Medienspiegel 16. Oktober 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++SCHWEIZ
Raketen, Stromausfall und kalte Nächte: Kommt die nächste grosse Flucht?
Die Schweiz erwartet bis zu 120’000 Menschen aus der Ukraine. Zur Not will die die oberste Sozialdirektorin Nathalie Barthoulot für sie Kasernen umfunktionieren.
https://www.blick.ch/politik/raketen-stromausfall-und-kalte-naechte-kommt-die-naechste-grosse-flucht-id17966091.html


+++ÖSTERREICH
Heftiger Widerstand gegen Flüchtlingszelte in den Ländern
Steigende Flüchtlingszahlen stehen einem Quartiermangel gegenüber. Der Plan des Innenministeriums, dies mit Zelten auszugleichen, stößt auf massive Proteste
https://www.derstandard.at/story/2000140023190/heftiger-widerstand-gegen-fluechtlingszelte-in-den-laendern?ref=rss
-> https://www.derstandard.at/story/2000140024832/keine-krise-wie-damals?ref=rss


+++GRIECHENLAND
EU-Grenze: Internationale Kritik nach Ankunft von 92 fast nackten Migranten
Griechenland beschuldigt die Türkei, 92 Migranten über den Grenzfluss Evros geschickt zu haben. Sie wurden teils verletzt und fast unbekleidet aufgegriffen.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-10/flucht-nackt-evros-griechenland-tuerkei


+++SPANIEN
Spaniens Grenze zu Marokko: Rund 470 Pushbacks an einem Tag
Die Grenzpolizei hat im Juni Flüchtlinge zurück nach Marokko gedrängt. Laut einer Untersuchung missachtete sie dabei oft internationales Recht.
https://taz.de/Spaniens-Grenze-zu-Marokko/!5885690/


+++MITTELMEER
Die NGO Sea-Watch sucht aus der Luft nach Geflüchteten in Seenot
Weit entfernt und doch nah dran
Der Verein Sea-Watch hat sich zur Aufgabe gemacht, das Leben von Menschen zu retten, die sich in meist hochseeuntauglichen Booten über das westliche Mittelmeer auf den Weg nach Europa machen. Reportage von einem Suchflug der NGO.
https://jungle.world/artikel/2022/41/weit-entfernt-und-doch-nah-dran


+++EUROPA
Migration nach Europa: Die Sehnsucht nach dem Schutzwall wächst
Zuletzt stark gestiegene Flüchtlingszahlen machen die EU nervös. Droht erneut eine Krise wie im Jahr 2015?
https://www.bernerzeitung.ch/die-sehnsucht-nach-dem-schutzwall-waechst-475360955697


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
NZZ am Sonntag 16.10.2022

Busse für SP-Politiker Molina

SP-Nationalrat Fabian Molina muss 300 Franken Busse bezahlen, weil er an einer unbewilligten Demonstration teilgenommen hat.

Ladina Triaca

Er würde noch mehr in Kauf nehmen als eine Busse. Das sagte SP-Nationalrat Fabian Molina, nachdem er im Februar an einer unbewilligten Demonstration gegen Massnahmenkritiker und Rechtsextreme teilgenommen hatte. Der «Kampf gegen die verbrecherische Naziideologie» sei eine Bürgerpflicht. Nun kommt der ehemalige Juso-Präsident doch mit einer finanziellen Strafe davon.

Wie die Zürcher Staatsanwaltschaft auf Anfrage mitteilt, hat sie Fabian Molina wegen der Teilnahme an einer unbewilligten Veranstaltung mit einer Busse in der Höhe von 300 Franken bestraft. Auch die Verfahrenskosten muss Molina bezahlen.

Der SP-Politiker sagt zum Entscheid: «Ich habe die Busse erhalten und akzeptiert.» Gleichzeitig betont er, dass die Versammlungsfreiheit ein verfassungsmässiges Recht sei. «Ich finde es deshalb richtig, dass der Zürcher Gemeinderat entschieden hat, dass es für Demonstrationen in der Stadt Zürich künftig keine Bewilligungen mehr braucht.» Der erwähnte Vorstoss ist gegenwärtig bei der Zürcher Stadtregierung hängig.

