Medienspiegel 13. Oktober 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++AARGAU
Brugg: Das Asylzentrum des Bundes auf dem Waffenplatz wird vergrössert. Für ein halbes Jahr können dort neu bis zu 440 Menschen leben. Doppelt so viele wie bis jetzt. (ab 03:19)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/digitale-politik-der-aargau-ist-top-solothurn-im-mittelfeld?id=12269311


+++GENF
derbund.ch 13.10.2022

Im einzigen Flüchtlingslager der Schweiz: 33 Quadratmeter pro Familie, Wände aus Vlies, Toiletten im UG

Genf muss Tausende Geflüchtete aus der Ukraine unterbringen, hat aber fast keine leeren Wohnungen. Darum wohnen sie in einer riesigen Messehalle. Wie leben sie dort?

Philippe Reichenaus Genf, Georges Cabrera Video

Einblick ins einzige Flüchtlingslager in der Schweiz: In der Genfer Palexpo-Halle wohnen derzeit 350 Menschen.
Video: Georges Cabrera (Tamedia)
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv446528h.mp4

Auf der einen Seite rauscht die Autobahn. Auf der anderen Seite dröhnen Flugzeuge über die Landebahn. Es gibt entspanntere Orte als das Messegelände Palexpo beim Genfer Flughafen. Das wissen mittlerweile auch 350 Frauen, Männer und Kinder aus der Ukraine. Sie sind in die Schweiz geflohen und bewohnen in Genf die Palexpo-Halle 7. Früher hatten hier am Genfer Auto-Salon Autofirmen ihre Stände, heute leben Flüchtlinge in der Halle. 15’000 Quadratmeter ist sie gross.

Der Kanton Genf betreibt seit April beim Flughafen sein Accueil des Réfugiés, das Empfangszentrum für Ukraine-Flüchtlinge. 3800 Geflüchtete hat der Bund Genf bislang zugewiesen. Für 350 von ihnen hat es nur an diesem Ort Platz. In die Halle passen würden doppelt so viele. Viele sitzen hier seit Monaten fest. Einige sogar seit der Eröffnung im April.

In der Schweiz gibt es keinen zweiten Ort wie diesen. Die riesige Halle ist in 33 Quadratmeter grosse «Zimmer» unterteilt, voneinander abgegrenzt mit brandsicheren Baustellenmaterialien. Türen und Wände bestehen aus Vlies. Nach oben sind die «Räume» offen. Das Schreien eines Kindes oder das Rufen eines Erwachsenen hört man in der halben Halle.

In jedem Zimmer stehen drei Doppelstockbetten. Familien wohnen zusammen. Ein Paar muss mit einem anderen Paar ein Zimmer teilen, wobei höchstens zwei Paare zusammenleben. Alleinstehende Frauen kommen mit Frauen, Männer mit Männern in ein Zimmer. Dutzende Meter lange Korridore trennen die Zimmersektoren voneinander.

Neuen Mut geschöpft

Wie muss man sich das Leben an diesem Ort vorstellen? Eine Bedingung für den Besuch des Flüchtlingszentrums ist, die Anonymität seiner Bewohnerinnen und Bewohner zu respektieren. Mehrere Gesprächspartner winken ab. Sie grüssen mit einem freundlichen «Bonjour», aber ihr Schicksal und ihr Leben in der Messehalle wollen sie nicht mit einem Journalisten teilen.

Die 45-jährige Irina entscheidet anders. Sie redet gern, weil sie vor Glück gerade die Welt umarmen könnte. Die Spezialistin für Nahrungsmittelsicherheit hat bei der Genfer Niederlassung eines amerikanischen Pharma- und Konsumgüterkonzerns eine Stelle gefunden. Doch in Genf erlebte Irina zunächst andere Zeiten.

«Als ich im Juni nach einer drei Tage dauernden Zugfahrt mit meiner Nichte in Genf ankam, war mein Leben noch ein ganz anderes», erinnert sie sich. «Ich war völlig verängstigt. Ich dachte, die Welt geht unter. Alles war mir irgendwie fremd. Ich sprach Englisch, aber kein Französisch.» Aber dann sei sie aufgebrochen, zum Beispiel ins Stadtzentrum von Genf, und sie habe gemerkt, wie nett und verständnisvoll die Leute seien. So habe sie Mut geschöpft und sich wieder Ziele im Leben gesetzt.

An einem Ort, an dem so viele Menschen zusammenleben, gibt es auch Regeln. Das Gepäck darf niemand im Zimmer lagern. Es wird aus Brandschutzgründen an einem zentralen Ort deponiert. Für die Hygiene stehen Kabinenduschen und Waschmaschinen zur Verfügung. Toiletten gibts im Untergrund. Als Rückzugsorte dienen ein Arbeits- und ein Ruheraum. Gegessen wird an langen Tischen. Eine Cateringfirma bringt Frühstück, Mittag- und Abendessen. Ein Reinigungsunternehmen hält die Messehalle sauber. Ein Sicherheitsdienst kontrolliert, wer ein und aus geht.

Einmal alle zwei Wochen wird eine Art Gruppengespräch mit einem Psychologen angeboten. Es gibt Yogakurse und Kunsttherapien. Die schulpflichtigen Kinder gehen täglich zur Schule. Auch ein Kinderspielzimmer gibt es. Aber Spielsachen sind so gut wie keine zu sehen, nachdem zu vieles verschwunden oder in die Brüche gegangen ist. Eltern müssen Spielsachen nun ausleihen und danach zurückbringen.

«In diesem Flüchtlingszentrum gibt es alle Arten von Emotionen und Erfahrungen. Es gibt viele Zufriedene, aber auch solche, die sich die Schweiz ganz anders vorstellten», sagt Oksana. Die Ukrainerin wohnt seit 2014 in der Schweiz, arbeitet als Übersetzerin und ist eine wichtige Bezugsperson für die Bewohner. Sie sagt: «Es gibt Leute, die fliehen mit präzisen Vorstellungen aus dem Kriegsgebiet nach Genf und suchen rasch und aktiv nach einer Stelle und wollen unabhängig sein.» Und dann gebe es andere, die fragen sich im Palexpo: «Wo bin ich denn hier gelandet? Was mache ich hier?» Diese Leute fänden sich in der Ungewissheit kaum zurecht und könnten sich ihre Zukunft nach Palexpo nicht vorstellen.

Thierry Schreyer heisst der Leiter des Palexpo-Camps. Bis Anfang Jahr stand der Mittfünfziger noch als Delegierter im Dienst des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK). Schreyer kam in humanitären Krisen im Mittleren Osten, Afrika, Tschetschenien und während des Jugoslawienkriegs auch in Bosnien zum Einsatz. Er sah in seinem Leben viele Flüchtlingslager.

Über Palexpo sagt Schreyer: «Niemand will hier sein. Alle würden lieber in Frieden in der Ukraine leben.» Aber die überwiegende Mehrheit der Flüchtlinge sei zufrieden. Wichtig sei für alle, dass sie nach Stress und Ängsten wegen des Kriegs wieder eine Tagesstruktur und einen Lebensrhythmus bekämen. Natürlich gebe es auch Spannungen und Konflikte, diese seien aber mit Gesprächen auch rasch wieder aus der Welt geschafft.

Bunker sind keine Option

Das Palexpo-Camp beeindruckt auch in der Deutschschweiz. «Etwas Vergleichbares gibt es bei uns nicht», heisst es aus den Kantonen Zürich, Basel-Stadt und Bern einhellig. Der Zürcher Sicherheitsdirektor Mario Fehr sagt: «In den beiden Zürcher Zentren bleiben Flüchtlinge aus der Ukraine in der Regel nur wenige Tage. Danach werden sie auf die Gemeinden verteilt, die sich um die Ankommenden kümmern und sie unterbringen.»

