OLAF-Bericht geleakt, Präventivhaft gefährdend, Alarmphone ausdauernd

Was ist neu?

Thüringen: Hakenkreuz-Bombe und verhinderte Explosion neben Geflüchtetenunterkunft

Gleich zwei möglicherweise rassistisch oder faschistisch motivierte Vorfälle gab es diese Woche im deutschen Bundesland Thüringen: Eine verhinderte Gasexplosion in der Nähe einer Geflüchteten-Unterkunft in Apolda und eine mit einem Hakenkreuz bemalte Bombe am Bahnhof Straussfurt.

Bild: Rechts neben dem leerstehenden Haus, in dem ein Brand gelegt wurde, befindet sich eine Unterkunft, in der 147 Menschen aus der Ukraine leben.

Am Sonntagmorgen entdeckte ein Passant am Bahnhof Straussfurt bei Erfurt zwei selbstgebastelte Bomben. Auf eine der Bomben war ein Hakenkreuz gemalt. Eine der Bomben stellte sich als nicht zündfähig heraus, die zweite hätte einen kleinräumigen Schaden verursachen können. Mehr Informationen hat die Polizei angeblich nicht. Bombenattrappen mit Hakenkreuzen hatte in den 90ern auch das Kerntrio des NSU aus Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt in Jena deponiert. Der aktuelle Bombenfund könnte als Hommage an das mordende NSU-Netzwerk gedeutet werden.

Ein Tag nach dem Hakenkreuz-Bombenfund verschafft sich eine unbekannte Person Zutritt zu einer Industriebrache neben einer Geflüchtetenunterkunft für Ukrainer*innen in Apolda, Thüringen, und legt dort einen Brand. Die Person zündete einen Stapel Holzpaletten an, in deren unmittelbarer Nähe sich eine geöffnete Gasflasche mit hochexplosivem Acetylen befand. Die Feuerwehr konnte eine Explosion verhindern. Als Anschlagsversuch auf die Geflüchtetenunterkunft will das die Polizei – keine*n verwundert es – nicht werten: Der Brände wurden einerseits ja auf der der Unterkunft abgewandten Seite gelegt, die Gasflaschen hätten sich bereits auf dem Gelände befunden.

Die Vorfälle reihen sich in rechte Kontinuitäten ein: Eine aufgeheizte gesellschaftliche Stimmung, die sich an Migrant*innen entlädt, wie am Rande einer Montagsdemo in Leipzig, wo Menschen aus der Ukraine hasserfüllt beschimpft wurden. Eine Polizei, die zwar keine Erkenntnisse über Täter*innen und Tathergänge hat, aber schon mal rassistische Tatmotive ausschliesst. Personen, die nicht nur symbolisch Hakenkreuze in die Öffentlichkeit tragen, sondern mit Bezug auf ihre Held*innen Bomben bauen, Brände legen und bereit sind, zu handeln. Der Sonntag des Bombenfundes war der 9. Oktober: Jahrestag des Attentats von Halle.

https://www.belltower.news/thueringen-hakenkreuz-bombe-und-verhinderte-explosion-nahe-fluechtlingsunterkunft-140337/
https://www.deutschlandfunk.de/staatsschutz-ermittelt-nach-fund-eines-sprengkoerpers-mit-aufgemaltem-hakenkreuz-100.html

https://www.spiegel.de/politik/deutschland/apolda-feuerwehr-verhindert-anschlag-auf-unterkunft-fuer-ukrainische-gefluechtete-a-4d32aa65-d30c-4650-8bee-e489d1d81301

https://www.mdr.de/nachrichten/thueringen/mitte-thueringen/apolda-weimarer-land/gasflasche-ukraine-fluechtlinge-unterkunft-anschlag-102.html

Die Instrumentalisierungs-Verordnung ist einen Schritt weiter

Der europäische Rat diskutiert derzeit einen Mechanismus, der Ausnahmeregelungen für „Situationen von Instrumentalisierung“ einführen könnte und das Asylrecht aussetzt. Lager direkt an den Grenzen, in denen die Menschen wochenlang inhaftiert werden können, vage rechtliche Räume durch sog. Fiktion der Nicht-Einreise, Normalisierung noch geringerer Standards in Asylverfahren und -lagern, sowie die vermehrte Überschneidung von Asyl- und Abschiebeverfahren. Das Ziel der tschechischen Ratspräsidentschaft: Bis Ende des Jahres soll der Entwurf angenommen werden.

Bild: Die Instrumentalisierungs-Verordnung der EU würde die Bedingungen für Menschen auf der Flucht weiter verschärfen.

Im Dezember 2021 öffnete der belarussische Diktator Lukaschenko die Grenzen von Belarus in Richtung der EU und belarussische Grenzbeamt*innen zwangen Menschen, die aus Afghanistan, dem Irak und Syrien geflohen waren, über die Grenzen nach Polen, Litauen und Lettland.
Daraufhin erliessen sowohl Polen als auch Litauen unverhältnismässige Massnahmen, welche den Ausruf des Notstands, die Militarisierung der Grenzen, sowie die Schaffung von Grenz-Zonen, in denen EU-Recht ausgehebelt war, beinhalteten.
Anstatt, dass sich EU-Behörden von dieser Praxis distanzierten, nutzten sie «die Gunst der Stunde», um ihre eigenen Pläne in der Migrationspolitik voranzutreiben. Ganz nach dem Motto: Wenn ihr euch nicht an EU-Recht haltet, dann passen wir doch einfach das EU-Recht an. Bereits zwei Wochen nach den ersten Grenzöffnungen zwischen Belarus und Polen, Litauen, Lettland, tagte die EU-Kommission und begann, Gesetzesentwürfe zu erarbeiten, welche die sog. Notfallmassnahmen, die getroffen worden waren, dauerhaft im Gesetz verankern sollten.

Denn anhand der sog. Instrumentalisierungs-Verordnung könnten Mitgliedsstaaten ihre Pflichten gegenüber Asylsuchenden aushebeln, sobald sie behaupten, die Menschen, die einreisen, seien instrumentalisiert worden.
Und die Definition für Instrumentalisierung ist in den Gesetzesvorstössen äusserst vage gehalten und bleibt vielfältig auslegbar. Die Verordnung ist ein Flickenteppich von Ausnahmeregelungen.
So besteht die Gefahr, dass Regierungen schlichtweg behaupten können, die eingereisten Menschen seien instrumentalisiert worden, um ihren Pflichten nicht nachkommen zu müssen.

Das Framing, das der Begriff ‚Instrumentalisierung‘ innerhalb des letzten Jahres erhalten hat, ist enorm. Und er wird wiederum von den EU-Organen instrumentalisiert, um ihre eigenen Interessen in europäischer Migrationspolitik zu betonieren.

