Medienspiegel 30. September 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BASEL
Kanton bereitet sich auf die nächste Flüchtlingswelle vor
1’700 Schutzsuchende aus der Ukraine sind bislang in Basel-Stadt registriert. Wegen der jüngsten Eskalation im Krieg dürften noch weitaus mehr hinzukommen.
https://telebasel.ch/2022/09/30/kanton-bereitet-sich-auf-die-naechste-fluechtlingswelle-vor/?channel=105100


+++LUZERN
Gastro-Ausbildungsprogramm für Ukrainerinen in Luzern – Schweiz Aktuell
In der Schweizer Hotel- und Gastrobranche herrscht ein grosser Personalmangel. Im Kanton Luzern werden in einem Pilotprojekt geflüchtete Ukrainerinnen in einem speziellen Lehrgang ausgebildet, um in Hotels und Restaurants zu arbeiten.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/gastro-ausbildungsprogramm-fuer-ukrainerinen-in-luzern?urn=urn:srf:video:f2424f49-f19d-46a7-9905-c04efd4fc932


+++SCHWEIZ
vorwaerts.ch 26.09.2022

Ungleiche Chancen

Die Chance auf psychische Gesundheit ist hierzulande ein Privileg. Für Asylsuchende wird mit anderen Ellen gemessen als für Schweizer*innen, denn gleichen Zugang zu dringend benötigten psychologischen Angeboten hatten sie nie. Lösungen wären vorhanden, doch die Entscheidungsträger*innen winden sich aus der Verantwortung.

Lea Faeh

«Erst einmal ausser Lebensgefahr setzen bei traumatisierten Geflüchteten verschiedenste Symptome ein. Es plagen sie ängstigende und sich aufdrängende Erinnerungen. Albträume, Anspannung und innere Unruhe rauben den Schlaf», erklärt Psychiater und Psychotherapeut Oliver Schwald auf Anfrage des vorwärts. Sechs Jahre hat Schwald unter anderem das Ambulatorium für Folter- und Kriegsopfer (AFK) des Schweizerischen Roten Kreuzes in Bern ärztlich geleitet. Manche von ihnen verhielten sich sehr schreckhaft, und das Vertrauen in die Umwelt ist oft erschüttert. Nicht selten rufe der erlebte psychische Stress körperliche Symptome hervor, wie Herzrasen, Zittern, Kopfschmerzen, Übelkeit oder überwältigende Müdigkeit. Gefühle wie Wut, Angst oder Reizbarkeit können entweder intensiv oder kaum, wie taub, erlebt werden. Auch über Depressionen und Suizidgedanken würden häufig berichtet.

Für Asylsuchende besteht in der Schweiz seit je eine gravierende Versorgungslücke an spezialisierten Behandlungsangeboten. Besonders im deutschsprachigen Raum ist die Unterversorgung gross, wo schätzungsweise weniger als zehn Prozent der Betroffenen die benötigte Behandlung erhalten. Das ergibt die jüngste schweizweite Umfrage unter Fachpersonen zur Versorgungssituation, die Interface Politikstudien im Jahr 2018 für das Bundesamt für Gesundheit (BAG) durchgeführt hat. Exakte Zahlen gibt es nicht, weil das Staatssekretariat für Migration (SEM) und die involvierten kantonalen Stellen keinen Bedarf sehen, schweizweit repräsentative Daten zur psychischen Gesundheit von Asylsuchenden zu erheben. Obwohl psychometrische Fragebögen für ein frühzeitiges Screening lange bereitstehen, liegt es im freien Ermessen des Personals in den Asylzentren allenfalls auf solche zurückzugreifen.

Barrieren

Hilfe erhalten traumatisierte Geflüchtete vorrangig in den landesweit fünf AFK, die im Verbund «support for torture victims» zusammengeschlossen sind. Doch solche Behandlungsplätze sind karg vorhanden und die Wartefrist entsprechend lang. «Wir haben Kapazität für ungefähr 200 Personen. Rund 60 Neueintritte sind es pro Jahr. Die Wartezeit beträgt aktuell neun Monate», informiert Naser Morina, Leiter des AFK am Universitätsspital in Zürich, im Gespräch mit dem vorwärts. Das sei natürlich viel zu lang, ergänzt er, selbst als Psychologe und Psychotherapeut tätig.

Unabdingbare Voraussetzung jeder Behandlung ist die einwandfreie Verständigung zwischen Patient*innen und Therapeut*innen. Insbesondere bei Zugewanderten in der Zeit kurz nach Eintreffen in einer neuen Gesellschaft ist dies aber nur unzureichend möglich. Um das Leiden der Betroffenen wirklich zu verstehen und komplexe Krankheitsbilder richtig zu erkennen, müsste zwingend eine qualifizierte, interkulturell dolmetschende Person beigezogen werden, wenn es Sprachbarrieren gibt. Diese übersetzen die Sprache und berücksichtigen darüber hinaus den sozialen und kulturellen Hintergrund in Bezug auf ein unterschiedliches medizinisches Verständnis.

«Die Notwendigkeit von interkulturell Dolmetschenden ist in der Schweiz allgemein anerkannt», sagt Lena Emch-Fassnacht, Geschäftsleiterin von «Interpret» , im Interview mit dem vorwärts. «Interpret» ist die schweizerische Interessengemeinschaft für interkulturelles Dolmetschen und Vermitteln, die das Qualifizierungssystem für diesen Beruf führt. Auch etliche Akteur*innen des Gesundheitswesens, wie zum Beispiel der Berufsverband der Schweizer Ärzt*innen (FMH), haben diesbezüglich Stellung bezogen und sprechen sich für deren konsequenten Einsatz ein. Und selbst der Bundesrat hält in seinen Antworten auf zwei parlamentarische Vorsto?sse fest, dass «das Dolmetschen in der Psychotherapie und insbesondere in der Traumabehandlung ein unverzichtbares Instrument» darstellt.

Vermeintlich banales Problem

«Aber es ist weder national noch kantonal eindeutig geregelt, wer dies bezahlt», klärt Emch-Fassnacht auf. Professionelles Dolmetschen gehört nicht zu den Leistungen, «die direkt der Diagnose oder Behandlung einer Krankheit und ihrer Folgen dienen», und somit nach den Artikeln 25 bis 31 des Krankenversicherungsgesetzes (KVG) vom Bund über die obligatorische Krankenpflegeversicherung vergütet wird. Übersetzungskosten müssten demnach durch die Therapie- und Beratungsstellen sowie Arzt- und Psychotherapiepraxen selbst getragen werden.