Im Kanton Basel-Stadt leben «praktisch alle ukrainischen Flüchtlinge in Wohnungen», wie Ruedi Illes vom kantonalen Sozialdepartement sagt. Ein Teil der Wohnungen wird von der Sozialhilfe angemietet, ein Teil der Flüchtlinge ist aber auch bei Gastfamilien untergebracht. «Gegenwärtig gibt es keine grösseren Zentrenstrukturen», sagt Illes.

Selbst im kontrovers diskutierten Berner Containerdorf Viererfeld leben in den mobilen Wohneinheiten zurzeit lediglich 59 Geflüchtete. Platz hätte es für 1000 Personen.

Auch in Genf hätte man lieber kein Camp in Palexpo, sondern würde Flüchtlinge wie in der Deutschschweiz in Privat- oder Mietwohnungen unterbringen. Die Dinge seien vor allem aus einem bestimmten Grund anders, sagt Bernard Manguin, Sprecher des Hospice Général, wie man Genfs Sozialdienst nennt. In Genf gebe es kaum freie Wohnungen. «Während der Flüchtlingskrise im Syrien-Krieg brachten wir alleinstehende Männer in Zivilschutzunterkünften unter – notfallmässig», sagt Manguin.

In diesem Frühling habe die Regierung dann entschieden, Bunker kämen für die Ukraine-Flüchtlinge nicht infrage, weil es sich bei der überwiegenden Mehrheit um Frauen und Kinder handelt. Auch Manguin weiss: Wegen des Einbunkerns von Geflüchteten war die Genfer Regierung in den letzten Jahren wiederholt heftig kritisiert worden.

Neuer Solidaritätsappell

Mitte September lancierten das Hospice Général und die Hilfsorganisation Caritas einen Appel à la solidarité, einen Solidaritätsaufruf. «300 Personen, in der überwiegenden Mehrheit Frauen und Kinder, benötigen in Palexpo dringend Wohnungen», hiess es im Aufruf. Rückmeldungen gab es praktisch keine. Bei einem ersten solchen Appell im Frühling war der Rücklauf noch grösser.

Die Hoffnung, doch noch private Plätze zu finden, hat man in Genf nicht begraben. Caritas-Sprecher Mario Togni hält Unterbringungen bei Gastfamilien für die beste Lösung für Flüchtlinge. So könne man die Integration von Personen, die sich längerfristig in Genf niederlassen möchten, beschleunigen: wegen des Kontakts zur französischen Sprache und dem Alltagsleben generell, aber auch den Aufbau dauerhafter Bindungen.

Parallel zur Suche nach Privatwohnungen arbeitet das Hospice Général an anderen Lösungen. Es baut Grossraumbüros zu Wohnungen um. Ein solcher Umbau dauere aber Monate, sagt Bernard Manguin. Zuerst müsse man eine Baubewilligung beantragen, dann Mauern für Zimmer hochziehen, Küchen, WCs, Wohnzimmer und auch Waschküchen einbauen. 70 Personen können nun von Palexpo in eine solche Grossraumwohnung zügeln. An weiteren Projekten wird geplant oder gebaut. Bis Mitte November sollen 589 neue Plätze zur Verfügung stehen.

Neue Plätze benötigt Genf so oder so – und vor allem sehr rasch. Genf rechnet mit 1300 neu ankommenden Flüchtlingen bis Ende Jahr. Stimmt diese Zahl nur annähernd, wird Palexpo an Weihnachten maximal gefüllt sein.



Weitere Flüchtlinge dürfen kommen

Das Staatssekretariat für Migration (SEM) geht bis Ende Jahr von 85’000 ukrainischen Flüchtlingen aus. Sie werden nach einem prozentualen Schlüssel auf die Kantone verteilt. Genf muss 5,8 Prozent der Flüchtlinge aufnehmen, also rund 5000 Personen. 3781 Leute versorgt Genf bereits heute und geht davon aus, dass dem Kanton bis Ende Jahr nochmals 1300 Personen zugeteilt werden. (phr)
(https://www.derbund.ch/33-quadratmeter-pro-familie-waende-aus-vlies-toiletten-im-ug-479734089542)


+++LUZERN
Luzern verschickt noch keine Rechnungen an säumige Gemeinden
Im Kanton Luzern müssen die Gemeinden je nach Grösse Unterkünfte für Asylsuchende bereitstellen. Erfüllen sie ihr Soll nicht, fällt eine Ersatzabgabe an. Nun hat der Kanton die Rechnungen dafür aber aufgeschoben.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/luzern-verschickt-noch-keine-rechnungen-an-saeumige-gemeinden?id=12269296


+++SCHWEIZ
Eritrea ist ein Unrechts¬staat – trotzdem sucht die Schweiz die Kooperation
Abgewiesene Asylsuchende aus Eritrea leben hier seit Jahren unter prekärsten Bedingungen. Ein unhaltbarer Zustand, den Justizministerin Karin Keller-Sutter dringend ändern müsste.
https://www.tagesanzeiger.ch/eritrea-ist-ein-unrechtsstaat-trotzdem-sucht-die-schweiz-die-kooperation-877158014616


Ist die Schweiz für neue Flüchtlingswelle gerüstet? – 10vor10
Bis Ende Jahr rechnet der Bund im Moment mit bis zu 85’000 Geflüchteten aus der Ukraine. Wie gut ist die Schweiz gerüstet für einen allfälligen Anstieg dieser Flüchtlingszahlen?
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/fokus-ist-die-schweiz-fuer-neue-fluechtlingswelle-geruestet?urn=urn:srf:video:ee181bbe-dcc3-487d-a3b2-1d14fdffb946


+++DEUTSCHLAND
Sieg vor dem Bundesverwaltungsgericht: Die Reueerklärung ist unzumutbar
Die deutschen Behörden haben von Geflüchteten aus Eritrea bisher verlangt, sich etwa zur Passbeschaffung an die eritreische Auslandsvertretung zu wenden – obwohl sie dort eine Erklärung abgeben mussten, dass sie ihre Flucht bereuen. Damit ist seit einem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 11. Oktober nun Schluss. Ein großer Erfolg!
https://www.proasyl.de/news/sieg-vor-dem-bundesverwaltungsgericht-die-reueerklaerung-ist-unzumutbar/


+++LETTLAND
Gewalt gegen Flüchtende in Lettland
 Willkürliche Inhaftierung, Folter, und illegale Rückschaffungen: Lettland verstösst an der Grenze zu Belarus gegen Menschenrechte. Das zeigt ein neuer Bericht von Amnesty International, in dem die Situation an der lettisch-belarussischen Grenze aufs Schärfste kritisiert wird. Lettland weise flüchtende Personen systematisch zurück nach Belarus rückgeführt, ohne ihnen ein Recht auf Asyl zu gewähren. Zudem werden Flüchtende von lettischen Behörden dazu gedrängt, «freiwillig» in ihr Heimatland zurückzukehren, indem sie unter Androhung entsprechende Dokumente unterschreiben müssen – von Freiwilligkeit könne dabei natürlich nicht die Rede sein. Es werde zwingendes Völkerrecht gebrochen, da niemand überprüfe , ob eine Rückweisung in die entsprechenden Herkunftsländern überhaupt sicher sei.
https://rabe.ch/2022/10/13/gewalt-gegen-fluechtende-in-lettland/


Geflüchtete an lettischer Grenze: Folter und Abschiebung
Amnesty International erhebt Vorwürfe gegen die Regierung in Riga wegen des Umgangs mit Geflüchteten. Die EU-Kommission habe das Vorgehen unterstützt.
https://taz.de/Gefluechtete-an-lettischer-Grenze/!5887943/
-> https://www.amnesty.ch/de/laender/europa-zentralasien/lettland/dok/2022/gefluechtete-inhaftiert-gefoltert-zur-rueckkehr-gezwungen


+++BALKANROUTE
Wie ist die Situation entlang der Balkanroute?
Die Anzahl der Flüchtenden, die versuchen, über die Balkanroute in die EU zu gelangen, steigt wieder. Doch wer genau nutzt diesen Korridor? Welche Sonderrolle spielt Serbien dabei? Und: Ist die Flüchtlingssituation mit der von 2015 vergleichbar?
https://www.deutschlandfunk.de/situation-balkanroute-fluechtlinge-100.html


