Medienspiegel 21. September 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel/

+++BASEL
Ukrainerin muss vier Stunden täglich pendeln – trotz Festanstellung: Basel verbietet junger Mutter den Zuzug
Eine alleinerziehende Mutter aus der Ukraine, die bei der Basler Pharma eine Fixanstellung gefunden hat, darf nicht zuziehen. Der Kanton Basel-Stadt will sie weiterhin fast vier Stunden täglich pendeln lassen. Jetzt reagiert die Politik auf die Schmach von Basel.
https://www.blick.ch/politik/ukrainerin-muss-vier-stunden-taeglich-pendeln-trotz-festanstellung-basel-verbietet-junger-mutter-den-zuzug-id17896946.html


+++ZUG
Propaganda-Vorwürfe: Russin kündigt als Flüchtlingsbetreuerin in Zug
Ukrainische Flüchtlinge werfen einer Betreuerin vor, russische Propaganda zu verbreiten. Nun hat die Frau von sich aus ihren Job gekündigt.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/russin-kuendigt-als-fluechtlingsbetreuerin-in-zug-2454525/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/ukraine-krieg-nach-propagandavorwuerfen-russische-betreuerin-hat-beim-kanton-zug-gekuendigt-ld.2344938


+++ZÜRICH
Viele Ukraine-Flüchtlinge leben immer noch bei Gastfamilien
Rund 60’000 Menschen aus der Ukraine sind bereits in den Kanton Zürich geflüchtet. Die Gemeinden handhaben ihre Unterbringung bis jetzt unterschiedlich: bei Gastfamilien, in Wohnungen oder grösseren Unterkünften. Doch: Wie geht es weiter, wenn im Winter noch mehr Menschen in die Schweiz flüchten?
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/viele-ukraine-fluechtlinge-leben-immer-noch-bei-gastfamilien?id=12257389


+++SCHWEIZ
Debatte im Parlament – SVP scheitert mit Vorstössen – Schutzstatus S bleibt unverändert
Der Zugang zum Status für Geflüchtete aus der Ukraine bleibt wie bisher. Die SVP wollte ihn erschweren.
https://www.srf.ch/news/schweiz/debatte-im-parlament-svp-scheitert-mit-vorstoessen-schutzstatus-s-bleibt-unveraendert
-> https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2022/20220921171444266194158159038_bsd129.aspx
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/svp-scheitert-mit-aufweichung-von-schutzstatus-s?partId=12257962


Bund, Kantone und Gemeinden bereiten sich auf Herausforderungen im Asylbereich vor
Die Asylbehörden in der Schweiz sind neben den Folgen der anhaltenden Krise in der Ukraine auch mit einer stetig steigenden Zahl neuer Asylgesuche konfrontiert. Bund, Kantone, Städte und Gemeinden arbeiten insbesondere bei der Bereitstellung einer ausreichenden Zahl von Unterkünften eng zusammen, damit die Asylverfahren auch weiterhin rasch und in den vorgesehenen Prozessen abgeschlossen werden können. Bundesrätin Karin Keller-Sutter bedankte sich an der heutigen Sitzung des Sonderstabs Asyl bei allen beteiligten Stellen des Bundes, der Kantone, der Städte und der Gemeinden für die grossen Leistungen, die sie in den letzten Monaten gemeinsam erbracht haben.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-90439.html


Zu wenig Plätze für Asylsuchende: Nun muss der Bund auf Unterkünfte für Ukrainer zurückgreifen
Unterkünfte, die eigentlich für ukrainische Geflüchtete bereitgestellt wurden, sollen bald auch Asylsuchende beherbergen. Laut dem Staatssekretariat für Migration reichen die Plätze in den Bundesasylzentren mittelfristig nicht aus.
https://www.aargauerzeitung.ch/news-service/inland-schweiz/migration-zu-wenig-plaetze-fuer-asylsuchende-nun-muss-der-bund-auf-unterkuenfte-fuer-ukrainer-zurueckgreifen-ld.2347132


++++DEUTSCHLAND
Besserer Schutz für queere Geflüchtete
Bei Asylanträgen soll das Verhalten im Herkunftsland künftig keine Rolle mehr spielen
LGBTIQ-Personen können in Deutschland künftig Asyl bekommen, auch wenn sie ihre Sexualität oder Identität im Herkunftsland nicht ausleben würden.
https://www.nd-aktuell.de/artikel/1167101.lgbtiq-rechte-besserer-schutz-fuer-queere-gefluechtete.html
-> https://taz.de/Kriterium-fuer-Abschiebung-faellt-weg/!5879800/


Cellebrite : Bayerische Behörde knackt Handys von Geduldeten
Ausländerbehörden dürfen die Geräte von ausreisepflichtigen Menschen durchsuchen, um Hinweise auf deren Staatsangehörigkeit zu bekommen. In Bayern setzt das Landesamt für Asyl und Rückführungen dafür neuerdings Software ein, die sonst die Polizei bei Ermittlungen nutzt.
https://netzpolitik.org/2022/cellebrite-bayerische-behoerde-knackt-handys-von-geduldeten/


+++MALTA
»Die drei sind keine Piraten, sondern Lebensretter«
Geflüchteten droht in Malta Haft, weil sie Rückverschleppung nach Libyen durch Verhandlungen abgewendet haben. Gespräch mit Karl Kopp
https://www.jungewelt.de/artikel/435180.eu-abschottungspolitik-die-drei-sind-keine-piraten-sondern-lebensretter.html


+++MITTELMEER
Seenotrettung im Mittelmeer: 400 Menschen dürfen an Land
Das deutsche Rettungsschiff Humanity 1 hat hunderte Menschen aus Seenot gerettet. Nach langer Suche nach einem sicheren Hafen hat Italien eine Zusage gegeben.
https://taz.de/Seenotrettung-im-Mittelmeer/!5883127/


+++JENISCHE/SINTI/ROMA
ajour.ch 21.09.2022

Tissot Arena – Rote Köpfe beim EHC Biel: Fahrende besetzen VIP-Parkplätze

Sportlich läuft es beim EHC Biel gut. Neben dem Eis hat er jedoch Probleme mit Fahrenden und blockierten Parkplätzen.

Redaktion  ajour

Bei der Tissot Arena in Biel besetzen aktuell Fahrende einen ganzen Parkplatz. Ausgerechnet die Aussenparkplätze nördlich vom Stadion, welche der EHC Biel bei seinen Heimspielen für die Donatorinnen und Donatoren benötigt. Deshalb hat der Verein gestern beim Derby gegen den SC Bern Ersatzparkplätze in der Nähe organisieren müssen.

