Medienspiegel 11. September 2022

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+++SCHWEIZ
beobachter.ch 05.09.2022

Die verlorene Tochter – «Momentan sind wir einfach froh, dass sie noch lebt»

Eine junge Tibeterin flieht zu ihrer Mutter in die Schweiz. Doch die Behörden prüfen ihren Asylantrag nicht. Sie wird nach Indien ausgeschafft – und verschwindet wochenlang.

Von Anina Frischknecht

Pema Tsering* (Name geändert) ist 27 Jahre alt, als sich ihre Spuren am 8. Juni im indischen Delhi verlieren. Um 23.50 Uhr Ortszeit haben vier Polizisten der Kantonspolizei Aargau die junge Frau den Einwanderungsbeamten am Flughafen übergeben. Das ist alles, was Pema Tserings Mutter in den nächsten drei Wochen in Erfahrung bringen kann. Nicht, wo ihre Tochter ist. Nicht, wie es ihr geht. Nicht, was mit ihr passiert ist. Die vier Polizisten fliegen nach der Übergabe zurück in die Schweiz. Für sie ist die Sache erledigt. Pema Tsering ist ausgeschafft.

Auf einem kleinen Wohnzimmertisch im Kanton Zürich liegen amtliche Dokumente neben einer Schale Pfirsiche. Hinter Pema Tserings Mutter lächelt der Dalai Lama von der Wand. Es ist Anfang August, seit der Ausschaffung ihrer Tochter sind beinahe zwei Monate vergangen.

Die Geschichte einer Ausschaffung

Pema bedeutet Lotusblume, Tsering langes Leben. In Tibet erhalten die Kinder ihren Namen von einem Mönch. Jeder Name hat eine eigene Bedeutung. Er soll zu einem glücklichen Leben verhelfen. Doch die Verfügungen und Mails auf dem Couchtisch erzählen eine andere Geschichte. Die ihrer Ausschaffung.

Pema Tsering, geboren 1995 in Zoza, Tibet, Staatsbürgerin der Volksrepublik China, lebt seit 2007 in Indien und reist im Frühling 2019 illegal in die Schweiz ein. Sie stellt ein Asylgesuch, unter falscher Identität. Auf ihr Asylgesuch wird nicht eingetreten, ihre Wegweisung in den «Herkunftsstaat Indien» angeordnet. Im April 2022 kommt Pema Tsering in Ausschaffungshaft, wegen «fehlender Kooperation» und «Verletzung der Wahrheitspflicht im Asylverfahren». Im Mai scheitert ein unbegleiteter Rückflug wegen «renitenten Verhaltens». Im Juni wird sie in polizeilicher Begleitung nach Delhi ausgeschafft. Im Juli findet sie dann ein tibetischer Mönch in psychisch schlechter Verfassung.

«Das ist die Akte Pema Tsering, aber für den Menschen Pema Tsering haben sich die Behörden nie interessiert», sagt Drölga Porong. Sie betreut viele Flüchtlinge aus dem Heimatland ihres Vaters. Sie findet die Worte, die Pema Tserings Mutter fehlen, streicht ihr über den Rücken und tröstet sie. Freundinnen. Die langen Wochen ohne Lebenszeichen haben die beiden zusammengeschweisst: die eine, eine ehemalige Kantonsrätin und in der Schweiz geboren, die andere ohne Schulbildung und in der Schweiz als Flüchtling nur vorläufig aufgenommen.

«Hätten sie Pema Tserings Asylantrag und ihr Gesuch um Wiedererwägung sorgfältiger angeschaut, wäre klar geworden, dass eine Ausschaffung in Würde und Sicherheit nie möglich war.» Die Mutter wischt sich Tränen aus den Augen, schenkt «sweet tea» nach und beginnt dann in fremden, aber sorgfältig gewählten deutschen Worten zu erzählen.

Ihre Mutter brachte Pema Tsering, damals zwölf Jahre alt, in ein tibetisches Internat nach Indien. Hier sollte sie die Kultur und Sprache lernen, die das kommunistische China in ihrer Heimat verboten hat. Eine Chance auf ein besseres Leben. Die Mutter reiste zurück nach Lhasa. Ohne zu ahnen, dass sie ihre Tochter die nächsten zwölf Jahre nicht mehr sehen würde.

Die Mutter kommt in China ins Gefängnis

Pema Tsering war 13 Jahre alt, als sich ihr Schicksal für immer veränderte. In Peking begannen die Olympischen Spiele. Die tibetische Bevölkerung protestierte, die chinesische Regierung verhaftete – neben vielen anderen – auch Pema Tserings Mutter. Sie wurde zu zwölf Jahren Gefängnis verurteilt, ihre Ehe zerbrach. Die Chance auf ein besseres Leben auch. Nach drei Jahren gelang es ihrer Mutter, aus dem Gefängnis und – versteckt in einem Lieferwagen – aus dem Land zu fliehen. In der Schweiz beantragte sie Asyl.

Pema Tsering lebte noch immer im tibetischen Internat, als ihre Mutter in der Schweiz eine Aufenthaltsbewilligung erhielt. Die Tochter war damals 21, zu alt für den erhofften Familiennachzug. Zwei Jahre später beantragte sie auf der französischen Botschaft in Delhi ein Schengen-Visum. Es wurde abgelehnt. Ein Jahr später reiste sie mit einem Schlepper und gefälschten Dokumenten in die Türkei. Eine junge Frau, allein auf der Flucht. Über den Wasser- und Landweg gelangte sie in die Schweiz und stellte einen Antrag auf Asyl –mit den gefälschten Papieren. Sie wusste nicht, dass ihre biometrischen Daten mit dem abgelehnten Visumsantrag aus Frankreich schon lange im System gelandet waren und ihr Antrag auf Asyl nie eine echte Chance hatte.

«In der Schweiz wird man schneller erwachsen als in Tibet», sagt Drölga Porong. Bei ihrer Ankunft sei Pema Tsering auf dem Papier zwar 24 Jahre alt gewesen, aber im Herzen noch ein Kind. Verunsichert, traumatisiert und allein. «Statt die Identitätstäuschung und die Gründe dahinter zuzugeben, hat sie sich immer wieder auf die falschen Papiere berufen.» Als sie den Fehler eingesehen hat, war es zu spät. Pema Tserings Wegweisung wurde beschlossen, ohne den Asylantrag und die Ausschaffung genauer zu prüfen.

Drei geliehene Jahre

Pema Tserings Mutter braucht eine Pause, einen Ort, wo ihre Tränen ungesehen fliessen können. Sie geht in die kleine Küche und dreht Momos ein. Das dunkle Haar reicht ihr fast bis zu den Knien. Sie ist eine zarte Frau. Ihr Kummer wirkt zu schwer für sie. Drölga Porong hat versucht, ihr die Gründe für die Ausschaffung zu erklären. Aber alles, was sie verstehen kann, ist, dass die Schweiz ihr die Tochter weggenommen hat.