+++MITTELMEER
Kapitän aus Job verbannt: Unerwünscht wegen Seenotrettung
Der Kapitän Kai Kaltegärtner wird von einer der wichtigsten Agenturen nicht mehr vermittelt. Der Grund: Er rettete Menschenleben auf dem Mittelmeer.
https://taz.de/Kapitaen-aus-Job-verbannt/!5884029/


+++EUROPA
Soll die Zusammenarbeit EU – Libyen gestoppt werden?
Ein sogenanntes Memorandum of Understanding regelt die Zusammenarbeit von Italien mit Libyen in Sachen Migration. Die Stossrichtung dabei ist klar: Menschen sollen um jeden Preis daran gehindert werden, das Mittelmeer zu queren um Europa zu erreichen. Durchgesetzt wird dieses Programm von der sogenannten libyschen Küstenwache. Beobachter*innen sind sich einig, dass diese Küstenwache korrupt ist, auf Migrant*innen schiesse und sie ertrinken lässt. Ausserdem ist nicht klar, welchem Machthaber im Bürgerkriegsland Libyen sie untersteht.
https://rabe.ch/2022/10/13/soll-die-zusammenarbeit-eu-libyen-gestoppt-werden/


«Vorwürfe bewiesen»: Was im geheimen Frontex-Bericht steht
Mehr als ein Jahr ermittelte die Antibetrugsbehörde der EU gegen Frontex. Ihr Bericht belegt, dass die Kader der europäischen Grenzschutzagentur grobe Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben. Und diese verheimlichen wollten.
https://www.republik.ch/2022/10/13/vorwuerfe-bewiesen-was-im-geheimen-frontex-bericht-steht


Vertuschung von Menschenrechtsverletzungen: Der OLAF-Bericht über Frontex
Der berüchtigte interne Bericht der EU-Antibetrugsbehörde OLAF zeigt, wie Frontex versucht hat, Menschenrechtsverletzungen systematisch zu vertuschen. Der Bericht sollte nie öffentlich werden. Wir veröffentlichen ihn hier.
https://fragdenstaat.de/blog/2022/10/13/frontex-leak-olaf-bericht/


Frontex vertuschte Pushback von Malta nach Libyen
Laut einem Prüfbericht wurde in der EU-Grenzschutzagentur verhindert, dass sich die internen Grundrechteschützer mit einem Zwischenfall auf hoher See befassen
https://www.derstandard.at/story/2000139876602/frontex-vertuschte-pushback-von-malta-nach-libyen


Rechtsbrüche an den EU-Grenzen: Warum der SPIEGEL den Frontex-Untersuchungsbericht veröffentlicht
Systematische Rechtsbrüche, verschleiert von Frontex-Beamten: Ermittlungen des europäischen Antibetrugsamts OLAF legen offen, was Flüchtlingen an den EU-Außengrenzen angetan wird. Lesen Sie den vertraulichen Bericht im Wortlaut.
https://www.spiegel.de/ausland/frontex-ermittlungen-warum-der-spiegel-den-vertraulichen-olaf-untersuchungsbericht-veroeffentlicht-a-57535885-5d3b-4f24-b694-dd77f725d50e



spiegel.de 13.10.2022

Schwere Vorwürfe in EU-Untersuchungsbericht: Frontex vertuschte auch Pushback nach Libyen

In der Ägäis hat Frontex sich zur Komplizin bei den griechischen Pushback-Operationen gemacht. EU-Ermittlungen offenbaren nun, dass die Grenzschutzagentur auch einen tödlichen Rechtsbruch im zentralen Mittelmeer verschleierte.

Von Steffen Lüdke und Tomas Statius

Die Frontex-Beamten wussten genau, wie gefährlich es war, was sie auf ihren Bildschirmen sahen. Ab dem 10. April 2020 hatte ein Überwachungsflugzeug der Europäischen Grenzschutzagentur vier Flüchtlingsboote im Mittelmeer gesichtet, die in Richtung Malta fuhren. Die Männer und Frauen waren von der libyschen Küste aus aufgebrochen, sie wollten den Lagern entkommen, in denen Flüchtlinge wie sie eingesperrt und gefoltert werden.

Hunderte Kilometer entfernt, im Lagezentrum der Behörde in Warschau, konnten die Frontex-Mitarbeiter die Situation mitverfolgen. Die Beamten sahen, dass die wackeligen Boote völlig überfüllt waren. Intern hoben sie hervor, dass die Flüchtlinge keine Rettungswesten trugen. Und sie bekamen mit, dass die maltesischen Behörden die Menschen tagelang nicht retteten. Stattdessen versorgten die Malteser einen Teil der Geflüchteten mit frischen Wasserflaschen und leiteten sie nach Sizilien weiter.

In der »New York Times« konnten die Frontex-Beamten kurz darauf nachlesen, was mit den restlichen Schutzsuchenden passiert war: Die maltesischen Behörden hatten die Fischkutter eines zwielichtigen maltesischen Unternehmers eingesetzt, um die Flüchtlinge gegen ihren Willen zurück nach Libyen zu bringen. Als sie in den Hafen von Tripolis einliefen, waren nach Informationen der Frontex-Beamten fünf Leichen an Bord. Sieben weitere Menschen waren zuvor ertrunken.

Bei Frontex ahnte man, dass dieser sogenannte Pushback gegen Völker- und EU-Recht verstoßen hatte. Die Beamten im Lagezentrum baten schon Mitte April darum, einen sogenannten Serious Incident Report der vierten Kategorie anfertigen zu dürfen. Dieser hätte eine Untersuchung der damaligen Grundrechtsbeauftragten der Behörde nach sich gezogen; sie ist für genau solche Fälle zuständig.

Mehrmals insistierten die Beamten im Lagezentrum, wiesen auf die mutmaßlichen Menschenrechtsverletzungen hin. Doch ihre Vorgesetzten lehnten ab, zuletzt Anfang Mai. Der Bericht bekam die Kategorie 2. Die damalige Grundrechtsbeauftragte wurde nicht informiert. Sie durfte den Pushback nicht untersuchen.

»Menschlich unverantwortliche Situation«

Frontex’ Umgang mit dem tödlichen Pushback nach Libyen ist Teil einer monatelangen Untersuchung der EU-Antibetrugsagentur OLAF. Auf mehr als 120 Seiten weisen die Ermittler nach, dass die damalige Frontex-Führung um Fabrice Leggeri Pushbacks unterstützte und vertuschte. Der SPIEGEL, der gemeinsam mit Lighthouse Reports erstmals im Juli über den OLAF-Report berichtet hat, veröffentlicht den Bericht nun im Wortlaut – gemeinsam mit der Transparenzinitiative FragDenStaat (lesen Sie hier den gesamten Bericht).

Der maltesische Pushback, durchgeführt unter den wachsamen Augen von Frontex, ist nur ein Vorwurf unter vielen im OLAF-Bericht. In der Untersuchung geht es vor allem um die Rechtsbrüche in der Ägäis, wo griechische Küstenwächter Flüchtlinge zurück in türkische Gewässer schleppen und auf dem Meer aussetzen. Dennoch weckt er neue Zweifel an den Frontex-Operationen im zentralen Mittelmeer, die schon lange von Menschenrechtlern und Politikern kritisiert werden.

Der Weg über das zentrale Mittelmeer ist die tödlichste Migrationsroute der Welt. Seit 2014 sind knapp 25.000 Menschen bei der Überfahrt gestorben. Frontex überwacht das Gebiet mit Drohnen und Flugzeugen. Eine eigene Rettungsmission haben die Europäer eingestellt, stattdessen finanzieren und trainieren sie die libysche Küstenwache, die Tausende Menschen abfängt, zurückschleppt und in Libyen in Folterlager stecken lässt. Aus ihnen entkommen die Flüchtlinge oft nur, wenn sie viel Geld zahlen. Deutsche Diplomaten berichteten 2017 von »KZ-ähnlichen Verhältnissen«.

