein neuerlicher Ortswechsel, weg aus Gerlafingen, nicht sinnvoll für die psychische Stabilisierung ist. Das wurde ignoriert.» Der Junge hat dort Anschluss in einem Sportverein gefunden. Dies sei gemäss Jugendpsychologe ein erster Schritt zurück in die Normalität.

Der Psychologe erklärt: «Devran erlitt in seiner Heimat einen Übergriff durch einen Funktionär. Ein Kind in dieser Situation benötigt Schutz und Stabilität.» Die chaotischen und teils lebensbedrohlichen Zustände auf der wochenlangen Flucht hätten das Trauma verstärkt, so der Psychologe. Auch die Infrastruktur im Flüchtlingsheim ohne Privatsphäre auf der Toilette und im Schlafraum seien für einen traumatisierten Teenager «eine Katastrophe».

Ein kleiner Raum für Vater und Sohn

So überstürzt verliessen Vater und Sohn aus Furcht vor staatlichen Repressalien am Tag des Übergriffs die Heimat, dass keine Zeit geblieben sei, von Devrans Mutter und dem damals dreijährigen Bruder Abschied zu nehmen. Diese seien zu ihrem Schutz im Land zu Verwandten gezügelt.

In der jüngst bezogenen Wohnung erzählen Sohn und Vater ihre Geschichte. Obwohl Devran, wie er sagt, «im Flüchtlingsheim zum Deutschlernen alles selbst organisieren musste», kann er sich inzwischen auf Hochdeutsch zusammenhängend ausdrücken und für den Vater übersetzen. «In Flumenthal habe ich acht Kilo abgenommen, ich konnte vor Angst kaum essen»,

sagt Devran. Kämpfe der Erwachsenen, manchmal mit Messern, seien an der Tagesordnung gewesen. Auf dem Balmberg sei es kaum besser gewesen: kein Kontakt zu Gleichaltrigen, aufgrund der Abgeschiedenheit und Enge keine Möglichkeit, vom Heimweh und nächtlichen Albträumen Ablenkung zu finden. Sein Psychologe präzisiert zum Balmberg: «Vater und Sohn mussten sich einen Raum von nur sechs Quadratmetern teilen.»

Trauer um fehlenden Unterricht und Abgleiten in die Depression

Der Teenager wurde im Durchgangsheim depressiv. Schliesslich versuchte er, sich trotz der begonnenen Therapie mit Tabletten das Leben zu nehmen. «Erwacht bin ich auf der Notaufnahme», erzählt er. Der Jugendpsychologe ist ein fester Bestandteil von Devrans Leben geworden. Die Therapie, inzwischen im Zweiwochenrhythmus, findet mit Dolmetscher statt.

«Ich war zu Hause ein guter Schüler mit Höchstnoten in fast allen Fächern. Am liebsten habe ich Mathe. Und jetzt fehlen mir zwei Schuljahre», seufzt Devran. Der Schulunterricht auf dem Balmberg habe nur sporadisch stattgefunden, ohne ordentlichen Stundenplan. Und in Gerlafingen habe er überhaupt nicht mehr zur Schule gehen dürfen.

Ein paar Monate zu alt für die neunte Klasse

Der Kritik am Unterricht auf dem Balmberg widersprechen unisono Lutz Hahn von der Firma ORS Group, die die Flüchtlinge im Durchgangszentrum Balmberg betreut, und Andreas Walter, Vorsteher des kantonalen Volksschulamtes. Schulpflichtige Kinder und Jugendliche würden innerhalb einer Woche nach der Ankunft im Kanton eingeschult und von ausgebildeten Lehrerinnen und Lehrern stufengerecht unterrichtet.

Doch Devran hat Pech. Er war beim Wohnungsbezug nach der anderthalbjährigen Leidenszeit in den Flüchtlingszentren im Sommer bereits 15 Jahre alt – zu alt für die neunte Klasse. Volksschulvorsteher Walter ist indessen überzeugt, dass das Integrationsjahr jugendlichen Migranten auch nach unterbrochener Schulkarriere einen guten Einstieg ins Arbeitsleben ermöglicht.

Hoffnung auf das Integrationsjahr

«»Devran macht das Beste aus seiner Situation. Er will sich in der Schweizer Gesellschaft integrieren und eine Lehre machen. Zum Sporttraining fahre er jede Woche mit dem Velo nach Gerlafingen. Ausserdem besucht Devran den Treffpunkt Deutsch in Solothurn. Er sagt: «Am meisten freue ich mich am Integrationsjahrschulunterricht. Endlich darf ich zusammen mit anderen Sprachen und Mathe lernen.»

Stolz macht Devran, dass er in einer Garage in Grenchen eine Schnupperlehre machen darf: «Mein Vater hatte daheim eine Garage. Fahrzeuge und Motoren sind mir vertraut.»
Kantonsräte sollen auf das Problem aufmerksam gemacht werden

Der Jugendpsychologe freut sich, dass Devran das Leben langsam in den Griff bekommt. Er selbst will sich weiter für bessere Lebensbedingungen von minderjährigen Migrantinnen und Migranten einsetzen, wie er sagt.

Nationalrätin Roth doppelt nach: «Es ist intolerabel, dass traumatisierte Kinder und Jugendliche vom Staat herumgeschoben werden, ohne Rücksicht auf ihre besonderen Bedürfnisse und Vulnerabilität aufgrund der Vorgeschichte.»

In ihrer Zeit als Kantonsrätin habe sie den Umgang mit Flüchtlingen mehrfach kritisiert, sagt Roth. Hilfreich, «nicht alles zu wissen»: Das sagt die Sozialregion Wasseramt zu traumatisierten Jugendlichen

Etienne Gasche, Leiter des Sozialdienstes Wasseramt, nimmt auf Anfrage Stellung zur Problematik von traumatisierten jugendlichen Migranten. Aussagen zum Fall von Devran seien aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht möglich.

Gasche verweist auf Programme, die traumatisierten Personen, Jugendlichen und Erwachsenen, zur Bewältigung des Erlebten zur Verfügung stehen und durch die Sozialhilfe finanzierbar sind: First Step Regiomech/Vebo, Maltherapie beim Verein Zaffe. Auf ärztliche Verschreibung sei eine Psychotherapie möglich, für die die Krankenkasse aufkommt. Ein Arztzeugnis, so Gasche, berechtige hingegen nicht zu einem Sondersetting für eine einzelne Person.

Bei Jugendlichen mache es einen grossen Unterschied, ob sie unbegleitet oder mit Eltern einreisen. Unbegleitet würden Minderjährige getrennt von erwachsenen Flüchtlingen untergebracht und betreut.

Zu einer möglichen Zusammenarbeit zwischen Sozialregion und Therapeut sagt Gasche: Dafür müsse der Klient den Therapeuten von der Schweigepflicht entbinden. «Aber», so Gasche, «die gemachten Erfahrungen haben gezeigt, dass es nicht in jedem Fall förderlich ist, alles zu wissen. Die Mitarbeitenden des Sozialdienstes sind Fachpersonen im Zusammenhang mit der Integrationsplanung und die Therapeuten auf ihrem Fachgebiet.»

*Name geändert
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/traumabewaeltigung-traumatisierter-jugendlicher-fluechtling-psychologe-erhebt-vorwuerfe-an-die-behoerden-ld.2362703)RMELKANAL


++++ZÜRICH
Neue kantonale Flüchtlingsunterkunft kommt nach Dietlikon. (ab 03:28)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/stadtzuercher-bevoelkerung-spart-strom?id=12276547
-> https://www.tagesanzeiger.ch/kanton-nutzt-zivilschutzanlage-fuer-gefluechtete-aus-der-ukraine-874610331219
-> https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/ukraine-kanton-nutzt-zivilschutzanlage-in-dietlikon-fuer-ukraine-fluechtlinge-ld.2364287
-> https://www.toponline.ch/news/detail/news/zivilschutzanlage-in-dietlikon-zh-werden-fuer-ukraine-fluechtlinge-genutzt-00197194/


+++SCHWEIZ
Anni Lanz kämpft für eine solidarische Schweiz: «Ich wurde für mein Engagement schon verhaftet»
Seit 1985 engagiert sich Anni Lanz aktiv im Asyl- und Migrationsbereich und kämpft für Menschen, die auf der Flucht sind. Dafür verleiht ihr der Beobachter den Prix Courage «Lifetime Award» 2022.
https://www.blick.ch/video/specials/anni-lanz-kaempft-fuer-eine-solidarische-schweiz-ich-wurde-fuer-mein-engagement-schon-verhaftet-id17959226.html
-> Ausführlicher Beobachter-Artikel: https://www.beobachter.ch/prix-courage/prix-courage-2022-der-lifetime-award-geht-an-anni-lanz-531816


Volle Bundesasylzentren: So sind die Kantone auf die Flüchtlinge vorbereitet
Der Bund forderte die Kantone wegen Engpässen auf, vorübergehend doppelt so viele Menschen aufzunehmen wie bis anhin. Diese sind vorbereitet auf eine mögliche Flüchtlingswelle und stellen weitere Betten zur Verfügung.
https://www.blick.ch/politik/volle-bundesasylzentren-so-sind-die-kantone-auf-die-fluechtlinge-vorbereitet-id17996245.html


Volle Bundesasylzentren: So sind die Kantone auf die Flüchtlinge vorbereitet
Der Bund forderte die Kantone wegen Engpässen auf, vorübergehend doppelt so viele Menschen aufzunehmen wie bis anhin. Diese sind vorbereitet auf eine mögliche Flüchtlingswelle und stellen weitere Betten zur Verfügung.
https://www.blick.ch/politik/volle-bundesasylzentren-so-sind-die-kantone-auf-die-fluechtlinge-vorbereitet-id17996245.html
-> https://www.svp.ch/aktuell/publikationen/editorials/asyl-chaos-wir-sehen-schwarz-fuer-die-schweiz/
-> https://www.toponline.ch/news/detail/news/fluechtlingssituation-wie-seit-dem-zweiten-weltkrieg-nicht-mehr-00197217/
-> https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/die-schweiz-erlebt-einen-fluechtlings-ansturm-148533252
-> https://tv.telezueri.ch/news/bundesasylzentren-am-limit-148533536
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/bundesasylzentren-platzen-aus-allen-naethen-148533814
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/massives-mehr-an-asylsuchenden-fordert-ostschweizer-behoerden-148533734
-> https://www.derbund.ch/darum-sind-die-asylzentren-schon-jetzt-voll-902272860197



nzz.ch 27.10.2022

«Die Lage im Asylbereich ist dramatisch»: Kantons- und Städtevertreter kritisieren das Krisenmanagement des Bundes

Die Ukraine-Krise bringt Kantone und Gemeinden seit Monaten an die Belastungsgrenze. Nun will der Bund auch reguläre Asylsuchende schneller im Land verteilen. Die Planung des Bundes sei zu wenig verlässlich, kritisiert der Zürcher Sozialvorsteher Raphael Golta.

Daniel Gerny

Zwei Zahlen zeigen, wie drastisch sich die Flüchtlingskrise in den letzten Tagen zugespitzt hat. Noch bis vor zehn Tagen ging der Bund von 19 000 regulären Asylgesuchen im laufenden Jahr aus. Doch letzte Woche korrigierte er seine Prognosen um 15 Prozent nach oben: Jetzt rechnet das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit 22 000 Gesuchen. Derzeit gehen jede Woche 800 Gesuche ein. Weil Unterkünfte und Personal knapp würden, bleibe dem Bund im äussersten Fall nichts anderes übrig, als einen Teil der Asylsuchenden vor Ablauf des Asylverfahrens auf die Kantone zu verteilen, erklärte das SEM am Donnerstag vergangener Woche.