Aufgefallen war Molinas Teilnahme an der unbewilligten Demonstration, weil er ein Foto von sich auf Instagram geteilt hatte, das ihn inmitten von schwarz gekleideten Demonstranten zeigt. Dazu schrieb er: «Züri stabil nazifrei.»

Das Bild sorgte für heftige Diskussionen. Der Corona-skeptische Polizistenverein «Wir für euch» reichte Strafanzeige gegen Molina ein. Weil die zuständigen Parlamentskommissionen zum Schluss kamen, dass Molina nicht durch die parlamentarische Immunität geschützt sei, konnte die Staatsanwaltschaft gegen ihn ermitteln. Mit der Busse schliesst sie das Verfahren ab.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/busse-fuer-sp-politiker-molina-ld.1707573)
-> https://www.tagesanzeiger.ch/fabian-molina-muss-busse-zahlen-699507401944



Renovate Switzerland
Wer steckt hinter den landesweiten Strassenblockaden und kuriosen Protestaktionen?
Erneut haben die Aktivistinnen und Aktivisten von Renovate Switzerland eine Strassenblockade durchgeführt. Nach Aktionen in Lausanne und Bern traf es am Freitag wieder Zürich. Doch wer ist Renovate Switzerland? Und was will die Gruppierung mit den Protesten erreichen?
https://www.baerntoday.ch/schweiz/wer-steckt-hinter-den-landesweiten-strassenblockaden-und-kuriosen-protestaktionen-148380719


«End Fossil: Occupy» – Klimaaktivisten wollen Unterricht an Zürcher Unis und Gymnasien blockieren
Mit der internationalen Kampagne wollen die Klimaaktivisten einen Raum für Klimadiskusionen im Bildungssystem schaffen, denn Bildung sei der zentrale Schlüssel zur Bekämpfung der Klimakrise. Geplant ist die Aktion in über 20 Ländern, so auch in der Schweiz.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/end-fossil-occupy-klimaaktivisten-wollen-unterricht-an-zuercher-unis-und-gymnasien-blockieren-00196330/


Zur Demo vom 15. Oktober: Kein Zürich ohne Kochareal!
Heute zogen über 1000 Menschen selbstbestimmt durch Zürich um ihre Solidarität mit dem Koch Areal und dem Häuserkampf in Zürich zu zeigen.
https://barrikade.info/article/5425


+++KNAST
Häftling begeht in Genfer Strafanstalt Champ-Dollon Selbstmord
In der Genfer Strafanstalt Champ-Dollon hat sich ein Insasse umgebracht. Er wurde am Sonntagmorgen leblos aufgefunden.
https://www.swissinfo.ch/ger/haeftling-begeht-in-genfer-strafanstalt-champ-dollon-selbstmord/47982980
-> https://www.ge.ch/document/detenu-decede-champ-dollon-3
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/haftling-in-genfer-gefangnis-tot-aufgefunden-66306240


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Walliser Start-up nimmt Ron Watkins ins Visier: Wer steckt hinter den letzten Nachrichten von QAnon?
Der Wortführer der Verschwörungsbewegung QAnon war seit 2020 still. Im Sommer tauchte «Q» jetzt wieder auf. Doch wer verbirgt sich dahinter? Die Arbeit eines Walliser Start-ups deutet auf einen Republikaner aus Arizona hin.
https://www.blick.ch/schweiz/walliser-start-up-nimmt-ron-watkins-ins-visier-wer-steckt-hinter-den-letzten-nachrichten-von-qanon-id17965581.html


+++ANTI-WOKE/DREADLOCKSMANIA/WINNETOUWHINING
Nie wieder «Winnetou»? Philo-Stammtisch zu «kultureller Aneignung»
Ein neuer Kampf der Kulturen tobt inmitten der Gegenwart: Ist es legitim, Karl Mays «Winnetou»-Romane zu lesen? Rassistisch, als Schweizerin oder Schweizer Dreadlocks zu tragen? Wem, wenn überhaupt, gehören kulturelle Besonderheiten? Und wer darf sie sich aus welchen Gründen aneignen?
https://www.srf.ch/play/tv/sternstunde-philosophie/video/nie-wieder-winnetou-philo-stammtisch-zu-kultureller-aneignung?urn=urn:srf:video:24c3b69c-6510-4e7c-8805-3583d31f001c&aspectRatio=16_9