WhatsApp-Nachrichten an die libyschen Küstenwächter

Wenn Frontex-Flugzeuge ein Flüchtlingsboot aus der Luft entdecken, informiert die Warschauer Behörde die Rettungsleitstellen in der Gegend – darunter auch die in Tripolis. Im vergangenen Jahr zeigte der SPIEGEL gemeinsam mit Lighthouse Reports und anderen Medien, dass Frontex auf diese Weise offenbar systematisch die Abfangaktionen der Libyer dirigiert. Bisweilen schickten die Beamten sogar WhatsApp-Nachrichten mit den Koordinaten der Flüchtlingsboote direkt an libysche Offiziere. Private Seenotretter hingegen klagen seit Jahren, dass sie von Frontex kaum informiert würden.

Schon die Zusammenarbeit mit den Libyern ist heikel. Der Europäische Menschenrechtsgerichtshof hat geurteilt, dass Schutzsuchende nicht ins unsichere Libyen zurückgeschafft werden dürfen. Nun kommt heraus, dass Frontex selbst einen Fall vertuschte, in dem die Europäer die Flüchtlinge eigenhändig zurückschleppten. Frontex habe die Grundrechtsbeauftragte nicht involviert, obwohl es klare Hinweise auf Grundrechtsverletzungen gegeben habe, schreiben die OLAF-Ermittler.

Ein Einzelfall war das nicht. Der damalige Frontex-Chef Fabrice Leggeri behinderte die Arbeit der Grundrechtsbeauftragten, wo er nur konnte. In privaten Nachrichten verglich das Führungsteam der Agentur sie mit dem Diktator Pol Pot, einem kommunistischen Massenmörder. Die Grundrechtsbeauftragte bringe ein Terrorregime im Stile der Roten Khmer über die Agentur, heißt es. Offenbar fürchtete die Frontex-Führung, dass sie die Pushbacks kritisch untersuchen könnte. (Lesen Sie hier mehr zu den Vorwürfen im OLAF-Bericht.)

Frontex hat auf eine Anfrage des SPIEGEL zu dem Fall bisher nicht geantwortet. In der Vergangenheit wollte die Agentur sich zum OLAF-Bericht nicht äußern.

Leggeri, der seit 2015 Frontex-Chef war, ist inzwischen nicht mehr im Amt. Die Vorwürfe im OLAF-Bericht gegen ihn und sein Team sowie zahlreiche Recherchen des SPIEGEL und seiner Recherchepartner mündeten in seinem Rücktritt. Nun führt die Lettin Aija Kalnaja die Behörde. Sie muss entscheiden, wie Frontex mit dem Inhalt des Berichts umgeht. Im Extremfall, falls es bei einer Frontex-Operation zu »schwerwiegenden oder anhaltenden Grundrechtsverletzungen« kommt, müsste die Agentur ihre Beamten zurückziehen oder die Finanzierung kürzen, so sehen es die Frontex-Regularien vor.

Die privaten Seenotretter, die regelmäßig zwischen Libyen und Malta nach Flüchtlingen suchen und die Geretteten anschließend nach Europa bringen, können bisher keinen echten Kurswechsel erkennen: »Frontex hält noch immer bewusst Koordinaten von Flüchtlingsbooten zurück, damit wir sie nicht retten können, bevor sie zum Beispiel die libysche Küstenwache findet«, sagt Sea-Watch-Sprecher Ruben Neugebauer. »Wenn Frontex uns private Seenotretter einbeziehen würde, könnten wir viele Menschen retten.
(https://www.spiegel.de/ausland/eu-untersuchungsbericht-frontex-vertuschte-auch-pushback-nach-libyen-a-3fdcc994-b84d-476f-9676-c7a9533c7443)


+++GASSE
Der Churer Drogenszene auf der Spur
Im Churer Stadtpark hat sich in den letzten Jahren eine offene Drogenszene entwickelt. RSO-Reporterin Sara Marti hat sich dieser in einer fünfteiligen Radioserie gewidmet.
https://www.suedostschweiz.ch/aus-dem-leben/der-churer-drogenszene-auf-der-spur


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Communiqué zur Räumung der Hönggerstrasse 24
Gestern, Dienstag 11. Oktober 2022, wurde das besetzte Haus in Wipkingen, mit dem liebevollen Namen „H24“, von einem Grossaufgebot der Stadtpolizei Zürich geräumt.
Das ehemalige Sozialamt an der Hönggerstrasse 24 war seit dem 1. Oktober 2022 besetzt.
https://barrikade.info/article/5422


Illegale Aktionen – Wie weit darf ziviler Ungehorsam fürs Klima gehen?
Strassenblockaden auf Autobahnen oder Brücken, Zugangsverweigerung in Industrieunternehmen – Aktionen von Klimaaktivistinnen und Klimaaktivisten häufen sich. Ab wann werden solche Aktionen kontraproduktiv?
https://www.srf.ch/news/schweiz/illegale-aktionen-wie-weit-darf-ziviler-ungehorsam-fuers-klima-gehen


Umsetzung des Burkaverbots: Verhüllt demonstrieren? Nur noch mit Sonderbewilligung
Der Bundesrat will die Burkainitiative schärfer umsetzen als geplant. Doch Experten glauben, das Gesetz lasse sich kaum vollstrecken.
https://www.tagesanzeiger.ch/verhuellt-demonstrieren-nur-noch-mit-sonderbewilligung-162194513999


Iran-Proteste in der Schweiz – «Die Revolution hat begonnen. Einen Plan B gibt es nicht»
Weltweit demonstrieren Menschen gegen den Kopftuchzwang und das islamische Regime im Iran. Negin und Sepideh gehören zu den Protestierenden in der Schweiz und nehmen in Kauf, nicht mehr in den Iran einreisen zu können.
https://www.beobachter.ch/gesellschaft/schweizer-iran-proteste-zeit-fur-eine-revolution-538770
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/burkaverbot-wobmann-will-ausnahme-fur-demos-streichen-66302696


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Aargauer Fall beschäftigt Behörden: Mann, der ausgeschafft werden soll, ist auch nach vier Jahren noch im Gefängnis in Aarau, weil nicht klar ist, wohin er ausgeschafft werden müsste. (ab 07:06)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/ein-attraktives-dorfmuseum-sein-zu-besuch-im-ortsmuseum-bellikon?id=12269539


+++KNAST
Er zündete seine Zelle an: Insasse in Bieler Gefängnis erhält zu Recht keinen amtlichen Anwalt
Ein Häftling des Bieler Regionalgefängnisses klagte vor Bundesgericht gegen die Berner Justiz. Diese verwehrte ihm einen amtlichen Rechtsbeistand.
https://www.bernerzeitung.ch/insasse-in-bieler-gefaengnis-erhaelt-zu-recht-keinen-amtlichen-anwalt-523053828928
-> Urteil Bundesgericht: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://23-09-2022-1B_153-2022&lang=de&zoom=&type=show_document


+++BIG BROTHER
Einsatz von Spitzel Mark Kennedy als rechtswidrig eingestuft
Der britische Polizist bespitzelte anlässlich der G8-Proteste auch im Auftrag eines deutschen LKA Linke. Das Schweriner Verwaltungsgericht traf dazu nun eine Feststellung. Betroffene im Ausland erstritten bereits Schmerzensgeld.
https://www.heise.de/tp/features/Einsatz-von-Spitzel-Mark-Kennedy-als-rechtswidrig-eingestuft-7306736.html