«Das ist in der Tat sehr ärgerlich,» sagt Daniel Villard, Geschäftsführer des EHC Biel: «Wir haben sofort, nachdem der Parkplatz besetzt wurde, interveniert. Einerseits beim Besitzer des Parkplatzes, andererseits auch bei der Sicherheitsdirektion der Stadt Biel, damit das Nötige in die Wege geleitet wird, um den Platz zum Saisonstart frei zu kriegen. Diesen benötigen wir für unsere Donatoren.»

EHC Biel aktuell machtlos

Es hätte dann verschiedene Verhandlungen gegeben zwischen der Polizei und den Fahrenden. Bisher habe es aber keine Einigung gegeben. Die Fahrenden haben deshalb bei den ersten beiden Heimspielen des EHCB den Parkplatz blockiert. Daniel Villard bedauert dies: «Mein Stand ist aktuell, dass wir keine Lösung haben. Die rechtliche Situation lässt es nicht zu, dass der Platz geräumt werden kann. Es ist sehr ärgerlich. Wenn ich als Privatperson eine halbe Stunde mein Auto zu lange stehen lasse, dann habe ich sofort eine Busse. Fahrende können sich da wochenlang breitmachen, ohne dass man wirklich etwas dagegen machen kann.»

Rund 180 Donatorinnen und Donatoren haben eine Parkkarte für das Feld. Beim EHC Biel geht man davon aus, dass die Fahrenden auch die nächsten drei Heimspiele – bis Anfang Oktober – noch da sein werden.

Canal 3 Nachrichten von 12:00
https://web.canal3.ch/de/sendungen/220921-21092022-nachrichten-von-1200-uhr
(https://ajour.ch/story/rote-kpfe-beim-ehc-biel-fahrende-besetzen-vipparkpltze/29103)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
«Lassen Sie sich nicht einschüchtern!»
Früher hat Richter Roger Harris Klimaaktivisten verurteilt. Heute spricht er sie konsequent frei. Sonst würden bald alle friedlichen Demonstranten verfolgt, befürchtet er.
https://www.republik.ch/2022/09/21/am-gericht-lassen-sie-sich-nicht-einschuechtern



Beim Sprayen erwischt : In Bern kommt es womöglich zu einem Pussy-Riot-Prozess
Die drei Sprayerinnen von Pussy Riot wehren sich gegen die Strafbefehle. Hält die Gemeinde Köniz an ihrer Anzeige fest, wird der Fall vor Gericht verhandelt.
https://www.20min.ch/story/in-bern-kommt-es-womoeglich-zu-einem-pussy-riot-prozess-171820414531
-> https://www.baerntoday.ch/bern/aktivistinnen-von-pussy-riot-wehren-sich-gegen-anzeige-148035564



ajour.ch 21.09.2022

Tod von Mahsa Amini – Protestaktion auf dem Bahnhofplatz in Biel: Kurdinnen schmeissen Kopftuch hin

Am Mittwochabend haben auf dem Bahnhofplatz in Biel Kurdinnen aus der ganzen Schweiz gegen die Unterdrückung der Frauen protestiert. Anlass dafür ist der Tod einer jungen Iranerin.

Mengia Spahr

«Jin, Jyan, Azadi – Frauen, Leben, Freiheit» haben am Mittwochabend um 18.00 Uhr rund 60 Kurdinnen und Kurden skandiert. Sie sind in Biel zusammengekommen, um gegen die «systematische Unterdrückung der Frauen» zu protestieren.

Anlass ist der Tod der 22-jährigen Jina Mahsa Amini. Die junge Iranerin ist am Freitag vor einer Woche verstorben, nachdem sie von der Sitten- und Religionspolizei festgenommen wurde, weil sie ihr Kopftuch nicht «richtig» trug. Was genau nach der Festnahme passiert ist, ist unklar. Mahsa Amini fiel jedenfalls ins Koma. Die Polizei sprach von Herzproblemen, im Internet kursierte jedoch eine Version, wonach die 22-Jährige von der Polizei zu Tode geprügelt worden sei. Ein Foto von ihr im Krankenbett und mit Beatmungsgerät ging um die Welt.

Mahsa Aminis Tod hat im Iran eine Protestwelle gegen die Sittenpolizei ausgelöst. Sicherheitskräfte gingen zum Teil hart gegen die Protestierenden vor; es gab Tote.

In Biel solidarisierten sich gestern die Kurden und Kurdinnen mit den Menschen, die im Iran auf die Strasse gehen. Es sei die erste solche Protestaktion in der Schweiz gewesen – weitere sollen diese Tage in Aarau und Zürich folgen, sagte Sema Duruk vom kurdischen Frauenverein Biel. Rund 45 Minuten hielten die Kurdinnen und Kurden Reden und schwenkten ihre Fahnen. Dann zündete eine junge Frau ein Kopftuch an und weitere warfen bunte Tücher auf den Bahnhofplatz.
(https://ajour.ch/story/protestaktion-auf-dem-bahnhofplatz-in-biel-kurdinnen-schmeissen-kopftuch-hin/29198)



„#LU2109 Demo gegen das #Schlumberger Digital Forum im #KKL Luzern„
https://twitter.com/___R___EL/status/1572624394043662339
-> Demo-Aufruf: https://resolut.noblogs.org/post/2022/09/14/keine-erdoelparty-in-luzern/


Post, Restaurant, Bordell und jetzt besetzt: Die «Alte Post» in Seebach
Besetzer:innen haben am Montag die «Alte Post» in Seebach besetzt. Sie fordern eine öffentliche und unkommerzielle Nutzung der Liegenschaft – mit diesem Anliegen stehen sie nicht alleine da. Auch der Quartierverein Seebach wünscht sich eine öffentliche Nutzung des ehemaligen Postgebäudes. Eigentümer der Liegenschaft ist ein bekannter und umstrittener Immobilienbesitzer: Fredy Schönholzer.
https://tsri.ch/zh/aktivist-innen-besetzen-restaurant-alte-post-in-zuerich-seebach-kreis11.du3GgsbiEhnjsZYr


+++GASSE
Inflation auch bei Caritas
Die Teuerung macht selbst vor dem Caritas-Markt in Biel nicht halt. Reaktionen der UNIA und der Wirtschaftskammer Biel-Seeland.
https://web.telebielingue.ch/de/sendungen/info/2022-09-21


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Nationalrat für gesichertes Aufenthaltsrecht trotz Sozialhilfe
Ausländerinnen und Ausländer, die von Sozialhilfe abhängig werden, sollen deswegen ihr Aufenthaltsrecht nicht verlieren, wenn sie seit mindestens zehn Jahren ununterbrochen in der Schweiz gelebt haben und ihre Lage nicht mutwillig herbeigeführt haben. Das will der Nationalrat.
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2022/20220921185735332194158159038_bsd152.aspx
-> https://www.woz.ch/zoo/2022/09/21/ein-sozialpolitischer-coup


