Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel
+++SCHWEIZ
nzz.ch 20.07.2022
Die Schweiz schafft Dutzende von abgewiesenen Asylbewerbern nach Algerien aus
Nach grossen Problemen funktionieren auch Zwangsrückführungen in den Maghrebstaat wieder. Die Strategie des Bundes hat sich vorderhand ausgezahlt.
Tobias Gafafer
Neuenburg erlebte einen Sommer, den der Kanton nicht so schnell vergisst. Vor zwei Jahren war dieser mit einer beispiellosen Serie von Diebstählen, Raubdelikten und Einbrüchen konfrontiert. Gemäss den Behörden verübten die Kriminaldelikte überwiegend algerische Asylbewerber, oft mit negativem Entscheid. Die jungen Männer hatten in der Nothilfe keine Perspektive, aber zurückführen konnte die Schweiz sie ebenfalls nicht. Ausschaffungen nach Algerien waren schon früher schwierig. Seit der Corona-Pandemie herrschte eine Blockade, weil das Land seine Grenzen geschlossen hatte.
Inzwischen funktionieren Rückführungen in den Maghrebstaat jedoch gut. Seit dem Ende der pandemiebedingten Blockade im Januar 2022 würden wieder weggewiesene Algerier ausgeschafft, bestätigt Lukas Rieder, der Sprecher des Staatssekretariats für Migration (SEM). Seit Anfang Jahr seien 219 Personen zurückgekehrt. In 42 Fällen handelte es sich um Zwangsrückführungen, teilweise mit Polizeibegleitung. Dem Vernehmen nach waren darunter auch Personen, die straffällig geworden waren. Die Ausschaffungen erfolgten mit Transit via Istanbul, aber auch ab Genf.
Der grösste Teil der Algerier kehrte jedoch freiwillig zurück, was in den vergangenen zwei Jahren ebenfalls kaum möglich war. Per Ende Juni lebten in der Schweiz noch 467 algerische Staatsangehörige, deren Asylgesuch das SEM abgelehnt hat. Der Bund konnte damit die Pendenzen abbauen, obwohl die Asylgesuche seit 2020 zunahmen und Rückführungen länger nicht möglich waren.
Zur Chefsache gemacht
Die Zahlen spiegelten die gute Zusammenarbeit zwischen der Schweiz und Algerien, sagt der Sprecher Rieder. Das SEM hat die Kontakte zu den algerischen Behörden intensiviert, die jede Rückführung bewilligen müssen. Die Schweiz und Algerien haben seit 2006 ein Rückübernahmeabkommen. Trotzdem führte das Land die Liste der hängigen Ausschaffungen an. Der Unmut über die blockierten Rückführungen in Neuenburg, Zürich und weiteren Kantonen war gross.
So gross, dass der Bundesrat das Thema zur Chefsache machte. Im März 2021 traf Bundesrätin Karin Keller-Sutter (FDP) in Algerien den Innen- und den Justizminister und den Präsidenten. Es war die erste Visite einer Vorsteherin des Schweizer Justizdepartements seit mehreren Jahrzehnten. Im Februar 2021 besuchte auch der Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) Algier. Ausser über die Migration sprach er mit algerischen Ministern über die wirtschaftliche Zusammenarbeit und Reformen im Spitalsektor.
Keller-Sutters Besuch habe zur weiteren Verbesserung der Zusammenarbeit beigetragen, sagt der SEM-Sprecher Rieder. Die Justizministerin und ihre algerischen Amtskollegen vereinbarten, praktische Lösungen für Rückführungen zu suchen. Das sichtbarste Resultat war, dass diese nun auch mit Transitflügen möglich sind – und nicht nur ab Genf mit Air Algérie.
Keller-Sutter und Cassis vermieden es bei ihren Besuchen, Algerien öffentlich unter Druck zu setzen. Stattdessen betonte die Justizministerin, wie wichtig eine intensivierte Zusammenarbeit sei. Die Schweiz hat Projekte zur Reintegration von Migranten unterstützt, die aus Algerien nach Niger und Mali zurückgekehrt sind. Algerien ist selber einem grossen Migrationsdruck aus den Subsahara-Staaten ausgesetzt, für die es Transit- und Zielland ist.
Frankreich schränkt Visavergabe ein
Zahlreiche europäische Länder wie Frankreich und Deutschland haben mit Ausschaffungen nach Algerien ebenfalls Mühe. In diesen Ländern halten sich deutlich mehr weggewiesene algerische Asylbewerber auf als in der Schweiz. Paris riss im September 2021 der Geduldsfaden: Die französische Regierung kündigte an, sie verschärfe die Visakonditionen für Staatsangehörige von Algerien, Marokko und Tunesien. Wenn die Länder nicht kooperierten, würde die Zahl der Visa für Algerien und Marokko um 50 Prozent reduziert und für Tunesien um 33 Prozent, sagte ein Regierungssprecher. Die drei Staaten würden ihre Bürger nicht zurücknehmen, die Frankreich nicht behalten könne.
Auch in der Schweiz war der Druck hinsichtlich eines schärferen Kurses gross. Ständerat Damian Müller (Luzern, FDP) verlangte vom Bund in einem Vorstoss, dem beide Räte zustimmten, Rückführungen auf dem Seeweg auszuhandeln. Der SVP-Fraktionschef Thomas Aeschi forderte, dass Bern Algeriern keine Visa mehr ausstellt, solange das Land seine Staatsbürger nicht zurücknimmt.