+++RECHTSPOPULISMUS
Zürcher Regierungsrat sieht keinen «Linksdrall» an den Schulen
Sind an Zürcher Gymnasien und Berufsschulen die Lehrerinnen und Lehrer zu links? Färbt ihre politische Überzeugung auf den Unterricht ab? Politiker aus dem bürgerlichen Lager sind überzeugt davon und wollten eine Untersuchung. Nun winkt der Regierungsrat ab.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/zuercher-regierungsrat-sieht-keinen-linksdrall-an-den-schulen?id=12269653


«Hass schürendes Verhalten»: Twitter sperrt Köppel!
Roger Köppel langt rhetorisch gern hin – auch auf Social Media. Nun ist es dem Kurznachrichtendienst Twitter zu bunt geworden. Nach mehreren Beanstandungen von Usern sperrte er den Account des «Weltwoche»-Verlegers.
https://www.blick.ch/politik/hass-schuerendes-verhalten-twitter-sperrt-koeppel-id17960627.html
-> https://www.20min.ch/story/twitter-verbannt-roger-koeppel-186224696041
-> https://www.tagesanzeiger.ch/twitter-sperrt-account-von-roger-koeppel-249269134499


+++RECHTSEXTREMISMUS
Irrer Thurgauer Neonazi rastet wieder aus: In U-Haft prügelt Günther S. fünf Beamte spitalreif
Erst rammt er Autos am Lago Maggiore. Dann zielt der Schweizer mit dem Karabiner auf Passanten und Polizisten. Schliesslich flippt der irre Amokfahrer in der U-Haft aus. Jetzt wurde Günther S. in ein psychiatrisches Gefängnis nach Turin (I) verlegt.
https://www.blick.ch/ausland/irrer-thurgauer-neonazi-rastet-wieder-aus-in-u-haft-pruegelt-guenther-s-fuenf-beamte-spitalreif-id17959687.html
-> https://www.20min.ch/story/thurgauer-neonazi-rastet-in-u-haft-aus-und-verpruegelt-beamte-148681249533


+++ANTI-WOKE/DREADLOCKSMANIA/WINNETOUWHINING
Cancel Culture am Theater: «Wir werden dafür bezahlt, dass wir auch Dinge tun, die nicht gefallen»
Herrscht an Theaterhäusern eine Diktatur der Ideologie? Sebastian Rudolph vom Schauspielhaus Zürich stiess die Debatte an. Nun will er, mit der Diversitätsbeauftragten Yuvviki Dioh, einiges geraderücken.
https://www.tagesanzeiger.ch/wir-werden-dafuer-bezahlt-dass-wir-auch-dinge-tun-die-nicht-gefallen-913074440520


+++HISTORY
Auszahlung nach Beobachter-Recherche: Geld für Bührle-Opfer
Acht Millionen Franken will die Stadt Zürich an 320 Opfer von Zwangsmassnahmen auszahlen.
https://www.beobachter.ch/gesellschaft/nach-beobachter-recherche-geld-fur-buhrle-opfer-538503
-> https://www.tagesanzeiger.ch/zuerich-zahlt-opfern-von-zwangsarbeit-acht-millionen-franken-418836841013



magazin.nzz.ch 12.10.2022

Neonazis, Antifa, Jihadisten: Winterthur hat sie alle. Warum eigentlich?

Warum dreht sich immer alles um die gleiche Stadt, wenn es in der Deutschschweiz um Extremisten geht? Eine Spurensuche.

Patrizia Messmer (Text), Simon Habegger (Bilder)

Winterthur, das ist die gefühlt höchste Quote an engagiert Kinderwagen stossenden Vätern unter der Woche in der Altstadt. Winterthur, das ist ein Fussballverein, dessen Fans lieber in der zweiten Liga geblieben wären, als ihren Verein der Kommerzialisierung des Sports zu unterwerfen. Winterthur, das ist ein Sandwichladen als kulinarischer Hotspot, in dem der Chef Hasan Kandil noch jeden Abend persönlich hinter der Theke steht. Winterthur, das ist Blockflöten- Karaoke im Kultlokal, Poetry-Slam statt Ballett und Oper, auf dem Markt einkaufen, ohne ein Happening daraus zu machen, und ein Immobilienkönig, der nichts gegen Hausbesetzer hatte.

Winterthur ist eine herrlich unprätentiöse Stadt mit einem Herz für Aussenseiter. Journalisten monierten schon, dass in dieser Stadt draussen vor dem Bahnhof auffallend viele «Arbeitslose, Alte und Alkoholiker» im Weg stehen. In Winterthur haben auch sie noch Platz in der Gesellschaft. Die Eulachstadt ist die Nummer 2 im Kanton Zürich, die Nummer 6 der Schweiz. Nicht so mondän wie Zürich, nicht so international wie Genf, nicht so bedeutungsträchtig wie Bern, erntet «Winti» von den anderen Grossstädtern höchstens ein müdes Lächeln, wird als «Lampedusa der Ostschweiz» und «Griechenland der Schweiz» verlacht. Die Stadt leidet aber keinesfalls am Kleinstadtblues, sie hat sich ihr Underdog-Image vielmehr zur Mentalität gemacht.

Dafür ist Winterthur die Stadt mit den glücklichsten Frauen der Schweiz gemäss der Uni Lausanne, der grössten Waldfläche und der höchsten Einfamilienhausquote (viermal mehr als Zürich und ganze 29-mal mehr als Genf!). Das tönt mehr nach Vorstadteinöde als nach «tough life» einer Grossstadt. Und ist es auch. Winterthur ist die sicherste Grossstadt der Schweiz, überall in den anderen Grossstädten gibt es mehr Einbrüche, Gewalttaten und Diebstähle als hier. Fragt man die Winterthurer, wovor sie sich fürchten, dann geben sie wild entsorgten Müll und undisziplinierte Velofahrer an (das ist vermutlich der Preis, den man zahlen muss, wenn man Velo-Hauptstadt sein will). Das hat die ZHAW dieses Jahr in ihrer Sicherheitsbefragung herausgefunden. Am wenigsten hingegen fürchten sich die Winterthurer vor Terrorismus.

Das ist eigenartig, denn Winterthur hat sie alle: die Neonazis, die Islamisten, die Linksradikalen. Auch wenn es in den letzten Monaten ruhiger geworden ist in der Stadt, sind sie noch da. Es sollen noch immer bis zu fünfzig Linksradikale, etwa fünf Dutzend Islamisten und eine Handvoll Neonazis in der Stadt sein.

Und die Szenen kommen sich nahe. So nahe wie wohl kaum an einem anderen Ort in der Schweiz: Ein Neonazi-Kopf wohnt auf der anderen Seite des Bahngleises gegenüber eines Szenelokals der Antifa. Die Neonazis der Jungen Tat trainierten eine Zeit im selben Kampfsportzentrum wie die Jihadisten einst. Und diese haben unter einer Eiche gebetet, bei der die Stadt einmal Angst hatte, sie könnte ein Anziehungspunkt für Neonazis werden, weil die Eiche ein Geschenk von Hitler an einen Winterthurer Kunstturner war anlässlich der Olympischen Spiele in Berlin 1936. Die Antifa hängte an Moscheen Plakate auf, die vor den Winterthurer Neonazis warnen, und sprayte «Nazi» auf deren Wohnhäuser. Und sie besetzt seit Jahren ein Haus keine zwei Strassen von der Polizeiwache in der Altstadt entfernt. Wie passt so viel radikales Gedankengut auf gerade einmal 68 Quadratkilometer Stadtgebiet?

Als Aussenseiterin zur Stadt geworden

Will man verstehen, wie die Stadt zu ihren Extremisten kam, muss man etwas weiter zurückgehen in der Geschichte. Winterthur wurde als Aussenseiterin zur Stadt. Lange gehörte sie zu den Habsburgern, 1467 allerdings waren diese quasi pleite und verpfändeten Winterthur an Zürich. Für Winterthur waren das karge Zeiten, denn die Zürcher versuchten die Stadt sowohl wirtschaftlich als auch politisch klein zu halten. So war es den Winterthurern verboten, Zünfte zu bilden – und handwerkliches Gewerbe zu treiben, das den Zürcher Zünften hätte Konkurrenz machen können.

