Medienspiegel 11. Juli 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
derbund.ch 11.07.2022

Unkomplizierte Freiwilligenhilfe: Wenn Laien Kriegsflüchtlinge unterrichten

Freiwillige in Wangen an der Aare fassten sich ein Herz und organisierten im Eiltempo Kurse für ukrainische Geflüchtete. Damit ist nun Schluss.

Julian Perrenoud

Im idyllischen Garten des Evangelischen Gemeinschaftswerks (EGW) zwitschern die Vögel. Schulkinder rufen; rennen auf dem nahen Strässchen vorbei. Eine Scheibensäge fräst in der Nachbarschaft. Der Krieg ist hier weit weg. Und doch muss er für die 24 ukrainischen Frauen und wenigen Männer allgegenwärtig sein. Für zwei Stunden aber gilt ihr Fokus dem Unterricht. Im Haus haben sie sich in drei Gruppen aufgeteilt, um Deutsch zu lernen.

Plötzlich waren sie da. Und es wurden immer mehr. Bis heute kamen in Wangen an der Aare rund 50 Menschen an, die vor Kampf und Zerstörung in der Ukraine geflüchtet waren. Das sind immerhin etwa zwei Prozent der Gesamtbevölkerung des Städtli. Die Kinder konnten die rasch eröffnete Willkommensklasse besuchen – doch was war mit ihren Eltern? Wie sollte deren Alltag aussehen?

In wenigen Tagen zum ersten Kurs

Am 26. April läutete das Handy von Christine Schaarschmidt. Am anderen Ende war Martina Gerber. Ob sie sich vorstellen könne, bis zu den Sommerferien einen Deutschkurs für die erwachsenen Geflüchteten zu organisieren, fragte Gemeinderätin Gerber, die zuständig ist fürs Soziale. Und damit auch für die Vernetzung der Flüchtlingshilfe.

Gleichentags trafen sich beide im historischen Städtli im Restaurant Krone. Zwei Tage später setzte Christine Schaarschmidt einen Brief auf, um Freiwillige zu finden, die bereit waren, Geflüchtete zu unterrichten. Zwölf Personen meldeten sich. Am 3. Mai fand die erste Besprechung statt, sechs Tage später startete bereits der Unterricht.

Seit neun Wochen besuchen die Geflüchteten den wöchentlich dreimal stattfindenden Sprachkurs. Zum Abschluss geht es um Bewerbungsschreiben. Dora Jäggi, die von den Freiwilligen zur «Schuldirektorin» gewählt wurde, steht im Aufenthaltsraum des EGW, zeigt auf eine Zeichnung von einem Bewerbungsgespräch und sagt: «Ihr seht darauf viele Dinge. Wir lesen die Sätze daneben nun alle miteinander. An der Decke hängt eine Lampe…» Die Frauen und der eine Mann in der Gruppe sprechen ihr langsam nach.

Deutsch ist eine schwere Sprache – vor allem die Grammatik und besonders, wenn sie in derart kurzer Zeit erlernt werden muss, wie dies für die nun in Wangen lebenden Ukrainerinnen und Ukrainer der Fall ist. Dora Jäggi, die den Unterricht begleitet, weiss das: «Einen Bewerbungsbrief zu schreiben, ist herausfordernd, dabei brauchen sie Hilfe.»

Und nun sind die Sommerferien da. Bei sich zu Hause im Städtli 17 haben Christine Schaarschmidt und ihr Mann vor einiger Zeit eine sogenannte Schnurrpfeiferei eingerichtet, eine kleine Schenke. Draussen unter dem Vordach suchen Gäste bei Kaffee, Wein und Bier Schutz vor dem Sommergewitter, das an diesem Abend über den Jurasüdfuss zieht.

In der holzverkleideten Stube im ersten Stock setzen sich zehn Personen an einen langen Tisch. Die Szenerie wirkt wie im Klassenzimmer kurz vor Ferienbeginn: Stimmengewirr, laute Rufe, Lachen. Im Trubel ergreift Christine Scharschmidt das Wort. Sie sei stolz auf alle hier in diesem Raum. «Wir haben für Menschen in Not unsere Komfortzone verlassen.»

Die Freiwilligen – der Jüngste ist 28, der Älteste 90 Jahre alt – haben über die letzten Monate hinweg die Geflüchteten unterrichtet. Die Lektionen bereitete jeweils Dora Jäggi vor. Im Laufe der Zeit sind zwei weitere Freiwillige zum Team gestossen, heute treffen sich alle, um beim Essen auf das Geleistete anzustossen. Und um zu diskutieren, wie es weitergehen soll.

Auch Gemeinderätin Martina Gerber schaut kurz vorbei. Überreicht Schokolade und Einkaufsgutscheine. Sie sagt: «Ich bin beeindruckt, was ihr mit nur anderthalb Wochen Vorlaufzeit auf die Beine gestellt hattet.»

Wie die Jungfrau zum Kind

Viel Zeit hatten die Freiwilligen nicht: Sie mussten Lehrmittel auftreiben, eine Unterrichtsform konzipieren – ohne Budget, aber mit zwei Sponsoren im Rücken. «Wir sind hier alle wie die Jungfrau zum Kind gekommen», sagt Schaarschmidt. Sie stand auch immer im Kontakt mit der Volkshochschule in Langenthal, deren Sprachkurse im Frühling komplett ausgebucht waren.