+++BIG BROTHER
«Konstruiert wirkende Fälle»: Medienschaffende wehren sich mit Händen und Füssen gegen NDG-Revision
Obwohl die Revision des Bundesgesetzes über den Nachrichtendienst (NDG) den Quellenschutz tangiert, wurden weder Medienorganisationen noch Medienhäuser vom Bundesrat zur Vernehmlassung eingeladen. Das allein ist schon eine Story.
https://www.kleinreport.ch/news/konstruiert-wirkende-falle-medienschaffende-wehren-sich-mit-handen-und-fussen-gegen-ndg-revision-100345/


+++POLICE BE
Kanton Bern: Beweissicherungskameras in ordentlichen Betrieb überführt
Die Kantonspolizei Bern hat den seit August 2021 laufenden Pilotversuch mit Beweissicherungskameras unverändert in den ordentlichen Betrieb überführt. Mit den Beweissicherungskameras, die am Körper getragen werden, wird die Dokumentation von Straftaten unterstützt.
https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=8e684aaf-f3ee-48c1-9bff-3e7aaa16d3c2
-> https://www.derbund.ch/polizei-filmt-mit-bodycams-bei-heiklen-einsaetzen-481231126952
-> https://www.20min.ch/story/berner-kantonspolizei-fuehrt-definitiv-bodycams-ein-882608032512
-> https://www.baerntoday.ch/bern/stadt-bern/berner-polizei-setzt-jetzt-auf-bodycams-148037894
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/bernmobil-hohe-energiepreise-sorgen-fuer-millionenverlust?id=12257926



derbund.ch 21.09.2022

Umstrittene Kameras: Polizei will Bodycams künftig auch an Demos einsetzen

Nach einem Pilotversuch werden die Bodycams bei der Kantonspolizei definitiv eingeführt. Sie sollen helfen, in Einzelfällen Straftaten zu dokumentieren.

Michael Bucher, Andres Marti

Jetzt ist es definitiv: Im Kanton Bern können Polizistinnen und Polizisten auf dem Körper getragene Videokameras zur Beweissicherung einsetzen. Dies hat die Kantonspolizei nach einem rund einjährigen Pilotversuch entschieden, wie sie am Mittwoch mitteilte. Der Bodycam-Einsatz geht auf ein Postulat zurück, das der bernische Grosse Rat im Jahr 2016 überwiesen hat.

Die Rahmenbedingungen des Testlaufs sollen eins zu eins übernommen werden. Das heisst: Die insgesamt 32 Kameras (Kostenpunkt: 32’000 Franken) dürfen nur dann eingeschaltet sein, «wenn eine Straftat unmittelbar bevorsteht oder bereits begangen worden ist». Eine präventive Anwendung zur Verhinderung von Straftaten ist nicht erlaubt. Der Entscheid, ob das Bildmaterial in einem allfälligen Verfahren verwendet wird, obliegt der Staatsanwaltschaft. Aufnahmen, die nicht verwendet werden, sollen laut Polizei spätestens nach 30 Tagen unwiderruflich gelöscht werden. Mehr Kameras anzuschaffen, sei derzeit nicht geplant.

Nur im Einzelfall erlaubt

Auch der Grosse Rat muss der definitiven Einführung der Bodycams nicht mehr zustimmen. Der Regierungsrat kam bereits vor Beginn der Einführung des Pilotprojekts zum Schluss, dass die bestehende gesetzliche Grundlage ausreiche, wenn die Kameras bloss im Einzelfall zur Beweissicherung zur Anwendung kommen. Nur bei einem flächendeckenden Einsatz wäre eine Änderung des Polizeigesetzes nötig.

Tatsächlich war es der Polizei schon zuvor erlaubt, bei öffentlichen Veranstaltungen zu filmen – etwa bei Hochrisikospielen im Fussball oder bei unbewilligten Kundgebungen. Gefilmt wird in solchen Situationen aus Fahrzeugen heraus oder mit Handkameras. «Ob mit einer Handkamera gefilmt wird oder mit einer Körperkamera, ist kein grosser Unterschied», meinte Sicherheitsdirektor Philippe Müller (FDP) dazu zu Beginn des Pilotprojekts.

Auswertung bleibt unter Verschluss

Die Einführung der «Beweissicherungskameras», wie sie im Polizeijargon genannt werden, wirft dennoch Fragen auf: Welche Erkenntnisse hat die Polizei beim einjährigen Pilotversuch gewonnen? Wie und wo wurden die Kameras eingesetzt? Da die Polizei den Abschlussbericht zur Pilotstudie unter Verschluss hält, bleibt insbesondere die Frage nach dem Nutzen der Bodycams offen. Während des Pilotversuchs wurden laut Kapo in einem Fall Aufzeichnungen einer Kamera zur Täterverfolgung verwendet.

Laut der Kantonspolizei wurden die Geräte monatlich gesamthaft rund 1000 Stunden im Dienst getragen. Unklar bleibt aber, bei wie vielen Einsätzen die Polizei die Bodycams im Testjahr auch tatsächlich eingeschaltet hat. Eine Statistik scheint es nicht zu geben.

Eingesetzt worden sind die Kameras laut Polizei hauptsächlich durch grössere Patrouillen, die in der Regel aus vier bis sechs Polizistinnen und Polizisten bestehen. Diese seien in erster Linie an den Wochenenden an stark frequentierten Orten und Brennpunkten unterwegs oder würden bei Bedarf kantonsweit bei akuten Ereignissen beigezogen.

Doch wie kann ein Polizist oder eine Polizistin wissen, ob eine Straftat unmittelbar bevorsteht? Laut Polizei ergibt sich das im Einzelfall aus der jeweiligen Situation. «Entsprechende Ereignisse können beispielsweise Schlägereien, Sachbeschädigungen, Ausschreitungen bei Kundgebungen, Angriffe oder auch die Räumung von besetzten Liegenschaften sein, wenn sich die Besetzerinnen und Besetzer gewaltsam zur Wehr setzen», schreibt die Pressestelle auf Anfrage.

Filmen an Demos

Ein weiterer heikler Punkt ist der Einsatz der Bodycams an Demonstrationen. Laut der Berner Polizei sollen sie künftig nämlich auch bei «Ordnungsdiensteinsätzen» zum Einsatz kommen. Dazu zählen Kundgebungen und Sportveranstaltungen. Anders ist die Praxis in Zürich. Dort hat das Stadtparlament den Einsatz der Kameras an Demos explizit verboten.

Auch in einem anderen Einsatzbereich gibt es Unterschiede zwischen den beiden Kantonen: Während in Zürich auch Bürgerinnen und Bürger aus Eigenschutz verlangen können, dass die Kamera während einer Kontrolle zum Einsatz kommt, heisst es in Bern von der Kapo: «Der Entscheid, ob die Kamera eingeschaltet wird oder nicht, obliegt dem Polizisten oder der Polizistin in der jeweiligen Situation und nicht dem Gegenüber.»