Dass Winterthur etwas mehr als vierhundert Jahre später zur ersten Industriestadt der Schweiz wurde, hat ausgerechnet mit diesem Aussenseiterdasein zu tun. Denn aufgrund der Zürcher Drangsalierung konzentrierten sich die Winterthurer auf Wirtschaftszweige, die nicht von Zürich besetzt waren. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts etablierten sich hier Kolonialwaren- und Baumwollhändler und verschafften Winterthur einen entscheidenden Vorsprung bei der Industrialisierung. Winterthur wurde Mitte des 19. Jahrhunderts zur ersten Industriestadt der Schweiz und dank den Unternehmen Rieter, Sulzer und Loki zu einem Zentrum für Textil- und Maschinenindustrie mit globaler Ausstrahlung. Fabriken und Arbeiter liessen die Stadtbevölkerung zwischen 1850 und 1900 von 13 000 auf 40 000 Einwohner wachsen. Und diese brauchten Wohnraum.

Die Industriellen bauten statt günstiger Mietskasernen Einfamilienhaussiedlungen mit kleinen Gärten für Arbeiter nach englischem Vorbild, nicht etwa aus blossem Goodwill, sondern um soziale Unruhen zu vermeiden. Die Arbeiter sollten zu einem bürgerlichen Lebensstil mit Haus, Kind und Garten finden, damit sie nicht aufmuckten (die heutige Vorstadteinöde kommt also nicht von ungefähr). Obwohl die Stadt mit der Nationalbahn eine ziemliche Pleite hinlegte und die Schulden von dem Projekt, das Winterthur zu einem Knotenpunkt der Bahnlinien in Europa machen sollte, noch bis ins 20. Jahrhundert abzahlte, lebte es sich in der Stadt dank den Industriellen ganz gut. Sie schufen nicht nur Arbeitsplätze und gemeinnützige Wohnungen, sie finanzierten auch Wohlfahrtseinrichtungen und Kulturinstitutionen.

Als die Stadt in den Nachkriegsjahren noch mehr Arbeiter brauchte, begann auch Winterthur dicht und hoch zu bauen. Es entstanden Quartiere wie Mattenbach, Steig, Zentrum Töss. Quartiere, wie sie die alten Industriellen nie wollten. Quartiere, die nun als Problemquartiere gelten. Der Wohnraum ist hier bis heute günstig. Als Ende der achtziger Jahre die Schwerindustrie ins Ausland zog, war Winterthur nicht mehr länger eine Büezerstadt. Aber die Büezer waren noch da. Während die Arbeiterhäuschen mit Garten dem Mittelstand verkauft wurden, der sie hübsch renovierte und aufstockte, blieben ihnen die 50-Partien-Häuser am Stadtrand.

Entwurzelte Gemeinschaften mit 45 Prozent Ausländeranteil, schlecht angeschlossen an die Stadt, kaum Infrastruktur für ein Gemeinschaftsleben. Durchmischung findet hier höchstens beim Einkaufen statt. Es waren die Quartiere, die 2015 Schlagzeilen machten, weil sie Jugendliche hervorbrachten, die nach Syrien oder in den Irak in den Jihad reisten und islamistische Propaganda verbreiteten.

Die Stadt wusste nicht, wie ihr geschah. Ausgerechnet das links-grüne Winterthur mit seinen engagierten Vätern, den Studenten und der blühenden Kleinkunstszene sollte zur Islamisten-Hochburg geworden sein? Anfangs wehrte sich die Stadt noch gegen diesen Titel, spielte die Fälle als Einzelphänomene herunter und verhängte schliesslich vor lauter Überforderung eine mehrmonatige Informationssperre. Als jedoch der Journalist Kurt Pelda ein ganzes Netzwerk um die An’Nur-Moschee und den salafistischen Prediger Abu Mohammed sowie den Thaibox-Weltmeister Valdet Gashi und Sandro V., den selbsternannten Emir von Winterthur, aufdeckte, resignierte die Stadt schliesslich und bezeichnet sich seither in ihrem Jahresbericht selbst als Extremisten-Hochburg.

Das Janusgesicht des Grossstadt gewordenen Dorfes

«Winterthur ist eine liebe Stadt», sagt Fritz Lehmann, und es wird nicht ganz klar, ob er das zur Verteidigung der Stadt sagt, die seit fast zwanzig Jahren seine Heimat ist, oder als Erklärung dafür, wie sie zu den vielen Extremisten kam. Fritz Lehmann kennt sich aus mit den Extremisten. Er war bis vor wenigen Monaten der Kommandant der Stadtpolizei Winterthur, ganze 17 Jahre lang. Er war schon Kommandant, als sich die Antifa und die Rechtsextremen Anfang der 2000er Territorialkämpfe geliefert haben. Und er war immer noch Kommandant, als 2015 plötzlich junge Winterthurer nach Syrien in den Jihad reisten, und auch noch, als 2020 bei Razzien bei Mitgliedern der Jungen Tat, die sich damals noch Eisenjugend nannten, halbautomatische Waffen gefunden wurden.

Er sagt: «Es gehört zur liebenswürdigen Struktur dieser Stadt, dass sie auch etwas naiv ist.» Winterthurer täten sich schwer damit, zu akzeptieren, dass mitten in ihrer Gemeinschaft Parallelgesellschaften entstanden sind, die nicht Teil ihrer lieben Stadt sein wollen. Lehmann stellte schon 2007 fest, dass es in Winterthur Personen gab, die in Verbindung mit dem Hizbullah standen. Als er der Stadtregierung davon berichtet, macht diese nur grosse Augen. «Winterthur hält sich noch immer für ein Dorf. Man darf nicht vergessen, die Stadt ist in nur wenigen Generationen zur Grossstadt herangewachsen. Aber im alten Winterthur kennt man sich noch, liebt sich oder hasst sich in der dritten Generation. Das ist das Janusgesicht dieses Grossstadt gewordenen Dorfes.»

Tatsächlich begünstigen kleinstädtische Strukturen radikale Netzwerke, sagt Johannes Saal, der an der Uni Luzern zu religiösem Extremismus forscht. Auch in Deutschland sind vor allem in mittelgrossen Städten islamistische Netzwerke entstanden: Hildesheim, Wolfsburg. Er sagt: «In einem kleineren Sozialraum gelingt der Radikalisierungsprozess einfacher als in einer anonymen Grossstadt.» Man kennt sich aus der Schule, ist im gleichen Quartier aufgewachsen, die Familien sind befreundet. In einer Stadt wie Winterthur läuft man dem radikalisierten Bruder des besten Freundes zwangsläufig immer wieder einmal über den Weg.

Dass ausgerechnet Winterthur zu einer Hochburg wurde, sei jedoch vor allem Zufall, so Saal. Er hat die Akten der Jihad-Reisenden studiert, Gerichtsprozesse verfolgt, Telegram-Kanäle mitgelesen. Er sagt, es brauche einen Ort, wo sich die Anhänger treffen können – in Winterthur war es zu Beginn die An’Nur- Moschee –, und charismatische Köpfe, Identifikationsfiguren wie Valdet Gashi, der in Syrien starb, oder Sandro V., den Emir von Winterthur. «Radikalisierung hat viel mit der Suche nach Anerkennung zu tun. Am Anfang geht es oft gar noch nicht um die Ideologie. Diese charismatischen Köpfe bieten den Jugendlichen eine Art Ersatzfamilie, sind für ihre Probleme da. Die Radikalisierung kommt dann erst nach und nach.»

Eine lange Geschichte mit Neonazis

Kaum hatte sich die liebe Stadt vom Islamistenschock erholt, eine Extremismusfachstelle ins Leben gerufen, bei der besorgte Eltern, Lehrer oder Freunde Rat suchen können, und im Problemquartier Steig eine neue Gemeinschaftsanlage geplant, prasselten die nächsten Schlagzeilen auf sie ein: «Neonazi-Truppe aus Winterthur ZH phantasiert von Rassenkrieg », «Rechtsextremismus breitet sich in Winterthur aus», «Waffenrazzia gegen Neonazis in Winterthur».