+++HISTORY
Ein Kind der Landstrasse
Ursula Waser wurde über 18 Jahre von Heim zu Heim weitergereicht. Der Kontakt zur Mutter war verboten und eigene Entscheidungen unerwünscht. Die Geschichte eines Kindes der Landstrasse
https://www.watson.ch/wissen/schweiz/221086876-ein-kind-der-landstrasse


Seenotretter über Kriminalisierung: „Solange ich noch stehen kann“
Stefan Schmidt rettete als Kapitän der „Cap Anamur“ Geflüchteten das Leben. Heute ist er Flüchtlingsbeauftragter des Landes Schleswig-Holstein.
https://taz.de/Seenotretter-ueber-Kriminalisierung/!5885249/



beobachter.ch 13.10.2022

Schockierender Zufallsfund im Bundesarchiv: Geheimakte Mengele

Naziverbrecher Josef Mengele hielt sich 1961 möglicherweise in Kloten auf. Die Polizei wusste vom Verdacht, griff aber nicht rechtzeitig ein. Warum ist die Mengele-Akte der Bundesanwaltschaft bis 2041 gesperrt?

Von  Regula Bochsler

Es war ein reiner Zufallsfund. Die Aktennotiz vom Juni 1961 lag in einem Dossier über «Ausländer/Waffenschieber» im Schweizerischen Bundesarchiv. Sie enthielt eine Meldung des österreichischen Geheimdiensts: Josef Mengele reise vermutlich als «Prof. Dr. Vaclav Horst Hajek» in Süddeutschland und der Schweiz herum.

Mengele hatte als Arzt im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau grausamste medizinische Experimente an Gefangenen durchgeführt. Nach dem Zweiten Weltkrieg entkam er nach Südamerika. Er wurde nie gefasst.

Ich hatte im Schweizerischen Bundesarchiv über Vaclav Horst Hajek recherchiert, einen dubiosen deutschen Sprengstoffexperten. Er lebte in Brasilien, als Mengele dort untertauchte. War er einer seiner Helfer? Hatte er ihm gar seinen Pass überlassen?

«Wen schützen Sie?»

Auf der Suche nach Antworten konsultierte ich im Bundesarchiv Mengeles Staatsschutz-Fiche. Die verwies auf ein gesperrtes Dossier der Bundesanwaltschaft, für das ich ein Gesuch um Einsicht stellte. Für ein Forschungsprojekt ein ganz normales Vorgehen.

Doch zu meiner Überraschung verweigerte der Nachrichtendienst des Bundes (NDB) die Einsicht. Ich erhielt lediglich Kopien der im Dossier enthaltenen Zeitungsartikel. Die Begründung des NDB: Die Akten enthielten Daten von Personen, «deren Erben durch eine Einsichtnahme in ihrem privaten Interesse tangiert werden», sowie schützenswerte Informationen «zu Quellen oder Kontakten des NDB».

Ich beharrte auf Einsicht und fragte beim NDB nach: «Wen schützen Sie, wenn Sie argumentieren, es würden durch historische Forschungen ‹die privaten Interessen› dieser Person […] tangiert? Wer soll hier, 75 Jahre nach den Verbrechen, über 50 Jahre nach den Hilfestellungen zur Flucht, unter Schutz gestellt werden?» Es nützte nichts.

In Deutschland und Österreich sind alle Mengele-Akten selbstverständlich zugänglich, die Schweiz aber verwehrte mir die Einsicht. Dabei versicherte der Bundesrat dem Parlament 1999, er begrüsse «die Aufarbeitung dieses Themas durch die Geschichtsforschung» (siehe «Das Aktendebakel»).

«Daten von Drittpersonen»

Auf Anfrage des Beobachters antwortet der NDB, für die Akteneinsicht sei – «unabhängig von der Rechtslage in Deutschland oder Österreich» – das Bundesgesetz über die Archivierung massgebend. «Die Abweisung des Einsichtsgesuchs erfolgte mit Blick auf in den Akten vorhandene Daten von Drittpersonen. Es geht und ging zu keinem Zeitpunkt um den Schutz eines Kriegsverbrechers oder um die Behinderung einschlägiger Forschung.»