In seinem Paper ‚The European Commission’s Instrumentalization Strategy: Normalising Border Procedures and De Facto Detention‘ argumentiert Marco Gerbaudo folgendermassen: „Durch die Brille der Instrumentalisierung werden Migrant*innen weiter entmenschlicht und zu Spielfiguren auf dem geopolitischen Schachbrett Europas. Eine solche Verallgemeinerung ist vereinfachend und fehlerhaft, da sie den Migrant*innen jegliche Handlungsfähigkeit nimmt: Migration ist nicht mehr das Ergebnis einer individuellen Entscheidung, sondern eine Waffe, die den Ländern entlang der Migrationsrouten zur Verfügung steht. Indem sie die Migrationsströme als instrumentalisiert betrachtet, fühlt sich die EU berechtigt, nicht länger eine Politik der Unterstützung und Solidarität gegenüber den Ankommenden zu betreiben, sondern eine Strategie der Abschottung und Verteidigung zu wählen.“

Denn die Ausnahmeregelungen beinhalten mehrere höchst kritische Vorgehensweisen: Menschen, die «irregulär» einreisen, sollen in Lagern an den Grenzen festgehalten werden und keinen Zugang zum bestehenden Asylsystem erhalten. Diese Zentren an den Grenzen, obwohl faktisch auf dem Boden von EU-Mitgliedsstaaten, sollen eine «Fiktion der Nichteinreise» behaupten. Also obwohl Menschen in die EU eingereist sind, und somit Anrecht auf ein Asylverfahren haben, (was momentan bereits durch Push-Backs unterbunden wird), soll ein Screening-Verfahren eingeführt werden, das die Menschen «vorsortiert». So sollen bereits in den Zentren an den Grenzen «Identitäts-, Gesundheits- und Sicherheits-Checks» durchgeführt werden. Diese Verfahren können bis zu 16 Wochen in Anspruch nehmen. Das bedeutet, das Leute, die fiktiv nicht einmal in das Land eingereist sind, trotzdem monatelang de facto festgehalten und in den Zentren inhaftiert werden können.

So befinden sich Menschen, die in den Lagern festgehalten werden, in einem vagen Rechtsrahmen, da sie offiziell noch nicht in die EU eingereist sind und EU-Recht nicht greift. Die Standards sind sogar noch geringer als die Standards von sog. Erstaufnahmeeinrichtungen und auch geographisch befinden sie sich häufig weit entfernt von Zivilgesellschaft, Anwält*innen und Unterstützer*innen, da direkt an den Grenzen.

Wem diese Massnahmen nun bekannt vorkommen, hat vollkommen Recht.
Denn ähnliche Vorstösse gibt es auch im Pakt für Migration und Asyl, der 2020 von der EU-Kommission unter von der Leyen vorgestellt wurde. Einige der vorgesehenen Regelungen wirken wie kopiert und eingefügt. Die Verhandlungen zur Annahme über diesen Pakt stagnieren jedoch und nun werden bestimmte Aspekte davon über die Hintertür per Instrumentalisierungs-Verordnung wieder aufgegriffen. Und hier hört der Wiedererkennungseffekt nicht auf: Denn der Pakt für Asyl und Migration von 2020 beinhaltet grösstenteils eine Institutionalisierung und Festschreibung von vorübergehenden Notfallmassnahmen, die 2015 und 2016 unter dem sog. Hotspot-Ansatz zusammengefasst wurden. Der Hotspot-Ansatz hatte dazu geführt, dass Lager auf den griechischen Inseln Lesbos, Samos, Chios, Kos und Leros und der italienischen Insel Lampedusa errichtet wurden, welche die geflüchteten Menschen nicht verlassen durften, bis ihr Asylverfahren abgeschlossen war. Was vorübergehend sein sollte, bildete bald das Rückgrat für Asylverfahren innerhalb Griechenlands und Italiens und innerhalb der ganzen EU. Vom Hotspot-Ansatz im Jahr 2015 als einem Provisorium, das blieb; über den Versuch einer Verankerung und Verschärfung davon im EU-Asylrecht durch den Pakt für Migration und Asyl im Jahr 2020; über eine Einführung dieses Paktes als Ausnahmeregelungen in der Instrumentalisierungs-Verordnung im Jahr 2022; bis hin zu einer Normalisierung dieser Ausnahmen in welchem Jahr? Eindrücklich zeigt dieses Beispiel, wie sich Gesetze über die Jahre immer weiter nach rechts verschieben, weil sich Praxen normalisiert haben, die wiederum in neue Gesetze eingeschrieben werden. Woraufhin sich Praxen noch weiter nach rechts verschieben, bis von Menschenrechten nichts mehr übrig bleibt.

In einem gemeinsamen Statement gegen die Verordnung von über siebzig NGOs heisst es: „Handlungen von Drittstaatenregierungen zur Destabilisierung der EU sollten mit politischen Massnahmen beantwortet werden, die sich gegen diese Drittstaatenregierungen richten und nicht gegen Schutzsuchende, die selbst Opfer solcher Handlungen sind.“ Zur Umsetzung dieser einleuchtenden Aussage (abgesehen davon, dass das Narrativ der Destabilisierung der EU durch Menschen auf der Flucht an sich schon gefährlich und unwahr ist) fehlt es jedoch an: politischem Willen und einer antirassistischen Haltung. Denn die EU baut auf Rassismus und ungleicher Machtverteilung auf. Und sie erhält ihre Macht, indem europäische Politiker*innen Angst schüren, die auf Fake News und Moralpanik beruht, sowie rechte Hetze betreiben, die salonfähig geworden ist. Denn dass überhaupt Massnahmen z.B. in Polen getroffen wurden, nachdem unter 10’000 Menschen über die belarussisch-polnische Grenze kamen, dies jedoch als hybrider Krieg bezeichnet wurde, scheint erstaunlich im Angesicht dessen, dass nur Monate später fast 3,5 Millionen Menschen aus der Ukraine nach Polen kamen, ohne dass ähnliche Massnahmen getroffen wurden. Oder eben nicht erstaunlich, sondern rassistisch.

Wo noch Antirassismus und politischer Wille vorhanden sind: Geht auf die Strasse! Protestiert! Der Gesetzesentwurf muss gestoppt werden!

https://medium.com/are-you-syrious/ays-news-digest-21-09-2022-5845eb1e3f7d
http://www.infomigrants.net/en/post/43213/eu-council-and-parliament-agree-on-plan-to-reform-migration-
https://ecre.org/joint-statement-ngos-call-on-member-states-agreeing-on-the-instrumentalisation-regulation-will-be-the-final-blow-to-a-common-european-asylum-system-ceas-in-europe/
https://www.europeanpapers.eu/en/europeanforum/european-commission-instrumentalization-strategy-border-procedures-detention

Was geht ab beim Staat?