Reguläres System ausser Kraft gesetzt

Weniger als eine Woche später setzt der Bund diese Ankündigung nun um und verlangt von den Kantonen die Aufnahme von doppelt so vielen Personen wie bisher. Statt mit 500 müssen die Kantone «vorübergehend» mit 1000 Asylsuchenden pro Woche rechnen. Beim Kanton Zürich stösst dies auf wenig Gegenliebe: Man werde den Auftrag zwar selbstverständlich erfüllen, erklärt der parteilose Sicherheitsvorsteher des Kantons Zürich, Mario Fehr. Doch seine Kritik ist unüberhörbar. «Bevor der Bund die Kantone zusätzlich belastet, hätte er leerstehende Kasernen nutzen können.» Als Beispiel nennt Fehr Moudon (VD) und den Glaubenberg (OW).

In Zürich sollen die Flüchtlinge laut Fehr mehrheitlich in kantonalen Unterkünften untergebracht werden. Eine Erhöhung der Aufnahmequote sei derzeit nicht geplant, erklärt Fehr, der die Zusammenarbeit zwischen den Gemeinden und dem Kanton als «hervorragend» bezeichnet. Tatsächlich sei dies für seine Stadt eine grosse Erleichterung, erklärt Winterthurs Sozialvorsteher Nicolas Galladé gegenüber der NZZ auf Anfrage. Allerdings bringe es stets Unruhe und Belastung ins Gesamtsystem, wenn der Bund die bewährten regulären Abläufe ausser Kraft setze und Aufgaben auf die unteren Ebenen abschiebe.

Bereits 69 000 Ukraine-Flüchtlinge in der Schweiz

Auch der Stadtzürcher Sozialvorsteher Raphael Golta stellt fest, dass es die Städte früher oder später spürten, wenn die Kantone zur Verantwortung gezogen würden. Golta und Galladé sprechen damit nicht zuletzt die Erfahrungen der letzten Monate an, während deren die Gemeinden mit dem Zustrom von Schutzsuchenden aus der Ukraine vor enormen Herausforderungen standen. So mussten innert kürzester Zeit nicht nur Unterkünfte gefunden, sondern auch Schulplätze organisiert werden.

69 000 Personen aus der Ukraine haben seit Mitte März in der Schweiz den Schutzstatus S beantragt. Bis Ende Jahr geht das SEM von 80 000 bis 85 000 Anträgen aus, je nach Kriegsverlauf könnten es sogar mehr sein. Nun kommt der Anstieg der regulären Asylgesuche hinzu: «Die Lage ist wirklich dramatisch», stellt Golta fest. Die Herausforderungen seien heute insgesamt sogar grösser als während der Flüchtlingskrise von 2015.

Zu bewältigen seien die Aufgaben nur, wenn alle Beteiligten mit vollem Engagement an die Sache gingen. Beim Bund vermisst Golta derzeit allerdings etwas die verlässliche Planung: Es sei bezeichnend, dass der Bund die Kantone mit der Verteilung von zusätzlichen Asylsuchenden derart überrasche: «Ich habe den Eindruck, dass das SEM die Dinge stets etwa besser darstellt, als sie wirklich sind, so lange, bis es nicht mehr anders geht.»

Mehr Engagement von der Armee gefordert

Für die Kantone und die Gemeinden kommt der Entscheid des Bundes, Asylsuchende zu verteilen, bevor die Verfahren abgeschlossen sind, ausserdem einem Rückfall gleich. Genau diese Vorgehensweise sollte mit der Asylgesetzrevision von 2019 abgeschafft werden, als die Bundesasylzentren eingeführt wurden. Zwar sieht das revidierte Gesetz die Möglichkeit einer vorgezogenen Verteilung vor, aber nach Ansicht von Golta sollte diese Massnahme erst dann ergriffen werden, wenn der Bund bereits alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft hat.

Auch Galladé stört sich an der enormen Dynamik: Noch vergangene Woche habe der Bund das deutliche Signal ausgesendet, dass alles unternommen werde, damit nicht Asylsuchende vor Ablauf des Verfahrens auf die Kantone verteilt werden müssten. «Heute erscheint dieses Versprechen als Makulatur», erklärt Galladé. Irritierend ist für ihn ausserdem bei allem Verständnis für die gigantischen Herausforderungen, dass die Armee mit ihren vielen geeigneten Immobilien nicht stärker eingebunden wird. Auch Golta findet, in dieser angespannten Situation sollte die Armee für die Bereitstellung zusätzlicher Unterkünfte in die Pflicht genommen werden.

Personalmarkt ausgetrocknet

Wegen der unsicheren Lage im ukrainischen Kriegsgebiet und der raschen Entwicklung bei den übrigen Flüchtlingen bleibt die Situation unberechenbar. Für die Kantone und Gemeinden stellen sich dabei ähnliche Probleme wie für den Bund. Es mangelt an Unterkünften und vor allem an Personal. Im Empfangszentrum in Chiasso, wo viele unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) untergebracht sind, kam es kürzlich zu einem Hungerstreik unter Asylbewerbern aus Afghanistan. Als eine der Ursachen stellte sich der Mangel an Sozialpädagogen für die Betreuung heraus. Kantone und Unternehmen aus dem Asylwesen erklärten in den letzten Tagen in verschiedenen Medien ebenfalls, der Markt für das dringend benötigte Personal sei ausgetrocknet.
(https://www.nzz.ch/schweiz/die-lage-im-asylbereich-ist-dramatisch-kantons-und-staedtevertreter-kritisieren-das-krisenmanagement-des-bundes-ld.1709178)



tagesanzeiger.ch 26.10.2022

Platznot in BundesasylzentrenSo viele Ukrainer hat die Schweiz im Vergleich zu anderen Ländern aufgenommen

Die Asylunterkünfte des Bundes sind voll – auch wegen der vielen Geflüchteten aus der Ukraine. Aber ist die Schweiz im europäischen Vergleich wirklich so stark belastet? Eine Datenauswertung.

Yannick Wiget

Der Bund hat per sofort Notfallplan-Massnahmen aktiviert, um die Situation in seinen Asylunterkünften zu entschärfen. Denn dort hat es wegen der Geflüchteten aus der Ukraine und der vielen Asylsuchenden aus anderen Ländern keinen Platz mehr. Bislang sind fast 69’000 Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz gekommen. Ist das viel oder wenig im europäischen Vergleich?

Daten des UNO-Flüchtlingshilfswerks UNHCR zeigen es: Seit Beginn der russischen Invasion wurden 7,7 Millionen Menschen aus der Ukraine in anderen europäischen Ländern registriert – fast ein Fünftel der Vorkriegsbevölkerung. Zahlenmässig flohen am meisten nach Russland. Wir haben die 2,8 Millionen Geflüchteten, die nach russischen Angaben registriert wurden, aber nicht in den Vergleich einbezogen. Denn es ist unklar, wie viele von ihnen tatsächlich geflohen sind und wie viele zwangsmässig umgesiedelt wurden.

Auch Polen und Deutschland verzeichnen schon über 1 Million ukrainische Flüchtlinge und damit deutlich mehr als der Rest Europas. Berücksichtigt man aber die Bevölkerungsgrösse der Aufnahmeländer, sind es kleinere Staaten wie Estland, Montenegro und Tschechien, die besonders stark belastet sind.

Die Schweiz hat 787 ukrainische Geflüchtete pro 100’000 Einwohnerinnen und Einwohner registriert. Damit landet sie auf Rang 16 von 41 europäischen Ländern. Sie hat im Verhältnis zu ihrer Grösse mehr Kriegsflüchtlinge aufgenommen als ihre Nachbarn Frankreich und Italien und etliche andere Staaten in Westeuropa. Aber es gibt auch viele Länder, die vergleichsweise stärker betroffen sind, etwa Deutschland und Österreich.

Trotzdem gibt es in den Asylzentren des Bundes kaum noch freie Betten. Und dies, obwohl das Staatssekretariat für Migration (SEM) laufend neue Unterkünfte in Betrieb nimmt. Nun hat es entschieden, einen Teil der Asylsuchenden den Kantonen vorübergehend früher zuzuweisen als bisher. Dank dieser Massnahme blieben die Bundesasylzentren für Neuankommende aufnahmefähig, sagt das SEM.

Die Geflüchteten aus der Ukraine müssen in der Schweiz kein Asylverfahren durchlaufen, sich aber in einem Bundesasylzentrum registrieren lassen und ein Gesuch stellen, wenn sie den Schutzstatus S erhalten wollen. In über 96 Prozent der Fälle wurde dieser bisher gewährt.

Und es ist gut möglich, dass die Zahl der Kriegsflüchtlinge in den kommenden Monaten noch zunehmen wird. Denn die russischen Angriffe auf die Energieinfrastruktur der Ukraine haben jüngst zu landesweiten Stromausfällen geführt. Die Ukrainerinnen und Ukrainer müssen sich auf einen harten Winter einstellen, während dessen sie vielleicht nur eingeschränkt heizen können. Sollte es in der kalten Jahreszeit zu einem Exodus aus der Ukraine kommen und die Schweiz ein Zielland der Geflüchteten bleiben, könnte das hiesige Asylwesen definitiv an seine Kapazitätsgrenzen stossen.
(https://www.tagesanzeiger.ch/so-viele-ukrainer-hat-die-schweiz-im-vergleich-zu-anderen-laendern-aufgenommen-840758770618)



tagesanzeiger.ch 27.10.2022

Flüchtlingsströme an der Ostschweizer Grenze: Sie kommen mit dem Zug – und wollen gleich weiter

Seit Wochen passieren täglich bis zu 100 meist junge Männer aus Afghanistan oder Nordafrika die Ostgrenze der Schweiz mit dem Zug. Wer sie sind und wohin sie weiterziehen.

Yann Cherix

Seit acht Tagen hat er sich nicht mehr waschen können. Seit zwei Tagen nur Brot gegessen. In Wien gab es einen Apfel. Nun sitzt Fawad übermüdet im Interregio nach Zürich und schaut zu, wie sich kurz vor 17 Uhr in St. Gallen sein Bahnwagen mit stummen Pendlern füllt; mit Schülern, die sich lärmend die neuesten Insta-Storys zeigen. Fawad weiss, dass er hier nicht hineinpasst. Er schaut auf den Boden, macht sich klein. Er wird später sagen: «Ich bin ein Alien.» Der Sitz neben dem Afghanen bleibt frei bis zum Schluss.

Fawad ist an diesem Oktobertag einer von rund 40 Flüchtlingen, die im Nachmittagszug von Buchs SG nach Zürich sitzen. Als einer der wenigen spricht der 22-Jährige Englisch. «Ich habe in Kabul Journalismus studiert», erklärt er.

Fawad ist eine Stimme für die auf der Flucht vereinte Reisegesellschaft. Syrer, Tunesier, Inder, vor allem aber Afghanen. Alle ohne Gepäck, mit dünnen Jacken und einem Handy in der Hand. Die meisten sind seit mehreren Wochen unterwegs. Sie waren in Istanbul, liefen durstig und hungrig durch die Balkanländer, schliefen draussen. Es sind nur Männer, einige noch nicht einmal 18 Jahre alt.