Nutzen umstritten

Der Nutzen der Körperkameras ist nicht eindeutig nachgewiesen: In der Schweiz führte die Stadt Zürich 2017 ebenfalls einen Pilotversuch durch. Zwar wurde ein leichter Rückgang an eskalierenden Situationen verzeichnet, eindeutige wissenschaftliche Argumente für oder gegen den Einsatz von Bodycams wurden jedoch keine festgestellt. Trotzdem hat letzten Sommer das Zürcher Stadtparlament den definitiven Einsatz von 36 Bodycams beschlossen.

Der Verband Schweizerischer Polizei-Beamter steht gemäss einem aktuellen Positionspapier hinter der Einführung der Körperkameras – unter der Voraussetzung, dass die gesetzlichen Grundlagen eng definiert und national harmonisiert werden. Noch vor ein paar Jahren lehnte der Verband Bodycams explizit ab. «Das grosse bestehende Vertrauen in die Polizei könnte durch ein solches Hilfsmittel Schaden nehmen», hiess es damals.
(https://www.derbund.ch/polizei-will-bodycams-kuenftig-auch-an-demos-einsetzen-476760180146)


+++RECHTSPOPULISMUS
Wegen Instagram-Post: Junge SVP Aargau zeigt Grünen-Politikerin an
Die Junge SVP Aargau reicht eine Strafanzeige gegen Grünen-Politikerin Vera Becker ein. Diese hatte Anfang September mit einem Instagram-Post für Aufruhr bei der SVP gesorgt.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/fck-svp-wegen-instagram-post-junge-svp-aargau-zeigt-gruenen-politikerin-an-ld.2347187


+++RECHTSEXTREMISMUS
Stadtberner SVP distanziert sich von Rechtsextremisten
Am letzten Sonntag besuchten ungefähr 160 Gäste den alljährlichen «Burezmorge» der Stadtberner SVP. Unter den Gästen zählten offenbar auch Mitglieder der rechtsextremen Gruppierung «Junge Tat». Laut dem Parteipräsident Thomas Fuchs haben sich die Neonazis unbemerkt unter die Menschen gemischt. Fuchs distanziert sich von der Gruppierung.
https://tv.telebaern.tv/telebaern-news/stadtberner-svp-distanziert-sich-von-rechtsextremisten-148042970
-> https://www.baerntoday.ch/bern/so-reagiert-die-stadtberner-svp-wir-haben-mit-dieser-ideologie-nichts-am-hut-148044032


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Saferphone: Initianten wollen sich neu aufstellen
Weil der Verein hinter einer Volksinitiative gegen Handystrahlung Verschwörungstheorien verbreitete, wollen sich die «Saferphone»-Initianten neu aufstellen.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/saferphone-initianten-wollen-sich-neu-aufstellen-66282734


Saferphone-Initiative : Das Schwurbler:innen-Dilemma
Die Grünen unterstützen eine Initiative zum Schutz vor Mobilfunkstrahlung. Fördern sie damit verschwörungstheoretische Kreise? Das Komitee reagiert auf die Kritik.
https://www.woz.ch/2238/saferphone-initiative/saferphone-initiative-das-schwurblerinnen-dilemma/%21SZF73PRBK2TP


Neues Initiativkomitee: Zwietracht unter den 5G-Skeptikern
Die Trägerschaft der Initiative gegen Mobilfunkstrahlung bricht entzwei: Die linken Nationalrätinnen und -räte im Komitee gehen auf Distanz zum Verein Frequencia, der mit fragwürdigen Aussagen auffiel.
https://www.tagesanzeiger.ch/zwietracht-unter-den-5g-skeptikern-564047468203


+++FUNDIS
Lügen als Strategie: So werben Sekten in der Schweiz um Mitglieder
Sie verteilen Glückskekse, veranstalten Online-Kurse oder schleusen Zielpersonen in Bibelkreise ein: Sekten kennen längst nicht nur eine Variante, um ihre Mitgliederzahlen zu erhöhen. Die besten Opfer sind Menschen, die sich in Lebenskrisen befinden.
https://www.baerntoday.ch/bern/so-werben-sekten-in-der-schweiz-um-mitglieder-148037891


+++HISTORY
Die Nazis waren Hyperkapitalisten
Konservative und Liberale behaupten immer wieder, die Nazis seien Sozialisten gewesen. Wie die Wirtschaftspolitik der Nazis wirklich aussah, erläutert der Historiker Ishay Landa im JACOBIN-Interview.
https://jacobin.de/artikel/die-nazis-waren-hyperkapitalisten-ishay-landa-interview-faschismus-wirtschaftsliberalismus/


+++ANTI-WOKE/DREADLOCKMANIA/WINNETOUWHINING
Rassistische Stereotype?: «Wie weit geht das noch?» – Migros entfernt «Mexikaner» von Glace-Bild
20-Minuten-Leser Enrico Bernasconi ärgert sich über die Migros. Ein Soziologie-Professor warnt vor zu viel Aktionismus.
https://www.20min.ch/story/wie-weit-geht-das-noch-migros-entfernt-mexikaner-von-glace-bild-424822217219


Migros entfernt «Mexikaner-Bild» von Glace: «Wir machen unsere Kultur durch unsere Überkorrektheit kaputt»
Die Migros hat ein Bild eines «Mexikaners» von einer Wasserglace-Verpackung gestrichen. Viele Mitglieder der 20-Minuten-Community stören sich an diesem Schritt.
https://www.20min.ch/story/wir-machen-unsere-kultur-durch-unsere-ueberkorrektheit-kaputt-320379406945


Ist das Ende der Männlichkeit nah?
Ist Feminismus toxisch und das Ende der Männlichkeit gekommen? Aurel hinterfragt, ob die Woke-Diktatur über die Menschheit gekommen ist und erklärt, was es mit dem Begriff wirklich auf sich hat.
https://www.zdf.de/comedy/aurel-original/maennlichkeit-100.html



derbund.ch 21.09.2022

Begriffsgeschichte eines Reizworts: Wieso «woke» alle nervt

Es begann mit «stay woke» und endete im «Woke-Wahnsinn»: Was bedeutet der Ausdruck eigentlich? Eine Klärung.

Pascal Blum

Kaum ein Wort hat in den vergangenen Jahren eine so steile Karriere und einen so tiefen Fall erlebt wie das Adjektiv «woke» aus dem Amerikanischen. In den Schweizer Medien kommt es im Jahr 2017 erstmals in jenem Sinn vor, den es in den USA schon länger hat. Seither häufen sich die Nennungen stark – und meistens wird das Wort als Beschimpfung eingesetzt. Was ist passiert?

1) Woher stammt das Wort?