Ausschaffung ist Folter, Ausschaffung ist Mord – ein Wochenrückblick dazu

Ob Ukraine, Afghanistan, Sri Lanka oder Italien. Karin Keller-Sutter und das ihr unterstellte Staatssekretariat für Migration (SEM) bemühen sich auf allen Ebenen um möglichst wenig Asylanträge, möglichst harte Kriterien, möglichst effiziente Ausschaffungen. Für die einzelnen Menschen bedeutet das: Gefahr einer Rückschaffung nach Russland, Todesdrohungen in Afghanistan, Folter in Sri Lanka.

SEM: Schutzstatus S abgelehnt: Schnelle und unbürokratische Hilfe soll der Schutzstatus S ermöglichen. 63’000 Gesuche hiess das SEM bis heute gut, 700 Gesuche wurden vom SEM abgelehnt – einige davon drastische Fehlentscheide. So zum Beispiel der Fall einer 40-jährigen Russin und ihres zwölfjährigen Sohns. Sie lebten 13 Jahre in der Ukraine, bevor sie in die Schweiz flüchteten. Das SEM glaubte ihnen nicht, dass sie in der Ukraine gefährdet seien, und wies ihren Antrag zurück. Die beiden wehren sich jetzt vor dem Bundesverwaltungsgericht gegen den Entscheid. Recherchen des Beobachters zeigen: Das ist kein Einzelfall. Bis Ende September sind knapp 140 Beschwerden gegen Status-S-Entscheide des SEM eingegangen. 
https://www.beobachter.ch/politik/schutzstatus-s-wegweisungen-gefahrden-fluchtende-538355

SEM: humanitäre Visa abgelehnt: Malalai H. (Name geändert) hat jahrelang für Schweizer Organisationen in Afghanistan gearbeitet. Jetzt ist sie ins Visier der Taliban geraten: Sie erhält Anrufe und Briefe, in denen ihr und ihrer Familie mit dem Tod gedroht wird. Sie stellt ein Gesuch für ein humanitäres Visum, das Staatssekretariat für Migration lehnt es ab. Aus Sicht des SEM lebe Malalai H. nicht in «unmittelbarer Gefahr» und auch die für das Gesuch notwendige «enge Beziehung» zur Schweiz reiche nicht aus. Auch dies ist kein Einzelfall: Seit der Machtübernahme der Taliban haben 1’800 Afghan*innen versucht, beim Bund ein humanitäres Visum für die Schweiz zu kriegen. Lediglich knapp 100 von ihnen – rund 6 Prozent – hatten Erfolg. Das SEM sieht keinen Handlungsbedarf. Ein Hohn, angesichts der sich wiederholenden Angriffe und Anschläge, zuletzt am 30. September auf ein Bildungszentrum in Kabul.

Bild: Gegen den Anschlag vom 30. September in Kabubl gab es vielseitigen Protest der afghanischen Community in der Schweiz. Unter anderem in Zug und in Luzern wurden Gedenkveranstaltungen organisiert.

https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/stadt-zug-afghaninnen-und-afghanen-setzen-vor-dem-regierungsgebaeude-ein-zeichen-gegen-den-terror-ld.2356329
https://www.blick.ch/politik/sie-arbeitete-fuer-schweizer-ngo-bund-laesst-gefaehrdete-afghanin-im-stich-id17949301.html

Ausschaffung ist Folter – ein Beispiel aus Sri Lanka: Malik T. (Name geändert) floh vor sieben Jahren von Sri Lanka in die Schweiz. Als Muslim sei er in dem mehrheitlich buddhistisch geprägten Süden von Sri Lanka immer wieder islamophoben Angriffen ausgesetzt gewesen. Doch das SEM lehnte 2019 sein Asylgesuch ab, er wurde ausgeschafft. Nach seiner Ankunft fühlte Malik T. sich immer wieder verfolgt. Einmal wollte er sich Hilfe holen und wandte sich ans SEM. Mehr als die Bestätigung des Erhalts seiner E-Mail bekam er nicht. Im Juni 2022 wurde Malik T. dann verhaftet, gefesselt, kopfüber aufgehängt und mit einem Stock geschlagen. Ende Juli übte die Welt­organisation gegen Folter, eine Allianz von Nichtregierungs­organisationen, scharfe Kritik an der Schweiz. In einem offenen Brief an Bundesrätin Karin Keller-Sutter, zu deren Departement das Bundesamt für Migration gehört, forderte die Allianz, die Schweiz müsse Rückführungen nach Sri Lanka einstellen. Karin Keller-Sutter und die offizielle Schweiz tun nichts. Geschichten wie jene von Malik T. nehmen sie bewusst in Kauf.
https://www.republik.ch/2022/10/11/zurueck-in-sri-lanka-begann-der-albtraum

Bundesverwaltungsgericht: Rückschaffungen von Menschen mit schweren Gesundheitsproblemen ermöglicht: Personen mit schweren Gesundheitsproblemen dürfen wieder nach Italien rückgeführt werden – ohne, dass für ihre angemessene Unterbringung und Betreuung eine individuelle Zusicherung bei den italienischen Behörden eingeholt werden muss – so der Entscheid des Bundesverwaltungsgerichtes. Das Bundesverwaltungsgericht nimmt dabei ausschliesslich Informationen der italienischen Behörden als Grundlage. Während zivilgesellschaftliche Berichte klar festhalten: Der Zugang zu psychologischer und psychiatrischer Behandlung ist erschwert und in den Erstaufnahmezentren haben die Menschen ca. 15 Minuten pro Monat Zugang zu einem*einer Sozialarbeiter*in oder medizinischem Fachpersonal
https://www.humanrights.ch/de/ipf/menschenrechte/migration-asyl/rckfhrungen-italien-schwere-gesundheitliche-probleme-zulssig

Bis zu 1000 Franken Busse für Burkatragende und Vermummte

Vor rund eineinhalb Jahren verankerten die schweizer Stimmberechtigten das sogenannte Verhüllungsverbot in der Verfassung. Seither zirkulieren Vorschläge zur Umsetzung der islamfeindlichen Initiative, die auch für Menschen Folgen haben wird, die sich vermummen. Neuester Bundesratvorschlag: „Wer an einem öffentlich zugänglichen Ort sein Gesicht verhüllt, soll mit einer Busse bis 1’000 Franken bestraft werden“. Ausgenommen sind allerdings Verhüllungen für “einheimisches Brauchtum”.

Bild: Burka und Vermummungen werden geächtet, Fasnachtsmasken sind vom Verhüllungsverbotsgesetz ausgenommen.

Ursprünglich schlug der Bundesrat eine Bestrafung von bis 10’000 Franken durch einen neuen Artikel im Strafgesetzbuch vor. Nach Kritik wurde das Verbot nun aber in einem eigenen Gesetz untergebracht. Auch wurden die Bussen gesenkt. Neu sind noch Bussen von bis zu 1’000 Franken vorgesehen. „So zielt das Gesichtsverhüllungsverbot auf die Gewährleistung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung ab. Die Bestrafung steht nicht im Vordergrund,“ schreibt der Bundesrat. Er präsentiert dadurch das Christentum und seine Symbole als Sicherheit und Ordnung und setzt Muslim*innen und ihre Symbole mit einer Gefährdung dieser Sicherheit und Ordnung gleich. Doch welche Gefahr geht von einer Burka oder Vermummung aus? Gefährlich sind Gewalt, Strukturen, Diskurse, Ideologien, nicht Kleider.