Pema Tsering war 24 Jahre alt, als sie ihrer Mutter am HB in Zürich in die Arme fiel. Sie würden drei Jahre zusammen sein. Aber es war nur geliehene Zeit. Ein Jahr später teilte ihr das Migrationsamt des Kantons Aargau mit, auf ihr Asylgesuch werde nicht eingetreten, sie habe einen Monat Zeit, die Schweiz zu verlassen. Der Monat verstrich. Dann ein Jahr, dann zwei Jahre. Pema Tsering war 27 Jahre alt, als sie ins Flughafengefängnis in Zürich gebracht wurde. Ausschaffungshaft. Weil sie sich wiederholt geweigert hatte, die Schweiz zu verlassen.

«Eine Rückkehr nach Indien sei kein Problem, hat die Schweiz beschlossen. Indien sei ihre Heimat.» Drölga Porong hat alles versucht, um gegen die Wegweisung vorzugehen. Ein Wiedererwägungsgesuch, eine Beschwerde gegen die Ausschaffungshaft, Schreiben an Regierungsräte. Doch die Schweiz blieb hart. Die Wegweisung ist rechtens.

Statt nach China wurde Pema Tsering nach Indien ausgewiesen. Dort hatte sie die letzten zwölf Jahre gelebt, hat ein Bankkonto und eine gültige Aufenthaltsbewilligung bis 2026. «Macht das Indien zur Heimat?» Drölga Porong blickt zum Dalai Lama an der Wand und schüttelt den Kopf. «Die Schweiz vergisst die Realität tibetischer Flüchtlinge nur zu gern. Sie haben keine Heimat.»

Ein Mönch kümmert sich um sie

Drei Monate war Pema Tsering im Flughafengefängnis in Zürich inhaftiert. Sie verweigerte das Essen, versuchte sich mit einem tibetischen Heilpulver zu vergiften, schrieb der Mutter einen Abschiedsbrief. Sie habe keine Zukunft mehr. Dann wurde sie von vier Polizisten nach Delhi ausgeschafft – und verschwand. Erst nach drei Wochen fand ein Mönch sie im tibetischen Viertel von Delhi. Ihr ging es nicht gut. Er machte sich Sorgen, sprach sie an und bot ihr Unterschlupf in seinem Kloster.

Die Mutter stellt die Momos neben die Pfirsiche und zeigt Pema Tserings Bild auf ihrem Handy. Eingefroren während des ersten Videocalls aus dem Kloster. Mit dem Bild der Vermisstenanzeige, die Drölga Porong und die Mutter via tibetische Whatsapp- und Facebook-Gruppen bis nach Delhi gestreut haben, hat die junge Frau auf dem Bildschirm wenig gemeinsam. Ihre Augen sind leer. Die der Mutter haben wieder leise Tränen.

«Die Videoanrufe sind schwierig. Es gibt Tage, an denen Pema Tsering sich in ihrem Zimmer einschliesst und nicht spricht», sagt die Mutter. Ihre Tochter habe ihr erzählt, dass die indischen Immigration Officers sie fast zwei Tage festgehalten haben. Danach waren die Nummern auf ihrem Telefon und das Geld, das sie bei ihrer Ausreise aus der Schweiz dabeihatte, weg. Vieles bleibt unklar. Was ist in den drei Wochen ihres Verschwindens passiert? Wie geht es weiter? «Momentan sind wir einfach froh, dass sie noch lebt.»

Vorwürfe an die Behörden

Das Amt für Migration und Integration des Kantons Aargau (Mika) schreibt dem Beobachter, dass man sehr bedauere, dass Pema Tsering von den indischen Behörden während 48 Stunden festgehalten wurde. Dem Mika sei es ein grosses Anliegen, dass die Rückkehr einer Person sorgfältig und sicher vorbereitet und durchgeführt werde. Pema Tsering habe schon in Indien gelebt und verfüge über eine Aufenthaltsbewilligung. Ausserdem habe sie einen Onkel, der in Indien wohnt. Man sei deshalb davon ausgegangen, dass sie sich selbständig organisieren könne.

Aus dem Handy auf dem Wohnzimmertisch klingen liturgische tibetische Gesänge. Gegen die Tränen. Drölga Porong streicht wieder über den Rücken der Mutter. «Der Onkel von Pema Tsering hat Indien bereits vor zehn Jahren verlassen. Auch das hätten die Behörden wissen müssen, wenn sie die Ausschaffung von Pema Tsering sorgfältiger geprüft hätten.»
(https://www.beobachter.ch/migration/tibeterin-wird-von-schweiz-ausgewiesen-und-verschwindet-in-indien-529696)



NZZ am Sonntag 10.09.2022

Schlepper: Todesgefahr für 1000 Euro

Knapp zwei Dutzend Menschen im Laderaum: Der Fall Nidwalden schockiert, doch riskante Flüchtlingstransporte sind wohl häufiger als gedacht. Im Tessin gibt es eine Zunahme von Menschenschmugglern.

Mirko Plüss

Während der Flüchtlingskrise 2015 rückten zwei Bilder die Schrecken der Flucht in den Fokus der Öffentlichkeit. Und sie warfen gleichzeitig ein Schlaglicht auf das verborgene Geschäft der Schlepper. Das eine Bild zeigte den toten syrischen Jungen Aylan Kurdi am Strand. Er war während einer von Schleppern organisierten Bootsfahrt in der türkischen Ägäis ertrunken. Das zweite Bild liess den Horror nur erahnen. Es zeigte einen unscheinbaren Lkw am Strassenrand im österreichischen Parndorf. 71 Migranten waren in dem luftdicht verschlossenen Kühllaster erstickt. Mehrere der Drahtzieher wurden später in Ungarn zu hohen Haftstrafen verurteilt.

Dass Schlepper nach wie vor auf solch inhumane und hochriskante Flüchtlingstransporte setzen, offenbarte sich diese Woche in Hergiswil im Kanton Nidwalden. Der Chef der Nidwaldner Kriminalpolizei, Senad Sakic, ist auch Tage nach dem Vorfall noch ergriffen. «Wir haben so etwas in diesem Ausmass noch nie gesehen», sagt Sakic. Seine Beamten trafen am Montagmorgen bei der Kontrolle eines Lieferwagens auf 23 Flüchtlinge. Ein Zufallsfund. Die Männer waren auf engstem Raum zusammengepfercht, auf einer rundum verschlossenen Ladefläche und ohne Möglichkeit, sich festzuhalten. Sie blieben alle unverletzt.

Zahlen sind unvollständig

Wie sich nun zeigt, drang da an die Oberfläche, was im Verborgenen regelmässig passiert. Sakic ist sich sicher, dass der «Fall Nidwalden» kein Einzelfall ist. Schlepper nutzen mehrheitlich den Strassenverkehr. Doch sie sind wie die Nadel im Heuhaufen: Über 1,1 Millionen Fahrzeuge passieren jeden Tag die Schweizer Grenze. «Schleusungen von grösseren Gruppen dürften relativ häufig sein», sagt Sakic.