Grössere Institutionen können solche Zusatz-kosten teils übernehmen. Aber Ärzt*innen und Thera-peut*innen in eigenen Praxen nicht. «Dort scheitert die Zusammenarbeit mit Dolmetschenden klar an der fehlenden Finanzierung. Kostendeckend anbieten, kann man das nicht», sagt Emch-Fassnacht.

Der Bundesrat lehnt ab

Das Problem der ungelösten Finanzierung der Dolmetschkosten ist lange von allen entscheidenden Akteuren erkannt. Doch Bund, Kantone, Versicherungen und Leistungserbringer*innen können sich nicht darauf einigen, wer für dessen Lösung zuständig ist. Nationale und kantonale parlamentarische Vorstösse wurden in der Vergangenheit bereits mehrfach eingereicht, doch die Umsetzung ihrer Forderungen blieb stets aus. Zuletzt forderte Nationalrätin Sibel Arslan (Grüne) vom Bundesrat in einer Motion, im Rahmen seiner Genehmigung der ambulanten Tarifstrukturen, eine Vergütung von Dolmetschkosten vorzusehen. Denn auch das wäre neben dem KVG eine Möglichkeit, die Kostenübernahme auf Bundesebene einheitlich zu regeln. Doch der Bundesrat lehnte die Motion ab. Er sehe «keinen Anlass die Tarifstrukturen in eigener Kompetenz anzupassen». Dies liege «in den Händen der Tarifpartner», die Krankenkassen und Leistungserbringer*innen sollten Kostenanteile für diesen Aufwand «im Rahmen der Tarifautonomie» in ihre vertraglich vereinbarten Tarife einfliessen lassen.

Keine Lösung in Sicht

Auch «Interpret» fordert eine nationale Lo?sung. «Im Sinne der Gleichbehandlung für alle Regionen und Leistungsbereiche muss die Finanzierung von Übersetzungskosten schweizweit einheitlich geregelt sein. Das KVG oder die Tarifordnungen bieten sich als übergeordnetes Rahmenwerk an», sagt Emch-Fassnacht. Durch eine Deckung der Übersetzungskosten ha?tten traumatisierte Geflüchtete rascher Zugang zur Therapie, da auch Psychotherapeut*innen in Privatpraxen und in der Regelversorgung Traumatherapien für geflüchtete Personen ohne ausreichende Kenntnisse der Landessprachen anbieten könnten. Solange Dolmetschkosten nicht von dritter Seite finanziert werden, wird es weiter zu wenig Therapeut*innen geben, die Asylsuchenden Traumabehandlungen anbieten können.

Im Folgeartikel in der nächsten Ausgabe wird auf innovative Unterstützungskonzepte in der psychosozialen Arbeit mit Geflüchteten eingegangen.
(https://www.vorwaerts.ch/inland/ungleiche-chancen/)


+++DEUTSCHLAND
Asyl im Zeichen des Regenbogens?
Homosexuelle und queere Menschen haben es schwer, in Deutschland Asyl zu erhalten. Behörden oder Gerichte argumentieren häufig, ein Schutzstatus sei unnötig, weil sie ihre Sexualität im Herkunftsland ja heimlich leben könnten. Das stürzt viele Betroffene in eine Krise. Das Bundesinnenministerium hat nun zum 1. Oktober Verbesserungen angekündigt.
https://www.proasyl.de/news/asyl-im-zeichen-des-regenbogens/


+++GASSE
Coop: Bettler bedrängen Kunden und Pendler im Bahnhof Bern
Vor dem Coop im Berner Bahnhof wird es am Sonntagabend mühsam. Bettler sind vor Ort und belästigen Kunden und Pendler. Die Polizei kommt.
https://www.nau.ch/news/schweiz/coop-bettler-bedrangen-kunden-und-pendler-im-bahnhof-bern-66288328


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Politisches Velofahren: «Critical Mass» rollt durch Berns Strassen
Velo-Aktivisten und -Aktivistinnen sind am Freitagabend in einer grossen Gruppe durch Bern gefahren. Es ist der Auftakt zum Jubiläums-Wochenende der «Critical Mass»-Bewegung.
https://www.derbund.ch/critical-mass-rollt-durch-berns-strassen-484113128924


STOPPT DEN ABBAU VON SOZIALWOHNUNGEN!
In dieser Nacht wurden ein Haus an der Linsebühlstrasse in St.Gallen mit Banner markiert. Auch dieses Haus ist ein Beispiele, was mit vielen in dieser Strasse passiert. Die Linsebühlstrasse 64 und 66 wurden an Zürcher Privatinvestor*innen und an die Pensionskasse Swisslife verkauft. Die bestehenden Sozialwohnungen, werden aufgehoben, um Bonzen und Yuppies Räumlichkeiten zu verkaufen und zu vermieten.
https://barrikade.info/article/5403


+++RASSISMUS
nzz.ch 30.09.2022

Schwarze Filmemacherin: «Irgendwann habe ich realisiert: Ich kann mich anstrengen, wie ich will – ich werde doch nicht als vollständige Schweizerin wahrgenommen»

Erfolgreich, reflektiert – und ständig mit ihrer Hautfarbe konfrontiert. Rachel M’Bon porträtiert in einem Dokumentarfilm dunkelhäutige Schweizer Frauen, deren Biografien ihrem eigenen Leben ähneln.

Antonio Fumagalli, Lausanne

Rachel M’Bon, Sie sind als Tochter einer Deutschschweizerin und eines Kongolesen in der Schweiz geboren und aufgewachsen. Wurde Ihnen früh zu spüren gegeben, dass Sie nicht wie «die anderen» sind?

Das begann schon in der Kindheit. Jeden Tag war und bin ich, so wie auch die anderen Protagonistinnen im Film, mit meiner Hautfarbe konfrontiert. Meine Mutter wurde regelmässig gefragt, ob sie mich und meine Brüder adoptiert habe. In der Schule nannte mich ein Lehrer «wildes Tier», und den Buchstaben «N» lernten wir anhand eines Neger-Bildes. Als Jugendliche musste ich bei einer Polizeikontrolle auf den Posten mit, weil ich keinen Ausweis auf mir hatte, während meine ebenfalls ausweislosen Freundinnen weitergehen durften. An der Bushaltestelle fragte einmal ein Mann: «Was kostest du?» Und noch heute kann ich nicht mit dem TGV nach Paris fahren, ohne kontrolliert zu werden – sogar wenn ich ausnahmsweise in der 1. Klasse reise. Ich könnte viele weitere Beispiele aufzählen.

Inwiefern beeinflussen solche Erfahrungen den persönlichen Werdegang?