Ausnahmen sind vorgesehen. Wer sich in Kirchen oder anderen religiösen Orten verhüllt oder „aus Gründen der Gesundheit, der Sicherheit, der klimatischen Bedingungen und des einheimischen Brauchtums“, ist von der Bestrafung ausgeschlossen. Auch künstlerische und unterhaltende Darbietungen sowie Vermummungen zu Werbezwecken riskieren nichts. Angesichts dieser Ausnahmen muss gesagt werden, dass Repression nationalistischen und kapitalistischen Interessen folgt. Sie soll sich gezielt gegen Muslim*innen und politisch Aktive, die sich vermummen, richten.

Bild: Im Erklärvideo des EJPD ist ganz klar gekennzeichnet, an wen das “Verhüllungsverbot” adressiert ist.

Als nächstes befassen sich parlamentarische Kommissionen mit dem neuen Vorschlag des Bundesrates. Das Gesetz wird wohl im Sommer 2023 in Kraft treten.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/verhuellungsverbot-bundesrat-will-bis-1000-franken-busse?partId=12269167
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90650.html

Was ist aufgefallen?

Migrant*innen mit der SBB auf Durchreise – Und alle reden am Problem vorbei

Die SRF-Rundschau berichtete in ihrer Sendung vom 12. Oktober über interne Weisungen der SBB an das Fahrpersonal im Umgang mit Migrant*innen, welche durch die Schweiz in ein anderes Land reisen wollen. Viele politische Akteur*innen kommen dabei zu Wort. Doch die Diskussionen laufen wieder einmal in die falsche Richtung.

Bild: In Buchs (SG) werden Migrant*innen von der Grenzwacht in Empfang genommen.

Viele Migrant*innen treffen von Österreich kommend in Buchs (SG) ein. Dort wartet die SBB-Transportpolizei und begleitet sie via Zürich in gesonderten Wagen bis nach Basel. Die allermeisten sind in Österreich oder einem anderen Land des Schengenraumes bereits registriert worden und müssten von der Schweiz gemäss Dublin-Abkommen zurückgewiesen werden. Ausserdem sorgt der Wortlaut einiger Passagen der internen SBB-Weisungen für Kritik. In der Sendung kommen Vertreter*innen der SBB, des Staatssekretariates für Migration (SEM), Politiker*innen (u.a. ein Mitglied der Staatspolitischen Kommission) und Rechtsexpert*innen für Europarecht zu Wort. Und zeigen in einem Trauerspiel, wie Schweizer Migrationspolitik funktioniert und wie mit organisierter Unverantwortlichkeit die Probleme einfach weitergeschoben werden.

In diesem Falle existiert kein Schwarz-Weiss-Schema, in dem sich nur einzelne Parteien kritisieren liessen. Eines machen sie jedenfalls alle: Sie reden wieder einmal nur über und nicht mit den Menschen. Darum wollen wir die Positionen der einzelnen Akteur*innen im folgenden kurz analysieren: Die SBB muss rein rechtlich ihren Transportauftrag wahrnehmen. Dass sie dies auf jene Weise tut, die ihr am einfachsten erscheint, kann wohl niemanden überraschen. Die Passagen in der internen Weisung zur Körperhygiene und der Separierung in eigenen Wagen seien laut SBB-Sprecherin «unglücklich formuliert» und mittlerweile geändert worden. Das SEM sieht in der ganzen Sache überhaupt kein Problem, da es sich im Vorgehen der SBB nur um ein «Lenken der Passagierströme» handle. Solange Migrant*innen die Schweiz nur durchqueren und gleich wieder verlassen, wird dem SEM noch manch andere Praxis egal sein. In diesem Falle verhalten sich das SEM und die SBB für Migrant*innen, welche von Österreich durch die Schweiz nach Frankreich oder Deutschland reisen wollen, also durchaus vorteilhaft. Zumindest bis zum Bahnhof Basel. Dort erhalten die Migrant*innen für ihre Weiterreise dann keine Unterstützung durch SBB-Personal mehr. Manchen gelingt die Weiterreise Tage später trotzdem, andere tauchen erstmal unter.

Das Vorgehen der SBB sei illegal, rufen die Europarechtler*innen aus. Verstoss gegen das Dublin-Abkommen. Ein Abkommen, welches von Anfang an die Staaten an den EU-Aussengrenzen benachteiligte. Und als diese die Schnauze voll hatten und die Menschen einfach passieren liessen, rief auch Karin Keller-Sutter (KKS) im Chor mit den anderen westeuropäischen Politiker*innen aus, «so geht das aber nicht.» Doch soll es eine*n noch überraschen, dass die offizielle Schweiz sich zu ihrem eigenen Vorteil nun gleich verhält? Insbesondere KKS hat in ihrer Politik schon so viel gelogen, agiert so menschenfeindlich und nach Kalkül, dass nicht anderes von ihr zu erwarten ist.

Eine Vertreterin der Grünen beschwert sich, dass die SBB «aktive Migrationspolitik» betreiben würde, was ihr nicht zustehe. Da die Grünen auf Bundesebene aber seit Jahren eine Migrationspolitik betreiben, die von Kompromissen und dem Nichtergreifen einer klaren Position geprägt ist, wirkt der Wortlaut dieses Vorwurfes schon fast skurril. Denn völlig unabhängig der Diskussion um «Transportauftrag» vs. «Durchschleusung»: Liebe Grüne, macht doch einfach selber aktive Migrationspolitik zum Wohle geflüchteter Menschen. Damit wäre allen am meisten geholfen.

Die SBB wiederum stellt sich auf den Punkt, dass sie keine Politik mache und «nur Zug fahre». Die SBB ist ein halbstaatliches Unternehmen mit Monopol in diversen Bereichen. Und wer selber und mit seinem Tochterunternehmen Securitrans am Transport von Menschen bei Abschiebungen beteiligt ist, nimmt ganz klar eine aktive Rolle in der Migrationspolitik ein.