Anfang 2020 tauchen auf einem Telegram-Kanal Videos auf, in denen ein vermummter junger Mann stundenlang aus einem Text des SS-Hauptmanns Heinrich Himmler vorliest. Er ist der Kopf der «Eisenjugend Schweiz», einer Neonazigruppe aus Winterthur. Es sind nur eine Handvoll Neonazis, doch sie phantasieren vom Rassenkrieg, posieren mit Waffen, verbreiten nationalsozialistische Propaganda. Wieder ist es Kurt Pelda, der, zusammen mit einem Kollegen, die Gruppe in die öffentliche Wahrnehmung zerrt. Kurz darauf outet die Antifa die Mitglieder mit ihrem Namen, Wohnort und Arbeitsplatz auf einer ihrer Plattformen.

Im Sommer 2020 stellt die Polizei bei einer Razzia bei zwei Mitgliedern halbautomatische Waffen sicher. Die Gruppe löst sich auf, doch die Mitglieder tauchen später bei der Gruppe «Junge Tat» wieder auf. Diese gebärdet sich aktivistisch, versucht mit Aktionen wie dem Kapern von Corona-Demonstrationen Aufmerksamkeit zu erregen oder als sie mit einem Kreuz den Pride-Gottesdienst stürmten im vergangenen Juli. Im Übrigen stählen sie ihre Körper beim Kampfsport, treffen sich zu Wanderausflügen mit Gleichgesinnten und Trainingslagern in der Innerschweiz. Alles schön Rassismusstrafnorm-konform, sie sind vorsichtiger geworden.

Sie stehen für eine neue Generation von Rechtsextremen, die nicht mehr länger mit Springerstiefeln und kahl rasierten Schädeln auftreten. Sondern in professionell produzierten Videos von bester Social-Media-Ästhetik, die sich rund 6000 Personen auf ihrem öffentlichen Telegram-Kanal anschauen. Mittlerweile sind junge Neonazi-Köpfe aus der ganzen Schweiz dabei, die «Junge Tat» pflegt auch Verbindungen zu rechtsextremen Gruppierungen in Deutschland. Fragt man den Historiker Damir Skenderovic, der an der Universität Freiburg i. Ü. zu Rechtsextremismus forscht, warum diese neuen Neonazis gerade in Winterthur auftauchen, lautet seine Antwort: «Die sind nicht neu in der Stadt. Winterthur hat eine lange Geschichte mit Rechtsextremismus.»

Schon 1946, gerade einmal ein Jahr nachdem die Alliierten das nationalsozialistische Regime Deutschlands zerschlagen hatten, stellte sich in Winterthur die rechtsextreme Partei «Junge Garde» zur Wahl. Sie erhielt allerdings nur 74 Stimmen. Und auch während des «kleinen Frontenfrühlings» in den achtziger und neunziger Jahren waren rechtsextreme Gruppen in der Stadt präsent, allen voran die Patriotische Jugend Winterthur. Sie organisierten in der Stadt Treffen mit zahlreichen Neonazigrössen, lieferten sich immer wieder Schlägereien mit der Antifa, sorgten mit Angriffen auf Ausländer für Schlagzeilen. 1990 warfen zwei Neonazis eine Handgranate in ein Haus, von dem sie glaubten, darin wohne ein Journalist der Winterthurer «AZ», der in dieser Zeit in der rechten Szene recherchiert hatte. Verletzt wurde damals zum Glück niemand, der Journalist wohnte sowieso seit ein paar Monaten nicht mehr da. Zu ihrem Pech aber hatte seine Nachmieterin den gleichen Namen.

Was den Rechtsextremismus betrifft, steht Winterthur nicht allein verwundert da. «Weil das Land nie ein faschistisches Regime hatte, besteht der Glauben, die Schweiz sei ein Sonderfall und es gebe hier keine rechtsextreme Szene», so Skenderovic. Rechtsextremisten würden schlicht nicht zum Selbstbild einer direktdemokratischen Gesellschaft passen. Deswegen pflegten wir in diesem Land auch keine Erinnerungskultur. «Und das obwohl es Anfang der neunziger Jahre eine Zeit gab, wo es in der Schweiz proportional zur Bevölkerung mehr Todesopfer rechtsextremer Gewalt gab als in Deutschland.»

Das Verdrängen hat Folgen: Weder die Politik noch die Forschung und mit wenigen Ausnahmen auch nicht die Medien interessierten sich für die Rechtsextremen, kritisiert er. «Darum wissen wir weder, wie gross und gewaltbereit die rechtsextreme Szene ist, noch, wie viele Menschen mit ihr sympathisieren », sagt Skenderovic. Und das wenige, was man über die Szene wisse, stamme meist aus Informationen der Antifa. «Das ist doch paradox! Die einzigen Gruppierungen, die über die Rechtsextremen einigermassen Bescheid wissen, werden von den Sicherheitsbehörden immer wieder selbst als extremistisch eingestuft.»

Anschlag auf den Bundesrat

So war es auch in Winterthur die Antifa, welche die Gesinnung der Jungen Tat aufgedeckt und in der Stadt Plakate mit Steckbriefen der Mitglieder aufgehängt hat. Die Autonomen haben in der Stadt ebenfalls eine lange Geschichte: Die 80er Jugendunruhen erfassten Winterthur später als Zürich, dann aber heftig. Die ersten grösseren Aktionen der Linksradikalen – eine Demonstration gegen die Lieferung einer Schwerwasseranlage der Firma Sulzer an die Militärdiktatur Argentinien und ein Menschenteppich vor der Waffenschau, um den Waffenhändlern den Zugang zu erschweren – sorgten zwar für Aufregung. Wirklich ernst genommen wurden sie aber nicht von den Behörden.

Als aber eine Serie von Brandstiftungen und Sprengstoffanschlägen darin gipfelte, dass das Wohnzimmerfenster des damaligen Bundesrates Rudolf Friedrich in die Luft flog, griffen die Behörden durch. Sie verhafteten in der grössten Razzia bisher im Kanton Zürich 21 Jugendliche. Die Ermittlungen wurden später stark kritisiert, weil die Freundin des damaligen Anführers mit einem gefälschten Brief unter Druck gesetzt worden sein soll und sich in der UHaft das Leben nahm. Auch ein involvierter Bundespolizeikommissar beging später Suizid.

«Kaum in einer Stadt ist die SP mit Gewerkschaftern so offensichtlich Spielball, Instrument und Legitimation der Herrschenden wie hier. Ihre Hauptaufgabe ist es geworden, zu Besonnenheit und Beruhigung aufzurufen. Sie ist williges Sprachrohr der Herrschenden, nicht nur, wenn bei Friedrich eine Bombe losgeht, sondern auch wenn die Wirtschaft aus Profitgründen Umstrukturierungen mit Massenentlassungen vornimmt.» So begründeten die Autonomen damals in einer Zeitschrift die Notwendigkeit ihrer Opposition.

Die Stadt schien sich in den Jahren darauf mit den linken Chaoten zu arrangieren. Zwar kam es immer wieder zu Sachbeschädigungen, Hausbesetzungen und Strassenkämpfen mit den Neonazis. Sie sorgten aber auch dafür, dass die rechte Szene klein blieb und sich aus dem Stadtzentrum zurückzog. Mittlerweile gehören sie zum Stadtbild dazu mit ihren Bannern an den besetzten Häusern und den wilden Dachterrassen. Selbst in der Gisi, einem besetzten Haus in direkter Nähe zur Polizeiwache, lässt man sie seit 25 Jahren gewähren. Als sie jedoch 2004 das Sulzer-Hochhaus besetzten, um gegen die Stadtentwicklung zu protestieren – Winterthur versuchte sich nach dem Niedergang der Industrie zur Wohnstadt zu mausern und mit schicken Lofts auf den ehemaligen Industriearealen zahlungskräftige Steuerzahler anzulocken –, rückte die Polizei sofort aus.