Das Gefühl, eine Ungerechtigkeit zu erfahren, ist omnipräsent. Besonders als Jugendliche hat mich das richtig wütend gemacht. Hätte ich keine dunkle Haut, wäre ich die perfekte Durchschnittsschweizerin. Ich bin hier aufgewachsen, spreche ohne Akzent, habe eine gute Ausbildung und führe ein bürgerliches Leben. Dennoch werde ich anders behandelt. Es gibt zwei Strategien, damit umzugehen: der Versuch der totalen Assimilierung – oder der aktive Kampf dagegen.

Spätestens mit Ihrem Film «Je suis noires» haben Sie sich für die zweite Option entschieden.

Ja, aber erst nach vielen, vielen Jahren. Als junge Frau habe ich alles unternommen, um meine afrikanischen Wurzeln so unsichtbar wie irgendwie möglich zu machen. Ich trug Perücken und achtete extrem auf meine Kleidung. In der Gesellschaft verhielt ich mich völlig kantenlos, sogar wenn jemand anzüglich war. Ich wollte eine Schweizer Vorzeigefrau sein und vor allem nicht auffallen. Ich arbeitete als Journalistin, heiratete einen weissen Mann und übernahm seinen Namen. Selbstverständlich gingen wir nach Zermatt in die Skiferien.

Was hat zum Umdenken geführt?

Irgendwann habe ich realisiert: Ich kann mich anstrengen, wie ich will – ich werde doch nicht als vollständige Schweizerin wahrgenommen. Meinen Kindern wollte ich diese Lebenslüge nicht weiter zumuten. Auf lange Sicht ist es nicht gesund, die Augen vor dem strukturellen Rassismus zu verschliessen.

Was gibt Ihnen die Gewissheit, dass Sie als weisse Frau nicht ähnliche Schwierigkeiten erlebt hätten?

Wenn man in der Schweiz schwarz ist, ist das Leben ohne Zweifel komplexer, als wenn man der Norm entspricht. Es ist, als wenn man mit einem Handicap ins Leben starten würde. Manche schaffen es einfacher, manche gar nicht, sich von diesem Zusatzgewicht zu befreien.

Sie sagen: in der Schweiz. Wäre es anderswo anders?

Weil die Schweiz nie eine Kolonialmacht war, wird Rassismus und Diskriminierung hierzulande viel weniger als Problem wahrgenommen als in Ländern mit einer belasteten Vergangenheit. Die Durchschnittsbevölkerung geht davon aus, dass dunkelhäutige Personen gleich behandelt werden wie weisse. Doch das ist nicht der Fall.

Aber wir haben doch die Anti-Rassismus-Strafnorm!

Für die krassen Fälle, ja. Wenn mich eine Person öffentlich als «Drecksnegerin» beschimpft, kann ich sie anzeigen. Doch die Prozedur ist anstrengend, und es braucht immer Zeugen. Der Schweizer Rassismus ist subtiler und darum strafrechtlich kaum greifbar. Oftmals steckt nicht einmal eine böse Absicht dahinter.

Wie meinen Sie das?

Ich kann gerne ein Beispiel von den Filmdreharbeiten nennen: Eine Kontaktperson sagte, dass sie nicht verstehen könne, worüber ich mich beklage. Schwarze sähen nicht nur besser aus, sie tanzten auch geschmeidiger. Weisse seien einfach eifersüchtig – und ihr Rassismus sei ein Ausdruck davon.

Eine Art von «wohlmeinendem Rassismus»?

Ja. Ironischerweise muss ich mir solche – positiv konnotierten – Klischees häufiger von Personen anhören, die einem progressiven, eher linken Umfeld entstammen. Die Äusserungen sind ja nett gemeint, aber im Grunde genommen herablassend und paternalistisch. Denn sie reduzieren das Gegenüber auf einen Unterschied, der abgesehen von Äusserlichkeiten oft gar nicht erst existiert. Man wird ständig als Objekt betrachtet. Ich habe Männer erlebt, die sich unbedingt mit mir einlassen wollten, weil sie noch nie mit einer Dunkelhäutigen im Bett waren.

Die schwarze Frau als unzähmbares, sexuell aufgeladenes Wesen.

Dieses Bild ist leider weit verbreitet. Es findet eine Fetischisierung von schwarzen Körpern statt, besonders von Frauen. Warum sollten wir eher animalische Sexgöttinnen sein als sonst irgendeine Frau? Schauen Sie einmal Werbungen mit schwarzen Models an: Grace Jones in einem Käfig. Naomi Campbell neben einem sprintenden Gepard. Das ist noch nicht so lange her, nur gut zehn Jahre.

Sie haben gesagt, dass Linke Sie eher mit Klischees konfrontieren. Wie erklären Sie sich das?

Man denkt ja zuweilen, dass Linke besser verstehen, wie man sich als Minderheit fühlt, und Rechte, zugespitzt formuliert, verkappte Rassisten sind. Dieses Weltbild ist viel zu simpel. Ich habe SVP-Vertreter getroffen, die mir gegenüber viel offener und vor allem ehrlicher in ihrer politischen Positionierung waren, auch wenn ich ihre Ansichten nicht unbedingt teile.

Nachfragen zu Ihren Wurzeln können doch auch der Ausdruck von echtem Interesse an Ihrer Person sein.

Ständig werde ich gefragt, woher ich stamme. Ich pflege dann zu antworten: «Aus Trub im Emmental.» Die Leute haken dann nach und sagen: «Nein, ich meine ursprünglich.» Dabei komme ich mindestens so sehr aus dem Kanton Bern wie aus dem Kongo und bin der Schweiz kulturell und sprachlich um ein Vielfaches mehr verbunden. Die Frage nach der Herkunft kann in der Tat Interesse signalisieren. Das Problem ist, dass darin Zweifel an der Legitimität meiner Anwesenheit mitschwingen. Und das ist verletzend für jemand, der schweizerischer ist als unzählige andere Personen, die hier leben, sich aber nie mit solchen Fragen herumschlagen müssen.

Wie werden Sie wahrgenommen, wenn Sie nach Kongo reisen?

Auch dort bin ich die «Ausländerin». Nur ist der soziale Status von Weissen in Afrika ein anderer als derjenige von Schwarzen in Europa. Da spielt natürlich viel Kolonialgeschichte hinein.

Im Zusammenhang mit Rassismus gibt der Umgang von Polizisten mit Schwarzen immer wieder zu reden. Es ist aber eine Tatsache, dass etwa der Kokainhandel in der Hand von Westafrikanern ist. Also kann man nachvollziehen, dass die Polizei auf der Strasse eher einmal eine schwarze Person kontrolliert.