Die Schweizer Öffentlichkeit hat erstmals im April 1985 erfahren, dass Mengele 1961 womöglich in unserem Land weilte. Der «Sonntags-Blick» behauptete damals forsch: «Mengele: Der KZ-Schlächter war in der Schweiz! Liess die Polizei ihn entwischen?». Er habe «Unterschlupf» in einer Wohnung in Kloten gefunden, die seine Ehefrau Martha gemietet hatte.

Der deutsche Journalist Günther Schwarberg habe am Samstag, 4. März 1961, der Kantonspolizei gemeldet, dass er auf dem Balkon einen Mann gesichtet habe, auf den Mengeles Signalement zutreffe. Am Sonntag habe die Zürcher Polizei erkennungsdienstliches Material angefordert. Am Montag sei der deutsche Staatsanwalt Joachim Kügler angereist und habe ein Foto Mengeles, Fingerabdrücke und «erschütternde Aussagen ehemaliger KZ-Häftlinge» mitgebracht. Erst am Dienstagnachmittag wurde beschlossen, die Wohnung in Kloten zu überwachen.

«Mengele war hier»

«Am Mittwoch, den 8. März, besteigt Martha Mengele mit dem Mann, von dem man heute annehmen muss, dass es sich wirklich um den ‹Todesengel von Auschwitz› handelte, ihren stahlblauen VW-Käfer mit dem deutschen Nummernschild GZ-C 320», rapportierte der «Sonntags-Blick» 1985. Das Auto sei dann davongebraust, obwohl das Haus laut dem Journalisten Schwarberg «von Polizisten umstellt» war.

Der deutsche Staatsanwalt Joachim Kügler erinnerte sich gar an die «lapidare Mitteilung» des Chefs des Nachrichtendienstes: «Mengele war hier. Er befindet sich nicht mehr auf dem Hoheitsgebiet der Schweiz.» Mehr könne er nicht sagen, weil er noch an das Amtsgeheimnis gebunden sei.

Der inzwischen pensionierte Chef der Kriminalpolizei Paul Grob wollte sich nicht zu diesen Vorwürfen äussern, der damalige Nachrichtendienstchef Otto Marthaler war bereits verstorben. Die Aussagen der beiden deutschen Zeitzeugen sind bis heute unwidersprochen geblieben.

Der Zeitpunkt des «Exklusiv-Berichts» des «Sonntags-Blicks» war kein Zufall. Anfang 1985, zum 40. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, hatten sich dort viele Opfer Mengeles getroffen, die seine menschenverachtenden Experimente überlebt hatten. Kurz darauf traten 30 dieser menschlichen «Versuchskaninchen» als Zeugen vor einem symbolischen «Mengele-Tribunal» in der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Israel auf und erzählten ihre erschütternden Geschichten.

Die «New York Times» schrieb: «Viele brachen in Tränen aus, als sie von Körperteilen erzählten, die in Kisten verpackt und zu Studienzwecken an eine deutsche Universität geschickt wurden, von Nadeln, die in jeden Winkel ihres Körpers gestochen wurden, von Blut, das zwischen den Zwillingen ausgetauscht wurde, und von einer Strahlenbehandlung, die so stark war, dass sie eine schwarze Brandwunde hinterliess. All das war Teil von Dr. Mengeles Ehrgeiz, durch das Studium von Zwillingen genetische Geheimnisse zu entschlüsseln, die ihm helfen sollten, eine Herrenrasse zu schaffen.» Wenig später kündigten die USA, Deutschland und Israel eine koordinierte Fahndung nach dem «schändlichsten flüchtigen Nazi-Kriegsverbrecher» an.

Seltsam: Der Rapport ist verschwunden

Ich wollte mehr wissen über die Zürcher Fahndung von 1961 und studierte deshalb das Mengele-Dossier im Staatsarchiv Zürich. Es wirft kein gutes Licht auf das Vorgehen der Kantonspolizei. Ausgerechnet der Überwachungsrapport, der das Verschwinden von Frau Mengele und ihrem Begleiter belegt, ist verschwunden.