Was ist es also nun, liebes Winterthur?

Der Journalist Constantin Seibt beschrieb Winterthur einst als die Hauptstadt der Komik. Er führte die hohe Dichte an professionellen Witzeschreibern in der Stadt und die identitätsstiftende Kleinkunstszene auf die Freiheit und Verzweiflung zurück, die der Zusammenbruch der Industrie in der Stadt hinterliess. Er schrieb: «Welche Beobachtungsstation wäre [für Komiker als Beobachter] geeigneter als Winterthur? Ein fester Punkt, nah an der Welt, aber nicht beteiligt, politisch unwichtig und im Zweifelsfall der Verlierer? Aber dafür entspannt?» Als Dorfstadt sei Winterthur für Komiker ideal, denn hier würde man weder vom Gewusel in einer Grossstadt noch von der Nähe eines Dorfes abgelenkt.

Winterthurs Standortvorteil als Komikerhauptstadt ist ihr zum Verhängnis geworden als Extremistenhochburg: gross genug für die Linksextremen, um gegen die Gentrifizierung und Kapitalisten aufzubegehren, ländlich genug, damit sich die Neonazis in ihr wohlfühlen, und multikulti genug, damit sie sich von den Islamisten bedroht fühlen können. Klein genug, um Gleichgesinnte zu finden, und gross genug, dass ihre Netzwerke nicht gleich auffliegen. Und günstig genug, dass auch Aussenseiter hier eine Heimat finden.

Das effizienteste Mittel gegen Extremismus jeglicher Art zeigt sich nämlich am Beispiel Zürichs: das Leben in der Stadt einfach so sehr zu verteuern, dass es sich sowieso nur noch die Profiteure des Systems leisten können. Und schon hat man keine Probleme mit den Nonkonformen, Verlierern und Systemgegnern. Im lieben und chronisch unterfinanzierten Winterthur aber wird noch für Ideologie gelebt und nicht bloss fürs Geld. Hier haben auch die Systemverlierer noch Platz. Im besten Fall schiessen sie als Komiker mit Witzen gegen das System, im schlechtesten Fall aber werden sie zu Extremisten.
(https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/nazis-jihadisten-antifa-ist-winterthur-eine-extremisten-stadt-ld.1706946)



bernerzeitung.ch 13.10.2022

Umstrittener serbischer Film: Angst vor Demons­trationen: Bolligen sagt Film­anlass ab

«Gräueltaten werden relativiert»: Bosnische Kultur­vereine kritisieren eine Kultur­veranstaltung in der Berner Regions­gemeinde. Wie ist es dazu gekommen?

Jana Kehl

Der bosnisch-serbische Nationalitätenkonflikt beschäftigte bislang die Leute in Bolligen nicht stärker als anderswo. Über das Wochenende änderte sich das, als über 60 Empörungsmails bei der Gemeindeverwaltung eintrafen. Sie richten sich gegen die Vorführung des Films «SRPSKA – Kampf für die Freiheit».

Der Dokumentarfilm sollte am 20. Oktober im Reberhaus in Bolligen gezeigt werden. Auch Regisseur Boris Malagurski hätte dabei sein sollen. Nun sieht sich Alfons Cina, der Geschäftsführer des Reberhauses, gezwungen, den Anlass abzusagen.

Die Dokumentation handelt von der Gründung der «Republika Srpska», einer der zwei Teilrepubliken in Bosnien-Herzegowina. Dieses Gebiet war Schauplatz des Bosnienkriegs und des Völkermords in Srebrenica. «Der Film relativiert die Gräueltaten der Polizei und der Armee der Serbischen Republik im Zeitraum 1992 bis 1995», schreiben die bosnischen Kulturvereine in der Schweiz in einer öffentlichen Erklärung.

Sie monieren, Malagurski verfolge auch politische Ziele und versuche, die Autonomie der Republika Srpska zu stärken. Dabei nehmen sie Bezug auf die Ukraine: Das langfristige Ziel des Regisseurs sei die «Errichtung eines Donbass 2.0 auf dem Territorium von Bosnien und Herzegowina».

Wer den Film zeigen wollte, bleibt unbekannt

«Als ich die Filmvorführung bewilligte, schöpfte ich keinen Verdacht, dass der Film kritisch sein könnte», sagt Alfons Cina. Der Antrag sei «ganz normal» über ein Formular von einer Privatperson aus Bolligen gestellt worden. Wer die Person ist, will er nicht sagen. Aus Datenschutzgründen wollen die Gemeinde sowie die Genossenschaft des Reberhauses die Kontaktdaten nicht weiterleiten.

Cina befürchtete gar Demonstrationen, was schliesslich den Ausschlag gab, den Anlass in Absprache mit der Gemeinde abzusagen. Über den Inhalt des Films können sich sowohl Alfons Cina als auch Vize-Gemeindepräsidentin Marianne Zürcher (SVP) nicht äussern. «Wir nehmen die Vorwürfe der bosnischen Kulturvereine ernst», sagt Marianne Zürcher. Da das nötige Wissen fehle, sei sie jedoch nicht in der Lage , den Inhalt des Films und die Hintergründe des Regisseurs zu beurteilen.

Auf dem Balkan ist Regisseur Boris Malagurski eine umstrittene Persönlichkeit. Bereits in vielen Städten in Bosnien-Herzegowina ist der Film «SRPSKA – Kampf für die Freiheit» verboten. Kritiker werfen Malagurski vor, ein enger Vertrauter von Milorad Dodik zu sein, der seit 2018 Mitglied des dreiköpfigen Staatspräsidiums von Bosnien-Herzegowina ist. Der bosnische Politiker mit serbischer Volksangehörigkeit verstärkte vor einem Jahr seine Bemühungen, die Republika Srpska autonomer zu machen. Dabei forderte er eine eigene Armee und Polizei sowie eine eigene Finanzbehörde für die Teilrepublik.

Zudem sieht sich der Regisseur mit dem Vorwurf konfrontiert, er stehe Russland nahe. Er arbeitete als Produzent und Monteur bei Sputnik Ser­bien, einer Tochtergesellschaft von Sputnik Russland. Die Europäische Union hat gegen den Sender Sanktionen verhängt. Anders sehen serbische Medien den Regisseur: Die Zeitung «Politika» stellte ihn als den «serbischen Michael Moore» dar, zumindest nach der Art, wie er seine Dokumentarfilme macht. Dass er sich gegen den westlichen Mainstream stellt, fassen viele serbische Medien positiv auf.

Regisseur weist Kritik zurück

Regisseur Boris Malagurski weist die Vorwürfe zum Inhalt des Films zurück: «Der Film erzählt von der turbulenten Geschichte der Serben unter den verschiedenen Imperien, verschweigt aber keineswegs die Verbrechen, die die serbischen Streitkräfte während des Bosnienkriegs begangen haben.» Der Völkermord von Srebrenica werde nicht abgestritten. Zudem sei der Dokumentarfilm in keiner Weise separatistisch.

Offenbar habe keine der Organisationen, die den Film kritisierten, ihn vorher gesehen, meint der Regisseur. Jedenfalls habe niemand darum gebeten, ihn anzuschauen. Wenn er den Film doch noch irgendwo zeigen könne, wolle er die Möglichkeit bieten, im Anschluss über den Inhalt zu diskutieren.

Für Alfons Cina ist der Tumult um die Filmvorführung im Re­berhaus zwar ärgerlich. Er hält aber fest: «Das ist das erste Mal in 25 Jahren, dass es einen solchen kritischen Vorfall gegeben hat.»
(https://www.bernerzeitung.ch/angst-vor-demonstrationen-bolligen-sagt-filmanlass-ab-931361982795)
-> https://www.20min.ch/story/verharmlosung-von-genozid-veranstalter-canceln-serbischen-film-518712522743