Mich ärgern die Dealer auch, und ich wäre froh, wenn man das Drogenproblem lösen könnte – von mir aus auch mit einer repressiveren, klareren Polizeistrategie. Denn der Handel auf der Strasse sorgt dafür, dass andere Schwarze, die nicht im Geringsten etwas Illegales tun, in den gleichen Topf geworfen werden. Polizisten haben so einen Vorwand, um junge, schwarze Männer ohne ersichtlichen Grund zu kontrollieren. Wie oft sage ich meinen Kindern, dass sie aufpassen sollen, wie sie sich in der Öffentlichkeit kleiden und verhalten – viel mehr, als wenn ich eine weisse Mutter wäre. Gleichzeitig muss man sich bewusst sein, dass die Dealer die unterste Stufe eines Gesellschaftssystems sind, das ihnen eben nicht die gleichen Möglichkeiten gibt. Gäbe es weniger Kokainkonsumenten – oftmals weisse, erfolgreiche Leute –, gäbe es auch weniger Drogenhandel.

In Ihrem Dokumentarfilm sind ausschliesslich Frauen porträtiert. Warum?

Weil die Lebensrealität von Frauen in der Schweiz leider immer noch eine andere ist als diejenige von Männern. Das hat mit der Hautfarbe allerdings nichts zu tun.

Im Film sprechen eine Anwältin, die Kaderfrau einer Bank, eine Psychologin und so weiter – jedenfalls alles schwarze Frauen mit einer guten Ausbildung und einer hohen beruflichen Stellung. Warum?

Das war der Co-Produzentin und mir extrem wichtig, obwohl externe Berater fanden, dass wir die Gesellschaft breiter abbilden sollten. Unseres Erachtens hätte dies die Botschaft des Films aber abgeschwächt: Denn wenn sogar schwarze Frauen mit einer hohen gesellschaftlichen Stellung Diskriminierungen ausgesetzt sind, wie ergeht es dann erst den anderen? Hätten wir eine Putzkraft oder eine Kassierin gezeigt, hätten sich manche Zuschauer gedacht: «Was sie erleben, ist nicht okay. Aber anderen Frauen mit ihrem Beruf geht es gleich.» So rüttelt der Film mehr auf.

Der gewaltsame Tod von George Floyd hat weit über die USA hinaus für Proteste gesorgt. War er der Auslöser für den Film?

Floyd starb im Frühling 2020. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits daran, das Drehbuch zu schreiben. Die öffentliche Diskussion im Zuge der Gewalttat hat sicher dazu beigetragen, dass wir genügend Mittel auftreiben konnten, um eine TV-Dokumentation zu drehen. Und dank dem Filmverleih ist nun sogar ein Kinofilm daraus entstanden. In diesem Sinn hat George Floyds Tod zwei Seiten: Die unmenschliche Tat lässt einen sprachlos zurück. Aber sie hat einen gesellschaftlichen Diskurs ausgelöst, der sonst kaum möglich gewesen wäre.



«Je suis noires»

fum. Zusammen mit Juliana Fanjul hat die 48-jährige Rachel M’Bon den Dokumentarfilm «Je suis noires» realisiert. Sieben dunkelhäutige Schweizer Frauen erzählen von ihrer Identitätssuche, ihren Erfahrungen mit strukturellem Rassismus und ihrem Kampf um gesellschaftliche Anerkennung. M’Bons persönliche Erlebnisse und Selbstreflexionen, die jenen der anderen Frauen ähneln, dienen dem Film als roter Faden.

«Je suis noires» wird am Freitag am Festival Black Helvetia in La Chaux-de-Fonds gezeigt, das dieses Jahr zum ersten Mal stattfindet. Im Dezember kommt der Film auch in die Deutschschweiz: zuerst ans Human Rights Film Festival und später in ausgewählte Kinos.
(https://www.nzz.ch/schweiz/rachel-mbons-film-je-suis-noires-ueber-rassismus-in-der-schweiz-ld.1704700)


+++RECHTSPOPULISMUS
Dem Saal den Rücken zugekehrt : Zornige SVP macht Protestaktion im Nationalrat
Der indirekte Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative, der den gesetzlichen Weg zum Netto-Null-Ziel 2050 vorgibt, hat einen neuen Titel. Die SVP, die das Referendum gegen die Vorlage ergreifen will, ist darüber erzürnt. Bei der Abstimmung protestierte sie.
https://www.blick.ch/politik/dem-saal-den-ruecken-gedreht-zornige-svp-macht-protestaktion-im-nationalrat-id17922571.html


«Egal, solange es kein ‹Es› ist» – Maurer provoziert mit Aussage zu seiner Nachfolge
Ueli Maurer sagt, er habe keine Präferenz zum Geschlecht seiner Nachfolge – «solange es kein ‹Es› ist, geht es ja noch». Für die Aussage erntet er gemischte Reaktionen.
https://www.20min.ch/story/egal-solange-es-kein-es-ist-maurer-provoziert-mit-aussage-zu-seiner-nachfolge-455759486115
-> https://www.baerntoday.ch/schweiz/solange-es-kein-es-ist-maurer-provoziert-mit-queerfeindlicher-aussage-148175795
-> https://www.tagblatt.ch/news-service/inland-schweiz/ueli-maurer-solange-es-kein-es-ist-geht-es-ja-noch-transgender-netzwerk-schweiz-verlangt-entschuldigung-von-ueli-maurer-ld.2352977


+++RECHTSEXTREMISMUS
Französisches Neonaziforum startet „Dreckiger Jude“-Wettbewerb
Hetz-Website erlaubt offene Beleidigungen und Drohungen gegen politisch engagierte Juden in Frankreich
https://www.derstandard.at/story/2000139530771/franzoesisches-neonazi-forum-startet-dreckiger-jude-wettbewerb?ref=rss


«Alles ist unklar und gruslig – doch jetzt können wir eine bessere Zukunft schaffen»
Corona, Krieg, Inflation, Parteien, die offen mit dem Faschismus flirten: Derzeit folgt eine Krise auf die nächste. Politikwissenschaftlerin Natascha Strobl hat diese Entwicklungen an einem Republik-Event eingeschätzt. Der Livemitschnitt zum Nachhören.
https://www.republik.ch/2022/09/30/jetzt-koennen-wir-eine-bessere-zukunft-schaffen


Suworow-Denkmal bei Andermatt – Schweiz Aktuell
Trotz des russischen Angriffkriegs Russlands in der Ukraine fand in Andermatt die hährliche Suworox-Gedenkzeremonie statt. Die Feier beim Denkmal in der Schöllenenschlucht fiel kleiner aus als in früheren Jahren. Der Anlass wurde trotzdem zu Propagandazwecken benutzt.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/suworow-denkmal-bei-andermatt?urn=urn:srf:video:c4deef93-1b28-40c3-b6a5-7ae1f1df76fe



luzernerzeitung.ch 30.09.2022

«Alles im privaten Rahmen»: Urner Regierung nimmt Stellung zum Nachtwölfe-Treffen in Andermatt

Die Gedenkfeier für den russischen General Alexander Suworow vor seinem Denkmal in Andermatt: Konnte die Urner Regierung das Treffen nicht verhindern, oder wollte sie nicht?