Doch wer sind nun die Guten und wer die Bösen in diesem Spiel? Schlussendlich verhalten sich alle Akteur*innen ihren eigenen Interessen entsprechend. Die Verantwortung wird weiter geschoben. Und die Presse fängt die Meinungen ein, verzichtet aber genauso darauf, die Fragen zu stellen, um die es wirklich gehen sollte: Wie können wir den Menschen auf der Durchreise einfach und kostenlos den Zugang zur Körperpflege ermöglichen? Sind die Menschen froh, ungestört in einem eigenen Wagen reisen zu können oder möchten sie in den regulären Abteilen sitzen? Wie können wir das Dublin-System bekämpfen, welches den geflüchteten Menschen jede Selbstbestimmung nimmt? Warum wollen die Menschen weiterreisen und wenn ihnen dies an der nächsten Grenze verunmöglicht wird, wie können sie trotzdem unterstützt werden? Möchten Menschen gleich in der Schweiz bleiben, trauen sich aufgrund des repressiven Empfangskomittes aber gar nicht, diesen Wunsch zu äussern? Aber diese Fragen darf in diesem System halt kein*e der involvierten Akteur*innen stellen…
https://www.srf.ch/news/schweiz/heikle-rolle-der-bahn-sbb-lenkt-migranten-von-der-grenze-in-buchs-sg-nach-basel

Die SIK-N droht sogenannten Gefährder*innen mit Präventivhaft

Wer zu Terror oder Gewalt gegen den Staat aufruft, soll weggesperrt werden können. So will es die sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats (SIK-N) und überreicht dem Nationalrat einen entsprechenden Vorschlag.

Bild: Ist das Liken eines solchen Posts von barrikade.info bald ein Grund für Knast?

Die Idee der Präventivhaft für sogenannte Gefährder*innen ist nicht neu, sondern tauchte ursprünglich bereits im Gesetz betreffend der polizeiliche Massnahmen zur Bekämpfung von Terrorismus (PMT) auf. Damals wurde die Idee jedoch explizit vom Parlament aus dem Gesetzesentwurf gestrichen. Unter anderem aufgrund eines Rechtsgutachtens, dass besagte, die Präventivhaft verstosse gegen die Menschenrechte. Nun kommt sie erneut aufs Tapet.

Die Präventivhaft sieht vor, dass Menschen Repression und Isolation durch Haft erleben sollen, bevor sie wegen eines Delikts verurteilt wurden und bevor sie eines begangen haben. Zielscheibe sind Menschen, von denen die Behörden annehmen, sie würden im privaten oder öffentlichen Raum zu terroristischen Aktivitäten oder zu Gewalt gegen den Staat – ob im In- oder Ausland – aufrufen, anleiten oder ermuntern. Auch das Ankündigen, Finanzieren oder Begünstigen solcher Aktivitäten reicht aus.

Die Präventivhaft verstösst gegen das rechtsstaatliche Prinzip der Unschuldsvermutung. Offenbar ist dies gewissen rechten Kräften egal. Sie lassen nicht locker. Die PMT-Verschärfungsvorschläge gehen nun weiter an den Nationalrat.

Bis zu einer allfälligen Einführung der Präventivhaft wird es noch dauern. Doch bereits heute findet eine Diskursverschiebung statt. Während der Ausarbeitung des PMT und im Zuge der Abstimmungskampagne argumentierten die Befürwortenden stark mit Terrorismusbekämpfung und unterschlugen tendenziell, dass die neue präventive Polizeigewalt weit mehr Menschen trifft. Zwischenzeitlich hat es sich eingebürgert, Terrorismus und Gewaltextremismus im selben Atemzug zu nennen. Die Gruppe jener, die die herrschende Ordnung mit allen – auch gewalttätigen – Mitteln verändern will, ist nicht nur viel grösser, sondern auch bezüglich ihrer politischen Motive teilweise ganz anders. Gut möglich, dass wir von antira.org schon bald unter diesem Gesetz leiden werden.
https://www.srf.ch/news/schweiz/terrorismus-in-der-schweiz-nationalratskommission-will-praeventivhaft-fuer-gefaehrder
https://www.kkjpd.ch/files/Dokumente/News/2020/190415%20Gemeinsames%20-%20fedpol%2BKKJPD%20%20Rechtsgutachten%20Prof.%20A.%20Donatsch%20%20zum%20Umgang%20mit%20gef%C3%A4hrlichen%20Personen.pdf

Was tut Frontex?

OLAF-Bericht über die Frontex-Verbrechen ist nun raus

Der geheime OLAF-Bericht wurde geleakt. 129 Seiten, welche geheim gehalten werden sollten, fanden den Weg in die Öffentlichkeit. Werden die Informationen etwas an der europäischen Abschottungspolitik ändern? Wir bleiben skeptisch…

Bild: Frontex-Schiff in einem Meer von Papierdokumenten.

Die europäische Antibetrugsbehörde OLAF ermittelte über ein Jahr gegen die Machenschaften von Frontex. Die EU-Ermittler*innen durchsuchten die Büros von Leggeri und seinem Team. Sie lasen private Chat-Nachrichten, E-Mails und interne Berichte. Sie befragten zwanzig Zeug*innen persönlich und vernahmen die Topmanager*innen von Frontex. Nach einem Jahr intensiver Ermittlungen verfassten sie einen 129 Seiten langen Bericht, der bis heute streng geheim ist. Selbst Parlamentarier*innen der EU, die selber mögliches Fehlverhalten von Frontex untersuchten, wurden im letzten Frühling nur mündlich gebrieft. Der geheime OLAF-Bericht wurde letzte Woche an den «Spiegel», «Lighthouse Reports» und das Portal «Frag den Staat» geleakt. Das Frontex-Management hat eine Erklärung als Reaktion auf die Veröffentlichung des OLAF-Berichts abgegeben. Sie enthält die Sätze „das waren Praktiken der Vergangenheit“, sowie einen gemeinsamen „Aktionsplan“ mit den Griech*innen, um „das Unrecht der Vergangenheit und der Gegenwart zu korrigieren“.

Aber wissen wir nicht schon längst über die menschenverachtenden Machenschaften der Beamt*innen an den Grenzen, in den Koordinationszentren und im Management Bescheid? So viele Berichte von Betroffenen der Gewalt an den EU-Aussengrenzen liegen vor. Viele unermüdlich zusammengetragen von Aktivist*innen vor Ort. Video-Beweise aus den Flugzeugen der zivilen Seenotrettung gingen über die Sozialen Medien. Was wird die Veröffentlichung des Berichtes ändern? Braucht es den offiziellen Charakter eines amtlichen Papiers, eines Gerichtsurteils, sodass sich etwas ändert – in Richtung Menschlichkeit? Das «schweizer Stimmvolk» hatte im Mai diesen Jahres die Wahl, ob Frontex finanziell und personell stärker unterstützt werden soll. Zu diesem Zeitpunkt liefen die Ermittlungen gegen Frontex auf Hochtouren, die Medien waren voll mit Meldungen über Korruptionsvorwürfe, gewaltvolle Push-Backs und den Schutzbehauptungen des Frontex Managements. Mit fast 72% wurde der Ausbau von Frontex von der Wähler*innenschaft beschlossen.

Welche Perspektiven sollen sich nun mit dem OLAF-Bericht auftun? Es scheint wie der Blick in einen dunklen Tunnel: Ein Weg ist da, doch wo führt er hin? Gibt es ein Ende in dieser Dunkelheit?