Der Bundesrat stellte sich jedoch dagegen. Er wies warnend darauf hin, derartige Massnahmen könnten gar kontraproduktiv sein und den Dialog gefährden. Die Strategie der Schweiz, mit Algerien hinter den Kulissen das Gespräch zu suchen, scheint sich vorderhand ausgezahlt zu haben. Sonderflüge oder Ausschaffungen auf dem Seeweg akzeptiert der Maghrebstaat allerdings weiterhin nicht.
Staatsangehörige von Algerien haben kaum eine Chance, in der Schweiz Asyl zu erhalten. Dennoch gehörte das Land in den letzten Jahren zu den fünf wichtigsten Ländern in Bezug auf die Herkunft von Asylbewerbern. Dass der Bund Rückführungen konsequenter durchführt, dürfte sich jedoch rasch herumsprechen. Im Juni nahm die Zahl der Gesuche aus dem Land bereits nur noch minim zu, obwohl mit der warmen Jahreszeit mehr Migranten aus Nordafrika die Überfahrt wagen.
Der Vollzug der Rückführungen macht selbst vor Personen nicht halt, die ihre Heimat schon lange verlassen haben. Die linke Wochenzeitung «WoZ» berichtete im Juni, dass die Behörden einen Algerier ausgeschafft hätten, der zwanzig Jahre illegal als Sans-Papier in der Schweiz gelebt habe.
(https://www.nzz.ch/schweiz/schweiz-schafft-abgewiesene-asylbewerber-nach-algerien-aus-ld.1694105)
—
Mehr als 60’000 Ukraine-Flüchtlinge in der Schweiz registriert
Der Ukraine-Krieg hat Millionen von Menschen in die Flucht getrieben. In der Schweiz sind 60’000 Personen aus dem Kriegsgebiet angekommen.
https://www.nau.ch/news/schweiz/mehr-als-60000-ukraine-fluchtlinge-in-der-schweiz-registriert-66226412
+++DEUTSCHLAND
Umstrittene Abschiebepolitik: Abschiebe-Business von Airlines
Fluggesellschaften verdienen an Abschiebungen. Die Bundesregierung hält die Namen der Unternehmen geheim, um sie vor Kritik zu schützen.
https://taz.de/Umstrittene-Abschiebepolitik/!5865691/
+++POLEN
Im Flüchtlingsgefängnis von Białystok
In Polen werden Flüchtlinge, die einen Asylantrag stellen und ein Recht auf Schutz haben, ebenso inhaftiert wie Menschen, die in ihre Heimat abgeschoben werden sollen. Sie sind oft monatelang hinter Gittern. Meral Zeller und Elisa Rheinheimer von PRO ASYL haben ein solches Gefängnis im Osten des Landes besucht.
https://www.proasyl.de/news/im-fluechtlingsgefaengnis-von-bialystok/
+++FLUCHT
WHO: Flüchtlinge und Migranten bei Gesundheit benachteiligt
Flüchtlinge und andere Migranten sind weltweit im Durchschnitt bei schlechterer Gesundheit als die einheimische Bevölkerung.
https://www.toponline.ch/news/schweiz/detail/news/who-fluechtlinge-und-migranten-bei-gesundheit-benachteiligt-00189332/
+++FREIRÄUME
Luzern und seine besetzten Häuser: Diese Faktoren machen eine Besetzung zum Erfolg
Die Bevölkerung der Stadt Luzern hat in den vergangenen Jahren mehrere Häuserbesetzungen erlebt. Viele davon haben mächtig Staub aufgewirbelt. Die Staubwolken haben sich mittlerweile verzogen. Doch was ist von den Besetzungen geblieben?
https://www.zentralplus.ch/wohnen-bauen/diese-faktoren-machen-eine-besetzung-zum-erfolg-2409661/
+++GASSE
Konzept gegen Obdachlosigkeit: SP Luzern möchte bedingungslose Wohnungen für Obdachlose
Mittels Postulat schlägt die SP Stadt Luzern vor, obdachlosen Personen bedingungslos Wohnraum zur Verfügung zu stellen. In anderen Ländern habe sich dieser «Housing First»-Ansatz bereits sehr bewährt.
https://www.zentralplus.ch/politik/sp-luzern-moechte-bedingungslose-wohnungen-fuer-obdachlose-2412625/
-> https://www.blick.ch/politik/auch-fuer-obdachlose-mit-drogensucht-sp-luzern-fordert-bedingungslose-wohnungen-id17678015.html
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/housing-first-gegen-die-obdachlosigkeit-sp-stadt-luzern-hat-postulat-eingereicht-ld.2319125
+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Ausschaffungshaft illegal: Kuba lehnt Rückkehr von straffälligem Staatsbürger ab
Der Mann kann trotz Landesverweisung nicht in sein Heimatland zurück. Nun muss er von den Genfer Behörden aus der Ausschaffungshaft entlassen werden.
https://www.tagesanzeiger.ch/kuba-lehnt-rueckkehr-von-straffaelligem-staatsbuerger-ab-421260108172
-> Urteil Bundesgericht: https://www.bger.ch/ext/eurospider/live/de/php/aza/http/index.php?highlight_docid=aza%3A%2F%2Faza://07-07-2022-2C_468-2022&lang=de&zoom=&type=show_document
+++POLIZEI AG
aargauerzeitung.ch 20.07.2022
«Sich beschimpfen zu lassen, ist nicht jedermanns Sache»: Der örtlichen Polizei geht das Personal aus
Konkurrenz, unattraktive Arbeitszeiten und zunehmende Respektlosigkeit bringen die Regionalpolizei Wettingen-Limmattal und die Stadtpolizei Baden in Nöte. Insgesamt neun Stellen sind derzeit nicht besetzt. Warum ist das so? Und was sind die Auswirkungen?