Manuel Kaufmann

Der Kanton Uri hat in den letzten Tagen schweizweit für Schlagzeilen und Diskussionen in den sozialen Medien gesorgt. Grund ist die traditionelle Gedenkfeier für den russischen General Alexander Wassiljewitsch Suworow vor seinem Denkmal in der Schöllenenschlucht bei Andermatt, die vergangenen Samstag unter Anwesenheit des russischen Botschafters Sergei Garmonin und der Vertreter des Putin-nahen Bikeklubs Nachtwölfe stattfand.

Für die Propaganda der russischen Medien war die Zeremonie ein gefundenes Fressen. Die russische Nachrichtenagentur Tass schrieb triumphierend, dass die Feier trotz Widerstand der Schweizer Behörden habe stattfinden können.

Das Denkmal stehe auf einem Grundstück, das sich im Privatbesitz des russischen Staates befinde, schreibt das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf Anfrage von CH Media. Jedoch handle es sich dabei keineswegs um extraterritoriales Gebiet.

Auf die Frage, ob die Schweizer Behörden versucht hätten, die Durchführung des Anlasses zu verhindern, schreibt das EDA: «Der Entscheid zur Durchführung des Anlasses lag beim Kanton. Die Kantonsbehörden haben angeordnet, dass die Zeremonie mit Einschränkungen durchgeführt werden soll.»

Wegen privatem Rahmen keine Bewilligung nötig

Hätte die Urner Regierung die Zeremonie also verhindern können und wenn ja, warum hat sie es nicht getan? Verantwortlicher Regierungsrat ist Sicherheitsdirektor Dimitri Moretti. Auf Anfrage der «Urner Zeitung» antwortet er schriftlich mit folgendem Statement:

Am 24. September fand – wie jedes Jahr – eine Gedenkzeremonie beim Suworow-Denkmal statt. In diesem Jahr wurde jedoch nur eine kleine Zeremonie im privaten Rahmen abgehalten. Der Anlass fand zum Andenken an die sowjetischen Soldaten statt, die im Jahr 1799 anlässlich des Alpenfeldzugs unter General Suworow gefallen sind.

Vor dem Hintergrund des aktuellen kriegerischen Konflikts in der Ukraine habe ich das Gespräch mit der russischen Botschaft und dem EDA gesucht. Als Resultat der Gespräche wurde die Gedenkzeremonie am 24. September 2022 im «privaten Rahmen» durchgeführt. Die Kantonspolizei hatte ebenfalls Kontakt mit der russischen Botschaft. Bei diesen Gesprächen wurde unter anderem der Ablauf der Gedenkzeremonie abgesprochen.

«Privater Rahmen» bedeutet: Die Zeremonie wurde in der Folge personell und auch zeitlich stark redimensioniert. Es handelte sich um eine stille Zeremonie – ohne Musik, ohne Ansprachen, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Für diese schlichte Form der Zeremonie war keine Bewilligung notwendig. Die Frage, ob eine Bewilligung denn auch hätte erteilt werden können, hat sich für uns dieses Jahr nicht gestellt, da lediglich eine kleine, stille Zeremonie im privaten Rahmen stattfand.

Schon zu Kriegsbeginn wurden Stimmen aus der Bevölkerung laut, man solle das Denkmal abdecken oder den Zugang dazu verhindern. «Für den Kanton Uri gibt es viele andere Möglichkeiten, Solidarität mit dem ukrainischen Volk zu zeigen», hiess es damals seitens der Regierung. Zu den Fragen, was der Urner Regierungsrat vom Treffen verschiedener Putin-Anhänger im Kanton Uri hält oder wie die Regierung zum künftigen Umgang mit dem Denkmal und dazugehörigen Gedenkfeiern steht, nimmt Moretti keine Stellung.

Die Social-Media-Posts zu dem Thema:

    24 сентября возле Чёртова моста 🇨🇭 состоялась памятная церемония у монумента сподвижникам А.В.Суворова. В ней приняли участие Посол России в Швейцарии С.В. Гармонин, Посол Белоруссии в Швейцарии А.Д.Ганевич, представители Посольств 🇷🇺и 🇧🇾. pic.twitter.com/xIJr5psRrB
    — Russian Embassy Bern (@RusEmbSwiss) September 24, 2022

    Putins berüchtigte Biker-Propaganda-Gang tritt in Uri auf – mit dem Segen der Behörden. https://t.co/EPN8CEgxVi
    — watson News (@watson_news) September 29, 2022

    Man hätte das Suworow-Denkmal einfach schliessen können – wegen Steinschlaggefahr…
    Es sitzen zu viele Putinisten und dumme Politikerin unserer Regierung und in den kantonalen Behörden.🙈🙈@infokantonuri @EJPD_DFJP_DFGP ⁦@ignaziocassis⁩ https://t.co/hEumWA5lPU
    — Landscape Hunter (@DesertLoverCH) September 28, 2022

    Mit Botschafter: Putins «Nachtwölfe» feierten bei Suworow-Denkmal in Uri – BLICK https://t.co/5X8inKhABp
    — Politikfragen (@Politikfragen) September 28, 2022

    Vielleicht wollt Ihr ja schon mal das Suworow-Denkmal wegräumen. https://t.co/8f9DWPAwgr
    — Philipp Kästli (@philipp_kaestli) June 10, 2022
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/uri/suworow-denkmal-alles-im-privaten-rahmen-urner-regierung-nimmt-stellung-zum-nachtwoelfe-treffen-in-andermatt-ld.2351923)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Wie man Lügen enttarnt: Ein Werkstatt¬gespräch
Unwahrheiten hatten gerade in der Corona-Krise Hoch¬konjunktur. Da wird behauptet, vernebelt und desinformiert. Doch wie überführt man notorische Lügner? Die Republik-Reporter Daniel Ryser und Basil Schöni geben Einblick in ihre Arbeitsweise.
https://www.republik.ch/2022/09/30/wie-man-luegen-enttarnt-mit-daniel-ryser-und-basil-schoeni


+++ANTI-WOKE/DREADLOCKSMANIA/WINNETOUWHINING
aargauerzeitung.ch 29.09.2022

Zurich Film Festival – Gross war die sommerliche Aufregung um eine vermeintliche Cancel Culture bei Winnetou – doch dieser junge Häuptling ist den Ärger nicht wert

Nach zwei Vorstellungen am ZFF steht es schlecht um einen Schweizer Kinostart für den Winnetou-Kinderfilm. Das ist bedauerlich – könnte man mit seinem Beispiel doch einige Fragen der Repräsentation im Film diskutieren.