«Stay woke» – so klingt es im Song «Redbone» von Childish Gambino.
Video: Youtube / Donald Glover
https://youtu.be/Kp7eSUU9oy8

Im oscargekrönten Film «Get Out», einer Mischung aus Satire und Horror, wird der junge Afroamerikaner Chris von einer weissen Familie gefangen gehalten. Die hiess ihn zuerst willkommen, zeigte dann aber ihre finstere Seite. Es wäre also besser gewesen, Chris hätte besser aufgepasst – weshalb Regisseur Jordan Peele zum Beginn den Song «Redbone» von Childish Gambino spielt. «Stay woke», singt er im Refrain wie als Warnung. Bleib wachsam.

«Stay woke» kommt aus der Variante des Englischen, die Afroamerikaner sprechen, und verbreitete sich so in der Umgangssprache. Eine woke Person im ursprünglichen Sinn ist aufmerksam und scannt ihre Umgebung hinsichtlich rassistischer Diskriminierungen oder anderer systemischer Benachteiligungen. In den USA geht die Verwendung auf die 1940er-Jahre zurück, als Ausdruck von Schwarzen für die Sensibilität gegenüber Ungerechtigkeiten.

2008 sang die Soulsängerin Erykah Badu die Zeile «I stay woke» in ihrem Lied «Master Teacher». Der Song richtet sich an Schwarze: Sie sollen sich nicht besänftigen lassen von der Rede einer gleichberechtigten Gesellschaft, denn die hat nichts mit der Realität zu tun.

2) Wieso ist «woke» heute so verbreitet?

Mit den Protesten gegen Polizeibrutalität von «Black Lives Matter» verbreitete sich «stay woke» in den sozialen Medien. Zuerst unter Schwarzen, die sich gegenseitig warnten, dass sie sich Unterdrückung bewusst sein müssen und nicht einfach so offizielle Erklärungen akzeptieren sollen.

Das politisch linke Lager in den USA nahm dann das Wort auf und popularisierte es. «Die Sympathisanten von ‹Black Lives Matter› wollten signalisieren, dass ihnen Ungerechtigkeiten, sei es aus rassistischen oder aus anderen Gründen, sehr wohl bewusst sind», sagt die Linguistin Andrea Grütter von der Universität Zürich.

So habe «stay woke» den Mainstream erobert. Ein anderes Beispiel für eine Wanderung von der afroamerikanischen Sprachvarietät in die Umgangssprache und von dort in den Mainstream ist «lit», sagt Grütter: Etwas ist «lit», also cool oder fantastisch.

3) Wie hat sich der Ausdruck gewandelt?

Nach den Demos von «Black Lives Matter» wurde aus «stay woke» relativ schnell ein Meme. Lustige Bildchen im Netz, die die Bedeutung des Wortes überdehnten. Beiträge unter dem Hashtag #StayWokeTwitter etwa verspotteten woke Äusserungen als eine Art emanzipatorische Verschwörungstheorie. So sei der Autositzgurt von Weissen erfunden worden, um die Schwarzen am Weiterkommen zu hindern.

Der Ausdruck blieb also derselbe, aber die Bedeutung veränderte sich zum Schlechten. Linguisten sprechen von einer «Pejoration». Wie das Wort «bitch», erklärt Andrea Grütter: vom Wort für «Hündin» zur Beleidigung von Frauen – wobei Feministinnen das Wort heute wieder zurückerobert haben.

Als positiv besetzte Selbstbezeichnung braucht seither kaum mehr jemand woke. Der Aufruf zur Wachsamkeit ist, ähnlich wie «politisch korrekt», in sein Gegenteil verwandelt worden. Verkürzt zum Klischee einer doktrinären linken Ideologie, die alle bestraft, die sich nicht sensibel genug verhalten.

4) Was bedeutet das Wort heute?

Die Vergiftung zum politischen Kampfbegriff («Woke-Wahnsinn», «Wokerati», «Wokeness-Linke») beginnt um 2019. Dann erschien die Satire «Woke: A Guide to Social Justice» von Titania McGrath in Buchform. Bis heute veralbert der Twitter-Account die Wokeness als Islamismus der Linken, der die absurdesten Folgen hat. Jüngst etwa die Ankündigung, Jeanne d’Arc in einer Aufführung im Shakespeare-Theater in London als nonbinäre Person zu zeigen: «Als Frau hätte sie die Engländer nicht bekämpfen können, weil sie zu sehr damit beschäftigt gewesen wäre, Schuhe zu kaufen.»

Bücher wie «Counter Wokecraft» oder «What’s the Matter with Liberals» peitschen die Debatte zum Kulturkampf hoch. In den USA setzt das rechte Lager den Ausdruck als Kampagne gegen Institutionen ein. Wokeness und Critical Race Theory würden als Sündenböcke gebraucht, um missliebige Bücher und andere Inhalte, die Rassismus zum Thema hätten, aus Schulen und Bibliotheken zu entfernen, sagt Andrea Grütter.

Critical Race Theory ist ein Konzept, das systemischen Rassismus mit der Gesetzgebung in Zusammenhang sieht, wird als solches an US-Schulen aber gar nicht gelehrt, so Grütter.  In jeden Fall wird «woke» so zur Beleidigung.

5) Wissen die Feinde der Wokeness, was mit dem Wort gemeint ist?

Zum Teil schon, aber wenn alles vermischt wird, was von fern nach übersensiblem und aktivistischem Protest riecht, macht Kritik wenig Sinn. Oft richtet sich die Empörung gegen eine als gewalttätig wahrgenommene Form von Identitätspolitik.

Vernünftiger wirkt die Wokeness-Kritik des US-Psychologen Jonathan Haidt. In einem «Atlantic»-Essay vertritt er die These, dass die vergangenen zehn Jahre in den USA speziell dumm gewesen seien. Seine Erklärung hat auch mit den sozialen Medien zu tun: Weil sich Universitäten, Medien oder politische Organisationen ab Mitte der 2010er-Jahre vor Shitstorms im Netz zu fürchten begannen, fingen sie an, dissidente Stimmen im Innern zu ersticken (oder gleich zu entlassen). Damit schossen sie sich, so Haidt, «ins eigene Hirn». Und übernahmen, wenn sie in der Folge das «go woke» verkündeten, oft unkritisch ein progressives bis radikales Selbstverständnis.

Substanzielle Kritik kommt auch aus dem eigenen Lager: Die etablierte Linke warnt vor Überidentifikation mit Benachteiligten und davor, dass wokes politisches Engagement zu aggressiv daherkommt, um etwas zu verändern. Donald Glover, der Sänger und Schauspieler mit dem «Stay woke»-Refrain, der im Film «Get Out» vorkommt, spiesst in seiner Fernsehserie «Atlanta» schon länger die fehlgeleitete Wokeness reicher Weisser auf.

6) Gibt es einen positiven Begriff von Wokeness?