Andreas Fretz und Pirmin Kramer
Es fehlt derzeit vielerorts an Fachkräften. Bei den Lehrern, in der Gastronomie, aber auch bei den Regionalpolizeien im Ballungsgebiet um Baden herrscht ein Mangel. Bei der Regionalpolizei Wettingen-Limmattal mit einem Einzugsgebiet von 54’000 Einwohnern sind derzeit bloss 31 von 37 Stellen besetzt.
Oliver Bär ist seit April Kommandant der Repol Wettingen-Limmattal. Für ihn ist klar: «Die Konkurrenz aus dem Raum Zürich, wo die Korps aufgerüstet und bessere Löhne bezahlt werden, ist gross.» Dass aber alleine mit Geld das Problem behoben werden kann, bezweifelt er.
Das Ziel: Gute Rahmenbedingungen schaffen
Das wirksamste Mittel sei, ein gutes Arbeitsumfeld zu schaffen. «Die Rahmenbedingungen kann ich beeinflussen. Den Lohn, der von der Gemeinde kommt, nicht», sagt Bär. Eine Möglichkeit sei, die Arbeitszeiten flexibler zu gestalten oder Teilzeitmodelle anzubieten. «Unregelmässige Arbeitszeiten sind für viele ein Hinderungsgrund, für andere wiederum attraktiv», so Bär. Die Repol Wettingen-Limmattal arbeitet in einem 24-Stunden-Schichtbetrieb.
Bär vermutet, dass auch der gesellschaftliche Wandel zum Regionalpolizisten-Mangel geführt hat. Das Ansehen und der Respekt seien nicht mit früher vergleichbar. «Früher war man stolz, Polizist zu sein, und es war ein Job fürs Leben.» In vielen Ländern sei das immer noch so, nicht aber in der Schweiz, wo den Leuten die Türen in alle Richtungen offenstehen.
Zahl der Patrouillen und Präsenz nehmen ab
Die Konsequenz aus dem Personalmangel: Die Zahl der Patrouillen geht zurück, die Präsenz in den Gemeinden wird reduziert. «Haben wir nicht genug Personal, muss auch die Leistungsvereinbarung mit den Gemeinden überprüft werden. Zum Teil müssen dann externe Sicherheitsleute, etwa für Parkbussen oder gegen Littering, eingesetzt werden.»
Die Repol Wettingen-Limmattal hat derzeit sechs Stellen ausgeschrieben, nimmt aber auch Aspiranten auf. Einer ist aktuell in der Ausbildung in Hitzkirch, im Herbst beginnen zwei weitere.
Unterbestand auch bei der Stadtpolizei Baden
Auch die Stadtpolizei Baden hat derzeit Unterbestand, wie Martin Brönnimann sagt, Leiter der Öffentlichen Sicherheit. «Genügend Personal zu finden, ist auch für uns ein Thema.» Drei Stellen seien momentan nicht besetzt, sagt er.
Es gebe wohl vielerlei unterschiedliche Gründe dafür, dass es schwierig sei, genügend Personal zu finden. Die Arbeitszeiten mit Abend- und Wochenendeinsätzen seien nicht für alle attraktiv. Die Bezahlung liege im Kanton Aargau gegenüber Zürich um einiges tiefer; zwischen 75’000 und 79’000 Franken pro Jahr verdiene ein jüngerer Polizist mit wenig Berufserfahrung, sagt Brönnimann, hinzu kämen noch Spesen und Zulagen für Nacht- und Wochenenddienste.
Der Verteilkampf steigt stetig
Viele seien derzeit daran, ihre Korps aufzurüsten, so etwa die Kantonspolizeien Bern und Zürich. «Der Markt wird nicht grösser. Der Verteilkampf um jene, die sich ausbilden lassen wollen oder ausgebildet sind, steigt stetig», sagt Brönnimann.
Ausserdem führen die Veränderung der Gesellschaft an sich dazu, dass der Job weniger attraktiv geworden sei, glaubt der Badener Sicherheitschef. Der Respekt gegenüber Mitarbeitenden der Polizei sei gesunken: «Es ist nicht jedermanns Sache, sich Wochenende für Wochenende beschimpfen zu lassen. Am Freitag und Samstag im Ausgang spüren sich viele Leute nicht mehr.»
Polizistin beziehungsweise Polizist sei ein Beruf, der zunehmend hohe Anforderungen an soziale Kompetenz und an Leidensfähigkeit stelle. Auch punkto Berufsloyalität habe sich einiges verändert. «Einst kamen viele mit 22 zur Polizei und blieben bis 65. Heute erachten nur noch wenige diesen Beruf als Lebensaufgabe beziehungsweise als Lebensherausforderung, die intrinsische Motivation ist nicht mehr so häufig wie früher anzutreffen.»
Was den Beruf interessant macht, macht ihn auch schwierig
Welches sind die positiven Seiten des Jobs? Brönnimann: «Ganz klar der Umgang mit den Menschen. Wir können ihnen helfen, wenn sie in Not sind.» Spannend sei die Unvorhersehbarkeit: Am Morgen wisse man selten, was der Tag bringt. Was den Beruf so interessant mache, könne ihn gleichzeitig auch so schwierig machen.