Seit Monaten sitzen in jedem Zug aus dem Osten Menschen wie Fawad. Manchmal nur ein halbes Dutzend, meist aber mehr. Im Nachtzug aus Wien seien es, so sagt man, regelmässig über 100 Flüchtlinge. Sie sind fast alle ohne Ticket, schlafen in den Gängen am Boden. In Österreich und der Schweiz sprechen sie bereits von einer Flüchtlingswelle, die an das Jahr 2015 erinnert, als Zehntausende Menschen nach Europa flüchteten, meist über die Balkanroute.

In solchen Aussagen ist auch viel Politik drin. Aber klar ist: Die Anzahl von Flüchtenden nimmt zu. Nicht nur wegen des Ukraine-Kriegs.

Schweiz nur als Transitland

Gemäss dem Bundesamt für Zoll- und Grenzsicherheit (BAZG) wurden an der Schweizer Ostgrenze allein in der letzten Woche 1019 irreguläre Migranten aufgegriffen. Viermal mehr als zu Jahresbeginn. Die Dunkelziffer dürfte hoch sein, längst werden nicht alle erfasst. Viele wollen einfach weiter, brauchen die Schweiz nur als Transitland. Das weiss auch das Bundesamt für Migration (SEM). Es sagt: «Typischerweise handelt es sich um junge Männer, die nicht in der Schweiz bleiben, sondern Richtung Frankreich und Grossbritannien weiterreisen wollen.»

Auch Fawad will weiter, nach Paris. «Ich habe dort Freunde.» Noch lieber würde der Paschtune nach Grossbritannien. Die Kolonialgeschichte verbindet, die Community auf der Insel ist gross. «Doch England ist schwierig: der Ärmelkanal, die harten britischen Einwanderungsgesetze.» Fawad ist ein informierter Flüchtling. Auf seinem langen Weg hat er sich ausgetauscht, kommuniziert ständig per Whatsapp mit Freunden und Familienangehörigen, die bereits in europäischen Ländern leben.

Frankreich ist für viele das Ziel

2015 war das Ziel vieler: Deutschland. Heute zieht es die Flüchtlinge vor allem nach Frankreich. Warum? So richtig klar kann das niemand aus Fawads Gruppe beantworten. Einer sagt: «Es ist billiger dort. Und man kann sich ein Zimmer zu zehnt teilen.»

Und die Schweiz? «Very good.» Sehr gut, Daumen rauf, lächeln. Aber bleiben, das will dann doch niemand. Das SEM sagt, dass von den 1019 irregulären Migranten letzte Woche gerade mal 107 Personen ein Asylgesuch gestellt hätten. Das sind nur rund zehn Prozent. Heute waren es in Fawads Gruppe: null.

Das Glück, es scheint für alle in Frankreich zu warten. Ingenieur will einer werden, ein anderer will ein eigenes Restaurant eröffnen. Fawad sagt: «Ich werde Journalist.» Wie er das erreichen will, weiss er nicht. «Irgendwie halt», sagt er und zuckt mit den Schultern. «Die Chance ist jedenfalls grösser als in meinem von den Taliban regierten Land.»

Akram Sattary lebt seit 23 Jahren in der Schweiz. Der gebürtige Afghane, einst selbst Flüchtling, betreibt in Zürich mit dem Afghan Anar ein gut laufendes Restaurant. Erst vor kurzem ist eine Gruppe von Flüchtlingen bei ihm aufgetaucht, hungrig und orientierungslos. Er gab ihnen zu essen und musste sie wieder ins Ungewisse schicken.

Wenn Sattary von den Träumen seiner jungen Landsleute hört, sagt er nur: «Das macht mich traurig.» Er weiss, dass sich wohl kaum einer dieser Träume erfüllen wird; dass das Fantasien sind, die vor allem über Social Media transportiert werden. «Postet einer ein Bild von sich vor einem Mercedes, glauben alle, dass ers geschafft hat, dass in Europa das Geld auf der Strasse liegt.» Aber die Realität sehe eben anders aus. «Wir haben hier eine verlorene Generation – das tut mir unendlich weh.»

Der Gastronom weiss, unter welchem Druck die jungen Männer stehen. Die Familien haben viel Geld für die Flucht aufgewendet, sich oft gar verschuldet. Dafür erwarten die Zurückgebliebenen Unterstützung aus Europa. Sattary hat einen Mitarbeiter, der 8000 Euro für die Reise nach Europa bezahlt hat. 2015 war das.

Fawad, der ehemalige Journalismusstudent, erzählt, dass er einem Schlepper 13’000 Euro bezahlen musste. Kabul–Belgrad, alles inklusive. Die Reise nach Europa ist für Menschen wie Fawad teurer geworden. Voller Gefahren. Und hürdenreich. Bis nach Österreich. Ab dort sei es einfacher geworden, sagt Fawad. In Wien hätten sie einfach den Zug bestiegen. So schnell waren sie noch nie gereist.

Wo die Reise abrupt endet

Es ist kurz nach Mittag, Vorarlberg. Noch 20 Minuten bis zur Schweizer Grenze, der Wiener Zug fährt danach direkt nach Zürich weiter. Fawad und seine Weggefährten dösen am Boden im Zwischenabteil. Sie wissen in diesem Moment noch nicht, dass ihre Zugfahrt nach über sieben Stunden gleich enden wird.

Denn in Buchs SG stoppt der Zug abrupt. Grenzbeamte tauchen im Gang auf, fordern die Flüchtlinge auf, den Zug zu verlassen. Es ist klar, welche Zugpassagiere dazugehören und welche nicht. Fawad und seine beiden Freunde Ahmed und Yosef reihen sich auf dem Perron an einer Wand auf. Brav stehen sie da, warten auf Anweisungen. Sie scheinen sich ganz andere Behandlungen gewohnt zu sein. Die Schweizer Beamten bitten die Gruppe höflich zur Personenkontrolle in ein Gebäude auf dem Bahnhofsgelände.

Fawad und seine Wegbegleiter werden nach Herkunft befragt, die Personalien werden aufgenommen – auch wenn kaum einer einen Pass bei sich trägt, abgeglichen wird mit der nationalen und der Schengen-Datenbanken (SIS). Zudem wird der Gesundheitszustand gecheckt. Immer wieder leiden die Flüchtenden an diversen Krankheiten.

15 Minuten später tauchen die ersten Kontrollierten auf der anderen Seite des vom Grenzwachtkorps genutzten Gebäudes wieder auf. Just dort, wo eine Gedenktafel angebracht ist, die an den «begeisterten Empfang der ungarischen Flüchtenden» vor 66 Jahren erinnert.

Heute an gleicher Stätte wartet aber niemand auf die Flüchtenden. Sie irren auf den Perrons umher, auf der Suche nach dem Anschluss. Ein Bahnpolizist sammelt die Ahnungslosen schliesslich ein, bläut ihnen nochmals ein, nicht über die Gleise zu laufen, und verweist sie auf das Gleis 1. Dort fährt in einer Stunde der Direktzug nach Zürich. Der Beamte weiss: «Sie wollen alle dahin.»

Als der Interregio schliesslich in Buchs eintrifft, steht die abgekämpfte Reisegruppe vollzählig am Ende des Perrons 1. Auch Fawad ist da. Der Bahnpolizist sagt, dass es besser sei, wenn alle Flüchtenden gesammelt im gleichen Abteil untergebracht seien. Andere Zugpassagiere hätten sich beklagt.

Die zwei Welten werden auf dieser Fahrt nach Zürich dennoch nicht zu trennen sein. Die «Aliens» aus Afghanistan, aus Indien oder Nordafrika sitzen für kurze Zeit dazu – bis der Zug in den Zürcher Hauptbahnhof einfährt. «Zurich?», fragt Fawad sein Gegenüber im Abteil. Die junge Frau nickt, steht auf und drängt sofort Richtung Tür.

Feierabend in der Schweiz. Alle gehen nach Hause.

Die Flüchtlinge aber stehen ratlos auf dem Zürcher Perron. Sie sind im Weg, stören den Strom der Pendler. Fawad versuchts als Erster, fragt einen Fremden: «Ticket Paris?» Der Pendler rauscht wortlos vorbei.

Sie werden es irgendwie schaffen. Irgendwo wartet der Zug ins Glück. Vielleicht.



Warum die Flüchtlinge durchgewinkt werden

Stellt ein Flüchtling in Buchs SG kein Asyl, ist der Kanton St. Gallen für das weitere Vorgehen zuständig. Ist die Person nicht in der Schengen-Datenbanken SIS ausgeschrieben, wird diese nach der rudimentären Kontrolle sofort wieder entlassen. Eine rechtliche Möglichkeit, sie länger festzuhalten, besteht laut dem Bundesamt für Migration (SEM) nicht. Die grosse Mehrheit reist anschliessend weiter, aktuell meist Richtung Frankreich oder Grossbritannien.

Ein Dublin-Verfahren, also eine Rückführung ins Land der ersten Registration, macht nur Sinn, wenn jemand ein Asylgesuch stellt. Deshalb lassen de facto alle Staaten Transitflüchtlinge weiterreisen. Laut SEM wurden in diesem Jahr bislang 15’043 Asylgesuche eingereicht. Der Bund rechnet bis Ende Jahr, exklusive der Schutzsuchenden aus der Ukraine, mit mindestens 22’000 neuen Asylgesuchen. 2015, im Jahr der grossen Flüchtlingsströme aus Syrien, wurden 39’523 Asylgesuche eingereicht. (cix)
(https://www.tagesanzeiger.ch/sie-kommen-mit-dem-zug-und-wollen-gleich-weiter-311948537077)



“Die Schweiz verstösst gegen das Dublin-Abkommen”
Die Zahl der Migrantinnen und Migranten, die über die Balkanroute nach Europa kommen, hat wieder zugenommen. Auch wenn die Schweiz in erster Linie ein Transitland ist, sollte die Situation das Land dazu veranlassen, eine gemeinsame Migrationspolitik mit ihren Nachbarländern einzuführen. Das sagt Etienne Piguet, Vizepräsident der Eidgenössischen Migrationskommission, im Interview.
https://www.swissinfo.ch/ger/schweiz-migration-fluechtende-schengenraum-abkommen-durchgangsland-transit_-die-schweiz-verstoesst-gegen-das-dublin-abkommen-/48010114


+++ÄRMELKANAL
Bootsunglück im Ärmelkanal Schiffbrüchiger nach zwei Tagen gerettet
Auf eine Boje gekauert hat Mann das Kentern seines Kajaks überlebt. Ernährt habe er sich in den zwei Tagen von Muscheln, Krabben und Seetang, erzählte der Brite nach seiner Rettung. Und trank literweise Frischwasser.
https://www.spiegel.de/panorama/frankreich-schiffbruechiger-nach-zwei-tagen-im-aermelkanal-gerettet-a-83d54db3-38a6-4feb-9eaf-cffe056cf19f?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter#ref=rss


+++MITTELMEER
derbund.ch 27.10.2022

Analyse zu Flüchtlingen in Italien: Salvinis zynische Show im Mittelmeer

Italiens neue Rechtsregierung schickt sich an, den Kampf gegen private Seenotretter im Mittelmeer wieder aufzunehmen und die Häfen des Landes zu schliessen. Doch die Massnahme ist rechtlich dünn gedeckt.