Der Zürcher Kripochef hatte das schon 1985 gegenüber dem «Sonntags-Blick» bemängelt. «Wir wissen nicht, ob dies einem gewissen Chaos, das ich selbst beim Studium der damaligen Rapporte feststelle, zuzuschreiben ist. Oder ob keine Akte über den 8. März besteht – oder ob diese verschwunden ist.» Dass die Notiz verschwunden war, fand er «seltsam».

Die Polizei ging dilettantisch vor. Doch aufgrund der Akten im Zürcher Mengele-Dossier lassen sich die Versäumnisse der Polizei 1961 rekonstruieren. Der Zürcher Kripochef Paul Grob fragte erst drei Tage nach dem Tipp des Journalisten Schwarberg telefonisch bei der Bundespolizei an, ob Mengele zu verhaften sei, falls man ihn erwische. «Selbstverständlich», versicherte man. Um sich abzusichern, schickte Grob ein Telex hinterher.

Zehn Minuten später ruderte Bern zurück: Der Fall sei «natürlich etwas kompliziert», er müsse dem Abteilungschef vorgelegt werden. Die Verhaftung gehe zwar «in Ordnung», die schriftliche Bestätigung könne aber erst am nächsten Tag erfolgen. Sie traf am 8. März um 9.41 Uhr in Zürich ein. Martha Mengele und der Unbekannte waren bereits über alle Berge. Die Polizei verständigte weder die Grenzpolizei, noch suchte sie in der Wohnung, zu der sie einen Schlüssel beschaffte, nach Fingerabdrücken.

Am 18. März 1961 tauchte Martha Mengele wieder auf und stellte bei der Gemeinde Kloten ein Niederlassungsgesuch. Drei Tage verstrichen, bis die Polizeistation Kloten den Nachrichtendienst informierte. Zwei weitere Tage, bis die Überwachung Martha Mengeles wieder einsetzte. Sie begann jeweils zwischen acht und halb neun Uhr morgens und endete spätestens um 18 Uhr. Am Sonntag hatten die Polizisten frei.

So erstaunt es wenig, dass ein Fahnder eines Morgens feststellen musste, Martha Mengeles VW sei «schon weg» und sie «wohl in Osterurlaub abgereist». Sein Kollege brach die Überwachung kurzerhand ab, als sie einmal kurz vor Feierabend wegfuhr. Wenn sie verfolgt wurde, kam es meist nicht besser. Ein Fahnder protokollierte, sie habe ihn vermutlich bemerkt. «Die weitere Überwachung musste deshalb auf grössere Distanz erfolgen. Dies hat zur Folge, dass ich beim Stopplicht am Schaffhauserplatz abgehängt werde.» Als er am 20. April den Eindruck bekam, dass Frau Mengele «nach allfälligen Verfolgern Ausschau hält», brach der Kripochef die Überwachung «vorläufig» ab. Sie wurde nicht wieder aufgenommen.

«Offenbar eine Jüdin»

Die Akten im Staatsarchiv Zürich zeigen auch, wie die deutschen Behörden von Martha Mengeles Aufenthalt in Kloten erfuhren. Laut einer Angestellten der Immobilienfirma war sie «sehr aufgeregt», als sie den Mietvertrag unterschrieb, und hatte «sogar zwei verschiedene Schuhe, gelb und schwarz, angezogen!».

Als Tage später Medien berichteten, auf Josef Mengele sei eine Belohnung von 20’000 Mark ausgesetzt, meldete sich die Angestellte beim deutschen Generalkonsulat. Gemäss Polizeirapport handelte es sich um eine Deutsche, «offenbar (dem Aussehen nach) um eine Jüdin». Zwischen den Zeilen schwingt der Vorwurf mit, es sei der Frau nur um die Belohnung gegangen.

Die Enthüllungen vom April 1985 im «Sonntags-Blick» hatten bloss ein sanftes Rauschen im Blätterwald ausgelöst. Kurz darauf wurde bekannt, Mengele sei wahrscheinlich 1979 in Brasilien ertrunken und unter falschem Namen beerdigt worden. Sein Sohn räumte die letzten Zweifel aus und überliess dem deutschen Magazin «Bunte» den schriftlichen Nachlass, den er nach dem Tod des Vaters in Brasilien behändigt hatte.