Wie geht die Stadtpolizei mit dem Fachkräftemangel um? «Wir setzen Prioritäten noch strenger. Konzentrieren uns darauf, was wirklich wichtig ist: jederzeit zur Verfügung zu stehen für Notfälle.» Ab kommendem Jahr will die Stadtpolizei auch wieder eigene Anwärterinnen und Anwärter ausbilden, sagt Brönnimann. Das habe man seit einigen Jahren nicht mehr gemacht.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/baden/badenwettingen-es-ist-nicht-jedermanns-sache-sich-beschimpfen-zu-lassen-den-polizeien-geht-das-personal-aus-ld.2319467)
+++POLIZEI BS
bzbasel.ch 20.07.2022
Personalschwund: Der Basler Polizei läuft das Personal davon
Besonders die Zunahme an Demonstrationen führt zu grosser Mehrbelastung und Unzufriedenheit. Die Polizeileitung ergreift nun Massnahmen, doch der Basler Polizeibeamtenverband ist skeptisch.
Tomasz Sikora
Die Basler Kantonspolizei hat ein massives Personalproblem. Fehlten dem Korps Ende 2019 31,5 Vollzeitstellen, waren es Ende 2021 bereits 64,2. Und das Problem hat sich dieses Jahr noch einmal drastisch verschärft. «Stand Ende Juni hat die Kantonspolizei Basel-Stadt ein Total von rund 90 nicht besetzten Vollzeitäquivalenten bei uniformierten Polizistinnen und Polizisten sowie Sicherheitsassistentinnen und -assistenten», sagt Polizeisprecher Adrian Plachesi. Für den Zeitraum seit 2019 entspricht das einer Verdreifachung. Harald Zsedényi, Vizepräsident des Polizeibeamten-Verbands Basel-Stadt, bestätigt: «Es gibt einen massiven Unterbestand bei der Basler Kantonspolizei.»
Das spiegelt sich in den Kündigungszahlen wider. Hatten 2019 14 Personen ihre Anstellung beendet, waren es 2020 bereits 23 und 2021 33 Personen. Und die Zahl nimmt weiter zu. «Seit Anfang Jahr kam es im Korps der Kantonspolizei zu 39 Kündigungen durch Arbeitnehmer», sagt Plachesi. Harald Zsedényi sagt: «Es kündigen nach wie vor viele und es ist nur eine Frage der Zeit, bis weitere Leute kündigen werden.» Die Abwanderung sei im Moment zumindest bei der uniformierten Polizei überdurchschnittlich.
Kommt hinzu, dass der Nachwuchs fehlt. «Es bewerben sich immer weniger Personen für den Polizeiberuf», sagt Zsedényi. Und wenn Leute zu uns kommen, verfügten sie meist über keine polizeiliche Ausbildung. «Selbst wenn wir also neue Personen rekrutieren können, müssen sie erst ausgebildet werden. Das sorgt für weitere Verzögerung, bis diese eingesetzt werden können.»
Mehr Einsätze bei weniger Personal
Woran liegt es, dass der Basler Polizei die Leute davonlaufen? Zsedényi sieht mehrere Gründe für die abnehmende Beliebtheit der Basler Polizei als Arbeitgeberin, betont aber zwei: «Besonders belastend sind Einsätze an Hochrisikofussballspielen und die zunehmende Zahl an Demonstrationen.» Die Zahl der Letzteren, ob bewilligt oder unbewilligt, hat sich zwischen 2015 und 2021 von 87 auf 303 fast vervierfacht. Besonders die unbewilligten haben von sieben auf 124 massiv zugenommen. Diese Einsätze können kaum langfristig geplant werden. «Das führt dazu, dass wir oft kurzfristig an freien Tagen, meist an den Wochenenden, einspringen müssen.»
Mit Sorge blickt der Polizist deshalb auf die Pläne des Schweizer Fussballverbandes, ein Playoff-System in der Super League einzuführen: «Das würde die Zahl unserer Einsätze noch einmal zusätzlich stark erhöhen, da mehr Risikospiele stattfinden.»
Private übernehmen staatliche Aufgaben
Der Personalmangel ist derart gravierend, dass die Polizei nicht mehr in der Lage ist, ihren Auftrag richtig auszuführen, gibt Sprecher Plachesi zu: «Es gilt das Prinzip ‹Sicherheit vor Ordnung›.» Bei Lärmbelästigungen in der Nacht, vor allem am Wochenende, komme es immer wieder vor, dass die Einsatzzentrale andere Notrufe zuerst behandeln muss – zum Beispiel Gewaltdelikte. «In der aktuell knappen Personalsituation kann es also häufiger passieren, dass Requirierende bei Lärmbelästigungen länger auf das Eintreffen einer Polizeipatrouille warten müssen.»
Auch übliche Bewachungsaufgaben kann die Polizei nicht mehr erfüllen, gesteht Plachesi ein: «Seit dem 11. Juli übernehmen Mitarbeitende einer Basler Sicherheitsfirma teilweise die Bewachung von Personen in Haft sowie vorläufig Festgenommenen während eines Spitalaufenthalts.» Damit solle erreicht werden, dass mehr Polizistinnen und Polizisten für sicherheitspolizeiliche Aufgaben zur Verfügung stehen.
Für Harald Zsedényi ist die Situation nicht mehr haltbar. «Die Polizei muss bei abnehmendem Personalbestand die gleichen und zum Teil sogar noch mehr Aufgaben erfüllen.» Das führe zu einem Teufelskreis. Immer mehr Leute würden kündigen oder würden krank, was zu weiteren Kündigungen und Krankschreibungen führe. Entsprechend pessimistisch blickt er in die Zukunft: «Ich gehe davon aus, dass das Problem weiter zunehmen wird.»