Eines ist sicher: Auf Parlamente und Behörden wird es weiterhin keinen Verlass geben. Wir müssen unsere vorhandenen Solidaritätsstrukturen, ob zu Hause, in den Grenzregionen, auf dem Mittelmeer, aufrechterhalten und ausbauen – und uns mit allen Mitteln, Hand-in-Hand, solidarisch, praktisch, «von unten» gegen diese tödliche Abschottungspolitik zur Wehr setzen. Frontex ist nicht reformierbar, Frontex muss abgeschafft werden. Denn die Schuld tragen nicht (nur) einzelne Top-Manager*innen, sondern die Gesamtheit, die Frontex unterstützt und fordert: Ein Europa, welches nur für Ausgewählte offen steht, die «Anderen» jedoch fleissig und brutal abschiebt und zurückdrängt.
https://www.republik.ch/2022/10/13/vorwuerfe-bewiesen-was-im-geheimen-frontex-bericht-steht
https://fragdenstaat.de/blog/2022/10/13/frontex-leak-olaf-bericht/
https://twitter.com/stluedke/status/1580872194304880641?s=09

Was schreiben andere?

8 Jahre Kampf! Stellungnahme zum Jahrestag des Alarm Phone

Von Alarm Phone im Oktober 2022
“Vor acht Jahren, am 11.Oktober 2014 starteten wir das Alarm Phone, eine Hotline für Menschen in Seenot. Wir wählten diesen Tag, als Jahrestag der Katastrophe, die sich am 11. Oktober 2013 ereignet hatte, als italienische und maltesische Behörden die Rettung eines sinkenden Bootes verzögerten. Aufgrund dieser Verzögerung starben über 200 Menschen.

In den letzten acht Jahren sind unsere Schicht-Teams 24/7 erreichbar und haben über 5.000 Boote in Seenot, entlang der unterschiedlichen maritimen Routen nach Europa – dem Mittelmeer, dem Atlantik zu den Kanarischen Inseln und seit 2022 auch im Ärmelkanal von Frankreich nach Großbritannien – unterstützt. Manche dieser 5.000 Boote hatten nur fünf oder zehn Menschen an Bord, die meisten zwischen 30 und 80 Personen, aber auch häufig über 100 Menschen, gelegentlich waren es sogar über 500 Menschen auf der Flucht.

Am Telefon wurden wir Zeug*innen wie tausende Menschen verschwanden und ertranken. Wir haben einigen ihrer Verwandten und Freund*innen auf ihrer verzweifelten Suche nach ihren Angehörigen, auf ihrer Suche nach Antworten zugehört. Wir haben auch gewaltvolle Pushbacks und die tödlichen Folgen des Zurücklassen miterlebt, und wie viele derer die uns anriefen, auf See gefangen genommen und zwangsweise an Orte zurückgebracht wurden, denen sie entkommen wollten.

Zugleich haben wir unzählige Momente der Freude, des Widerstandes und der Solidarität erlebt, mit Menschen, die Europa lebend erreichten oder gerade rechtzeitig gerettet wurden. Wir haben miterlebt, wie Menschen auf der Flucht sich kollektiv organisieren, um die EU-Grenzen zu unterwandern und wie sie auf ihren Reisen Unterstützungsstrukturen aufbauen. Und wir waren Teil eines wachsenden Netzwerks der Solidarität, von der zivilen Flotte und zivilen Flugzeugen, die die Meere und den Himmel durchstreifen, einigen Besatzungen von Handelsschiffen, bis hin zu Graswurzelbewegungen, die zusammengekommen sind, um der Grenzgewalt entgegenzuwirken.

Im westlichen Mittelmeer zwischen Marokko und Spanien können wir immer noch einige proaktive Rettungseinsätze der spanische Küstenwache Salvamento Maritimo sehen, oft entlang der Route zu den Kanaren. Allerdings finanzieren Spanien und die gesamte EU Marokko weiterhin, um Europas Türsteher zu spielen. Als Konsequenz haben wir furchtbare Grenzgewalt in dieser Region gesehen, wie kürzlich bei Melilla bewiesen wurde. Am 24 Juni 2022 wurden mindestens 40 Menschen in einem rassistischen Massaker am Zaun der spanischen Enklave getötet – eine unerträgliche Szene neo-kolonialer Gewalt, die von marokkanischen Streitkräften ausgeführt, aber von EU Migrations- und Grenzpolitiken unterzeichnet wurde. Sie gehören zu den Tausenden die Schätzungen zufolge jedes Jahr an Spaniens Grenzen ihr Leben verlieren, vor allem entlang der Atlantikroute.

Der Krieg gegen Menschen auf der Flucht ist auch in der Ägäis und der Landgrenze zwischen der Türkei und Griechenland täglich Realität. Sowohl die griechische als auch die türkische Regierung nutzen Menschen auf der Flucht als Spielfiguren in ihren militärischen und nationalistischen Machtspielen. Während griechische Pushbacks seit langer Zeit passieren, wurden sie ab März 2020 systematisch. Sogar Menschen, die bereits auf griechische Inseln gelangt sind, werden auf kleine Rettungsinseln gezwungen und in türkischen Gewässern zurückgelassen. Wir müssen sie als das benennen, was sie sind: Beispiele versuchten Mordes. Diese Grenzverbrechen sind nun Routine in der Ägäis und der Region Evros. Im März war die 5-jährige Maria unter denjenigen, die ihr Leben durch dieses Pushback Regime verloren haben.

Im zentralen Mittelmeer wurde ein Pull- und Pushback Regime installiert, nicht zuletzt durch die Zusammenarbeit zwischen Frontex Drohnen und EU-Flugzeugen mit der sogenannten libyschen Küstenwache. Da Einsatzfahrzeuge der zivilen Flotte oft in dieser Grenzzone anwesend sind, konnte vielen Fälle von unterlassener Hilfeleistung nicht-Unterstützung und Abfangaktionen entgegengewirkt werden, Menschen gerettet und Grenzverbrechen dokumentiert und öffentlich angeprangert werden. Nichtsdestotrotz bleibt die zentrale Mittelmeerroute eine der tödlichsten in der Welt, auch weil EU-Mitgliedstaaten weiterhin Boote in Seenot wissentlich in den gefährlichsten Zonen vor den libyschen und tunesischen Küsten zurücklassen.

Eine steigende Anzahl derer die die Überquerungen des Meeres in die EU überlebt haben müssen erneut unsolide Boote nutzen, wenn sie versuchen Großbritannien zu erreichen. Die Ankünfte auf der anderen Seite des Ärmelkanals haben in den letzten Jahren erheblich zugenommen. In Anbetracht dessen haben wir 2022 beschlossen die Ärmelkanal Route in die Arbeit des Alarm Phone’s zu integrieren. Unser WatchTheChannel Team hat Recherchen angestellt und gemeinsam mit anderen lokalen Netzwerken in Frankreich und Großbritannien einen Alarmplan vorbereitet.