Im Bericht der Zeitschrift tauchte die Schweiz zweimal auf: Das IKRK-Reisedokument, das Mengele 1949 die Flucht nach Argentinien ermöglicht hatte, war auf dem Schweizer Konsulat in Genua ausgestellt worden. Und: Als er 1956 heimlich nach Europa zurückkehrte, machte er mit Sohn Rolf Skiferien in Engelberg. Darauf meldete die Nachrichtenagentur SDA: «Vater und Sohn Mengele trafen sich 1956 angeblich in der Schweiz.» Der Aufschrei blieb aus.

«Ich übergab einen Haftbefehl»

1999 suchte der Geist Mengeles die Schweiz erneut heim. Das «Israelitische Wochenblatt» empörte sich, dass die Polizei den «international gesuchten Kriegsverbrecher» in Kloten «hatte fliehen lassen» und er seinen IKRK-Ausweis auf einem Schweizer Konsulat erhalten hatte. Das war zwar Schnee von gestern, denn die «Bunte» hatte Mengeles Flucht nach Argentinien schon 1985 detailliert beschrieben; Mengeles IKRK-Akte wurde später auf Drängen des US-Aussenministers entsperrt. Doch vor dem Hintergrund der Diskussion um die nachrichtenlosen Vermögen und die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg warf der Artikel hohe Wellen.

Nun brach auch der deutsche Staatsanwalt Joachim Kügler sein Schweigen. Einem Schweizer Journalisten erklärte er: «Ich übergab der Zürcher Polizei einen Haftbefehl. Warum hat sie nicht versucht, Mengele umgehend in Kloten festzunehmen?» Er vermutete, «dass es für die Schweiz das Vernünftigste gewesen ist, den Mengele wieder loszuwerden». Mengele hätte sich gegen eine Auslieferung wehren und argumentieren können, er werde wegen politischer und nicht wegen krimineller Vergehen gesucht – und das hätte wohl diplomatische Schwierigkeiten bedeutet.

Nach dem Artikel des «Israelitischen Wochenblatts» 1999 verlangten zwei Dutzend Kantonsräte Auskunft, warum die Zürcher Polizei «die Bundesbehörden um Erlaubnis für die Verhaftung eines Kriegsverbrechers» bitten musste. Polizeichefin Rita Fuhrer versicherte, darauf gebe es keine Hinweise. «Irrtum», berichtigte das Nachrichtenmagazin «Facts» und verwies auf das Telex von Kripochef Grob. Wenig später konnten zwei Journalisten als Erste die gesperrten Mengele-Akten im Staatsarchiv Zürich einsehen.

Auch drei Nationalräte forderten Aufklärung über die Vorwürfe in der Presse, die für einen Rechtsstaat «unerträglich» seien. Also wurden unter Federführung des Bundesamts für Polizeiwesen Akten des Eidgenössischen Departements für auswärtige Angelegenheiten, des Konsulats in Genua und eines argentinischen «Auswanderungsbüros» in Bern durchforstet, das Nazis nach Südamerika geschleust hatte. Im August 1999 erklärte der Bundesrat in seinem Bericht, dass es keinerlei «Belege» für einen Aufenthalt Mengeles in der Schweiz gebe. Zwar könne man nicht ganz ausschliessen, dass «noch entsprechende Hinweise auftauchen könnten», doch die Vorwürfe seien «unbegründet» und «weitere Untersuchungen nicht notwendig».

Eine grobe Fehleinschätzung. Das Bundesamt für Polizeiwesen hatte schlecht recherchiert: Die «Bunte» hatte bereits 1985 ein Foto von Mengele und seinem Sohn in Engelberg veröffentlicht. Es gab allerdings einen guten Grund, warum das Bundesamt nicht auf diesen Bericht gestossen war. Er war zwar im Mengele-Dossier der Bundesanwaltschaft archiviert – doch dieses war verschwunden.

Das musste auch die Unabhängige Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg (UEK) feststellen, als sie danach suchte. Es gelang ihr nicht einmal, «in Erfahrung zu bringen, ob das Dossier vernichtet worden ist oder ob es von jemandem aus dem Bundesarchiv entwendet worden ist». 2001 tauchte es auf wundersame Weise plötzlich wieder auf. Das Bundesarchiv (BAR) teilte der UEK mit, das Dossier sei «in einer Ablieferung, die erst im Frühjahr 2001 ins BAR gekommen ist und zu der noch kein Verzeichnis besteht, ‹versteckt›». Eine Erklärung, wer die «Ablieferung» getätigt hatte, gab es nicht. Klarheit offenbar auch nicht: Wenig später konnte man in der UEK-Studie, die ein Kapitel über Mengele enthält, nachlesen, dass auch die wieder aufgetauchten Akten «keine abschliessende Schlussfolgerung» zuliessen, ob Mengele 1961 tatsächlich in Kloten war.