Oliver Meileraus Rom

Eine traurige Show erhält eine zweite Staffel, sogar die Protagonisten sind noch dieselben. Italiens rechte Regierung schickt sich an, den Seenotrettern im Mittelmeer den «Krieg» zu erklären, so nennen es die Zeitungen. Und wenn Matteo Salvini von der Lega auch nicht mehr Innenminister ist wie damals in der ersten Staffel, 2018 und 2019, so ist ihm doch sehr daran gelegen, dass ihm wieder alle dabei zusehen können, wie er den Hafenschliesser gibt, den harten Hund, den Gegenspieler von Kapitäninnen und Kapitänen. Unvergessen bleibt sein Duell mit der deutschen Aktivistin Carola Rackete, wie eine Ikone brannte es sich in die Köpfe.

Als Erste trifft es nun die deutsche Humanity One und die norwegische Ocean Viking. Nach etlichen Rettungsoperationen kreuzen sie mit mehreren Hundert Migranten an Bord zwischen Libyen und Italien, viele von ihnen sind Minderjährige. Rom wandte sich an die Herkunftsländer, sie mögen sich kümmern, und richtete den Crews aus, dass ihnen die italienischen Gewässer verboten seien.

Ob das rechtlich solide ist? Eher nicht. Es gibt ja auch nichts Schriftliches, die Benachrichtigung ist zunächst nur mal informell. Die Show lebt ja vor allem von Propaganda.

Plus 66 Prozent: Es setzen wieder mehr Menschen über das Mittelmeer

Die Überfahrten von Libyen nach Italien haben in jüngerer Vergangenheit wieder zugenommen: 2022 sind bisher etwas mehr als 80’000 Migranten über die zentrale Mittelmeerroute nach Europa gelangt, das sind 66 Prozent mehr als im gleichen Zeitraum des letzten Jahres. Die meisten kommen aber nicht an Bord von Schiffen der NGOs, sondern werden nach ihrer Rettung von der italienischen Marine oder der Küstenwache an die italienischen Küsten gebracht. Über diese Ankünfte reden die Behörden eher selten, davon gibt es auch fast nie Bilder. Alle politische Aufmerksamkeit gehört den privaten Seenotrettern.

Was wäre Salvini doch wieder gerne Innenminister geworden, er hält den Job für seine Paraderolle. Aber Transportminister ist auch okay. Ein paar Kompetenzen sind ihm geblieben, etwa die Oberaufsicht über die Küstenwache – es sei denn, Giorgia Meloni, die neue Ministerpräsidentin, nimmt sie ihm am Ende noch weg. Sie hat ein neues «Ministerium für den Süden und das Meer» geschaffen, dem sie die Hoheit über die Häfen zuschanzen könnte, sollte es ihr Vize zu bunt treiben. Das ist der Plan, offenbar abgesprochen mit Staatspräsident Sergio Mattarella – eine Art Sicherung für alle Fälle.

Aber damit keine Verwirrung entsteht: In Migrationsfragen denkt Meloni nicht humaner als Salvini. Jahrelang hat sie eine Seeblockade gefordert, um die Migranten abzufangen. Sie sprach früher auch immer von «Invasion» und von der Gefahr eines angeblich von dunklen Mächten und George Soros organisierten «ethnischen Austauschs» – die ganze Rhetorik der extremen, rassistischen Rechten. Doch jetzt muss sie sich mit Brüssel verstehen. Und, nicht unwesentlicher: Salvini soll sich die vielen Wähler nicht zurückholen können, die sie ihm am rechten Rand weggenommen hat.

Salvini ist tief gefallen, die Parlamentswahl war ein Desaster, sogar innerhalb seiner Partei ist er umstritten. Nun wird er versuchen, sich mit der alten Masche politisch zu erholen. Wirkt verzweifelt, aber er hat keinen anderen Plan. Allein ist er allerdings nicht: Innenminister ist jetzt Matteo Piantedosi, ein «tecnico», wie die Italiener parteilose Beamte nennen. Er steht Salvini nahe.

Piantedosi war gar Kabinettschef unter Innenminister Salvini. Er schrieb also an den sogenannten Sicherheitsdekreten mit, auf denen Salvinis Kreuzzug gegen die NGOs gründen sollte: hohe Geldstrafen, bürokratische Schikanen – und, eben, «porti chiusi», geschlossene Häfen gegen Asylsuchende. In der Zwischenzeit wurden die Dekrete entschärft, doch Salvini möchte seine «porti chiusi» wieder.

Salvini steht noch vor Gericht – wegen Freiheitsberaubung

Die Hafenschliessung gegen Menschen, die einen Antrag auf Asyl stellen wollen, verstösst wahrscheinlich grundsätzlich gegen italienisches Recht, gegen Seerecht und internationale Konventionen.

Das zynische Gebaren von Salvini & Co. sollte deshalb nicht täuschen: Die harte Politik ist rechtlich sehr dünn gedeckt. Salvini steht denn auch noch immer vor Gericht wegen «Freiheitsberaubung» im Fall der spanischen Hilfsorganisation Open Arms, die er wochenlang vor der Küste hatte warten lassen. August 2019, erste Staffel.
(https://www.derbund.ch/salvinis-zynische-show-im-mittelmeer-938648502704)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Klimaaktivisten demonstrieren vor Hauptsitz der Credit Suisse gegen Fracking
Am Donnerstagmorgen versammelten sich rund ein Dutzend Demonstrierende inklusive drei Mitglieder einer indigenen Delegation aus Mexiko und Texas auf dem Zürcher Paradeplatz. Die Gruppe protestierte dort gegen die Investitionen der Grossbank in das Fracking von Gas.
https://www.zueritoday.ch/zuerich/stadt-zuerich/klimaaktivisten-demonstrieren-vor-hauptsitz-der-credit-suisse-gegen-fracking-148529254


Renovate Switzerland: Experimente in zivilem Widerstand
Sie blockieren Autobahnen und Hauptverkehrsadern und möchten so den Bundesrat unter Druck setzen. Die Klimaaktivist:innen von Renovate Switzerland haben in den letzten Wochen eine Menge Autofahrer:innen zum Hupen gebracht. Was bringt das?
https://tsri.ch/zh/renovate-switzerland-experimente-in-zivilem-widerstand.ZJQHD1HkVLkGPx9L


+++KNAST
Schweizweite Überprüfung des Verwahrungsvollzugs
Die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter (NKVF) veröffentlicht heute ihren Bericht zum Verwahrungsvollzug in der Schweiz. Die Kommission konnte positive Sachverhalte ausmachen, erkannte aber auch Handlungsbedarf. Als positiv stuft sie den Umgang der Mitarbeitenden des Justizvollzugs mit den verwahrten Personen und die teils festgestellten Anstrengungen zur Verbesserung des Verwahrungsvollzugs ein. Sie empfiehlt jedoch, dass Spezialeinrichtungen oder Spezialabteilungen in bestehenden Einrichtungen geschaffen werden müssen. Handlungsbedarf ortet die Kommission auch im Bereich der Erstellung von psychiatrischen Gutachten.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90916.html
-> Thematischer Schwerpunktbericht über die schweizweite Überprüfung der Grundrechtskonformität des Verwahrungsvollzugs (Art. 64 StGB) durch die Nationale Kommission zur Verhütung von Folter 2019–2021
https://www.nkvf.admin.ch/dam/nkvf/de/data/Berichte/2022/verwahrungsvollzug/bericht-verwahrungsvollzug-2022.pdf
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/justiz-muss-nachbessern-kommission-kritisiert-bedingungen-fuer-verwahrungen


+++BIG BROTHER
nzz.ch 25.10.2022

Hooligans, Covid-Patienten und schwachen Schülern auf der Spur: Wie smarte Systeme auch im Westen zunehmend Stimmen und Gesichter analysieren

Smarte Lautsprecher führen Befehle aus, intelligente Kameras erkennen Prominente und vorbestrafte Täter. Schleichend hält die Auswertung von biometrischen Daten auch hierzulande Einzug. Forscher warnen davor, Überwachungstendenzen zu unterschätzen.

Daniel Gerny

Vor drei Jahren sorgten in Italien rassistische Ausfälle von Fussballfans in den Stadien für landesweite Empörung: Spieler wurden wegen ihrer Hautfarbe regelmässig mit beleidigenden Gesängen eingedeckt. Auch Mario Balotelli, der heute beim FC Sion spielt, machte diese Erfahrung.

Bei einem Match in Verona wurde er von den Anhängern des gegnerischen Klubs minutenlang mit Affengesängen niedergeschrien. «Schämt euch vor euren Kindern, Frauen, Eltern, Verwandten, Freunden und Bekannten. Schande!», so machte sich Balotelli mit einer berechtigten Wutrede anschliessend auf Instagram Luft.

Italiens Fussballverantwortliche reagierten mit einer drastischen Entscheidung auf die rassistischen Ausfälle: Sicherheitsleute in einzelnen Stadien wurden mit Bodycams ausgerüstet, und der italienische Minister für Jugend und Sport kündigte den Einsatz einer revolutionären Technologie an: Gesichtserkennung solle in Sportstadien in Zukunft mit Technologien zur Spracherkennung verknüpft werden, kündigte er an. Damit sollten rassistische Gesänge in Echtzeit erkannt und die Täter nachträglich zur Rechenschaft gezogen werden können.

Überwachung stösst auf Ablehnung

Bis wann die Pläne realisiert werden, ist unbekannt, doch sie stossen auf Akzeptanz. Die Gewaltprävention in Sportstadien erweist sich auch in der Schweiz als jenes Gebiet, bei dem der Einsatz von intelligenten Überwachungstechnologien am ehesten auf Zustimmung stösst. In einer repräsentativen Umfrage einer Forschergruppe sprach sich die Hälfte der Befragten für einen Einsatz von Gesichtserkennung in Sportstadien aus, nur 19 Prozent waren kategorisch dagegen.

Interessant: In anderen Bereichen stösst die automatisierte Erkennung von biometrischen Daten wie der Stimme oder dem Gesicht bis anhin auf recht deutliche Ablehnung. Nur gerade ein Drittel will sie beispielsweise polizeilichen Stellen erlauben. Durchgeführt wurde die Umfrage im Auftrag der Stiftung TA-Swiss, die sich mit Chancen und Risiken neuer Technologien auseinandersetzt. Sie ist Teil einer breit angelegten Studie über die technologische Entwicklung, die juristischen Grundlagen sowie die gesellschaftlichen Herausforderungen im Bereich biometrischer Stimm-, Sprach- und Gesichtserkennung.

Im Alltag sind intelligente Kameras und Mikrofone für die meisten Leute vor allem praktische Helfer: Man kann rasch und unkompliziert sein Smartphone öffnen oder per intelligente Bilder- oder Musiksuche die Identität von Persönlichkeiten oder Daten von Songs erfragen. Auch gegen die wirkungsvolle Bekämpfung von Rassismus in Sportstadien hat kaum jemand etwas – auch wenn die Vorstellung, im Stadion von smarten Mikrofonen konstant belauscht zu werden, für viele Fans irritierend sein mag: Gesichts- und Geräuscherkennung ist ein zweischneidiges Schwert.