Alle maritimen Routen sind und bleiben politisch umkämpfte Räume. Menschen auf der Flucht üben ihre Bewegungsfreiheit aus, während wir als Alarm Phone Netzwerk versuchen Solidarität entlang der unterschiedlichen Routen zu stärken. Migrantische Bewegungen und die Beharrlichkeit von Menschen auf der Flucht bleiben die treibende Kraft im Kampf gegen europäische und globale Apartheid Regime. Tausende autonome Ankünfte fordern das Schließen und die Externalisierung der EU-Grenzen heraus. Gleichzeitig gehen selbstorganisierte Kämpfe für Bleiberecht und gegen rassistische Ausbeutung innerhalb der EU weiter. Verwandte und Freund*innen der Verschwundenen und Toten organisieren weiterhin CommemorActions um ihrer Angehörigen zu Gedenken und nach ihnen zu suchen, und um gegen die Grenzgewalt zu protestieren, die sie verschwinden liess oder tötete.

Wir haben acht Jahre lang gekämpft. Wir werden weiter machen. Wir werden niemals aufgeben.”
http://alarmphone.org/wp-content/uploads/2022/10/Image-for-Anniversary-Statement.jpg

Wo gabs Widerstand?

Proteste gegen die Zusammenarbeit der EU mit der libyschen Küstenwache

Vor fünf Jahren unterzeichneten Italien und Libyen ein Abkommen, um Geflüchteten den Weg nach Europa enorm zu erschweren. Das Abkommen fördert seither Gewalt und Missbrauch in Libyen und im Mittelmeer. Nun soll es Anfang November automatisch um weitere drei Jahre verlängert werden.

Bild: Protestaktion in Bern.

Im Februar 2017 unterzeichnete die italienische Regierung ein von der EU gefördertes Abkommen mit der libyschen Regierung: The Memorandum of Understanding (MoU) on Migration. Das MoU, das 2020 um weitere drei Jahre verlängert wurde, ist Teil einer umfassenderen Abschottungsstrategie der europäischen Regierungen. Anstatt Migrant*innen und Geflüchteten Schutz zu gewähren, wird versucht, sie fernzuhalten. Im Rahmen dieses Abkommens unterstützen Italien und die EU die sogenannte libysche Küstenwache beim Ausbau ihrer Überwachungskapazitäten im Mittelmeer und stellen ihr finanzielle und technische Mittel zur Verfügung. Seit 2017 hat Italien 32,6 Mio. EUR zur Unterstützung der libyschen Küstenwache bereitgestellt, davon 10,5 Mio. EUR im Jahr 2021. Das sind also zweistellige Millionenbeträge, welche die EU Jahr um Jahr an Strukturen zahlt, die auf Migrant*innen schiessen, sie in Gefangenenlager unter grausamen Haftbedingungen festhalten, missbraucht, foltert und erniedrigt.

Das MoU beinhaltet unter anderem: technische und technologische Unterstützung für die sogenannte libysche Küstenwache, die Fertigstellung des Kontrollsystems an der südlichen Landgrenze Libyens sowie die Finanzierung der lokalen Haftzentren. Es wird hauptsächlich von der EU finanziert und von der europäischen Grenzagentur Frontex umgesetzt.

Das Memorandum wurde geschaffen, weil Italien im Jahr 2012 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt wurde, weil es Abschiebungen von Menschen auf der Flucht nach Libyen praktizierte. Um dieses Urteil zu umgehen, wurde das Memorandum of Understanding (MoU) im Jahr 2017 unterzeichnet. Somit wurden diese Abschiebungen in einen legalen Rahmen gezwängt.

Das MoU bedeutet eine weitere Externalisierung der europäischen Aussengrenzen und installiert ein Todesregime an den Grenzen und in den libyschen Lagern. Die zahlreichen Berichte (https://abolishfrontex.org/blog/2022/09/07/call-out-organise-to-stop-the-italy-libya-memorandum/) über die Gräueltaten in Libyen, die durch diese italienischen Abkommen finanziert werden, sind allgemein bekannt. Seit 2017 wurden 50.000 Menschen auf der Flucht in diese Lager zurückgeschickt, da sie von der sogenannten libyschen Küstenwache abgefangen und gefangen genommen wurden. Libyen ist kein “sicherer Ort” für die Ausschiffung, dennoch werden Tausende von Menschen dort an Land gebracht, nur um den höllischen Kreislauf von willkürlicher Inhaftierung, Schleusung, versuchter Flucht in Sicherheit, Abfangen durch die sogenannte libysche Küstenwache und erneuter Inhaftierung zu durchlaufen. Dieser Kreislauf umfasst Folter, Vergewaltigung, Versklavung, Hunger und Tod.

Refugees in Libya, eine Protestgruppe von Menschen auf der Flucht, die in Libyen festsitzen, protestieren seit Oktober 2021 vor dem UNHCR-Büro in Tripolis, Libyen, gegen die unmenschlichen Bedingungen, die durch das MoU geschaffen wurden, trotz der brutalen Repression, der sie ausgesetzt sind. Bis heute befinden sich noch mehr als 300 der bei der gewaltsamen Räumung des Protestcamps im Januar 2022 verhafteten Menschen in Haft.

Anfang November wird das Memorandum automatisch um weitere drei Jahre verlängert – sofern weder Italien noch Libyen die Vereinbarung kündigen. Am 15. Oktober gab es deshalb in zahlreichen Städten Proteste gegen die Verlängerung des Memorandums und in Solidarität mit Refugees in Libya, die seit Monaten unerbittlich in Libyen protestieren und im ihr Leben kämpfen.

Die Proteste fordern unter anderem:

  • Ein Ende jeglicher EU-Finanzierung und Zusammenarbeit mit der sogenannten libyschen Küstenwache und anderen libyschen “Seenotrettungs”-Akteuren!
  • Die dringende Aktivierung einer europäischen Seenotrettungsinitiative im Mittelmeer!
  • Ein Ende der Kriminalisierung von Menschen in Migrationsbewegungen und der zivilen Seenotrettung!
  • Die Evakuierung von Menschen auf der Flucht in sichere Länder der EU!
  • Die Schliessung der libyschen Gefangenenlager!
  • Die Erfüllung der Forderungen, die im Manifest (https://www.refugeesinlibya.org/manifesto) von Refugees in Libya formuliert sind!

http://www.infomigrants.net/en/post/43870/heinous-killing-of-migrants-in-libya
https://www.facebook.com/iuventacrew/posts/pfbid08TwTT2ZQqRKbppigBU5iUPt3PVZ7i9SVfSx4un3cnMLuCuLbj7NQfXGV8Qn7fdRbl
https://rabe.ch/2022/10/13/soll-die-zusammenarbeit-eu-libyen-gestoppt-werden/

Proteste gegen Behörden wegen verschwundener tunesischer Migranten

Die Mütter und Schwestern der vermissten tunesischen Migranten haben in den Strassen der Küstenstadt Zarzis protestiert und die Behörden aufgefordert, deren Verschwinden zu untersuchen.