Nachname «irrtümlich» gelöscht

Es gibt weitere Ungereimtheiten. Als ich die Unterlagen der UEK zu Mengele anschaute, fand ich die Zusammenfassung eines Mengele-Dossiers der Bundespolizei, das im Onlinekatalog des Bundesarchivs aber nicht angezeigt wurde. Eine Nachfrage ergab, dass Mengeles Nachname «irrtümlicherweise» aus dem Dossiertitel gelöscht worden war. Jedenfalls lasse das Komma vor «Josef» darauf schliessen, dass der Nachname einst erfasst worden sei. Mehr noch: Die Entstehungszeit der Akten war statt mit «1960–1985» mit «1985» angegeben. Das suggerierte, dass das Dossier keine Unterlagen zu den Ereignissen von 1961 enthielt. Man kann das alles für eine Verkettung unglücklicher Zufälle halten oder merkwürdig finden. Immerhin wurde der Katalogeintrag nach meiner Anfrage sofort korrigiert.

Die Akten aber lassen keinen Zweifel, dass die Kantonspolizei im Frühling 1961 tatsächlich drei Tage lang keine Anstalten machte, den mysteriösen Unbekannten zu finden und zu überprüfen. Und dass die Bundespolizei wertvolle Zeit verstreichen liess, bis sie schriftlich bestätigte, Mengele sei zu verhaften. Hatten die Verantwortlichen Angst vor diplomatischen Komplikationen? Oder vor einem Imageschaden für die Schweiz?

Unklar ist auch, was der Schweizer Geheimdienst NDB befürchtet, wenn er heute das Dossier der Bundesanwaltschaft nicht freigibt. Die Sperrfrist läuft erst 2041 ab. Bis dahin bleibt viel Zeit, um über die Gründe zu rätseln.



Das Aktendebakel

Die Einsicht in die Akten zu Josef Mengele ist in Deutschland und Österreich völlig problemlos. In der Schweiz stellen sich der Forschung rätselhafte Hindernisse entgegen:

– Dossier der Bundesanwaltschaft: war bis 2001 unauffindbar, wird heute vom Nachrichtendienst des Bundes nicht freigegeben – voraussichtlich bis zum Jahr 2041.
– Dossier der Bundespolizei: war im Katalog nicht auffindbar, da Mengeles Name im Titel «irrtümlicherweise» gelöscht wurde und es fälschlicherweise als gesperrt klassifiziert war.
– Staatsschutz-Fiche: enthält keinen Vermerk zu Mengeles mutmasslichem Aufenthalt in Kloten 1961.
– Dossier der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg: Mengeles Vorname ist im Titel fälschlicherweise «Joseph»; das Dossier wird bei der Katalogsuche nach «Josef Mengele» nicht angezeigt.
–  IKRK-Archiv: Die Mengele-Akte wurde erst 1996, nach einer Intervention des US-Aussenministers, für einen Mengele-Biografen entsperrt.
– Staatsarchiv Zürich: Das Mengele-Dossier wurde erst nach einer parlamentarischen Intervention 1999 für zwei Journalisten entsperrt.



Die Autorin

Regula Bochsler ist Historikerin, Autorin und Ausstellungsmacherin. Auf die Geschichte der Mengele- Akten ist sie bei ihren Recherchen zum Napalm-Experten Vaclav Hajek und zur Geschichte der Emser Werke (heute Ems-Chemie) gestossen. Ihr Buch «Nylon und Napalm. Die Geschäfte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald» ist im Oktober im Handel erhältlich. Ihre Arbeit wurde finanziell unterstützt vom Institut für Kulturforschung Graubünden.
(https://www.beobachter.ch/gesellschaft/forscherin-findet-schweizer-akte-zu-ss-arzt-mengele-538523)