Der deutsche Theoretiker Diederich Diederichsen argumentiert in einem Essay, dass man Wokeness in einem praktischen Sinn verstehen könne. Es ist «die Fähigkeit zur Zusammenarbeit von aus unterschiedlichen Gründen verfolgten, bekämpften oder auch nur markierten Menschen – gegen ein Regime, das permanent zwischen normal und anders unterscheidet».

So gesehen, lässt sich Wokeness wieder mit der ursprünglichen Bedeutung von «stay woke» verbinden. Einfach in einem allgemeineren Sinn: als emphatische Grundhaltung, vorangetrieben von der jungen Generation im Westen. Ihre Besonderheit besteht laut Diederichsen darin, dass sie nie gegen ihre «zärtlichen und antiautoritären Eltern» hat kämpfen müssen. Sondern sie hat an die politischen Ziele und Empfindlichkeiten der Eltern angeknüpft – und dabei gemerkt, dass die gegenkulturellen Utopien nicht umgesetzt worden sind.

«Wokeness» bedeutet in diesem Sinn: Benachteiligungen zu benennen, weil man allen ermöglichen will, das zu sein, was sie sein wollen. Wer hier für wen spricht (und sprechen soll), ist damit noch lange nicht geklärt, und übertreiben kann man dabei auch immer noch. Aber vielleicht kann man sich auf diese Art einen Begriff von «woke» machen – jenseits von Wahnsinn und Ideologie.

Aufruf an die eigenen Leute: Der Song «Master Teacher» von Erykah Badu.
Video: Youtube
https://youtu.be/lJZq9rMzO2c

(https://www.derbund.ch/wieso-woke-alle-nervt-853452996732)


+++SCHWEIZ 2
woz.ch 22.09.2022

Sans-Papiers : Regularisiert und verfolgt

Wer lange als Sans-Papiers in der Schweiz lebt, kann einen regulären Aufenthaltsstatus beantragen – riskiert aber gleichzeitig eine Strafe. Ein Fall aus der Schweiz könnte nun am Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg für ganz Europa Präzedenz schaffen.

Von Anina Ritscher, Lukas Tobler (Text) und Christina Baeriswyl (Illustration)

Sie müsse zuerst eine Pause machen, sagt Claudia da Silva*. Sie atmet tief ein, schaut auf die Limmat, und einige Minuten ist es still. Dann erzählt sie ihre Geschichte, die kurz so aussah, als bekäme sie ein Happy End. Aber eben nur kurz. Claudia da Silva lebt zwanzig Jahre lang als Sans-Papiers ohne Aufenthaltserlaubnis in der Schweiz, bevor sie den Mut fasst und ein Härtefallgesuch beim Migrationsamt stellt. Das Gesuch wird angenommen. Seither kann da Silva hier leben und arbeiten, ohne die Angst, aufzufliegen und ausgewiesen zu werden.

Doch kurz nachdem da Silva die gute Nachricht vom Migrationsamt erhält, flattert eine Vorladung der Staatsanwaltschaft in ihren Briefkasten. «Ich hatte kaum noch Kraft, als ich zur Einvernahme aufgeboten wurde», sagt sie heute. Die Staatsanwaltschaft wirft da Silva ihren illegalen Aufenthalt in der Schweiz als Straftat vor. Die Anzeige hatte das Migrationsamt aufgrund der Informationen aus dem Härtefallgesuch erstattet.

Im selben Zug, mit dem die offizielle Schweiz da Silvas Leben in der Illegalität beendet, macht sie die Frau zur Kriminellen und ihre Freund:innen zu Kompliz:innen.

Niemand weiss genau, wie viele Sans-Papiers in der Schweiz leben. Schätzungen gehen von mindestens 80 000 und bis zu 300 000 Personen aus. Ihre Geschichten sind vielfältig: Viele hatten einmal eine Aufenthaltserlaubnis, die ihnen entzogen wurde. Andere kommen als Tourist:innen in die Schweiz und bleiben hier. Die meisten arbeiten schwarz in Branchen, die für Ausbeutung besonders anfällig sind, etwa als Putzkraft, in der Kinderbetreuung oder der Altenpflege. Das Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) räumt den Behörden die Möglichkeit ein, Sans-Papiers eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen, wenn ein besonderer persönlicher Härtefall vorliegt.

Jährlich werden nur wenige solche Härtefallgesuche bewilligt. Der Kanton Zürich etwa regularisierte im Jahr 2021 zehn Personen, der Kanton Basel-Stadt sieben und der Kanton Bern acht. Denn die Hürden sind hoch: Wer ein Gesuch stellt, muss mindestens zehn Jahre in der Schweiz gelebt haben, nicht straffällig geworden sein und ein festes Einkommen haben. Seit einigen Jahren ist der Zugang zusätzlich erschwert, weil die Staatsanwaltschaften nach der Bewilligung ein Strafverfahren einleiten – wegen illegalen Aufenthalts und Erwerbstätigkeit. Obwohl beides gleichzeitig Voraussetzung für eine Bewilligung ist. Genau das geschah auch Claudia da Silva.

Das Vorgehen der Staatsanwaltschaft wirft juristische und politische Fragen auf: Wie eng dürfen Verwaltungsbehörden und Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten, obwohl sie unterschiedliche Aufträge haben? Und wie widersprüchlich dürfen sie sich dabei verhalten?

Zwanzig Jahre Leben im Dossier

Da Silvas Migrationsgeschichte beginnt Anfang der 2000er Jahre. Damals kommt sie für ihr Studium der Philosophie aus Brasilien in die Schweiz. «Ich merkte bald, dass ich hierhin gehöre», sagt sie. Sie bleibt. Und baut sich ein Netzwerk auf: Meist lebt sie zur Untermiete und arbeitet als Reinigungskraft. «Allerdings wurde es immer schwieriger, Wohnungen und Jobs zu finden», erzählt sie. Im Kontext zunehmend geschürter Ressentiments gegenüber Ausländer:innen sei auch die Zurückhaltung vis-à-vis Sans-Papiers immer grösser geworden. Vor wenigen Jahren entschliesst sich da Silva, ein Härtefallgesuch einzureichen.

Im Gesuch muss sie auf Dutzenden Seiten ihren gesamten Aufenthalt in der Schweiz rekonstruieren. Sie muss preisgeben, wo sie seit Beginn dieser Zeit gearbeitet, bei wem sie geschlafen, wie sie ihr Leben bestritten hat. All diese Informationen legt das Migrationsamt fein säuberlich in einer Akte ab. Der bei Verhaftungen in den USA obligatorische Satz «Sie haben das Recht, Ihre Aussage zu verweigern, alles, was Sie sagen, kann und wird gegen Sie verwendet», hat längst Eingang in die Popkultur gefunden. Dem auch in der Schweiz gültigen Recht auf Aussageverweigerung liegt das «Nemo-tenetur-Prinzip» zugrunde: Niemand soll dazu verpflichtet sein, sich selbst zu belasten.