Die Schweiz ist bei Schleppern ein beliebtes Transitland. Auch im aktuellen Fall wollten die versteckten Flüchtlinge weiter nach Norden fahren und nicht hier bleiben. Wie viele Schlepper aber im Land aktiv sind, kann niemand schlüssig beantworten. Zwar weist das Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit BAZG monatliche Zahlen aus. Demnach wurden im laufenden Jahr bis Ende Juli 224 Personen wegen Verdachts auf Schleppertätigkeiten von Zollbeamten aufgegriffen. Pro Jahr sind es im Schnitt 400.

Doch dieses Bild ist unvollständig. So fliessen Vorfälle mit Schleppern, die nicht von Zollbeamten, sondern von Kantonspolizisten erwischt werden, nicht in die Statistik des Bundes ein. Auch der Fall Nidwalden wird dort nie erscheinen. Es sind schweizweit also klar mehr als 400 Fälle. Allein die Kantonspolizei Zürich weist in ihrer Statistik jährlich 200-mal den Straftatbestand «Förderung der rechtswidrigen Ein-/Ausreise» aus. Die Dunkelziffer dürfte nochmals um einiges grösser sein.

Kommt es zu einem grösseren Schlepper-Fall, wird neben den Kantonen auch die Bundespolizei Fedpol aktiv. Es sei nicht auszuschliessen, dass Transporte wie in Nidwalden regelmässig durchgeführt würden, ohne dass sie entdeckt werden, sagt Fedpol-Sprecher Patrick Jean. In einem Bericht der Bundespolizei zu Grossgruppenschleusungen in Lastwagen findet sich ein weiterer Hinweis auf die Häufigkeit des Phänomens: So seien im Rahmen von festgestellten Schleusungen im europäischen Ausland «immer wieder Bezüge zur Schweiz» ersichtlich geworden, heisst es im Bericht. Das bedeutet nichts anderes, als dass Flüchtlingsgruppen zuvor durch die Schweiz gefahren wurden – ohne dass sie jemand entdeckt hätte.

Wer steckt hinter dem tagtäglichen Menschenschmuggel? Patrick Jean spricht von «gut organisierten transnational operierenden Täternetzwerken», die stets neue Wege suchten, um mit Menschenschmuggel an Geld zu kommen. Eine frühere Masche war beispielsweise, dass die Schlepper zur Tarnung ein Taxiunternehmen eröffneten und die Flüchtlinge so über die Grenze brachten.

Mailand als Ausgangsort

Einen Einblick in die derzeitige Entwicklung geben Fälle, die sich kürzlich im Süden der Schweiz ereigneten. «In den letzten Wochen hat das Phänomen der Schlepper zugenommen», klagt Stefano Gianettoni von der Tessiner Kantonspolizei. Erst vor wenigen Tagen wurde bei Chiasso ein 34-jäh-riger Syrer festgenommen. Der Mann mit Wohnsitz im Tessin hatte illegal sechs Männer über die Grenze transportiert. Zuvor gelang der Polizei ein Schlag im Mendrisiotto, wo sie mehrere Ausländer wegen des Verdachts auf Menschenschmuggel verhaftete. In einem weiteren Fall wurden 34 syrische Flüchtlinge abgefangen, die von einem Landsmann nach Deutschland hätten transportiert werden sollen. Die Kosten für die Fahrt durch die Schweiz: 1000 Euro pro Person.

In diesen Tagen wird in Bellinzona zudem der Fall von sechs pakistanischen Schleppern verhandelt, deren Autokonvoi ebenfalls im Bezirk Mendrisio entdeckt worden war. Die Schlepper hatten die elf Flüchtlinge in Mailand aufgeladen.

Auch im Fall Nidwalden war die grosse Gruppe in Mailand zusammengekommen. Die Männer stammen ursprünglich aus Afghanistan, Indien, Syrien und Bangladesh. Nach der Betreuung durch die Kantonspolizei und die Sanität kamen sie in einer Zivilschutzanlage in Stansstad unter. Nun sind alle schon wieder weg.

9 der 23 Flüchtlinge haben in einem Bundeszentrum Asyl beantragt. Gegen die restlichen 14 Männer erliess das Nidwaldner Migrationsamt Wegweisungsverfügungen. Sie wurden auf freien Fuss gesetzt und müssen die Schweiz verlassen. Der mutmassliche Schlepper, ein 27-jähriger in Italien wohnhafter Gambier, sitzt in Untersuchungshaft. Die Suche nach Hintermännern läuft.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/schweiz/schlepper-todesgefahr-fuer-1000-euro-ld.1702158)


+++GROSSBRITANNIEN
Verhandlungsmasse Mensch
Großbritannien will unerwünschte Asylsuchende loswerden. Ein Abkommen mit Ruanda soll die Abschiebung von Migranten gleich welcher Herkunft in das afrikanische Land ermöglichen. Für dieses Modell gibt es Vorläufer und Nachahmer
https://www.jungewelt.de/artikel/434308.repressive-asylpolitik-verhandlungsmasse-mensch.html


+++MIITTELMEER
Mittelmeer: Sea-Watch rettet 267 Menschen in Seenot
Innerhalb von weniger als 24 Stunden hat ein Schiff der deutschen Seenotrettungs-Organisation Sea-Watch im Mittelmeer 267 Flüchtende vor dem Ertrinken gerettet.
https://www.nau.ch/news/europa/mittelmeer-sea-watch-rettet-267-menschen-in-seenot-66273334


+++FLUCHT
NZZ am Sonntag 11.09.2022

Schweizer «Passport King» plant Modellstadt für Flüchtlinge

Eine Rekordzahl an Menschen ist auf der Flucht. Der Unternehmer Christian Kälin will jetzt ein neues Singapur für Vertriebene bauen.

Albert Steck

Eine blühende Stadt für Flüchtlinge: Was Christian Kälin anstrebt, wirkt utopisch. Doch der Unternehmer will den Beweis antreten, dass der Plan gelingen kann. Seine «Andan Global City» sieht er nicht nur als humanitäres Projekt, sondern ebenso als lohnende Geschäftsidee.

Sein Modell würde den Umgang mit Flüchtlingen gänzlich auf den Kopf stellen: Heute sind sie Empfänger von Almosen und werden als Problem wahrgenommen. Oft leben sie eingepfercht in Baracken oder Zelten. Ohne Perspektive für die Zukunft. In Kälins Stadt dagegen wären sie motivierte Arbeitskräfte und Firmengründer, die eine neue Existenz aufbauen können – so wie früher die Einwanderer in den USA.

«Anfänglich wurde ich für die Idee belächelt», erzählt Kälin. «Die Leute hielten mein Projekt für aussichtslos.» Dann, in einer zweiten Phase, hätten sie Gründe gesucht, die für ein Scheitern sprechen. Nun jedoch erlebe er eine neue Phase: «Regierungen und Investoren kommen auf mich zu und zeigen Interesse.»

Ukraine-Krieg als Weckruf

Kommende Woche zum Beispiel präsentiert Kälin sein Konzept zwei Tage lang einer hochrangigen Regierungsdelegation. «Selbst der Premierminister wird mit uns sprechen.» Den Namen des Landes könne er nicht verraten, die Gespräche seien vertraulich. Nur so viel: Es handle sich um einen Nachbarstaat der EU. Auch mit Vertretern der Uno und des World Economic Forum befinde er sich im Austausch.