Das Beispiel aus den italienischen Sportstadien zeigt beispielhaft, wie die Nutzung biometrischer Daten zu Kontrollzwecken auch in westlichen Staaten erwogen und teilweise bereits eingeführt wird, wenn es der Zweck zu rechtfertigen scheint. Wann und wo aber ist die Grenze des Zulässigen erreicht?

«Es wird mehr gemacht, als wir erahnen»

In der schleichenden Verbreitung von Systemen zur Erkennung biometrischer Daten, wie sie in unserem Alltag einziehen, sehen die TA-Forscher unter der Leitung von Murat Karaboga vom Fraunhofer Institut für System- und Innovationsforschung eines der zentralen Probleme. Karaboga befürchtet, dass sich die Grenze unmerklich verschieben könnte – und zwar so lange, bis es zu spät ist.

Die Studie von TA-Swiss zeigt auf, dass auch Länder wie die Schweiz rasch mit neuen Fragestellungen konfrontiert werden – auch wenn die technologische Entwicklung gegenwärtig noch voll im Gang ist. Die Soziologin Anna Jobin formulierte es anlässlich der Präsentation der Studie so: «Technisch ist bisher weniger möglich, als von den Herstellern versprochen wird. Aber es wird mehr gemacht, als wir erahnen.»

Diskutiert wird hierzulande vor allem, dass autokratische Staaten wie China oder Russland hemmungslos überwachen oder das Volk mit sozialen Kreditsystemen in Schach halten. Die Schweiz und andere westliche Länder sind von einer solchen Massenüberwachung zwar meilenweit entfernt. Vor allem im privaten Bereich halten die technologischen Möglichkeiten allerdings Einzug: Smarte Lautsprecher beispielsweise, die heute in vielen Haushalten im Dauereinsatz sind, sind via WLAN ständig mit den Herstellern verbunden.

Rückschlüsse darauf, was genau abgehört, gespeichert oder ausgewertet wird, seien letztlich nicht möglich, erklärte die Juristin Nula Frei, die an der Studie mitgearbeitet hat. Im Prinzip müsste deshalb jeder Anwesende zum Betrieb solcher Lautsprecher seine Zustimmung geben, weil stets heikle und eindeutig zuordenbare Merkmale aufgenommen würden. Noch heikler sei es, wenn solche Instrumente im öffentlichen Raum, beispielsweise in einem Restaurant, zum Einsatz kämen. Frei hält es für sinnvoll, die Verknüpfung in der Öffentlichkeit genutzter Geräte mit Datenbanken gesetzlich zu verbieten.

App erkennt Covid-Patienten am Husten

Stimm- und Spracherkennungssysteme sind schon heute in der Lage, nicht nur Personen zu identifizieren oder heikle Gespräche auszuwerten. Sie können auch Emotionen und Krankheiten erkennen, wenngleich die Technologie noch fehleranfällig ist. So lassen sich beispielsweise bei einer Parkinson-Erkrankung Unregelmässigkeiten im Sprachsignal bei Vokalen herausfiltern. Alzheimerpatienten wiederum sind zu erkennen, weil sie kürzere Wörter und ein kleineres Vokabular benutzen sowie abgehackte Sätze bilden.

Auch psychische Erkrankungen können herausgehört werden. Weltweit wird intensiv an solchen Algorithmen geforscht: Das Massachusetts Institute of Technology hat eine App entwickelt, die Personen mit einer Covid-Infektion zu 98,5 Prozent der Fälle aufgrund des Hustens korrekt erkennt. Als Teil der medizinischen Diagnostik erscheinen solche Instrumente als durchaus zweckmässig. Anders liegt der Fall aber, wenn heikle Daten für eine Stellensuche oder einen Versicherungsabschluss verfügbar werden.

Im Bildungsbereich gewinnt vor allem die sogenannte Aufmerksamkeitsanalyse an Bedeutung. Aufgrund von Augenbewegungen, Gesten oder der Bewegung von Körperteilen können Rückschlüsse auf die Emotionen und die Aufmerksamkeit von Schülerinnen und Schülern gezogen werden.

Breit angewandt wird die Technologie bis anhin nur in China. Doch auch Schulen in Grossbritannien, Australien und den USA führen solche Analysen durch oder testen sie. In westlichen Ländern steht dabei nach Angaben der Studienautoren vor allem die Steigerung des Lernerfolges im Vordergrund. Weil viele Schulen schon heute videoüberwacht würden, seien sie für die Einführung von Gesichtserkennung besonders prädestiniert.

Nicht nur würden dadurch aber die Persönlichkeitsrechte der Schülerinnen und Schüler verletzt, heisst es in der Studie. Auch autoritäre Tendenzen an Schulen würden gestärkt. In der Schweiz werde Aufmerksamkeitserkennuung bis jetzt nicht eingesetzt, heisst es in der Studie von TA-Swiss. Die Studie warnt indessen ganz allgemein vor einem Machtzuwachs durch den Zugriff auf heikle Daten.

Gesichtserkennung auch bei Schweizer Polizeikorps

Generell ist in der Schweiz bis jetzt Zurückhaltung gegenüber den neuen Möglichkeiten zu beobachten. In dem Bereich, in welchem der Einsatz von Gesichts- und Stimmerkennungssoftware am ehesten vermutet werden könnte – bei der Polizei – , ist die Realität hierzulande noch weit von den technischen Möglichkeiten entfernt. Während in England seit einigen Jahren auf belebten Plätzen Versuche mit Echtzeit-Überwachung durchgeführt werden, gibt es dies in der Schweiz bis heute nirgendwo.

Die Kantonspolizeien von Aargau und St. Gallen setzen allerdings für beschränkte Zwecke Gesichtserkennungssoftware ein. Dies beispielsweise, um nach Raubüberfällen oder anderen Delikten Bilder von Überwachungskameras per Software mit Personen abzugleichen, die im Rahmen früherer Strafverfahren erkennungsdienstlich erfasst wurden.

Die Frage, ob dafür eine genügende gesetzliche Grundlage vorhanden ist, ist umstritten. Das Thema wird deshalb wohl bald auf die Traktandenlisten der Parlamente in Bund und Kantonen kommen. Nach Ansicht von TA-Swiss ist dies erforderlich: In den meisten Bereichen, in denen Stimm-, Sprach- und Gesichtserkennung zum Einsatz kommen könnten, fehlten heute die gesetzlichen Grundlagen, bemängelte die Juristin Frei. Für gewisse hochriskante Anwendungen wie die Einführung einer Echtzeit-Überwachung fordern die Autoren gar ein Verbot.

Noch ist unabsehbar, wie schnell die Entwicklung in der Schweiz fortschreitet und ob Überwachungstendenzen unterschätzt werden. «Wir müssen uns aber schon heute fragen, ob uns Gegenstände überwachen», erklärte der frühere Datenschutzbeauftragte des Kantons Zürich Bruno Baeriswyl: «Nun geht es um die Frage, ob wir in der Lage sind, den Einsatz dieser Technologie zu steuern.»
(https://www.nzz.ch/schweiz/hooligans-covid-patienten-und-schwachen-schuelern-auf-der-spur-wie-smarte-systeme-auch-im-westen-zunehmend-stimmen-und-gesichter-analysieren-ld.1708944)


+++POLIZEI DE
Erschossener Jugendlicher stand nicht unter Drogen
Die Dortmunder Polizei dürfte nach den neuen Erkenntnissen im Fall Mouhamed stärker unter Druck geraten
Mouhamed Lamine Dramé starb im Sommer bei einem Polizeieinsatz. Inzwischen gehen die Ermittler davon aus, dass sich das Opfer vor Schmerzen gekrümmt hat, bevor es mit einer Maschinenpistole erschossen wurde.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1168049.polizeigewalt-erschossener-jugendlicher-stand-nicht-unter-drogen.html


+++RASSISMUS
Strukturellen Rassismus sichtbar machen
Beitrag von Gina Vega, Leiterin der Fachstelle Diskriminierung und Rassismus und dem Beratungsnetz für Rassismusopfer bei humanrights.ch, im TANGRAM 46
https://www.humanrights.ch/de/fachstellen/fachstelle-diskriminierung-rassismus/struktureller-rassismus-beratungsarbeit



nzz.ch 27.10.2022

«Es gibt keinen Rassismus gegen Weisse»: Ein Kollektiv aus dunkelhäutigen Künstlern besetzt in der Stadt Zürich Theaterräume und fordert ein nichtweisses Theaterhaus

Ein eskalierender Raumkonflikt gefährdet das Theaterprogramm in der Gessnerallee. Jetzt haben sich die Besetzer zwar zurückgezogen – aber nur teilweise.

Andreas Kurz

Im Theater Gessnerallee in der Zürcher Innenstadt gehen die Wogen hoch. Seit Wochen besetzt ein dunkelhäutiges Künstlerkollektiv Teile des Gebäudes und wirft dem Theater Rassismus vor. Auf Transparenten, die bis vor kurzen am Nordflügel des Theaters hingen, forderten die Künstler ein nichtweisses Theaterhaus, ein Haus des Antirassismus und einen «Safer Space», also einen sicheren Raum für schwarze Personen, Indigene und People of Color (Bipoc).

Hinter der Aktion steht Experi Theater, eine «nichtweisse Performancegruppe», die sich gemäss eigenen Angaben über die Jahre zu einem wechselnden Kollektiv verschiedener Künstlerinnen und Künstler sowie Unterstützer entwickelt hat.

Das Kollektiv sieht sich in einer Situation, in der es mit «weisser Brutalität» konfrontiert ist. Auf Instagram schreibt die Gruppe: «Wir tolerieren die Brutalität von etablierten weissen Institutionen wie dem Theater Gessnerallee nicht länger.» Das Theater versuche ihren Raum, ihre Werke, ihre Stimmen und ihr Dasein zu zerstören.

Am Dienstag öffnen vier Mitglieder des Kollektivs der NZZ die Tür. Im Gespräch verweisen sie als Erstes auf bisherige Statements und Medienberichte. Auslöser für die Besetzung war ein seit langem schwelender Raumkonflikt. Gemäss der «Wochenzeitung» besetzte das Kollektiv die sogenannte Werkhalle, einen Teil des Dachbodens der Gessnerallee, im Sommer 2021 ein erstes Mal. Daraufhin bot die Gessnerallee dem Kollektiv eine Nutzung des Raums als Proberaum an, bis zum Umbau des Hauses im Februar 2022.

Nach dem Umbau seien die Behörden sowie die Gessnerallee-Leitung zum Schluss gekommen, dass der Raum nicht weiter wie bisher genutzt werden könne. Einerseits, weil die Fläche als Lagerraum benötigt werde, vor allem aber, weil sie genehmigungstechnisch eben als Lagerraum ausgewiesen sei. Die Kosten für einen erneuten Umbau wären so hoch, dass dieser zuvor einen mehrjährigen politischen Prozess benötige.

Die Gespräche laufen weiter

Die Künstlergruppe empfindet diese Argumentation als fadenscheinig. Das Handeln des Theaters bestätige die «tiefsitzenden Ängste des Teilens von Macht», die weissen Institutionen innewohnten. In der Folge besetzte Experi Theater die Werkhalle erneut. Mitte September wurde dann auch der Nordflügel in Beschlag genommen, wo ab dem 1. November das «Jazznojazz»-Festival stattfinden soll.