In migrationsrechtlichen Verfahren gilt jedoch das Gegenteil: die Mitwirkungspflicht. Artikel 90 des AIG besagt, dass Ausländer:innen dazu verpflichtet sind, «an der Feststellung des für die Anwendung dieses Gesetzes massgebenden Sachverhalts mitzuwirken». Deswegen ist da Silva dazu verpflichtet, alle Details aus den vergangenen zwanzig Jahren ihres Lebens den Migrationsbehörden zu offenbaren – auch wenn es sich dabei um Straftaten handelt. Sogar gerade wenn es sich um Straftaten handelt: Schliesslich muss da Silva, um ihren Härtefall zu belegen, auch nachweisen können, dass sie ohne Erlaubnis hier wohnt und arbeitet.

Nach erfolgreicher Prüfung des Härtefallgesuchs leiten die Migrationsbeamt:innen da Silvas Akte an die Staatsanwaltschaft weiter. Diese eröffnet nun nicht nur ein Verfahren gegen da Silva wegen illegalen Aufenthalts, sie ermittelt auch gegen Personen, die da Silva eine Unterkunft bereitgestellt hatten oder bei denen sie einer Lohnarbeit nachgegangen war. Die dafür nötigen Zeug:innenaussagen und Beweise liegen ja bereits vor. Die Migrationsakte wird zur Strafuntersuchungsakte. Da Silva wird in der Folge zu einer kleinen bedingten Geldstrafe verurteilt, ihre Bekannten ebenso – wegen der Erleichterung illegalen Aufenthalts. Im Kanton Zürich ist dieses Vorgehen der Behörden schon lange üblich.

Nicht nur in Bezug auf Sans-Papiers arbeiten Migrations- und Strafverfolgungsbehörden eng zusammen. Migrationsämter führen über jede Person ohne Schweizer Pass, die in ihrem Kanton gemeldet ist, eine Akte, auch «Dossier» genannt. In diesen Dossiers werden über Jahrzehnte hinweg alle Dokumente abgelegt, die das Amt je über die betreffenden Personen bearbeitet hat. Sie umfassen teilweise mehrere Hundert Seiten. Gelöscht werden sie frühestens zehn Jahre nach der Einbürgerung oder der Ausreise. In manchen Kantonen, etwa in Graubünden, bleiben sie auf unbestimmte Zeit auf den Servern der Behörde gespeichert.

Dossiers enthalten oft umfassende Informationen, Polizeirapporte, Anzeigen, Gerichtsprotokolle, Strafbefehle. In einigen Fällen auch Hochzeitsfotos oder Liebesbriefe, die etwa als Beweisstück in einem Verfahren wegen mutmasslicher Scheinehe genutzt werden können. Wenn eine Strafverfolgungsbehörde im Rahmen einer Ermittlung nach Akteneinsicht fragt, erhält sie oft das gesamte Dossier und hat so Zugriff auf einen riesigen Fundus an persönlichen Informationen aus einem ganzen Leben, die bei Schweizer:innen in dieser gesammelten Form gar nicht existieren. Und das, obwohl alle diese Dokumente nicht nach den geltenden Regeln des Strafprozessrechts gesammelt wurden und auch wenn sie für die laufende Ermittlung womöglich gar nicht relevant sind.

Wenn die Migrationsbehörden von einer Person erfahren, die sich illegal in der Schweiz aufhält, wie es bei da Silva der Fall war, müssen sie diese von Amtes wegen anzeigen. Hier zumindest ist das Bundesrecht eindeutig. Hilfreiche Informationen für die Ermittlungen müssen sie im Rahmen der Amtshilfe an die Staatsanwaltschaft weiterreichen. Wie weit diese Amtshilfe geht und wie umfassend die weitergeleiteten Dossiers sein dürfen, ist hingegen nicht abschliessend geklärt. Es liegen auch aus keinem Kanton Urteile vor, die diese Fragen abschliessend beurteilen. Es ist deswegen unklar, wie die Behörden mit ihrem Ermessensspielraum umgehen und wie sie damit umgehen müssten.

In da Silvas Fall hätten die Behörden besonders bereitwillig Informationen weitergegeben, sagt Bea Schwager, Leiterin der Sans-Papiers-Anlaufstelle Zürich (Spaz). Sie unterstützte da Silva bei ihrem Härtefallgesuch. «Dass in ihrem Fall gleich mehrere Kontaktpersonen angezeigt wurden, ist nicht üblich», sagt Schwager. Die vollständigen Akten mit allen Angaben zu mehreren Personen hätte das Migrationsamt in ihren Augen nicht weiterleiten müssen. «Die Gefahr, mit einem Härtefallgesuch solidarische Personen zu belasten, stellt Sans-Papiers vor einen Loyalitätskonflikt.»

Aus Sicht der Behörden eine Bittstellerin

Eine weitere Frage ist, ob die Informationen, die unter Mitwirkungspflicht im Härtefallverfahren gesammelt und an die Staatsanwaltschaft weitergeleitet wurden, im Strafverfahren gegen ehemalige Sans-Papiers auch verwendet werden dürfen. Ihr geht ein 2017 veröffentlichter Aufsatz des Rechtsanwalts Thomas Schaad nach. Schaad beschreibt die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) erarbeitete «Saunders-Formel». Diese besagt, dass Beweismittel, die durch staatlich erzwungene Verfahren erhoben wurden, in Strafverfahren nicht verwertbar sind.

In der Praxis sei das Verwertungsverbot an der Schnittstelle zwischen Migrations- und Strafrecht aber schwierig durchzusetzen, relativiert die Rechtsanwältin Magda Zihlmann. «Selbst wenn wir erreichen, dass Beweismittel aus den Dossiers der Klient:innen nicht verwertet werden dürfen, ist das normalerweise erst am Gericht der Fall», sagt sie. «Ein Gericht hat aber immer auch eine menschliche Komponente.» Es sei illusorisch zu meinen, unverwertbare Informationen aus dem Dossier spielten im Verfahren keine Rolle. Ist ihr Inhalt erst einmal bekannt, sei es schon zu spät, sagt Zihlmann. Die Informationen könnten das Gericht auch unbewusst beeinflussen. Diese Problematik stelle sich bei unverwertbaren Beweisen stets, sei aber mit den uferlosen Dossiers bei Ausländer:innen stark akzentuiert.