Das gestiegene Interesse führt Christian Kälin nicht zuletzt auf den Krieg in der Ukraine zurück. «Europa erlebt eine dramatische Flüchtlingskrise auf dem eigenen Kontinent. Das führt der Bevölkerung vor Augen, dass wir neue Lösungen brauchen.»

In diesem Jahr übersteigt die Zahl der Vertriebenen erstmals die Marke von 100 Mio. Bis vor wenigen Jahren waren es erst halb so viele. Und die Zunahme geht weiter: Dafür sorgen der Klimawandel und die politischen Unruhen in vielen Regionen. Laut Uno-Schätzungen ist in Zukunft mit mehreren hundert Mio. Flüchtlingen zu rechnen.

Heute leben die meisten dieser Menschen in Camps oder Armenvierteln. Das grösste Lager liegt in Bangladesh: Kutupalong existiert seit 1991 und beherbergt über 600 000 Personen – auf einer Fläche der Stadt Baden. Wer in einem solchen Lager strandet, bleibt dort im Schnitt 17 Jahre, rechnet Khalid Koser vor. Der Professor der Universität Maastricht und Stiftungsrat der Andan Foundation hat zahlreiche Bücher über Migration geschrieben. Er sagt: «Unsere alten Modelle für den Umgang mit Flüchtlingen funktionieren heute nicht mehr.»

Die naheliegendste Lösung wäre eine baldige Rückkehr in die Heimat, so Koser. Bei den Klimaflüchtlingen sei dies aber nicht möglich. Zudem dauerten viele Konflikte über Jahrzehnte. Die zweite Option sei die Umsiedlung in reichere Länder: Doch sei dies nur ein Tropfen auf den heissen Stein – pro Jahr profitierten davon weniger als 100 000 Personen. Die dritte Lösung, die lokale Integration vor Ort, stosse ebenso an Grenzen, vor allem wegen des politischen Widerstands.

Das heute praktizierte Einsperren der Gestrandeten in Lagern sei die schlechteste aller Optionen, betont der Migrationsexperte. «Das führt zu enormen psychischen Schäden und schürt Gewalt und Kriminalität.» Koser erinnert daran, dass ein grosser Teil dieser Bewohner minderjährig ist, gegen 2 Mio. wurden auf der Flucht geboren. «Das Bestechende am Ansatz von Kälin ist für mich, dass er die Flüchtlinge nicht als Kostenfaktor ansieht, sondern diese als unternehmerische Chance erkennt.» Deshalb sei es richtig, private Investoren ins Spiel zu bringen.

Migration gibt es von jeher

Christian Kälin bezeichnet sein Konzept gar als ein Urprinzip der menschlichen Entwicklung. «Viele Nationen sind durch die Völkerwanderung entstanden. Auch die Helvetier hatten dieses Schicksal.» Der Unterschied zu früher liege darin, dass es heute ein System mit nationalen Grenzen gebe. Zudem habe sich die Entwicklung vom Land auf die urbanen Zentren verlagert.

Sein Modell orientiere sich daher an den modernen Stadtstaaten wie Singapur, Hongkong oder Dubai. «Einwanderer waren schon immer erfolgreiche Unternehmer, denn ihre Biografie hat sie zu eigentlichen Überlebenskünstlern geformt», sagt Kälin. Entscheidend sei, dass diese Menschen die richtigen Rahmenbedingungen erhalten.

Bereits im Studium hat sich der Jurist auf das Staats- und Immigrationsrecht spezialisiert. Parallel wurde er zum Unternehmer und stieg bei der in London domizilierten Firma Henley & Partners ein. Diese baute er zum weltweit grössten Spezialisten für Staatsbürgerschaften und Aufenthaltsbewilligungen auf, was ihm die Bezeichnung «Passport King» eintrug. Das Geschäft mit dem Erwerb von Niederlassungen und Pässen entstand ursprünglich in Kanada und der Karibik. Heute bieten auch viele europäische Länder solche «Golden Visa» an, welche jedes Jahr Einnahmen in Milliardenhöhe in die Staatskassen spülen.

Noch fehlt das Territorium

Kälin ist mit seiner Firma auf beiden Seiten tätig: Er berät sowohl Privatpersonen, die ein Visum erwerben wollen, als auch die Staaten, die solche Programme anbieten. Dadurch kann er auf viele hochkarätige Regierungskontakte zurückgreifen, die ihm nun bei dem Projekt die Türen öffnen: «Die grösste Herausforderung besteht darin, ein Land zu finden, das ein unbewohntes oder schwach besiedeltes Territorium für eine autonome Stadt zur Verfügung stellt.»

Kommt hinzu: Eine solche Stadt wird nicht billig. Kälin rechnet in einer ersten Phase mit Investitionen zwischen 500 und 700 Mio. Fr. Zunächst könnten mehrere zehntausend Menschen dort wohnen – mit der Aussicht, dass daraus eine Millionenstadt entsteht. Die private Finanzierung sei deshalb entscheidend für den Erfolg eines solchen Riesenprojekts, erklärt Titus Gebel. «Private Investoren können anders als der Staat bewusst Risikokapital einsetzen.»

Der in Deutschland geborene Gebel ist ebenfalls Unternehmer sowie Gründer der Free Cities Foundation, die sich in verschiedenen Ländern für den Aufbau von Sonderwirtschaftszonen einsetzt, nach dem Vorbild von Shenzhen in China oder den europäischen Freistädten im Mittelalter. «Die Gründung einer solchen Stadt bietet phantastische Geschäftsmöglichkeiten: Angefangen beim Häuserbau über die Errichtung einer Infrastruktur bis hin zur Telekommunikation oder Informatik.» Letztlich profitiere auch der Staat vom dadurch ausgelösten Aufschwung.

Zum Nutzen der Umwelt

Eine Modellstadt für Flüchtlinge könne ausserdem bei der Nachhaltigkeit neue Massstäbe setzen, ergänzt Christian Kälin. «Nur mit innovativen Städten können wir die riesigen ökologischen Probleme bewältigen. Überdies wird der Trend zur Urbanisierung in vielen Ländern noch stark zunehmen.»

Trotz den vielen Argumenten, mit denen er seine Vision anpreist: Kälin ist sich bewusst, dass die Stadt womöglich nie gebaut wird. Doch dieses Risiko nehme er in Kauf. Sein Engagement lohne sich bereits, wenn er Wege zu einer besseren und menschlicheren Flüchtlingspolitik aufzeigen könne, meint er: «Mein Ziel ist es, die Erfolgsrezepte von Einwanderernationen wie den USA, Australien, Kanada, aber auch der Schweiz in Erinnerung zu rufen.»