Tobias Sedlmaier

Er stehe prinzipiell für die Meinungsfreiheit ein und verurteile die überall grassierende Cancel Culture, verkündet Christian Jungen, der künstlerische Leiter des Zurich Film Festivals, gerne und bei jeder Gelegenheit. Wer wäre so ignorant, ihm in dieser Sache grundsätzlich zu widersprechen?

Es ist selbstverständlich, dass Kunstwerke jeglicher Art, in diesem Fall Filme, zunächst öffentlich sichtbar gemacht werden müssen, ehe man darüber streiten und diskutieren kann. Es ist ebenso merkwürdig wie mühsam, dass man eine so basale Erkenntnis im Jahr 2022 überhaupt aufschreiben muss.

Allerdings ist ein freier Zugang zu Filmen längst nicht mehr überall eine Selbstverständlichkeit. So wurde jüngst «Sparta» von Ulrich Seidl beim Toronto Film Festival aus dem Programm genommen – eine fragwürdige Entscheidung. Solange die gegen den Regisseur erhobenen Vorwürfe gegen die Drehbedingungen nicht juristisch aufgeklärt sind, ist eine Ausladung klare Vorverurteilung.

Eine sommerliche Dauererregung

Anders liegt der Fall beim am Zurich Film Festival vertretenen «Der junge Häuptling Winnetou», in dessen Fahrwasser im Sommer ebenfalls eine Kontroverse entbrannt war. Hier ging es zunächst konkret um Begleitmaterialien zum Film, darunter zwei Kinderbücher, die der deutsche Verlag Ravensburger aus seinem Programm nahm. Der richtige Shitstorm auf den sozialen Medien brach allerdings erst nachträglich aus, wie eine Datenanalyse des Content-Marketing-Anbieters Scompler zeigte.

Der Film wurde in Deutschland keineswegs gecancelt, sondern läuft dort seit dem 11. August in den Kinos, mässig erfolgreich. Er wurde von partiell deutlicher Kritik an seiner unzeitgemässen Machart begleitet, löste aber selbst keinen wirklichen Skandal aus. Doch das Sommerloch war dank «Winnetou»-Dauererregung gestopft: Selbst deutsche Politiker schalteten sich ein und wehrten sich dagegen, die Bücher ihres Kindheitshelden nicht mehr lesen zu dürfen – was niemand bei klarem Verstand gefordert hatte.
-> Trailer: https://youtu.be/IjtxyJ0Ije4

In der folgenden Mediendebatte wurde unter Totschlagworten wie «Woke Wahnsinn» alles unsauber in einen Topf geworfen, worüber man separat und sinnvoll hätte debattieren können: Über die nicht erneuerten Lizenzen der alten Winnetou-Filme beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Über Stereotype und rassistische Darstellungen von Native Americans generell. Oder über die ambivalente Rolle des Autors Karl May, der den Wilden Westen nicht aus eigener Anschauung kannte.

Scheut die Schweiz eine deutsche Debatte?

Doch wie sieht es hierzulande mit dem Film aus? Über einem möglichen Schweizer Kinostart von «Der junge Häuptling Winnetou» hängen mehr als nur dicke Fragezeichen. Nach einigen Telefonaten wird klar: So richtig wohl ist kaum einem der Befragten damit, über den Film zu sprechen. Von den Leonine Studios in Deutschland heisst es, man sei für den Schweizer Markt nicht zuständig. Falls Verleiher aus der Schweiz anfragen, könnte es aber durchaus noch einen Kinostart geben.

Vor Wochen war bereits ein Schweizer Kinostart kommuniziert worden, dabei fiel der Name Ascot Elite. Davon distanziert man sich heute beim Zürcher Vertriebsdienst: Man hatte den Film nie im Programm und sei auch jetzt nicht dafür zuständig. Zudem wisse man auch von keinem anderen Verleih, der plane, ihn ins Kino zu bringen.

Die Gründe dafür lägen in einer Vielzahl von Faktoren, darunter auch der Marktlage mit einer Ballung anderer Kinderfilme. Das klingt mehr nach vorauseilendem Gehorsam als nach einer von aussen oktroyierten Cancel Culture, wie sie Christian Jungen beklagt. Scheuen die sonst so debattenoffenen, gelassenen Schweizer eine Debatte, die im Nachbarland teils so hysterisiert geführt wurde?

Ein harmloses und zugleich fragwürdiges Vergnügen

Am ZFF läuft der Film lediglich zweimal öffentlich, eine Pressevorführung oder einen Vorab-Screener für Journalisten gab es nicht. Also begibt man sich klassisch in die gut gefüllte, aber nicht ausverkaufte Nachmittagsvorstellung. Dort, wo Kinder in Popcornhügelchen herumtollen und jedes Mal johlen, wenn auf der Leinwand jemand umkippt, der von einem Betäubungspfeil getroffen wurde, was recht häufig passiert. Und anschliessend stellt man fest: Der Film rechtfertigt keineswegs die Aufregung, doch man könnte ihn anschaulich für eine Debatte um zeitgemässe Repräsentation heranziehen.

Die gradlinig erzählte Geschichte des jungen, eigensinnigen Häuptlingssohns, der sich mit dem weissen Jungen Tom Silver anfreundet und mit seiner Hilfe den Apachenstamm rettet, entspringt mustergültig dem Baukasten des Kinderfilms. Als ein aus der Zeit losgelöstes Abenteuermärchen gesehen, stellt sie ein harmloses Vergnügen dar, garniert mit den üblichen Moralsprüchen: «Hör auf dein Herz!», «Gewalt ist keine Lösung!» oder «Zusammen ist man stärker als allein!»

Natürlich transportiert das eine schlichte Ideologie, aber Kinderfilme arbeiten allein wegen ihrer Zuschauerschaft oft mit unterkomplexer Weltreduktion und ja, auch mit Klischees. Zur moralischen Verdammnis oder gar Verbannung von den Leinwänden ob rassistischer Darstellung eignet sich dieser «Winnetou» als etwas naives Unterhaltungsprodukt nicht; erst recht nicht, wenn man die realpolitische Weltlage betrachtet. Und dennoch lässt sich einiges berechtigt gegen den Film einwenden.