Der EGMR habe bisher aber ohnehin nur dann eine Verletzung der Saunders-Formel festgestellt, wenn die Mitwirkung unter Androhung von Mitteln des Strafrechts – etwa einer Busse – erzwungen worden sei, wie Schaad schreibt. Auf Claudia da Silvas Fall trifft die Formel deswegen nicht zu: Obwohl es für sie die einzige Möglichkeit war, eine nicht strafbare Existenz in der Schweiz zu führen, hat sie die Informationen nicht unter direkter Androhung strafrechtlicher Massnahmen eingereicht. So zumindest ist die Sicht der Behörden. Vielmehr verstehen diese da Silva – und das ist eine Haltung, die für das Schweizer Migrationsrecht wesentlich ist – als Bittstellerin. Die Regularisierung ihres Aufenthalts steht ihr grundsätzlich nicht zu. Wenn sie sich zu diesem Zweck selbst belastet, dann ist das gemäss dieser Logik ihre eigene Entscheidung.

Auch das baselstädtische Migrationsamt zeigt seit 2017 regularisierte Sans-Papiers aufgrund der eingereichten Informationen an, und auch dort verschickt die Staatsanwaltschaft Strafbefehle. Das Basler Justizdepartement hatte zwar dem eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement 2018 einen Vorschlag unterbreitet, nachdem es den Migrationsämtern nicht mehr erlaubt sein sollte, Menschen nach der Regularisierung anzuzeigen. Bei der letzten Reform des AIG wurde dieser Vorschlag jedoch nicht berücksichtigt.

Bekannt für besondere Härte

Ein Fall aus Basel-Stadt könnte nun trotzdem bis weit über die Kantonsgrenzen hinaus Wirkung zeigen. 2016 stellte dort eine heute 61-jährige Frau ein Härtefallgesuch. Sie war in den späten neunziger Jahren aus Bolivien in die Schweiz gekommen und arbeitete viele Jahre ohne legalen Aufenthaltsstatus als Altenpflegerin und Haushaltshilfe in Basel. Die Frau hatte mit ihrem Antrag Erfolg – doch wurde auch sie kurz danach von der Basler Staatsanwaltschaft per Strafbefehl verurteilt. Dieser legte ihr fünfzehn Jahre des illegalen Aufenthalts und der illegalen Erwerbstätigkeit zur Last und verhängte eine bedingte Geldstrafe von 150 Tagessätzen à 30 Franken und eine Busse von 900 Franken. Die Angeklagte erhob Einspruch gegen den Strafbefehl. So kam es zu einer Verhandlung vor dem Strafgericht. Es sprach die ehemalige Papierlose zwar schuldig, sah aber von einer Strafe ab. Das Verschulden sei zu gering und das Strafbedürfnis ebenso, argumentierte das Gericht.

Das Gericht hatte bei ähnlichen Fällen schon in der Vergangenheit so geurteilt. Dieses Mal wollte die Basler Staatsanwaltschaft – die in den letzten Jahren für ihre besondere Härte schweizweit zu Bekanntheit gelangt ist – nicht lockerlassen. Sie legte Berufung gegen das Urteil ein, und der Fall landete nach einer weiteren verlorenen Verhandlung vor dem Appellationsgericht schliesslich beim Bundesgericht. Alain Joset, der Verteidiger der Angeklagten, kann das hartnäckige Vorgehen der Staatsanwaltschaft nicht verstehen: «Sie setzt in der Strafverfolgung falsche Prioritäten. Nach zwei kantonalen Urteilen zugunsten der Sans-Papiers hätte sie die Sache fallen lassen können.» Das Bundesgericht aber gab der Staatsanwaltschaft schliesslich recht. Es schreibt in seinem Urteil: «Insgesamt handelt es sich vorliegend nicht um einen besonders leichten Fall mit offensichtlich fehlendem Strafbedürfnis, weshalb die Vorinstanz Bundesrecht verletzt, indem sie von einer Bestrafung der Beschwerdegegnerin absieht.»

Von der juristischen zur politischen Frage

Strafverteidiger Alain Joset setzt dem entgegen: Das Vorgehen der Behörden und das Bundesgerichtsurteil verstiessen gegen das Prinzip von Treu und Glauben, das im Schweizer Recht verankert ist. Dieses beinhaltet ein Verbot des widersprüchlichen Handelns. «Der Staat offeriert Sans-Papiers ein Verfahren zur Regularisierung ihres Aufenthalts. Dass dieses aber gleichzeitig fast zwangsläufig mit einer strafrechtlichen Verurteilung einhergeht, ist rechtlich höchst fragwürdig», sagt Joset.

Er und seine Mandantin haben deswegen beim Bundesgericht Beschwerde gegen dessen Urteil eingereicht. Wenn diese abgewiesen wird, was wahrscheinlich ist, ziehen sie in Erwägung, den Fall weiter an den Europäischen Menschenrechtsgerichtshof in Strassburg zu ziehen. In der Beschwerde ans Bundesgericht schreibt der Anwalt: «Als Verbot des widersprüchlichen Verhaltens und als Verbot des Rechtsmissbrauchs verbietet der Grundsatz von Treu und Glauben den staatlichen Behörden, sich in ihren öffentlich-rechtlichen Rechtsbeziehungen widersprüchlich oder rechtsmissbräuchlich zu verhalten.»

Bekämen er und seine Mandantin in Strassburg recht, wird es europaweit in solchen Fällen unzulässig sein, Sans-Papiers nach der Regularisierung für ihren illegalen Aufenthalt zu bestrafen, denn der Fall sei «typisch», so Joset: «eine Person, die nie straffällig wurde, lange in der Schweiz lebte und eine Arbeit verrichtete, die Schweizer:innen nicht machen wollen». Bekommen sie nicht recht, schafft das Urteil des Bundesgerichts, bestärkt durch den EGMR, hingegen einen Präzedenzfall und bestätigt die Staatsanwaltschaften in ihrem harten Vorgehen. Dann wäre es keine juristische Frage mehr, sondern eine politische: Sollen Menschen, die den einzigen Ausweg aus einer sonst ausweglosen Situation nutzen, den der Staat ihnen zur Verfügung stellt, dafür bestraft werden?

Ein ehemaliger Sans-Papiers aus Basel, der anonym bleiben möchte, erzählt: «Wer durch das Härtefallverfahren eine Aufenthaltserlaubnis bekommt, muss so oder so noch mal bei null anfangen. Wer dann auch noch bestraft wird, fängt bei unter null neu an: Mit Einträgen im Strafregister oder sogar im Betreibungsregister. Das erschwert Job- und Wohnungssuche.» Trotz aller Risiken sei es für die meisten Personen dennoch erstrebenswert, einen regulären Aufenthalt zu bekommen, sagt er: «Es ist besser als die ständige Angst, von der Polizei kontrolliert zu werden.»

* Name von der Redaktion geändert.


Dieser Artikel ist Teil des Projekts «Verhängnisvolle Sammelwut» des investigativen Rechercheteams «Reflekt» (www.reflekt.ch). Unterstützt wurde die Recherche vom Journafonds: www.journafonds.ch.
(https://www.woz.ch/2238/sans-papiers/sans-papiers-regularisiert-und-verfolgt/%21CVBN2H3JW7KY)