Polizeiführung reagiert mit Massnahmenpaket
Inzwischen hat auch der Kommandant auf das Problem reagiert. In einem internen Video, das dieser Redaktion vorliegt, richtete er sich im Mai an die Belegschaft und kündigte per Juni Entlastungsmassnahmen an. Harald Zsedényi kann darin aber keine substanziellen Entlastungen erkennen, wie er sagt: «Das Video ist unkonkret. Aus unserer Sicht sind darin fast keine Entlastungen enthalten.»
Eine Verbesserung der Situation könne letztlich nur über eine Aufstockung des Korps oder eine Reduktion der zu erfüllenden Aufgaben erreicht werden, so der Vizepräsident weiter. Er kritisiert Einsätze, die laut ihm immer wieder von der Polizei erledigt werden müssten. «Es kann zum Beispiel nicht sein, dass das Veterinäramt infolge Personalmangels die Arbeiten an die Polizei delegiert und wir uns mit verletzten oder verendeten Tauben beschäftigen müssen», ärgert er sich. Er könnte noch zahlreiche vergleichbare Beispiele aufzählen, fügt er an.
Die Polizeiführung hat inzwischen ein umfangreiches Massnahmenpaket mit Vorschlägen zur Verbesserung der Situation erstellt. Wie mehrere Quellen der bz bestätigen, hat sie dieses Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann (LDP) erst kürzlich übergeben. Adrian Plachesi bestätigt, dass das Kommando wegen der Personalsituation mit Eymann in Kontakt steht, gibt sich aber zum Inhalt der Gespräche zugeknöpft: «Diesen laufenden Austausch kommentieren wir nicht.»
Polizist Zsedényi ist angesichts seiner Erfahrungen skeptisch: «Der ehemalige Sicherheitsdirektor Baschi Dürr hatte bereits 2015 angekündigt, die Administrativarbeit der Polizei um die Hälfte zu reduzieren.» An der Front sei aber davon bisher wenig zu spüren. Er setzt darum auf eigene Massnahmen. Der Verband habe seine Mitglieder gebeten, Vorschläge zur Verbesserung der Situation zu machen. «Wir werden diese zusammentragen und auf deren Grundlage einen Forderungskatalog an das Kommando stellen.»
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/sicherheit-personalschwund-der-basler-polizei-laeuft-das-personal-davon-ld.2318833)
-> https://www.watson.ch/schweiz/basel/266451727-basel-stadt-laufen-die-polizistinnen-und-polizisten-davon
-> https://telebasel.ch/2022/07/20/basel-stadt-laufen-die-polizisten-davon/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/personalmangel-bei-der-basler-polizei?id=12225409
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/personalnot-bei-der-polizei-das-ist-eine-negativspirale-ich-sehe-schwarz
—
bzbasel.ch 20.07.2022
Personalnotstand bei der Basler Polizei: Nun fordert die Politik attraktivere Arbeitsbedingungen
Mit rund 90 Vollzeitstellen ist die Kantonspolizei Basel-Stadt aktuell unterbesetzt. Gleich mehrere Grossräte werden nun mit politischen Vorstössen aktiv. Eine Gemeinsamkeit haben alle Forderungen: Die Arbeitsbedingungen sollen besser werden.
Tomasz Sikora
Wie Recherchen der bz zeigten, leidet die Basler Kantonspolizei an einem Unterbestand von ungefähr 90 Vollzeitstellen. Gemessen am Gesamtbestand des Korps beträgt er damit rund 10 Prozent. Schon in der ersten Jahreshälfte 2022 haben mehr Personen gekündigt als im gesamten vergangenen Jahr. Die Situation ist derart gravierend, dass die Polizei staatliche Kernaufgaben wie die Bewachung von Inhaftierten nicht mehr selber erfüllen kann und diese an Private auslagern muss, wie die Polizei zugibt.
Der Polizeibeamtenverband Basel-Stadt sieht den enormen Anstieg an Demonstrationen in den vergangenen Jahren als Hauptgrund für die abnehmende Attraktivität als Arbeitgeberin. Diese bedeuteten für das Personal oft kurzfristige Einsätze an Wochenenden und eine generelle Mehrbelastung.
Politik wird mit Vorstössen aktiv
Angesichts der Dimension des Problems nimmt sich nun die Politik der Angelegenheit an. Diese legt den Fokus aber nicht auf die Mehrbelastung durch Demonstrationen, sondern eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen.
Die Polizei müsse das Problem des Personalnotstands bei der Kantonspolizei sehr ernst nehmen, sagt SP-Grossrat und Mitglied der Justiz-, Sicherheits- und Sportkommission (JSSK) des Grossen Rates, Mahir Kabakci, denn: «Es ist alarmierend, wenn die Polizei Kernaufgaben wie die Bewachung von Häftlingen an Private delegieren muss.»
Sicherheit sei eine hoheitliche Aufgabe und dürfe nicht Privaten überlassen werden, sagt er und stellt klar: «Die Kantonspolizei muss ihrem Verfassungsauftrag nachkommen.» Das Problem sei jetzt rasch anzugehen: «Die JSSK muss an der nächsten Sitzung mit dem Polizeikommandanten und der Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann dieses Thema vollumfänglich besprechen.» Kabakci macht klar, was seine Erwartungen an dieses Gespräch sind: «Die Polizeileitung muss der Kommission Rede und Antwort stehen.»
Ausserdem plant Kabakci einen Vorstoss zu lancieren, wie er ankündigt: «Das Justiz- und Sicherheitsdepartement (JSD) muss erklären, was es bisher unternommen und warum sich die Situation bisher nicht verbessert, sondern weiter verschlechtert hat.»