Müssen sämtliche guten Absichten so umgesetzt werden? Muss alles nach Kostüm und Kulisse aussehen? Müssen die «edlen» und «naturverbundenen» Native Americans herumlaufen, wie zum Kinderkarneval zurechtgemacht? Muss man die altbekannten Bilder und Formen so passgenau erfüllen, dass man damit 50 Jahre hinter die (Film-)Geschichte zurückfällt? Und schliesslich, auch hinsichtlich der Besetzung: Muss ein deutscher Blick auf die Welt automatisch so deutsch sein?

«War Pony»: Ein wohltuendes Gegenbeispiel

Es wird ein Wunschtraum bleiben, dass aus solchen rhetorischen Fragen eine andere Debatte als die ewige, längst ermüdete um die Cancel Culture entwachsen würde. In einer solchen könnte man sich Gedanken machen nach möglichen Verantwortlichkeiten gegenüber der Vergangenheit oder danach, was Repräsentation im Film überhaupt bedeutet. Doch sie wird in der Schweiz zumindest für «Der junge Häuptling Winnetou» alleine schon wegen des unwahrscheinlichen Kinostarts ausbleiben.

Wer wirklich einen aktuellen Einblick in jene Welt werfen mag, die man vor allem ob ihrer immensen Vielfalt nicht leichtfüssig mit dem antiquierten Begriff «Indianer» labeln sollte, sei am ZFF «War Pony» ans Herz gelegt. In dem Spielfilm, bei dem Gina Gammell und die Elvis-Enkelin Riley Keough Regie führten, werden alltägliche Probleme wie Armut oder Kriminalität im Pine-Ridge-Reservat der Lakota in South Dakota differenziert und ohne Klischees aufgezeigt – und vor allem mit Beteiligung der Betroffenen umgesetzt. Was für Erwachsene geht, könnte auch für Kinder möglich sein.

– «Der junge Häuptling Winnetou»: Läuft am ZFF am Freitag um 13.30 Uhr im Arena.
– «War Pony»: Läuft am ZFF am Samstag um 13.30 Uhr im Kosmos.
(https://www.aargauerzeitung.ch/kultur/zurich-film-festival-gross-war-die-sommerliche-aufregung-um-eine-vermeintliche-cancel-culture-bei-winnetou-doch-dieser-junge-haeuptling-ist-den-aerger-nicht-wert-ld.2349278)


+++HISTORY
bernerzeitung.ch 30. September 2022

20 Jahre Recht auf Abtreibung: Sie hat dafür gekämpft – jetzt fürchtet sie Rückschläge

Noch bevor es die Fristenregelung gab, setzte sich Christine Sieber aus Bern für die Selbstbestimmung der Frau ein. Und sie kämpft weiter dafür.

Sabine Gfeller

Christine Sieber deutet auf das Gebäude vis-à-vis dem alten Frauenspital in der Berner Länggasse und sagt: «Dort führten wir in den 90er-Jahren die Beratungsgespräche, bevor die Frauen dann allenfalls hier», nun zeigt sie auf das alte Frauenspital selbst, «die Schwangerschaft abbrechen liessen.» Im runden Erker sei damals operiert worden. Heute ist im ehemaligen Gebäude des Frauenspitals die Universität Bern einquartiert.

Die 63-Jährige wohnt in der Berner Lorraine und hat sich bei der Arbeit für das Recht auf Schwangerschaftsabbruch eingesetzt – und das, noch bevor die Fristenregelung vor genau 20 Jahren in Kraft trat. 1992 hat sie begonnen, bei der Familienplanungsstelle des Frauenspitals zu arbeiten. Zuerst als Sekretärin, später als Beraterin.

Christine Sieber kannte die bedeutende Vorkämpferin des straffreien Schwangerschaftsabbruchs Anne-Marie Rey persönlich und arbeitete punktuell mit ihr zusammen. Rey, die 1937 auf die Welt kam und in Burgdorf aufwuchs, engagierte sich bereits Anfang der 1970er-Jahre hartnäckig für die Legalisierung der Abtreibung. Es war ihr Lebensthema, bis zu ihrem Tod 2016.

Liberaler Kanton

Unter bestimmten Voraussetzungen waren bereits vor der Fristenregelung Abtreibungen erlaubt. Im Kanton Bern etwa herrschte laut Sieber eine recht liberale Haltung. Massgebend war, dass sich die Frau in einer Notlage befand – physisch, psychisch oder sozial. Dies beurteilte aber nicht die Betroffene selbst, sondern eine Ärztin oder ein Arzt.

Auf der Familienplanungsstelle erhielten die Frauen kostenlos Beratungen. Während der Hunderten Beratungen, die Sieber durchführte, erfuhr sie, in welch unterschiedlichen Situationen Frauen eine solche Entscheidung treffen mussten.

Christine Sieber schildert einige dieser Situationen: Da gab es die Mutter, die kein drittes Kind wollte – weil sie befürchtete, den beiden ersten sonst kein gutes Leben bieten zu können. Da gab es die Frau, die einen Partner hatte – der aber nicht der Vater war. Oder Frauen, die sich zu jung fühlten – oder zu alt. Die eine Frau konnte es sich nicht vorstellen, ein Kind allein grosszuziehen – die andere schon. Jede entscheide anders.

Aus einem mache viele

Sie habe die Frauen dazu ermutigt, selber zu bestimmen, welche Lösung für sie «richtiger» sei, sagt Sieber. Richtiger, weil es immer Dafür und Dawider gebe.

Diese Unterstützung konnte so aussehen, dass ein riesiger Haufen Probleme, dem eine Frau gegenüberstand, in kleinere Häufchen aufgeteilt wurde. So blieben dann nur noch einzelne Fragen offen wie etwa: Wie viel Zeit bleibt mir für den Entscheid? Zudem galt es zu klären: Mit wem hat sie bereits gesprochen? Sieber sagt, dass damit niemand allein sein sollte.

Neues Gesetz, neue Frauenklinik

Erst vor 20 Jahren änderte sich der rechtliche Rahmen. «Das war ein grosses Ereignis, als damals im Juni die Schweizer Bevölkerung die Fristenregelung angenommen hat», ihre Stimme wird schneller. «Das war unglaublich.» Mit 72 Prozent.

Sieber war zu dieser Zeit am Kistenpacken, das Frauenspital zog weg von der Schanzeneckstrasse. Als das Gesetz noch am 1. Oktober desselben Jahres in Kraft trat, war die Beratungsstelle schon in der neuen Frauenklinik auf dem Insel-Gelände untergebracht.

Die Fristenregelung, die bis heute gilt, erlaubt einen selbstbestimmten Abbruch. Das Gutachten fällt – bis zur zwölften Schwangerschaftswoche – weg. In dieser Phase kann die Frau ihre Notlage selbst definieren.