Als Sinnbild dafür stehe die Freiheitsstatue in New York, sagt Kälin. Errichtet als «Mutter aller Vertriebenen», heisst es auf der Inschrift der Statue: «Gebt mir eure Erschöpften, eure Armen, eure geknechteten Massen, die sich danach sehnen, frei zu atmen.» Einen solchen Leitspruch könnte sich Kälin auch für seine Flüchtlingsstadt vorstellen.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/wirtschaft/schweizer-unternehmer-plant-modellstadt-fuer-fluechtlinge-ld.1702132)


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
tagesanzeiger.ch 11.09.2022

Lärmklagen wegen Festival: Krach auf dem Koch-Areal

Das antifaschistische Festival Unite auf dem besetzten Areal an der Grenze von Altstetten und Albisrieden hält das Quartier wach – und den Stadtzürcher FDP-Präsidenten.

Am Freitag und Samstag haben die Besetzerinnen und Besetzer des Koch-Areals an der Grenze von Altstetten und Albisrieden nochmals ein richtig grosses Fest gefeiert. Am antifaschistischen Festival Unite gab es von Freitag um 17 Uhr bis tief in die Nacht auf Sonntag ein vielfältiges Polit- und Konzertprogramm, das zahlreiche Menschen angezogen hatte.

Die wummernden Bässe der Konzerte waren im umliegenden Quartier gut zu hören und führten zu rund drei Dutzend Lärmklagen, heisst es bei der Stadtpolizei Zürich auf Anfrage. Zudem habe eine grössere Gruppierung am Samstag gegen 22.40 Uhr kurz die Rautistrasse blockiert und pyrotechnische Gegenstände abgebrannt. «Ansonsten konnten wir keine weiteren Zwischenfälle verzeichnen», sagt die Polizeisprecherin.

Verärgerter FDP-Präsident

Gestört an dem Festival hat sich auch der Stadtzürcher FDP-Präsident Perparim Avdili, der in der Nähe des Koch-Areals wohnt. Er rief mitten in der Nacht bei der Stadtpolizei an und bat sie darum, den Lärm zu unterbinden. Beim Notruf habe man ihm beschieden, die Polizei sei zu dem Areal ausgerückt, aber die Veranstalter hätten sich uneinsichtig gezeigt. «Als ich gefragt habe, warum die Polizei nicht den Rechtsstaat durchsetze, kam die Antwort: ‹Wir dürfen aus politischen Gründen nichts machen›», erzählt Avdili.

Der Gemeinderat verbreitete noch in der Nacht in den sozialen Medien ein Video, auf dem Rapmusik zu hören ist. Im gehe es weniger um den Lärm, sagt Avdili auf Anfrage. Es könne nicht sein, dass gewisse Kreise gegen das Gesetz verstossen und bis in die Nacht feiern könnten, während Restaurants um 22 Uhr schliessen müssten.

Die Stadtpolizei äussert sich auf Anfrage nicht zum Vorwurf, aus politischen Gründen untätig geblieben zu sein.

Ende Jahr ist Schluss mit der Besetzung des Koch-Areals an der Grenze von Altstetten und Albisrieden. Ab 2023 ist der Baustart für 325 Genossenschaftswohnungen, ein Gewerbehaus und ein Quartierpark. Das Haus der ehemaligen Handelsfirma Koch Wärme war 2013 besetzt worden. Das 30’000 Quadratmeter grosse Areal gehörte der UBS, die Stadt kaufte es ihr für über 70 Millionen Franken ab.

Das Areal war in der Vergangenheit immer wieder Gegenstand politischer Kämpfe in der Stadt. Insbesondere die FDP ärgerte sich immer wieder darüber, dass auf dem Areal die Gesetze nicht eingehalten würden. zac

(https://www.tagesanzeiger.ch/krach-auf-dem-koch-areal-836042844299)


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Landesverweis wegen Sozialhilfebezug: «Ich fühlte mich, als wäre ich eine schlechte Mutter»
Weil eine alleinerziehende Mutter ergänzend auf Sozialhilfe angewiesen war, wurde ihr die Aufenthaltsbewilligung entzogen. In der Herbstsession wird die Verknüpfung von Sozial- und Migrationsrecht nun erneut zum Thema.
https://www.blick.ch/schweiz/landesverweis-wegen-sozialhilfebezug-ich-fuehlte-mich-als-waere-ich-eine-schlechte-mutter-id17867094.html


+++BIG BROTHER
EU-Polizeidatenabgleich: Jeder wird verdächtig, warnen Bürgerrechtler
Die geplante Erweiterung des Prümer Vertrags zum Austausch biometrischer Daten würde der Polizei laut Kritikern autoritäre Überwachungspraktiken ermöglichen.
https://www.heise.de/news/EU-Polizeidatenabgleich-Jeder-wird-verdaechtig-warnen-Buergerrechtler-7260262.html


+++HISTORY
Ausstellung in Berlin: Der kurze Traum vom schwulen Kommunismus
Im Mai 1990 besetzten junge Linke mehrere Häuser in der Mainzer Straße in Ostberlin. Das Schwule Museum erinnert an das wohl spektakulärste Hausprojekt: das bis heute legendenumwobene Tuntenhaus Forellenhof.
https://www.queer.de/detail.php?article_id=43193


+++KNAST
NZZ am Sonntag 11.09.2022

Jetzt spricht Brian, der berühmteste Häftling der Schweiz: «Ich will, dass alle wissen, wie die Schweizer Justiz mein Leben zerstörte.»

Brian Henry Keller alias «Carlos» beschäftigt die Schweizer Öffentlichkeit seit Jahren. Die Justiz sagt: Der Mann ist gefährlich. Und was sagt der berühmteste Häftling der Schweiz selber? Eine Rechtfertigung.

Brian Henry Keller (Protokoll: Katharina Bracher)

Für die einen ist er ein gewalttätiger Querulant, der Justiz und Öffentlichkeit in Atem hält. Für die anderen ist er Opfer der Medien und eines Justizversagens. Sicher ist: Brian Henry Keller sorgte bereits als Kind für ernsthafte Probleme. Weil er immer wieder den Unterricht störte, flog er von mehreren Schulen. Schon als kleiner Bub riss er regelmässig von zu Hause aus. Weil Eltern, Lehrerschaft und Behörden weder ein noch aus wussten mit dem Jungen, wurde er in Pflegefamilien und Einrichtungen gesteckt – unter anderem wurde er sechs Monate in einem Heim unter Hausarrest festgehalten. Als Teenager verurteilte ihn das Bezirksgericht Zürich wegen Sachbeschädigung, Drohung, Hausfriedensbruch, Besitz von Marihuana und Schwarzfahren. Mit 15 Jahren stach Keller einen 18-Jährigen im Streit mit einem Messer nieder, das Opfer überlebte den Angriff. Den gerichtlichen Massnahmen begegnete er von Anfang an uneinsichtig und mit unerbittlichem Widerstand. Unter anderem demolierte er Gefängniszellen und bespuckte das Personal. Keller befindet sich deshalb seit mehreren Jahren in Sicherheitshaft, die er von anderen Insassen isoliert verbringt. In den letzten Jahren haben Gerichtsurteile und Verlautbarungen der Zürcher Regierung Fehler eingeräumt im Umgang mit Keller, der heute 26 Jahre alt ist. Unter anderem hat das Bundesgericht die Zürcher Justiz für nicht menschenrechtskonformen Umgang gerügt. Alle reden über ihn, aber noch nie kam Brian Henry Keller selbst ausführlich zu Wort. Wie wurde er zum Systemsprenger? Was bereut er? Und wie stellt er sich die Zukunft vor? Im folgenden Text legt er seine Sicht der Dinge dar.