Anders als Kabakci hat SVP-Grossrat und JSSK-Mitglied Felix Wehrli bereits eine Interpellation eingereicht, denn es könne nicht so weitergehen: «Wenn die Polizei selbst bestätigt, dass sie nicht über die nötigen Ressourcen verfügt, um ihre Kernaufträge zu erfüllen und diese von Privaten übernommen werden müssen, dann ist das nicht nur bedenklich, sondern für die Zukunft äusserst gefährlich.»
Mit seinem Vorstoss wolle er die Gründe für den Notstand eruieren und was gegen das Problem getan werden kann.
Eine Ursache nimmt Wehrli aber vorweg: «Ein Thema ist sicherlich der vergleichsweise niedrige Lohn und die Tatsache, dass die Polizeiarbeit in Städten generell unattraktiv ist.» Und auch einen Seitenhieb an die politische Konkurrenz kann er sich nicht verkneifen: «Hilfsmittel wie die Videoüberwachung an Hotspots werden vom Grossen Rat abgelehnt. Dabei könnte das einen Beitrag zur Entlastung und Problembekämpfung leisten.»
Auch LDP-Grossrat Michael Hug ist mit einer schriftlichen Anfrage an die Regierung aktiv geworden. Er glaubt ebenfalls, dass die Arbeitsbedingungen verbessert werden müssen: «Ich höre aus Polizeikreisen immer wieder, dass die Bedingungen bei anderen Korps wie zum Beispiel in Bern oder Zürich besser seien.»
Aus liberaler Sicht seien höhere Löhne bei der Polizei kein Tabu, denn Sicherheit sei eine der Kernaufgaben des Staates.
Es gehe aber nicht nur um Geld, ist Hug überzeugt: «Die Basler Kantonspolizei verfügt zum Beispiel über keine Kantine und auch Parkplätze sind ein Problem.» Der Kanton hält seine Angestellten dazu an, für den Arbeitsweg den öffentlichen Verkehr zu benutzen. «Bei einem Beruf mit vielen Nachtschichten und Wochenendeinsätzen ist das aber nicht praktikabel», gibt er zu bedenken.
Sorgen unnötige Demo-Einsätze für Mehrbelastung?
Auch Basta-Grossrat Nicola Goepfert fordert bessere Arbeitsbedingungen bei der Kantonspolizei. Er fasst seine Forderung aber breiter: «Das gilt generell für alle Branchen, nicht nur für die Polizei, sondern insbesondere auch für Pflegefachpersonen.» Auch findet Goepfert, dass die Aufgaben der Polizei überdacht werden müssten wie etwa das Auflesen toter Tauben.
Dass die Polizei an Grenzen stosse, überrasche ihn aber nicht nur wegen solcher Aufgaben, denn: «Es sind gerade bei Demonstrationen immer wieder unnötig grosse Aufgebote zu beobachten. Ein aktuelles Beispiel dafür ist der diesjährige feministische Streik.»
Hier sei das JSD selber schuld und müsse die Ressourcen anders einsetzen. Wie auch immer das Problem angegangen wird: Schnell wird es auf keinen Fall gelöst.
(https://www.bzbasel.ch/basel/basel-stadt/sicherheit-personalnotstand-bei-der-basler-polizei-nun-fordert-die-politik-attraktivere-arbeitsbedingungen-ld.2319891)
+++HISTORY
derbund.ch 20.07.2022
Historiker siegt vor Bundesgericht: Sein Projekt gefährde die Schweiz, hiess es – nun hat er recht bekommen
Jonathan Pärli klagte mit Erfolg gegen die Bundesverwaltung, die ihm den Zugang zu Akten verweigert hatte. Doch ein Held will der Historiker nicht sein.
Andreas Tobler
Als es hiess, sein Anliegen widerspreche dem öffentlichen Interesse, er könnte also mit seinen Nachforschungen unser Land gefährden, hatte der Historiker Jonathan Pärli endgültig genug: Er beschloss, seine Klage durchzuziehen – und zwar letztlich bis vors Bundesgericht.
Dort hat der heute 35-Jährige kürzlich recht erhalten: Das Staatssekretariat für Migration (SEM) und das Bundesverwaltungsgericht hätten der Wissenschafts- und Forschungsfreiheit zu wenig Gewicht gegeben, als sie den Zugang zu den Akten verweigert hätten, die Pärli für seine Doktorarbeit zum Spannungsfeld von Asylpraxis und Aktivismus habe anschauen wollen.
«Pseudoasylant» oder Opfer rassistischer Politik?
In den Akten geht es um einen Fall, der die Schweiz in den letzten Jahren des Kalten Krieges stark bewegte: Im Januar 1988 wurde Mathieu Musey in einer Nacht-und-Nebel-Aktion in den heutigen Kongo ausgewiesen, nachdem er sich während mehrerer Monate zusammen mit seiner Familie auf einem Bauernhof im Jura versteckt hatte.
Bis heute liegen die genauen Gründe für Museys Ausweisung im Dunkeln, der 1972 mit einem Stipendium einer katholischen Stiftung in die Schweiz gekommen war – und schliesslich an der Universität Bern mit einer Habilitation begonnen hatte, mit der er sich um eine Professur hätte bewerben können.
Den einen galt Musey als «Pseudoasylant», der sich als «ewiger Student» das Aufenthaltsrecht in der Schweiz erschlichen hatte. Für die anderen war der kongolesische Wissenschaftler das Opfer einer rassistischen Asylpraxis – und der Schweizer Bundespolitik, die eine gewisse Nähe zum kongolesischen Diktator Mobutu pflegte, für den Mathieu Musey ein Staatsfeind war.