Bild:
Demonstrant*innen in Zarzis fordern die Behörden auf, das Verschwinden ihrer Angehörigen auf See zu untersuchen. Bildquelle: Screenshot von tunisienumerique.com

Übersetzt von infomigrants.net

Die Demonstrant*innen blockierten am Mittwoch, 12. Oktober, die Hauptstrasse von Zarzis und skandierten “Das Volk will unsere verlorenen Kinder!”. Einige verbrannten Reifen und warfen Steine auf die Polizei, wie die Nachrichtenagentur AFP berichtet.

Die Familien, zu denen sich Berichten zufolge auch Student*innen gesellten, sind wütend darüber, dass die Behörden drei junge tunesische Männer, die kürzlich beim Kentern eines Bootes ums Leben gekommen waren, auf einem örtlichen Migrant*innenfriedhof begraben haben, ohne sie darüber zu informieren.

Den ganzen Artikel auf Englisch könnt ihr hier lesen:
http://www.infomigrants.net/en/post/43959/protesters-clash-with-police-over-disappeared-tunisian-migrants

Was steht an?

Infotour zur Situation an der polnisch/belarussischen Grenze!

21.10.22 I 19:00 I Luzern, Hello Welcome

23.10.22 I Bern, Warmbächli

24.10.22 I 19:00 I Zürich, Zentralwäscherei

Im vergangenen Jahr hat sich die osteuropäische Migrationsroute erneut verändert und mittlerweile etabliert. Noch immer versuchen viele Menschen, die Grenze zu überqueren, trotz massiver Militärpräsenz und der Errichtung eines Hochsicherheitszauns. Menschen, die unterwegs sind, und Aktivist*innen werden von der Regierung mit massiver Repression konfrontiert. Alle Arten von Brutalität, die von anderen europäischen Grenzen bekannt sind, sind auch an der polnisch-belarussischen Grenze Realität. Aktivist*innen, die vor Ort aktiv sind, berichten über die Ereignisse im letzten Jahr, die aktuelle Situation an der Grenze, die Unterstützungsstrukturen und die Herausforderungen, welche in Zukunft auf sie zukommen. Dazu wird ein Film gezeigt mit Aufnahmen aus dem vergangenen Jahr.

https://fightfortresseurope.noblogs.org/

Demo: Antifaschistischer Abendspaziergang

22. Oktober 2022 | 19:30 | Bern Bahnhofplatz

Wir wollen ein bestimmtes, lautes und buntes Zeichen gegen Faschismus, Kriege und Krisen und gegen rassistische und antifeministische Tendenzen setzen! Auf solidarische und kämpferische Zeiten!
Damals wie heute: Kämpfe verbinden – Faschismus überwinden.
https://barrikade.info/event/1812

Lesung und Gespräch mit Filimon Mebrhatom: «Ich will doch nur frei sein»

24.10.22 I 20:00 I Kleintheater Luzern
Im Alter von 14 Jahren flüchtete Filimon Mebrhatom aus Eritrea über Äthiopien, die Sahara, den Sudan, Libyen, Italien und Österreich nach Deutschland. In seinem Buch «Ich will doch nur frei sein. Wie ich nach Unterdrückung, Gefangenschaft und Flucht weiter für eine Zukunft kämpfe» schildert er seine lebensgefährliche Flucht als Nichtschwimmer übers Mittelmeer. 
https://www.kleintheater.ch/programm#event-11779-hellowelcome

1932-2022: Wir vergessen nicht und setzen den Kampf fort!

12.11.22 I 16:00 I Genève, Place Lise Girardin
Am 9. November 1932 schoss die Schweizer Armee auf eine antifaschistische Demonstration in Genf, wobei 13 Menschen getötet und über 60 verletzt wurden. Angesichts einer faschistischen Provokation war die Genfer Arbeiterbewegung geschlossen auf die Straße gegangen und hatte sich der Polizei und der Gendarmerie entgegengestellt. Die Behörden hatten die Armee angefordert, um die bürgerliche Ordnung mit scharfer Munition gegen eine unbewaffnete Menge zu sichern.
https://renverse.co/infos-locales/article/1932-2022-on-n-oublie-pas-et-on-continue-le-combat-3712

Lesens -/Hörens -/Sehenswert

Theater in Zürich : Weisse Wand und schwarze Box
Ein Kollektiv besetzt seit Wochen einen Teil der Gessnerallee. Es verlangt ein nichtweisses Theaterhaus – und scheint damit offene Türen einzurennen. Doch Probleme gibt es trotzdem.
https://www.woz.ch/2241/theater-in-zuerich/theater-in-zuerich-weisse-wand-und-schwarze-box/%21RFFXZA204F61

Durchsuchungen in der AfD-Spendenaffäre: Ermittler gehen Spuren zu Milliardär aus der Schweiz nach
Der AfD drohen nach den bundesweiten Hausdurchsuchungen millionenschwere Strafzahlungen. Die Ermittlungsorte weisen auf neue Dimensionen in der AfD-Spendenaffäre hin. CORRECTIV, das ZDF-Magazin Frontal und Spiegel erklären die Hintergründe.
https://correctiv.org/aktuelles/afd-spendenskandal/2022/10/11/durchsuchungen-in-der-afd-spendenaffaere-ermittler-gehen-spuren-zu-milliardaer-aus-der-schweiz-nach/

Despoten, Flucht und scharfe Schüsse
Die Türkei macht Anstalten, sich der syrischen Flüchtlinge zu entledigen. Diese organisieren eine »Karawane des Lichts«, um in die EU zu gelangen. Aber die EU-Außengrenzen werden seit 2020 immer stärker militarisiert, es gibt kaum noch ein Durchkommen. Dennoch werden erste Warnungen vor einer »Flüchtlingskrise« wie 2015 laut.
https://jungle.world/artikel/2022/40/despoten-flucht-und-scharfe-schuesse

Wer aufbegehrt, wird kriminalisiert
Nirgends sitzen so viele Menschen hinter Gittern wie in den USA. Wer das Phänomen der Masseninhaftierung verstehen will, muss zurück an seine Ursprünge. Der Gefängnisaufstand von Attica im Jahr 1971 zeigt beispielhaft: Rassifizierte Menschen, die sich gegen ihre Unterdrückung wehren, werden kriminalisiert. 

Kulturelle Aneignung – um was geht es?
Dieser Text bildete zusammen mit einem weiteren Text Grundlage für einen Workshop zu kultureller Appropriation, der am „flüssig“ Wochenende am 10. Oktober 2022 in Zürich von zwei BIPOC-Aktivist:innen gehalten wurde. Der Text erklärt zuerst die zugrunde liegenden Konzepte generell, und analysiert dann im letzten Teil den Vorfall in der Brasserie Lorraine sowie die Debatte.
https://barrikade.info/article/5414