An meinem 16. Geburtstag kamen die drei wichtigsten Menschen in meinem Leben zu Besuch: mein Vater, meine Mutter und meine Schwester. Sie brachten Kuchen und heulten. Was wir redeten, weiss ich nicht, ich war nicht ich selbst. Mir tat alles weh, ich lag auf dem Rücken und konnte mich nicht bewegen. Dreizehn Tage und Nächte liess man mich in der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich zwangsfixieren: Beine, Arme, Bauch, Schultern und Schritt waren festgebunden am Bett. Ich pisste und kackte in eine Schüssel, die mir meine Aufseher hinschoben. Mein Vater sagte: Nimm die Beruhigungsmittel freiwillig, sonst überlebst du das nicht.

Mein Name ist Brian Henry Keller, ich bin 26 Jahre alt und habe bald ein Drittel meines Lebens in Schweizer Gefängnissen verbracht. Ich war jahrelang in Sicherheitshaft, als wäre ich so ein Menschenfresser. Sie kennen mich vermutlich unter dem Namen «Carlos», aber ich bin nicht «Carlos», ich bin ein anderer, einer, den Sie nicht kennen. Und deshalb will ich Ihnen hier erklären, wer ich bin und was mir passiert ist. Ich will, dass alle wissen, wie die Schweizer Justiz mein Leben zerstörte. Wie sie jedes andere Leben zerstören kann. Und wenn es dumm läuft, kann es auch Ihr Kind eines Tages treffen.

Schreiben ist nicht meins. Ich kann mich nicht an alles erinnern, oder ich verdränge es. Ich finde oft die Worte nicht. Also übernimmt das die Reporterin für mich. Wir waren monatelang in Kontakt, sie besuchte mich im Gefängnis, wir schrien uns durch dicke Trennwände an, ich war an Händen und Füssen gefesselt. Zwischen den Besuchen schrieben wir uns Briefe. Ich habe dazu Ja gesagt, obwohl ich weiss, dass Journalisten es nicht nur gut meinen mit mir. Sie lieben Skandale. Sie befragen Experten, die mich nicht kennen, und die sagen dann: Ganz schlimm, dieser Brian. Ein Intensivtäter. Die Gefängnisaufseher könnten einem leidtun, weil ich so gewalttätig sei. So ein Scheiss steht dann überall. Journalisten lieben krasse Zahlen. Bei mir war es die Zahl 22 000. So viele Franken hätte es den Staat im Monat gekostet, mir eine Chance in Freiheit zu geben, statt mich einzusperren. Wie diese Zahl mein Leben verändert hat, erkläre ich gleich.

Begonnen hat alles mit Freiheit. Meine ersten drei Lebensjahre habe ich in Paris verbracht. Wir waren eine Grossfamilie, wie man es in Kamerun, wo meine Mutter herkommt, kennt. Die grossen Kinder passen auf die kleinen auf, der Onkel kann dir so nahe sein wie dein Vater, deine Tante schaut auf dich wie deine Mutter. Später holte uns mein Vater, der in Zürich ein Architekturbüro hatte, in sein Heimatland. Ab da wuchs ich mit Mutter, Vater, Schwester und Bruder in Zürich Wollishofen auf. Französisch war meine Muttersprache, aber ich konnte mich schon nach drei Monaten auf Deutsch verständigen, ich kann mich gut erinnern, dass ich mich im Kindergarten gelangweilt habe. Ich wurde von der Stadt in ein Förderprogramm für Hochbegabte aufgenommen.

Ich liebte es, auszureissen. Das erste Mal war ich vielleicht so 8 Jahre alt, ich stieg aus dem Fenster und lief durch die dunkle Stadt. Ich wollte einfach frei sein. War viel mit älteren Jungs unterwegs, die schon rauchten und solche Sachen. Von Gesetzen, von Regeln wusste ich nichts. Auf der Strasse galten sowieso eigene Gesetze. Ich weiss, Sie denken jetzt: Was für Gangster-Storys, Zürich Wollishofen, echt jetzt? Aber es war so bei uns: Wenn dich einer angreift, dann musst du parat sein, das kann jeden Moment sein, und du liegst blutend am Boden.

Ich war 10 Jahre alt, als mich die Polizei aus dem Bett holte und mir Handschellen anlegte. Sie warfen mir vor, Feuer gelegt zu haben, steckten mich drei Wochen in ein Gefängnis, also eines, wo nur Erwachsene sind. Dann liessen sie mich frei, als sie bemerkten, dass ich nichts getan hatte. Für die Polizei war ich kein Kind. In ihren Augen war ich ein Täter – oder würde sicher bald zu einem werden, ein Neger, das haben sie mir oft genug zu verstehen gegeben. Zum Beispiel sagten sie: Was hast du für Haare, geh zurück in den Urwald, so was sagten sie zu mir. Aber wo soll ich hin, Mann? Ich bin doch Schweizer.

Ich hasse es, dass die Leute mich immer als Problemkind sahen. Ich wollte einfach machen, was ich wollte. Und dazu gehörte, mit meinen Jungs herumzuhängen, das Leben der Strasse zu leben. Ich kam früh ins Heim, weil meine Eltern und meine Lehrerinnen nicht mehr klarkamen mit mir. Aber ich wollte immer nach Hause. Nur nach Hause. Ich war sogar mal in Deutschland in einer Pflegefamilie, aber auch da wollte ich nur zurück. Mit 12 Jahren wurde ich sechs Monate eingesperrt im Aufnahmeheim Basel, weil niemand mehr wusste, was tun. Aber alle sagten, so gehe es nicht weiter. Ja, ich war fordernd und aggressiv. Wenn die Erwachsenen den Druck erhöhten, machte mich das nur noch aggressiver.

Mit 15 Jahren habe ich etwas getan, das tut mir heute leid. Da war einer, der hat mich provoziert, der hat auf mich eingeschlagen. Der war 18 Jahre alt und aus dem Quartier, von der Strasse. Ich war draussen und hatte ein Messer dabei, weil man, wie gesagt, auf alles vorbereitet sein muss bei uns. Und da habe ich mich halt gewehrt und zugestochen. Es tut mir vor allem für seine Mutter leid, so etwas ist schlimm für eine Mutter. Wir haben zwar alle Glück gehabt, es ist dann doch nichts Schlimmeres passiert. Ich wollte später Frieden machen mit dem, ihm die Hand geben, aber er wollte nicht.