Wie es wirklich war, können wahrscheinlich nur die Akten erzählen, die Pärli für seine Doktorarbeit anschauen wollte.
600 Franken für eine Unterschrift
Mathieu Musey war einverstanden, dass Jonathan Pärli seine Akten ansieht: 2017 unterzeichnete er eine Einverständniserklärung, die ihm der Historiker via Kurier in die kongolesische Millionenstadt Kinshasa geschickt hatte. Insgesamt 600 Franken hatte Jonathan Pärli dies gekostet.
Doch das genügte dem SEM nicht: Sie forderte auch noch die Kopie eines amtlichen Ausweises, den Musey nicht hatte – und im ewig kriselnden Kongo auch nicht so einfach beantragen konnte. Da auch die Kinder in Museys Asylakten erfasst sind, sollten auch sie Erklärungen unterzeichnen und Kopien ihrer Ausweise in die Schweiz schicken. Nicht zuletzt, weil sich das Schweizer Migrationsamt Sorgen machte, Musey und seine Kinder könnten Opfer von Verfolgung werden, wenn der Historiker seine Recherchen publizierte.
Das fand Jonathan Pärli unverhältnismässig – und widersprüchlich, dass sich das SEM plötzlich um Menschen sorgte, die es vor Jahren aus dem Land gewiesen hatte. Pärli wählte den Rechtsweg.
Epochaler Sieg – doch ein Held will er nicht sein
In der Geschichtswissenschaft wird Pärlis Sieg vor dem höchsten Gericht als «epochal» gefeiert. Von der Schweizerischen Gesellschaft für Geschichte erhielt der Historiker einen Preis für Forschungsfreiheit, den man eigens für ihn erfunden hatte.
Doch als Held will Jonathan Pärli nicht gesehen werden: «Mein Fall ist eine Ausnahme, die die Regel bestätigt», sagt Pärli am Telefon. Die Hürden für den Aktenzugang seien zu hoch. Der Rechtsweg viel zu aufwendig – gerade für junge Forscherinnen und Forscher, die mit befristeten Stipendien und Verträgen ihre Dissertationen möglichst zielstrebig abschliessen sollen. Ein mehrjähriges Verfahren können sie sich in der Regel nicht leisten – weder finanziell noch zeitlich.
Ohne Hilfe des Vaters undenkbar
In dieser Hinsicht ist Pärli tatsächlich eine Ausnahme. Er verfügte über geradezu ideale Voraussetzungen für eine Klage: Pärlis Vater ist Rechtsprofessor an einer Schweizer Universität. Ohne seine Hilfe und die von mehreren Bekannten, die bereit waren, allfällige Kosten zu übernehmen, die rasch mehrere Zehntausend Franken betragen, hätte der Historiker nicht durch die Instanzen gehen können.
Pärli hofft nun, dass das von ihm erwirkte Urteil wegweisend sei: dass zukünftig zwischen der Akteneinsicht und der Publikation aus den Dossiers unterschieden wird. Damit könnte der Zugang zu den Dokumenten für die Forschung erheblich erleichtert werden, sagt Pärli im Gespräch. Nicht zuletzt hofft der Historiker, der heute an der Universität Basel angestellt ist, dass er doch noch Zugang zu den Musey-Akten erhält, wenn das Bundesverwaltungsgericht demnächst über den zurückgewiesenen Fall erneut zu entscheiden hat. Zwei Jahre nach Mathieu Museys Tod, fünf Jahre nach Pärlis erstem Gesuch – und mehrere Monate nachdem der Historiker seine Dissertation abgeschlossen hat.
–
Erklärung aus dem Untergrund: Mathieu Musey wandte sich im März 1987 via Video an die Öffentlichkeit. DRS Aktuell vom 11.03.1987
https://www.srf.ch/play/embed?urn=urn:srf:video:84ad1363-e532-4b4d-aa5e-6658460a5a23&subdivisions=false
Die Affäre Musey: Dokumentarfilm des Westschweizer Fernsehens vom März 1988.
Video: RTS
https://www.rts.ch/play/embed?urn=urn:rts:video:8429754&subdivisions=false
(https://www.derbund.ch/sein-projekt-gefaehrde-die-schweiz-hiess-es-nun-hat-er-recht-bekommen-545231510288)
—
tagesanzeiger.ch 20.07.2022
Gemeinderat unterstützt Aufarbeitung: Opfer von Zwangsmassnahmen erlitten Gewalt in Stäfa
Zahlreiche Menschen waren in Stäfa bis 1981 von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen, wie eine neue Studie zeigt. Der Gemeinderat will die Forschung dazu nun vertiefen.
Philippa Schmidt
Es ist eine Horrorvorstellung: Kinder werden ihren Eltern entrissen, erwachsene Frauen stehen unter Vormundschaft, weil sie «sittlich verdorben» sind. Doch genau dies ist Romy passiert. Sie wurde ihren geschiedenen Eltern 1946 zwangsweise weggenommen und in ein katholisches Mädcheninternat in Schaan (Fürstentum Liechtenstein) gesteckt. Auch nach ihrer Rückkehr nach Stäfa als Jugendliche und bis ins Erwachsenenalter blieb sie unter Vormundschaft. Und all dies, weil das wahrscheinlich sexuell missbrauchte Mädchen des Schwachsinns und eines liederlichen Lebenswandels bezichtigt wurde.