Nach der zwölften Woche beurteilt weiterhin eine Ärztin die Situation. Das Gesetz sagt: Je weiter fortgeschritten die Schwangerschaft ist, desto schwerwiegender müssen die Gründe für einen Abbruch sein.

Wo genau sie am Tag der Annahme war, weiss Sieber nicht mehr. Die Frauenrechtlerin Anne-Marie Rey hingegen wüsste das von sich selbst sehr wahrscheinlich, meint Sieber.

Der Anne-Marie-Rey-Fonds

Sieber hat gemeinsam mit Rey gekämpft: «Sie war eine Frau, die ein unglaubliches Engagement an den Tag legte.» Vor allem im Zusammenhang mit einem Hilfsfonds habe sie eng mit ihr gearbeitet, sagt Sieber. «Da organisierte Anne-Marie Geld, viel Geld, um diesen Fonds für Frauen zu eröffnen, die in finanzieller Notlage sind und sich keinen Schwangerschaftsabbruch leisten können.»

Denn ein Abbruch wird in der Schweiz zwar von der Grundversicherung übernommen, jedoch abzüglich Franchise und Selbstbehalt. Bei einer Franchise von 2500 Franken können sich das manche Frauen nicht leisten. Oder einige junge Frauen können das Risiko nicht eingehen, über die Krankenkasse abzurechnen. Weil niemand erfahren darf, dass sie einen Abbruch machen. Insbesondere die Eltern nicht.

Nach Anne-Marie Reys Tod wurde der Fonds nach ihr benannt. Seither konnte jedoch niemand so viel Energie in das Fundraising stecken wie Rey, wie Sieber sagt. Deshalb sei er am Serbeln.

Rückschritten vorbeugen

Viele Bewegungen, die gegen das Recht der Wahlfreiheit bei Schwangerschaftsabbrüchen seien, würden von Männern angeführt, sagt Sieber. Sie verweist auf Kundgebungen, an denen gegen Abtreibungen demonstriert wird: «Da marschieren in den vordersten Reihen fast nur Männer.» Dabei gehe es ja um den Körper der Frau.

«Wenn man nichts macht, gibt es Rückschritte.» Dies habe die Initiative «Abtreibungsfinanzierung ist Privatsache» von 2014 gezeigt. Doch sie wurde haushoch abgelehnt. «Wenn die Abtreibung nicht weiterhin von der Grundversicherung übernommen würde…», Christine Siebers Stimme wird am Ende des Satzes lauter, sie zieht die Stirn hoch, schüttelt den Kopf und fährt leise fort: «Nein, das mag ich mir gar nicht vorstellen.» Und sagt dann doch: «Die Frau bliebe auf den Kosten sitzen.» Und der Vater des Kindes – vielleicht zahle er, vielleicht aber auch nicht. Das sei ja nicht geregelt.

In den Vereinigten Staaten gibt es seit vergangenem Sommer kein landesweites Recht auf Abtreibung mehr. In Ungarn sollen sich die Frauen den dortigen Medien zufolge vor einem Schwangerschaftsabbruch die Herztöne des Embryos anhören müssen – falls der Herzschlag noch nicht zu hören ist, müssen sie ihn abwarten und werden damit moralisch unter Druck gesetzt. Und in Italien befürchten manche ebenfalls eine Verschärfung des Abtreibungsrechts wegen der neu gewählten, postfaschistischen Regierungschefin Giorgia Meloni.

«Dieser Backlash macht mir Sorgen», gesteht Sieber. Denn auch in der Schweiz wurden letzten Winter zwei Initiativen eingereicht, die das Abtreibungsrecht verschärfen würden. Die sogenannte «Einmal darüber schlafen»-Initiative verlangt etwa, dass mindestens 24 Stunden zwischen einem Beratungsgespräch und dem Schwangerschaftsabbruch vergehen müssten. «Das wäre ein Eingriff in die Selbstbestimmung der Frau», sagt Sieber erzürnt.

Im Strafgesetz verankert

Die Fristenregelung ist bis heute im Strafgesetz verankert. «Auch wenn sich die Frauen in der legalen Zeitspanne befinden, fühlt es sich für viele an, als würden sie etwas Strafbares machen», sagt Sieber.

Die Frau muss für eine Abtreibung bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ein schriftliches Gesuch bei ihrem Arzt einreichen. Ab der dreizehnten Woche ist dieser dann dazu verpflichtet, ein beratendes Gespräch mit ihr zu führen und zu bestätigen, dass sich die schwangere Frau in einer Notlage befindet. In einer späten Schwangerschaftswoche, zum Beispiel der 24., liegt laut Sieber eine solche Notlage etwa vor, wenn die Frau suizidgefährdet oder der Fötus fehlgebildet ist.

Werden die gesetzlichen Vorgaben nicht eingehalten, müssen sowohl die betroffene Frau als auch der Arzt oder die Ärztin mit einer Freiheits- oder Geldstrafe rechnen.

Das sei für die Frauen stigmatisierend und wie ein Korsett, findet Sieber. Deshalb fordert sie gemeinsam mit ihrem heutigen Arbeitgeber, Sexuelle Gesundheit Schweiz, in einer Petition: «Meine Gesundheit – Meine Wahl». Damit soll die Fristenregelung aus dem Strafgesetzbuch gestrichen und stattdessen etwa in einem Gesetz zur Gesundheit verankert werden. Ein Nebeneffekt dieser Petition wäre, dass sich die Frau mit einer Abtreibung in keinem Fall mehr strafbar machen würde.

Siebers Freundinnen, entfernte Bekannte oder Teammitglieder bei der Arbeit finden alle, die Fristenregelung habe «nichts» im Strafgesetzbuch verloren. «Aber natürlich gibt es Gegenwind zur Petition», hält Sieber fest. Sexuelle Gesundheit Schweiz mache viel Medienarbeit dazu. Da kämen Reaktionen wie: «Sie soll doch vorher schauen.» Es seien dieselben Kommentare wie damals in den 90ern.

Sieber verweist darauf, dass es für eine Schwangerschaft ja zwei brauche. Und trotzdem richte sich der Fokus kaum auf die Männer. Dass man das so einseitig den Frauen anlastet, findet sie «extrem ungerecht». Sie pustet das «extrem» aus.

Heute berät Sieber beruflich nicht mehr Frauen während einer Schwangerschaft. Stattdessen ist sie für Projekte zu reproduktiver Gesundheit zuständig. Doch sie ist nach wie vor überzeugt: «Frauen sind Expertinnen ihres eigenen Lebens.»
(https://www.bernerzeitung.ch/sie-hat-dafuer-gekaempft-jetzt-fuerchtet-sie-rueckschlaege-947605946197)