Ab da war ich neun Monate im Gefängnis, 180 Tage davon in Einzelhaft im Gefängnis Limmattal. Ich war so unglücklich, so verzweifelt. 23 Stunden am Tag war ich in einer Zelle, eine Stunde durfte ich in den Hof, rumlaufen. Einmal die Woche kam meine Familie für eine Stunde und sass hinter der Trennscheibe. Ich hätte sie gerne umarmt. Ich war 15 Jahre alt, hatte keinen Kontakt zu Gleichaltrigen, keine Schule, keine Beschäftigung. Ich sass in dieser verdammten Zelle und empfand mich als Last für die Familie. Und da beschloss ich, mich umzubringen. Ich habe es zweimal versucht. Mein Vater hat damals, als sie mich in die Psychiatrische Klinik brachten und ans Bett banden, das Gespräch mit mir schriftlich festgehalten.

Vater: «Warum hast du einen Suizidversuch unternommen?»

Brian: «Ich wollte aus dem Gefängnis weg, ich war immer alleine, hatte seit Wochen keinen Kontakt zu meinen Kollegen. Ich hoffte, so woanders hinzukommen, wo ich nicht mehr so alleine war.»

Vater: «Was geschah am Morgen nach deinem Suizidversuch?»

Brian: «Sie holten mich aus dem Gefängnis und brachten mich in den Krankenwagen. Ich ging ohne Probleme mit, trug Fuss- und Handfesseln. In der Psychiatrie kamen viele Leute und schauten mich an, als wäre ich ein Mörder oder ein Terrorist oder so. Der Chef kam und fragte nicht, wie es mir gehe, sondern ob er mir Medikamente geben dürfe. Ich sagte Nein. Dann kamen zwei Leute mit einem Bett mit Gurten zum Festbinden. Ich legte mich ohne Probleme drauf, weil ich dachte, wenn ich mich freiwillig festbinden lasse, dann geben die mir keine Medikamente. Doch dann sagten sie, wenn ich die Medikamente nicht nehmen würde, dann bekäme ich eine Spritze. Da bin ich ausgerastet. Ich habe geschimpft, die Leute bedroht, geflucht, weil ich so verdammt Angst hatte, verzweifelt war und traurig. Wahnsinnig traurig.»

Mein grosses Glück war, als ich meinen Thaibox-Lehrer kennenlernte. Er behandelte mich wie Familie. Er war Teil des «Sondersettings», das sich mein Jugendanwalt zusammen mit einer Beraterfirma für mich ausgedacht hatte: Ich war privat in einer Wohnung untergebracht, hatte eine Betreuerin unter der Woche, am Wochenende war meine Familie bei mir. Ich hatte viele Pflichten, aber auch Freiheiten: Ich trainierte viel, das gefiel mir gut. Daneben lernte ich normale Schulsachen. Ich musste regelmässig das Klo putzen. Aber ich lachte wieder, schlief nachts endlich. Ich fühlte mich verstanden. Ein Jahr lang ging das gut. Und dann kam das Schweizer Fernsehen.

Eigentlich ging es um meinen Jugendanwalt, sogar um seine Ehe ging es. Es sollte ein Porträt über ihn persönlich und über seine Arbeit werden. Aber der Film handelte eben auch von mir, da war Positives drin, aber auch viel Negatives. Der Jugendstaatsanwalt wollte zeigen, wie gut das lief mit mir in diesem Sondersetting seit dreizehn Monaten. Im Film sah man mich auch boxen, wie ich in den Sandsack drosch, ich war sehr fit mit ­ vielen Muskeln und so. Sie nannten mich «Carlos».

Und dann sagte mein Jugendstaatsanwalt diese Zahl. 22 000. Aber genau genommen war es noch mehr: 29 000 Franken kostete mein «Sondersetting» monatlich. Etwas mehr als Sicherheitshaft im Gefängnis, weniger als ein Aufenthalt in der Psychiatrie. Der «Blick» hat das «Sozial-Wahn» genannt. Er hat dem Staat Kuscheljustiz vorgeworfen. Mich als Schlägertyp dargestellt, der zur Belohnung Boxtraining erhält und jeden Tag Rindfleisch isst. Die anderen Medien behaupteten einfach mal dasselbe. Zuerst fand ich die Artikel nicht so schlimm. Aber dann las ich die Leserkommentare. Da wollten mich ein paar umbringen. Warum wollte man mich tot sehen? Warum dachten Leute, die mich nicht kennen, ich hätte den Tod verdient? Das machte mich fertig.

Vorerst ging es ein paar Tage weiter wie zuvor. Und dann kam ich von der Malerwerkstatt nach Hause, im Treppenhaus sah ich einen Bekannten, ich sagte Hallo, doch der hatte Angst vor mir. Ich sagte: Nein, nein, du musst keine Angst haben vor mir! Wir lachten. Oben wartete die Polizei und sagte, ich käme in Haft. Meine Welt brach zusammen. Wo war mein Jugendstaatsanwalt? Wo war die Justiz, die sich geil fand, weil sie den «Carlos» endlich im Griff hatte? Es hiess, man wolle mich vor dem Hass der Öffentlichkeit schützen, ja, so lautete die Begründung, können Sie das glauben?

Ich kam also wieder in Haft, und mir blieb nur die Gegenwehr – mit Händen und Füssen. Seither werde ich so richtig gefickt vom Staat: Er versucht mich zu brechen. Und ich halte dagegen.

Ich sei kein Mörder, kein Vergewaltiger, kein Räuber und kein Brandstifter. Das hat mal ein Richter über mich gesagt. Aber warum bin ich dann seit Jahren mit Mördern, Vergewaltigern, Brandstiftern und Räubern eingesperrt?

Nachdem ich wieder für Monate alleine in einer Zelle war, hielt ein Gericht 2014 fest, dass meine Verhaftung nicht richtig war. Dass der Justizdirektor allein wegen der Medien eingebrochen ist und dass ich mir nichts habe zuschulden kommen lassen. Ich kam frei, das heisst, zurück ins Sondersetting.

Doch mein Leben hatte sich verändert. Ich wollte mir nichts mehr gefallen lassen, mir nie mehr den Willen anderer aufzwingen lassen. Ich hatte eine kurze Zündschnur. Einmal hatte ich Streit mit einem auf der Langstrasse, einer pöbelte mich an, bewaffnete sich mit einer Eisenstange und behauptete hinterher, ich hätte ihm mit einem Messer gedroht. Ich kam wieder sechs Monate in U-Haft. So lange brauchte es, bis eine Überwachungskamera zeigte, dass da kein Messer war. Ich erhielt 100 Franken pro Hafttag. 100 Franken für jeden Tag Beinahe-wahnsinnig-Werden. Von dem Geld ist nichts übrig, ich musste damit die Gerichtskosten bezahlen.

Zehn Jahre ist der Verrat nun bald her. Der Jugendstaatsanwalt hat mich einmal besucht, geweint und mich um Verzeihung gebeten. Ich habe ihn umarmt und ihm vergeben. Und trotzdem bin ich seit diesem Sommer 2013 anders. Da ist diese verdammte Wut. Sie ist in meinem Bauch und bricht beim geringsten Anlass wieder hervor. Ich halte an ihr fest, ich gebe sie nicht auf.