Die Fronten zwischen dem Kollektiv und der Theaterleitung verhärteten sich zusehends. Dabei erhielt das Leitungstrio um die ebenfalls dunkelhäutige Co-Leiterin Michelle Akanji zu Beginn viel Beifall für ihre programmatische Ausrichtung für mehr Diversität, Teilhabe und Nachhaltigkeit.

Entspannung sollte eine Mediation bringen, geleitet von Nora Refaeil, der Vizepräsidentin der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus. Nun scheinen die Parteien tatsächlich eine erste Einigung erzielt zu haben.

Anfang Woche hat sich Experi Theater aus dem Nordflügel zurückgezogen. Bühnenarbeiter sind am Dienstagnachmittag mit den Vorbereitungen für das Festival beschäftigt. «Wir haben bei der Mediation vereinbart, dass alle Programme wie geplant durchgeführt werden können. Wir werden das Theaterprogramm nicht unterbrechen», sagt jemand aus der Gruppe. Mit ihren Namen wollen sie nicht auftreten, sie verstünden sich als Kollektiv und sprächen nur als solches.

Man befinde sich aber weiterhin im Gespräch mit dem Vorstand der Gessnerallee. Es handle sich um den Prozess eines ernsthaften Gesprächs. Ob die Stadt oder das Theater ihnen bereits konkrete Angebote für die Nutzung anderer Räume gemacht habe, will das Kollektiv nicht sagen. Teil der Vereinbarung sei es, bis zum Abschluss der Mediation keine weiteren Details bekanntzugeben.

Juliane Hahn, Co-Leiterin der Gessnerallee, bestätigt, dass das Programm der Spielzeit 22/23 wie geplant im Nordflügel stattfindet. Der Vorstand der Gessnerallee und Experi Theater würden den Mediationsprozess fortsetzen und an konkreten Optionen arbeiten.

Gemäss der «Sonntagszeitung» bekam das Kollektiv in den letzten zwei Jahren insgesamt 207 000 Franken von der Stadt. Der Kanton Zürich zeichnete es 2021 zudem mit einem Förderpreis aus, dotiert mit 30 000 Franken.

Das Künstlerkollektiv wehrt sich gegen die Darstellung, sie würden grosszügig von der Stadt Zürich subventioniert. Sie seien seit zehn Jahren im freien Theaterbereich tätig. Bei den Beiträgen der Stadt handle es sich um Förderbeiträge für konkrete Projekte und Produktionen. Sie hätten sich mit den jeweiligen Projekten beworben und dafür den Zuschlag erhalten.

Dem Vorwurf von Kritikern, ihre Forderung nach einem nichtweissen Theaterhaus sei ebenfalls rassistisch, entgegnet das Kollektiv: «Es gibt keinen Rassismus gegen Weisse.» Rassismus sei ein weisses Konstrukt, das Menschen, die als nichtweiss gelesen werden, unterdrückt. «Deshalb ist es so wichtig, in der antirassistischen Arbeit weisse Praktiken und Strukturen zu verlernen.»

Geeignete Räume sind ein knappes Gut

Die Stadt Zürich, der das Theater gehört und die es jährlich mit 3,35 Millionen Franken subventioniert, spricht von einem Konflikt, der in erster Linie zwischen dem Verein Theaterhaus Gessnerallee und Experi Theater bestehe. In den laufenden Mediationsgesprächen nehme die Stadt im Rahmen ihres Einsitzes im Vorstand des Vereins zwar teil, sagt Lukas Wigger, Leiter Kommunikation des Präsidialdepartements. «Eine Kostenübernahme für die Mediation gibt es seitens der Stadt aber nicht.»

Die Kulturabteilung der Stadt Zürich habe Experi Theater in früheren Gesprächen auf Möglichkeiten aufmerksam gemacht, sich in der Stadt für andere Räumlichkeiten zu bewerben, etwa via die Raumbörse. Es gebe seitens verschiedener Interessengruppen und Communities Bedürfnisse nach Räumlichkeiten, sagt Wigger. «Geeignete Räume sind in der Stadt sehr knapp und ein gesuchtes Gut.» Dies sei sich Stadt Zürich Kultur bewusst. Sie versuche deshalb, für das Kulturleitbild 2024–2027 diese Problematik noch verstärkter anzugehen.

Viel Verständnis für die Anliegen der Künstlergruppe zeigt der Gemeinderat Moritz Bögli (AL). Er findet, dass die Stadt dem Wunsch des Kollektivs nach einem nichtweissen Theaterhaus folgen müsse. «Und zwar jetzt, nicht erst in ein paar Jahren.» Das Bedürfnis innerhalb der Zürcher Bipoc-Künstlercommunity nach einem solchen Raum sei offensichtlich gegeben.

Für gesellschaftlich unterdrückte und marginalisierte Gruppen sei es leider oft schwer oder sogar unmöglich, über normale Verfahrenswege an solche Räumlichkeiten zu gelangen. «Hätte die Gruppe sich nicht entschieden, den Raum zu besetzen, würde heute niemand über die Vergabe eines solchen Raums sprechen», sagt Bögli. «Oft braucht es dafür leider Druck von aussen wie in diesem Fall mit der Besetzung.»

Ganz anders sieht es FDP-Gemeinderätin Yasmine Bourgeois. «Insgesamt bin ich ziemlich ungehalten darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit das betroffene Kollektiv staatliche Leistungen für sich beansprucht oder erpresst, zulasten der Allgemeinheit», sagt sie. Es stehe dem Kollektiv frei, sich auf privater Basis und mit eigenen Mitteln ihre Anliegen zu verwirklichen.

Sie verstehe das «nichtweisse Theaterhaus» zudem so, dass nur nichtweisse Zuschauer zugelassen wären, sagt Bourgeois. «Die Verweigerung einer für die Allgemeinheit bestimmten Leistung wegen der Rasse, Ethnie oder Religion einer Person ist aber strafrechtlich verboten.» Zudem fördere eine solche Institution weder Inklusion noch Integration, sondern eine Form der Separation, die an die Zeiten der Rassentrennung erinnere.

Und selbst wenn es sich um ein Theaterhaus handeln würde, bei dem nur Nichtweisse aufträten, wäre die Forderung ganz normal zu behandeln, sagt Bourgeois. «Es gibt keinen Grund für eine Priorisierung, denn wo immer jemand prioritär behandelt wird, werden andere zweitrangig behandelt.»
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-kuenstlergruppe-will-ein-theaterhaus-ohne-weisse-ld.1709135)


+++RECHTSPOPULISMUS
«Viele verstehen die Sprache der Linken nicht mehr»
Dass die Partei Wähleranteile verliert, habe sie sich teils selbst zuzuschreiben, sagt SP-Urgestein Rudolf Strahm. Im Interview kritisiert er auch die aus seiner Sicht «grotesken Auswüchse» der Gender-Bewegung.
https://baernerbaer.ch/thema/viele-verstehen-die-sprache-der-linken-nicht-mehr/


+++RECHTSEXTREMISMUS
Durchgesickert
Die SRF-Tagesschau veröffentlicht eine erschreckend diskursblinde Analyse von politischer Gewalt in der Schweiz. Eine Medienkritik.
https://daslamm.ch/durchgesickert/


Vermummte störten Pride-Gottesdienst – jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft
Mehrere Personen stürmten dieses Jahr den Pride-Gottesdienst. Viele vermuten, dass hinter der Aktion Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung Junge Tat stecken.
https://www.20min.ch/story/vermummte-stoerten-pride-gottesdienst-jetzt-ermittelt-die-staatsanwaltschaft-928147011229


Neonazi-Aktion führt zu heftiger Debatte im Zürcher Gemeinderat
Die Störaktion im Tanzhaus vom vorletzten Sonntag hat für eine hitzige Debatte im Zürcher Parlament gesorgt. Die SVP warf den anderen Parteien vor, heuchlerisch zu sein. Eine linke Parlamentarierin bezichtigte die SVP, den Rechtsextremen die Ideen zu liefern.
https://www.limmattalerzeitung.ch/limmattal/zuerich/rechtsextremismus-neonazi-aktion-fuehrt-zu-heftiger-debatte-im-zuercher-gemeinderat-ld.2364237


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Corona-Vortragsabend: 1000 Leute wollten dabei sein – doch über 200 mussten wieder heim
Geplant war eine Einladung im kleinen Rahmen. Veranstalter Max Marti rechnete zuerst mit 35 Personen bei sich zu Hause, doch in Anbetracht der unterdessen angemeldeten 120 Gäste musste Marti den impfkritischen Vortragsabend ins Foyer des Kultur- und Kongresszentrums Thun verschieben. Dann bekundeten immer mehr Leute ihr Interesse für die Referate der prominenten Covid-Massnahmen- und Impfungs-Kritiker. Am Mittwochabend begehrten schlussendlich gegen 1000 Personen Einlass! Aus Sicherheitsgründen durften jedoch nur 740 rein.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/204360/


Rechtsextremer in Türkei : Kann Attila Hildmann ausgeliefert werden?
Gegen den Rechtsextremen Attila Hildmann läuft ein Haftbefehl, sein Aufenthaltsort in der Türkei ist bekannt. Warum eine schnelle Auslieferung aber unwahrscheinlich scheint.
https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/hildmann-auslieferung-tuerkei-wahrscheinlichkeit-justiz-100.html



tagblatt.ch 27.10.2022

Gekränkte Freiheitsliebe – wieso progressive Menschen plötzlich Verschwörungstheorien verbreiten

Ein brisantes Buch zeigt erstmals, wie Linke und Alternative zu Coronaskeptikern und Querdenkerinnen abdriften.

Julian Schütt

Wir alle haben dieses Völkchen kennen gelernt, Menschen aus dem Mittelstand, die wir ursprünglich meist dem progressiv-linken oder grün-alternativen Spektrum zuordneten, doch während der Coronapandemie hatten sie ihr Coming Out: Plötzlich vertraten sie Verschwörungstheorien, taten den Bundesrat als «Diktatur» und die «Mainstream»-Medien als «gleichgeschaltet» ab, protestierten auf der Strasse gegen die Covid-Massnahmen, die ihre individuelle Freiheit beschnitten. Und sie schotteten sich auf Demos kaum gegen die mitmarschierenden Rechtspopulisten und Rechtsextremen ab.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey vom Fachbereich Soziologie der Uni Basel haben den Kontakt zu dieser Szene der «Querdenker» und Coronaskeptikerinnen gesucht. 1150 Personen aus Deutschland und der Schweiz antworteten auf ihre Online-Umfrage. Mit 45 von ihnen führten Amlinger und Nachtwey längere Interviews. Zudem beobachteten sie zahlreiche Demos und durchkämmten das Internet, vor allem Telegram. Die aufschlussreichen Forschungsergebnisse haben sie nun in einem lesenswerten, wenn auch nicht theorieabstinenten Buch veröffentlicht.

Rabiate Gewaltfantasien sind weit verbreitet

Die Querdenkerinnen und Impfgegner handeln äusserst autoritär, obwohl sie eher antiautoritär sozialisiert wurden. Sie identifizieren sich bis jetzt aber kaum mit neuen Führerfiguren wie Putin, sondern wollen nur ihre persönliche Freiheit mit rabiater Vehemenz verteidigen. Manche haben Gewaltfantasien und wollen Widersacher wie «die» Regierung oder Virologen hart bestrafen.