Romy ist nicht der richtige Name dieser jungen Frau, doch ihre Geschichte ist so passiert, und sie ist kein Einzelfall. Dies zeigt die letztes Jahr vom Gemeinderat in Auftrag gegebene und nun erschienene Vorstudie zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen in Stäfa. Deren Autor, der Historiker David Kobelt, hat das Schicksal von Betroffenen und die zugrunde liegenden Behördenbeschlüsse im Zeitraum von 1912 bis 1981 untersucht. Aufgrund dieser Erkenntnisse hat der Stäfner Gemeinderat nun entschieden, Kobelt mit einer systematischen und noch tiefergehenden Aufarbeitung des Themas zu beauftragen.
Diskussionen anregen
«Es ist unsere Pflicht, und wir sind es den Betroffenen gegenüber schuldig, Klarheit darüber zu erhalten, unabhängig davon, was dabei noch zutage kommt», erklärt Gemeindepräsident Christian Haltner (FDP) den Entscheid des Gemeinderats. Man wolle das Thema proaktiv angehen. Dabei geht es auch darum, dass die Betroffenheit auf kommunaler Ebene viel grösser ist. Haltner schildert, wie er selbst sich beim Durchlesen der historischen Quellen bei manchem Namen gefragt habe, ob er die Person kenne oder ob eine Namensgleichheit lediglich Zufall sei.
Ein Grund für die Aufarbeitung liegt auch darin, dass die Stäfner Bevölkerung zum Nachdenken und Diskutieren angeregt werden soll. In welcher Form dies geschehen soll, ist zurzeit noch offen. Als Optionen nennt der Gemeindepräsident eine Sonderausstellung oder auch Informationsanlässe.
«Gewaltige Zahl»
«Es gab zahlreiche Fälle, in denen Menschen ohne Gerichtsverfahren durch einen Entscheid der Fürsorgebehörde oder des Waisenamtes weggesperrt wurden», sagt der Autor David Kobelt. Wie viele Menschen von den fürsorgerischen Zwangsmassnahmen betroffen waren, kann er noch nicht beantworten. Dies sei Gegenstand der weiteren Forschungen.
Wenn man Fallzahlen aus einzelnen Jahren hochrechne, komme man aber auf eine gewaltige Zahl. «Ich will und kann mir das gar nicht vorstellen», sagt der Historiker. Betroffen waren Frauen und Mädchen sowie Männer und Buben gleichermassen.
Die Begründungen für die Entmündigungen waren je nach Geschlecht aber unterschiedlich. Bei Frauen sei es meist um eine nach damaligen gesellschaftlichen Normen zu frühe oder zu offen gelebte Sexualität gegangen, erklärt Kobelt. Wohingegen bei Männern «Trunksucht» oder «Arbeitsscheu» als Begründung für Zwangsmassnahmen herangezogen wurden.
Brutale Heimleiterin
Betroffen waren die Versorgten nicht nur von Zwangsarbeit, sondern auch von Gewalt wie etwa Schlägen. Diese wurde oft als «körperliche Züchtigung» benannt und aufgezeichnet, wie Kobelt in seiner Vorstudie aufzeigt. So ist etwa Gewalt gegen die versorgten Mädchen im Dorinastift, der heutigen Sprachheilschule an der Seestrasse, belegt. Diese war sogar nach damaligen Massstäben schlimm, sodass die Heimleiterin vor der Hauskommission Rede und Antwort stehen musste, wie Kobelt sagt. Weitere Institutionen, in denen Versorgte unterkamen, waren das Kinderheim Redlikon und das Waisenhaus auf dem Mühlehölzli.
Bislang hat der Wissenschaftler vor allem in Archiven recherchiert. Er würde aber gern künftig mit Zeitzeuginnen und -zeugen über das Erlebte sprechen. Kobelt geht es bei der Aufarbeitung nicht nur um die Vergangenheit, sondern auch darum, Erkenntnisse für die Gegenwart zu gewinnen. «Das Thema ist eigentlich nicht abgeschlossen», gibt er zu bedenken. Auch heute gebe es noch fürsorgerische Massnahmen, und der Behördenapparat funktioniere nach den Mechanismen, dass ein Teil der Gesellschaft für den anderen Teil entscheide. «Wir sollten als Gesellschaft diese Regeln beständig hinterfragen.»
Es geht nicht um Schuld
Kobelt geht es allerdings nicht darum, die Verantwortlichen zu verurteilen. Was in der Vorstudie eindeutig zur Geltung komme, ist, dass sich die Behördenvertreter an die Gesetze und Regeln gehalten hätten. Er betont, dass Stäfa im Kanton Zürich auch kein Sonderfall gewesen sei. Es gehe vielmehr darum, zu dem zu stehen, was passiert sei.
Bei der Frage nach der Schuld zeigt sich Gemeindepräsident Haltner ebenfalls zurückhaltend. Er wolle nicht verurteilen. «Die Behörden haben das wahrscheinlich auch damals nach bestem Wissen und Gewissen entschieden», sagt er und verweist auf die früheren Gesetze und Gewohnheiten. Für die Vorstudie hat der Gemeinderat einen Kredit von 15’000 Franken gesprochen. Wie hoch die weiteren Kosten sind, ist noch nicht definiert.
Romy konnte sich immerhin im Alter von 27 Jahren nach einer Heirat von der Vormundschaft entledigen. Doch die Geschichte wiederholte sich, wie der Vorstudie zu entnehmen ist: Auch ihre Tochter Tina geriet unter Vormundschaft.
(https://www.tagesanzeiger.ch/opfer-von-zwangsmassnahmen-erlitten-gewalt-in-staefa-501291479519)