Ein Jahr später hatte ich draussen nochmals eine Auseinandersetzung, brach dem Gegenüber den Kiefer und mir den Finger. Ich kannte den Typen von einem Kickbox-Turnier, er suchte Streit. Es war die zweite Straftat, für die ich als Erwachsener verurteilt wurde, davor habe ich mir fünf Jahre nie irgendwas zuschulden kommen lassen. Ich wurde wegen versuchter schwerer Körperverletzung zu achtzehn Monaten Gefängnis verurteilt. Was folgte, waren zehn Monate Einzelhaft in verschiedenen Gefängnissen. Ich fühlte mich ungerecht behandelt, wehrte mich bis aufs Blut. Doch der Staat reagierte mit noch mehr Härte. Zum Schluss landete ich in Sicherheitshaft im Bezirksgefängnis Pfäffikon. Sie legten mich auf den Boden in der Zelle, gaben mir einen Poncho, darunter war ich nackt. Es war Januar, und ich fror. Ich klopfte, verlangte eine Decke, aber bekam keine. In der Zelle gab es keinen Stuhl, kein Bett. Keine Besucher, ausser mein Anwalt, der durfte nur draussen vor der Zellentür stehen und mit mir reden.

Ein Schlag verletzt dich in deiner Ehre, aber psychische Gewalt macht dich richtig fertig – als Mensch. Und im Gefängnis gibt es viele, die mich gerne quälen. Sie behaupten, ich sei gefährlich, dass ich sie angreife. Aber mal ehrlich: Ich bin mit starren Hand- und Fussfesseln unterwegs, wenn ich aus der Zelle in den Hof darf. Wie soll ich da jemanden körperlich angreifen? Die sind in der Überzahl und sind bewaffnet.

Im Knast habe ich Bücher gelesen. Biografien von Boxern, aber auch Machiavelli. Hobbes. Und manchmal schrieb ich Briefe. Ich drehe mich ständig um mich selber. Die Leute, die mich besuchten, sagten: Brian, du bist so stur geworden, seit du in der Zelle hockst. Ich denke an meine Eltern und frage mich, wie es ihnen geht mit der Situation. Hier drinnen, habe ich gelernt, zählt nur meine Familie. Es sind die Einzigen, die zu mir halten.

Ich sass also in der Justizvollzugsanstalt Pöschwies in Regensdorf, nachdem die Justizdirektorin Jacqueline Fehr zugegeben hatte, dass es in Pfäffikon bei meiner Inhaftierung zu «gravierenden Fehlern» gekommen war. Meine achtzehnmonatige Strafe hatte ich fast verbüsst. Eines Tages, im Juni 2017, wurde ich ins Büro des Abteilungsleiters gerufen. Er sagte mir, dass ich zurück in Einzelhaft müsse. Mitinsassen hätten einen Angriff geplant. Alles passiere zu meinem Schutz. Da sah ich rot. Ich hatte solche Angst, wieder mit mir alleine zu sein, wieder in der Scheisszelle, den Gedanken ausgeliefert, wo die Zeit stehenbleibt, wo eine Stunde eine Ewigkeit ist. Ich verlor die Beherrschung. Warf meinen Stuhl hinter mich. Im Gerangel erlitt ein Aufseher Prellungen, ich hatte ein blaues Auge und geschwollene Lippen. Ich wollte niemandem weh tun. Wollte nur endlich in Ruhe gelassen werden. Nicht immer büssen für Dinge, für die ich nichts konnte.

Der Sommer des ersten Verrats im Jahr 2013 liegt lange zurück. Für mich liegt diese Zeit wie schwerer Nebel in meinem Kopf, ich sehe noch immer nicht alles klar. Ja, ich habe auch randaliert, eine Zelle unter Wasser gesetzt, wo ich abermals einzeln inhaftiert war. Ich wollte mich nicht nur wehren, ich musste das tun, um nicht den Verstand zu verlieren. Ich bin nicht der Einzige, der das so sieht. Dazwischen gab es Gerichtsurteile, die sagen, dass es nicht richtig war, mich wieder zu inhaftieren. Solche, in denen die Richter schreiben, es sei verständlich, dass ich mich gewehrt habe.

Sie fragen: Warum kooperiert der nicht? Es ist meine Gegenwehr gegen ein System, das immer behauptet, alles zu meinem Besten zu wollen. Diese Heuchelei, diese Doppelmoral! Resozialisierung soll das Ziel sein. Das heisst: mich wiederherstellen, damit ich mich in die Gesellschaft einfüge, funktioniere, auf Linie bleibe. Was soll ich sagen, ich sitze schon so lange in Einzelhaft, alleine in Regensdorf sind es dreieinhalb Jahre. Pfäffikon Einzelhaft, Limmattal Einzelhaft, Winterthur Einzelhaft, Lenzburg Einzelhaft . . . meine Fresse, wie gesagt, ich bin durch diese Folter nicht zu einem besseren Menschen geworden. Nein, das auf keinen Fall.

Wenn ich heute zurückdenke an meinen Selbstmordversuch, weiss ich, ich bin jetzt anders, ich bin ein Mann. Heute bin ich ein Löwe. Der Brian von heute, der bringt sich nicht um.

Die Reporterin hat mich gefragt, ob ich auch weiche Seiten hätte. Ich habe liebe Seiten. Zum Beispiel liebe ich meine Familie, und ich würde alles für sie tun. Ich würde auch für andere, die nicht so stark sind wie ich, viel geben. Aber Schwäche kann ich keine zeigen, das geht unmöglich. Stärke ist hier drinnen eine Pflicht. Man muss kämpfen, bis man stirbt. Der Staat hat mich grösser gemacht, als ich bin. Hat mir zu viel Bedeutung gegeben. Angesichts der staatlichen Macht, das hat mich Machiavelli gelehrt, bin ich ein Nichts.

Vor ein paar Monaten wurde ich auf gerichtliche Anordnung in ein Gefängnis in der Stadt Zürich verlegt. Jetzt darf ich wieder trainieren, habe Kontakt mit Häftlingen. Und ich darf ohne Trennscheibe und Fesselung Besuch empfangen. Trotzdem: Das hier drin ist Zeitverschwendung. Draussen will ich boxen. Das ist mein Traum. Kämpfen im Training und im Ring, nirgendwo sonst. Niemand, der mir sagt, wann ich aufstehen soll und wann ich essen muss und wann ich mich bewegen darf. Endlich wieder Freiheit. Nicht für «Carlos». Freiheit für Brian Henry Keller.

Katharina Bracher, Reporterin für das Magazin der NZZ am Sonntag, empfiehlt die «Brian-Chronik» von humanrights.ch. Sie dokumentiert den Fall aus Sicht der Grundrechte.
-> https://www.humanrights.ch/de/beratungsstelle-freiheitsentzug/falldokumentation/brian/brian-chronik/
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/nzz-am-sonntag-magazin/jetzt-spricht-brian-der-beruehmteste-haeftling-der-schweiz-ld.1701989)
-> https://www.blick.ch/schweiz/nach-hafterleichterung-brian-verhaelt-sich-tadellos-id17869070.html