Sie tun das aus einem Gefühl der Ohnmacht heraus, weil ihre eigene Freiheit immer mehr eingeschränkt wird. Deshalb sprechen Amlinger und Nachtwey von einem «libertären Autoritarismus». Der ist, so die Forscher, ein Produkt unserer spätmodernen kapitalistischen Gesellschaft, in der das einzelne Individuum sich beständig anpassen, flexibel sein, sich neu justieren muss.

Es ist wie auf einer Rolltreppe, die nach unten fährt. Um den Abstieg zu vermeiden, muss man die Treppe mühsam hochsteigen, sich dauernd bewegen, die Performance bringen. Selbstmanagement ist gefragt, das aber keine frei gewählte Option mehr ist, sondern eine Anforderung. Diesem Zustand sind wir Spätmodernen allesamt ausgesetzt, ohne dass wir alle zum Querdenken neigen.

Man kümmert sich nur noch um die eigene Freiheit

Es kommt für Amlinger und Nachtwey noch etwas hinzu: Faktisch sind wir heute so frei wie nie. Demokratische Rechte gelten als gesichert, was dazu führen kann, dass manche Menschen sich um die Demokratie nicht mehr gross kümmern. Ebenso foutieren sie sich um die politische Freiheit im Allgemeinen.

Doch ihre individuelle Freiheit verteidigen sie wie einen persönlichen Besitz. Das ist der Kern des libertären Denkens. Man will nicht mehr wahrhaben, dass Freiheit immer nur relativ innerhalb einer Gesellschaft mit ihren Institutionen, Regeln und Zwängen möglich ist, an die man sich anpassen muss.

Amlinger und Nachtwey nennen ihr Buch «Gekränkte Freiheit». Das spätmoderne Individuum entwickelt ein absolutes Freiheitsgefühl und übersteigerte Bedürfnisse, doch trotz aller Selbstoptimierungsversuche kann es seine Bedürfnisse nicht mehr wunschgemäss umsetzen. Das macht die Frustrierten anfällig für libertär-autoritäre Einstellungen.

An Demos tummeln sich Alt-Hippies, Öko-Fundis, Esoteriker und Rechte

Manche rebellieren dann nicht mehr gegen reale Konflikte, sondern gegen die Realität schlechthin. Um den Durchblick zu behalten, driften sie aus der Wirklichkeit in Scheinwelten ab, in denen alles Sinn macht. Es ist gleichwohl keine einheitliche Bewegung. Es tummeln sich da wohlsituierte Familien mit Kindern, Künstlerinnen, Intellektuelle, Alt-Hippies, Öko-Fundis, Esoterikerinnen und natürlich allerlei Rechtsstehende.

Es gibt allerdings beunruhigende Gemeinsamkeiten: einen Hang zu Verschwörungstheorien, Ermächtigungsfantasien und wüsten Herabsetzungen von Andersdenkenden. Auch Antisemitismus ist weit verbreitet. Hinzu kommt die fehlende Abgrenzung von AfD, Reichsbürgern und anderen Rechtsextremen. Im Gegenteil, die meisten Befragten der Studie von Amlinger/Nachtwey entwickelten sich selbst nach rechts, was sie nicht daran hindert, sich mit Opfern des Nationalsozialismus zu vergleichen.

Oft reden sie wie früher die Linksengagierten

Diese politische Konversion von links nach rechts erklärt auch, warum die neuen Autoritären viele Begriffe und Denkbewegungen übernehmen, die einst linken Avantgarden vorbehalten waren. Ihnen geht es um Kritik am Mainstream, um Gegenaufklärung, um den Kampf gegen das Establishment, um die Enthüllung der Wahrheit, die niemand hören will. Da sie sich in einer «Diktatur» wähnen, fühlen sie sich nicht mehr an demokratische Normen gebunden.

Amlinger/Nachtwey sehen bei den libertären Autoritären noch keine totale Ablehnung des Staates und kein Abgleiten in Gewalt. Aber die Frage stellt sich schon, ob eine Ausweitung der Kampfzonen bevorsteht, wenn der Ukraine-Krieg und die Energiekrise neue Einschränkungen der persönlichen Freiheit zur Folge haben werden. Falls gravierende staatliche Sparmassnahmen drohen, ist nicht auszuschliessen, dass sich die libertären Autoritären weiter radikalisieren. Insofern ist das Buch von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey erschreckend brisant.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus, Suhrkamp, 478 Seiten.
(https://www.tagblatt.ch/kultur/coronaskeptiker-gekraenkte-freiheitsliebe-wieso-progressive-menschen-ploetzlich-verschwoerungstheorien-verbreiten-ld.2364420)


+++HISTORY
Hände weg von den Akten – wenn Geschichtsforschung unmöglich wird
Immer wieder wird Historiker:innen der Zugang zu wichtigen Akten für ihre Forschung verwehrt. Manchmal zurecht, immer öfter auch zu Unrecht. Das zeigt auch der Fall von Jonathan Pärli, der bis vor Bundesgericht zog und recht bekam. Wie steht es um die Forschungsfreiheit in der Schweiz?
https://www.srf.ch/audio/kontext/haende-weg-von-den-akten-wenn-geschichtsforschung-unmoeglich-wird?id=12272875


+++SCHWEIZ 2
Schweiz: Mehr unbegleitete minderjährige Flüchtlinge – 10vor10
Afghanistan ist seit vielen Jahren eines der Hauptherkunftsländer von unbegleiteten, meist männlichen minderjährigen Flüchtlingen. Die Zahl der Vertriebenen steigt und so werden in den Kantonen geschlossene Zentren wieder hochgefahren. Das Problem: Es fehlt an qualifiziertem Personal, um diese Asylsuchenden zu begleiten und zu betreuen.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/schweiz-mehr-unbegleitete-minderjaehrige-fluechtlinge?urn=urn:srf:video:c8ee55af-e76f-4f16-b5b1-3df3aff254fd



bernerzeitung.ch 27.10.2022

Volle Asylzentren: Jungs aus Afghanistan setzen Asylbehörden unter Druck

Immer mehr Teenager aus Afghanistan flüchten in die Schweiz. Was erwartet sie hier?

Andres Marti

Millionen Menschen sind seit Russlands Überfall aus der Ukraine nach Europa geflüchtet. Rund 70’000 von ihnen haben in der Schweiz Zuflucht gefunden. Gleichzeitig ist die Anzahl Asylgesuche aus anderen Ländern auf einen neuen Höchststand gestiegen. Bis Ende Jahr rechnet das Staatssekretariat für Migration (SEM) mit mindestens 22’000 neuen Asylsuchenden. Die Situation sei «sehr angespannt».

Viele der Asylsuchenden stammen aus Afghanistan, wo nach der Machtübernahme der Taliban eine humanitäre Krise ausgebrochen ist. Stark zugenommen hat auch die Anzahl Minderjähriger, die ohne ihre Eltern in die Schweiz geflüchtet sind. Von den hier registrierten 4000 Asylsuchenden aus Afghanistan sind rund 900 unbegleitete Minderjährige. Die Mehrheit von ihnen ist zwischen 6 und 17 Jahre alt. Es sind fast nur Jungs.

Die Bundesasylzentren, wo auch Teenager nach ihrer Einreise angehört und betreut werden, sind überfüllt. Händeringend wird nach Personal und Platz für die Betreuung gesucht. In der Stadt Bern betreibt seit 2016 die Asylorganisation ORS im Auftrag des SEM im ehemaligen Zieglerspital ein Bundesasylzentrum. Es war noch nie so voll wie jetzt.

Überfüllte Zentren

Vorgesehen für 350 Personen, übernachten dort derzeit 550 Asylsuchende. Bis zu zwölf Personen übernachten laut SEM in einem Zimmer. 166 gelten als unbegleitete Minderjährige. Mit ihnen in Kontakt zu treten, ist schwierig. Medien ist der Zutritt in die Asylzentren des Bundes verboten. Öffentlich zugänglich ist jedoch die Kantine des ehemaligen Spitals, wo Freiwillige dreimal in der Woche ein Café betreiben.

Es kann dort ziemlich laut werden. Beim Besuch am Nachmittag mischt sich Kindergeschrei aus der Spielecke mit dem Klacken des Töggelikastens. Die einzige Schweizerin im Raum, eine Freiwillige, verteilt Masken. Nicht wegen Corona, wie sie sagt, sondern wegen der Diphtherie, die hier immer mal wieder ausbricht.

Eine Gruppe Jungs aus Afghanistan hat die Sofaecke in Beschlag genommen. Vom SEM wurden wir gebeten, mit dem nötigen «Feingefühl» vorzugehen: «Einige dieser Menschen haben viel durchgemacht und stehen vor einer ungewissen Zukunft in einer für sie völlig neuen Umgebung», so SEM-Sprecher Samuel Wyss.

Die Verständigung gestaltet sich nicht nur wegen der Masken schwierig. Eine Freiwillige aus dem Treff, die vor Jahren ebenfalls in die Schweiz geflüchtet ist, springt als Übersetzerin ein. Nach dem Alter gefragt, kommen unterschiedliche Antworten. Etwa die Hälfte der Jugendlichen gibt an, minderjährig zu sein.

Sie haben Angst

Weitere Fragen wollen oder können sie nicht beantworten. «Sie haben Angst», sagt die Dolmetscherin. Gerüchten zufolge haben die Taliban auch in Europa ihre Spitzel. Da das Café ein Ort sein soll, wo sich die Asylsuchenden vom Zentrumsalltag erholen können, lassen wir die Gruppe in Ruhe.

Personen aus dem Umfeld des Zentrums berichten von zunehmenden Spannungen und Konflikten. Es gibt kaum Privatsphäre. «Man kann sich dort inzwischen kaum mehr aus dem Weg gehen», sagt jemand, der das Zentrum regelmässig besucht, aber anonym bleiben will.

Fachleute mit Einblick ins Zentrum äussern Zweifel, ob angesichts der Überbelegung noch genügend auf die Bedürfnisse der Jugendlichen eingegangen werden kann. Dabei brauche doch gerade wer traumatisiert sei, so rasch wie möglich Ruhe und Sicherheit, sagt eine, die das Zentrum regelmässig besucht.

Streit ums Alter

Bei den Jugendlichen für Stress sorgen auch die medizinischen Gutachten, mit denen die Asylbehörden das Alter der Geflüchteten feststellen wollen. Die Ärzte untersuchen dabei mit Röntgenstrahlen Handwurzel, Weisheitszähne oder Schlüsselbeine von Jugendlichen, bei denen Zweifel an der Minderjährigkeit bestehen.
Der Streit um das korrekte Alter hat einen einfachen Grund: Für minderjährige Asylsuchende gelten in der Schweiz spezielle Regeln. Sie müssen von den Erwachsenen getrennt untergebracht werden und haben Anrecht auf eine altersgerechte sozialpädagogische Betreuung.

Vor allem aber dürfen unbegleitete Minderjährige nicht in das europäische Land zurückgeschickt werden, wo sie als Erstes einen Asylantrag gestellt haben. Für die jungen Asylsuchenden hängt deshalb sehr viel davon ab, wie das Altersgutachten ausfällt. Das SEM hat dieses Jahr die forensische Altersbestimmung bei rund einem Viertel der Jugendlichen angeordnet.

Zuweilen wird den Behörden von Flüchtlingsaktivisten vorgeworfen, sie würden mit den Gutachten Minderjährige fälschlicherweise als volljährig erklären, um sie loszuwerden. Belege für diese Behauptung gibt es kaum. Für das SEM ist die medizinische Untersuchung nur «ein Element unter vielen», das bei der Prüfung der Minderjährigkeit berücksichtigt werden müsse. Es sei nicht möglich, allein aufgrund der Ergebnisse der Gutachten Schlussfolgerungen darüber zu ziehen, ob eine Person tatsächlich minderjährig sei oder nicht.

Kanton unter Druck

Spätestens nach 140 Tagen sollen die Jugendlichen im Bundesasylzentrum in die Kantone überwiesen werden. Neben den Unterkunftsplätzen sei es auch «herausfordernd», genügend geeignetes Personal zu finden, heisst es bei der Berner Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion (GSI). Für die Integration und Betreuung der minderjährigen und unbegleiteten Asylsuchenden hat die GSI die die Stiftung Zugang B beauftragt. Die Organisation führt mehrere betreute Wohnheime für Minderjährige ab 14 Jahren.

Von den derzeit 330 unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden leben laut Kanton rund 200 in Wohnheimen und speziellen Kollektivunterkünften. Rund 50 sind in Pflegefamilien oder bei Verwandten untergekommen.

Auch für die Deutschkurse braucht es nun mehr Ressourcen: Für neu zugezogene Jugendliche ohne Deutschkenntnisse bietet der Kanton Bern seit dem Schuljahr 2016/17 regionale Intensivkurse an. Der Unterricht ist speziell für Jugendliche, die so in kurzer Zeit fit gemacht werden sollen für den Übertritt in eine normale Schulklasse oder ein spezielles 10. Schuljahr für Flüchtlinge.

Erfahrungen damit, wie die jungen Geflüchteten möglichst rasch integriert werden können, konnte man in den sieben Jahren seit dem letzten grossen Ansturm sammeln. Von den damals angereisten Teenagern haben mittlerweile viele eine Lehre oder Ausbildung begonnen – so auch Asghar Sarwari. Beim Treffpunkt fragt er als Erstes, ob er zu spät sei – fünf Minuten vor dem verabredeten Zeitpunkt. Dann berichtet der Angehörige der Hazara, einer von den Taliban verfolgten Volksgruppe, auf Berndeutsch von seiner Flucht und seinem neuen Leben hier.

In die Schweiz kam der heute 21-Jährige vor sieben Jahren. Als 15-Jähriger flüchtete er mit einem älteren Bekannten aus seinem Dorf zu Fuss, mit dem Auto, dem Schiff, per Bus und Bahn quer durch Europa. Nach über zwei Monaten Flucht wurde er am 7. Dezember 2015 (das Datum weiss er auswendig) in Basel von der Grenzpolizei in Empfang genommen.

Käse und Kartoffeln

Inzwischen lebt der junge Mann allein in einem Studio in Oberhofen, wo er sich auf die Lehrabschlussprüfung als Sanitärmonteur vorbereitet. Dass er so gut Deutsch spreche, verdanke er einer Schweizer Familie, bei der er fast drei Jahre wohnen durfte. Er habe dort sehr viel über die Schweizer Kultur gelernt, sagt Sarwari. «Es gibt dort nicht jeden Tag Käse und Kartoffeln, wie manche Flüchtlinge aus Afghanistan behaupten.»

Als Sarwari in der Schweiz ankam, waren in Europa gegen zwei Millionen Menschen auf der Flucht. Die Fluchtbewegung endete erst, als einige EU-Staaten eigenmächtig ihre Grenzen schlossen. Die «Flüchtlingskrise 2015/2016» überforderte die Asylbehörden und führte in Europa zu einem Aufstieg rechtspopulistischer Kräfte.

Neben Minderjährigen aus Afghanistan flüchteten damals besonders viele Jugendliche aus Eritrea oder Somalia in die Schweiz. Etwa 500 von ihnen wurden damals dem Kanton Bern zugewiesen. Wie viele von ihnen inzwischen eine Lehre oder Ausbildung begonnen oder abgeschlossen haben, weiss niemand so genau. Schätzungen gehen von 80 Prozent aus. Die meisten Jugendlichen würden es trotz ihrer schwierigen Ausgangslage früher oder später schaffen, hier auch beruflich Fuss zu fassen, so der Tenor bei den Sozialpädagoginnen und Flüchtlingsbetreuern.

Klar ist aber auch: Längst nicht alle werden sich so schnell integrieren wie Asghar Sarwari. Welche Tipps er für die jetzigen Neuankömmlinge hat? «Man muss sich anpassen. Alles hier ist komplett anders als in Afghanistan.».Um 22 sei Nachtruhe. Und als junger Ausländer stehe man in der Schweiz speziell unter Beobachtung. «Zwar darf man am Wochenende Alkohol trinken, sollte dabei aber nicht laut werden.» Dass am Sonntag kein Glas entsorgt werden dürfe, wüssten auch viele nicht. «Und das mit dem Duzen ist kompliziert.»



Warum so viele Asylgesuche aus Afghanistan?

Laut dem SEM ist Reisen mit dem Ende der meisten einschränkenden pandemiebedingten Massnahmen wieder einfacher geworden. Doch ein wesentlicher Grund für die stark gestiegenen Asylgesuche sei die Pandemie: Sie habe viele Volkswirtschaften in traditionellen Herkunfts- und Transitländer geschwächt. «Damit stieg der Abwanderungsdruck für afghanische Staatsangehörige im Iran oder der Türkei und bei Migrantinnen und Migranten, die sich dort – teilweise seit längerem – aufhalten», schreibt das SEM. Die steigenden Preise als Folge des Ukraine-Krieges hätten die Situation zusätzlich verschärft. (ama)
(https://www.bernerzeitung.ch/jungs-aus-afghanistan-setzen-asylbehoerden-unter-druck-806065969897)


+++BIZARRES
bzbasel.ch 27.10.2022

Aussteiger aus linksextremer Organisation: «Ich wurde als Ratte beschimpft – ich hatte Todesangst»

Ein Basler wirft seinen ehemaligen Freunden vor, ihn auf die Voltamatte gelockt, ihn dort mit Glasflaschen geschlagen und ihm gedroht zu haben. Die Beschuldigten bestreiten die Tat.

Zara Zatti

Ein Freund beschuldigt die zwei jungen Männer und zwei jungen Frauen. Diesen wird vorgeworfen, ihn in einer Nacht im Oktober 2020 bei der Voltamatte angegriffen, verprügelt, beschimpft und ihm gedroht zu haben. Wie der Privatkläger vor Gericht sagte, seien er und die vier Angeklagten damals zusammen in einer «linksextremen Vereinigung gewesen, die sich klar auf Mao Tse-tung bezieht». Die Organisation sei zudem stark gewaltverherrlichend, Anführerinnen hätten damit geprahlt, stets Messer auf sich zu tragen.

Zu besagtem Vorfall bei der Voltamatte sei es gekommen, weil er einen Monat zuvor aus der Organisation ausgetreten sei. Ausserdem habe er Sorgen um ein anderes Mitglied geäussert, das plötzlich verschwunden sei. In der Nacht habe er sich in einer besetzten Wohnung an der Elsässerstrasse aufgehalten. Zwei der Angeklagten hätten ihn dann dazu aufgefordert, mit ihm spazieren zu gehen, um mit ihm zu sprechen. «Sie lockten mich zur Voltamatte.»

«Sie haben versucht, mich in den Intimbereich zu schlagen»

Dort sei er von vier Personen – darunter zwei Angeklagten – in Schwarz gekleidet und mit Coronamasken in eine dunkle Ecke gedrängt und verprügelt worden. «Sie haben versucht, mich in den Intimbereich zu schlagen, ich wurde als Ratte und Verräter beschimpft – ich hatte Todesangst.» Auch seien sie mit Glasflaschen auf ihn losgegangen. Nach dem Angriff sei er von den insgesamt sechs Personen zurück in die Wohnung an der Elsässerstrasse «begleitet» worden. Dort hätten sie ihn gezwungen, sein Handy abzugeben, damit er niemanden informieren könne.

Seit dem Vorfall leide er an einer posttraumatischen Belastungsstörung, habe oft Panikattacken und Albträume. Er sei in psychiatrischer Behandlung.

Angeklagte waren bei den Demos von «Basel Nazifrei»

Alle Angeklagten wiesen die Vorwürfe von sich. Der junge Mann sei freiwillig zur Voltamatte mitgegangen, mit dem Angriff wollte niemand der Anwesenden etwas zu tun gehabt haben. Nur einer der Angeklagten gab vor Gericht zu, Mitglied der Organisation gewesen zu sein. Heute habe er keinen Kontakt mehr zu linken Gruppierungen.

Die anderen drei wollten keine Frage zu ihrer politischen Ausrichtung beantworten. Fest steht, dass zwei von ihnen eine Vorstrafe im Zusammenhang mit den Solidaritätsdemonstrationen von «Basel Nazifrei» haben. Einer weiteren Angeklagten wird im aktuellen Verfahren auch noch eine Verletzung der Verkehrsregeln und eine Diensterschwerung der Polizei bei einer Kundgebung von «Basel Nazifrei» im April 2020 vorgeworfen.

Aussage gegen Aussage

Während die Staatsanwaltschaft für die Angeklagten bedingte Freiheitsstrafen von neun bis zwölf Monaten forderte, verlangten die vier Verteidiger einen Freispruch von allen Vorwürfen; die Schadenersatzforderung des Privatklägers von 800 Franken und die Genugtuung von 8000 Franken lehnten sie ab. «Es gibt keinen einzigen Beweis», sagte einer der Verteidiger. Zwar konnte bei einem der Beschuldigten die DNA des Klägers festgestellt werden. Diese sei aber dadurch zu rechtfertigen, dass die beiden zusammen gewohnt haben.

Der Vorwurf der Verteidigung: Die Staatsanwaltschaft – die nicht am Prozess teilnahm – beziehe sich ausschliesslich auf die Aussagen des Privatklägers. Diese seien widersprüchlich und wenig glaubhaft. So habe er seine Aussagen, etwa wer in welcher Situation anwesend war, oder was er nach dem Angriff machte, im Verlauf der Einvernahmen geändert.

Auch lasse sein psychischer Zustand – er hat eine Autismusspektrumsstörung und leidet an Panikattacken – an seinem Erinnerungsvermögen zweifeln.

«Eine junge Frau wurde von der Staatsanwaltschaft gedemütigt»

Der Verteidiger der jungen Frau, die sich auch noch wegen ihrer Demoteilnahme von «Basel Nazifrei» verantworten muss, machte ausserdem nochmals auf das unverhältnismässige Vorgehen der Polizei aufmerksam. «Die Demonstration war friedlich und das Anliegen meines Erachtens berechtigt.» Trotzdem sei seine Mandantin wie eine Schwerverbrecherin behandelt worden: «Zwei Polizeipatrouillen umstellten die Kita, in der meine Mandantin damals arbeitete. Danach wurde sie in Handschellen abgeführt.»

Nach der Festnahme sei ihr fristlos gekündigt worden. «Eine junge Frau wurde von der Staatsanwaltschaft gedemütigt, ihr Ruf wurde massiv beschädigt.» Für die Verletzung der Verkehrsregeln forderte er eine Busse von zehn Franken für seine Mandantin. Das Urteil für die vier Angeklagten folgt am Freitagnachmittag.
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/gericht-als-er-aus-der-linksextremen-organisation-ausstieg-haetten-sie-ihn-verpruegelt-ld.2364574)