Mittlerweile konnte sie dort 28 Geflüchtete anmelden.

Doch weshalb kamen derart viele ukrainische Flüchtende nach Wangen? Das hat seinen Grund: Tetyana Leuthold ist gebürtige Ukrainerin und die Frau von Finanzverwalter Kilian Leuthold. Über sie sind viele Kontakte entstanden. Sie stösst ebenfalls zum letzten Treffen vor den Sommerferien. Nebst sprachlichen Schwierigkeiten der Geflüchteten gibt sie zu bedenken: «Verlorenheit und Heimweh sind bei ihnen halt auch vorhanden.»

Damit die Geflüchteten in den fünfwöchigen Sommerferien nicht alles Erlernte wieder vergessen, startet die Gruppe einen neuen Gesprächszirkel, jeden Mittwochabend im Haus des EGW. Kommen kann, wer mag – sowohl Geflüchtete als auch Lehrpersonen. Wird das Angebot genutzt, soll es mittelfristig bestehen bleiben.

Organisation ist zu kompliziert

Der letzte Unterricht vor den Ferien fand vergangene Woche statt, am Donnerstag trafen sich nochmals alle, die Ukrainerinnen und Ukrainer bekochten die Helfenden. Den Deutschkurs wie bis anhin wird es nicht mehr geben.

«Solche Unterrichte können wir künftig keine anbieten, organisatorisch ist das nicht mehr zu leisten», sagt Christine Schaarschmidt. Vor allem auch, weil die erwachsenen Geflüchteten bald an verschiedenen Tagen die Volkshochschule besuchen werden.

Damit endet die Unterrichtszeit dieser Lehrpersonen, die eigentlich gar keine Pädagogen sind. Vielmehr sind es Laien, die sich Hals über Kopf auf ein Abenteuer eingelassen haben, das Christine Schaarschmidt zu Beginn so beschrieb:

«Unser Projekt ist mutig, ehrgeizig, einzigartig und fabelhaft. Ich bin mir sicher, dass wir das schaffen. Gemeinsam, an einem Strick ziehend, motiviert – mit einer grossen Prise Humor und einem bitzeli Übermut im Rucksack.»

Auf der Terrasse des EGW sitzen vier Frauen mit einem Kind. Sie sind vor wenigen Wochen in Wangen an der Aare angekommen. Was sie nicht auf Deutsch verstehen, übersetzen die Freiwilligen auf Englisch. Sie bilden Sätze mit dem Hilfsverb haben. Eine zierliche ältere Frau versucht sich: «Ja, wir haben Kinder.» Kurze Stille. «Das ist richtig», sagt der Kursleiter. Ein kurzes Lächeln huscht über das Gesicht der Frau, dann wandert ihr Blick zurück aufs Grammatikblatt.



Vereine integrieren Flüchtlinge

In Wangen an der Aare werden nicht nur Deutschkurse organisiert, auch Vereine und die Geflüchteten selbst stellen Freizeitangebote auf die Beine. Die Flüchtlingshilfe vernetzt sich online über ein sogenanntes Padlet, das auf www.3380.ch zu finden ist.

Hier sind Ansprechpersonen in der Gemeinde gelistet, Helfende oder Geflüchtete können auf Deutsch oder Ukrainisch Gesuche schreiben – etwa für eine Wohnung, ein Bügeleisen oder einen günstigen Haarschnitt. (jpw)
(https://www.derbund.ch/wenn-laien-kriegsfluechtlinge-unterrichten-870278713035)



M 032-2022 Veglio (Zollikofen, SP) Familien mit Kindern gehören nicht in Rückkehrzentren – Empfehlungen der Nationalen Kommission zur Verhütung von Folter jetzt umsetzen! Antwort des Regierungsrates
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=f80920c9a9244f9baf3f29da62a22967


M 037-2022 Wenger (Spiez, EVP) Personalbrief für abgewiesene Asylsuchende ohne Rückkehrmöglichkeit. Antwort des Regierungsrates
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=eb3d60fa98dc4991899d213baecc15cf


M 038-2022 Marti (Bern, SP) Erhöhung der Nothilfe. Antwort des Regierungsrates
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=327b4033e45d4a5fb88d69735315df3b


M 054-2022 Marti (Bern, SP) Leitfaden für die Einhaltung der Menschenrechte und der UNO-Kinderrechtskonvention für Menschen in der Nothilfe. Antwort des Regierungsrates
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=da4ca80b1b5242a986c4332c4fff0ba2


M 057-2022 Sancar (Bern, Grüne) Menschenwürdige Bedingungen auch für abgewiesene Asylsuchende. Antwort des Regierungsrates
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=3f987821542342a8b3fc26c4ed0fca59


I 043-2022 Rai (Bern, AL) Menschenrechts- und Kinderrechtskonvention im Verhältnis zu kantonalem und nationalem Recht sowie Umsetzung der Konventionen in kantonalen Rückkehrzentren. Antwort des Regierungsrates
https://www.rr.be.ch/de/start/beschluesse/suche/geschaeftsdetail.html?guid=1bc8711292f64680a8368549a901c9fc


+++THURGAU
Falls Zahl über 100’000 steigt: Thurgauer Gemeinden sollen Wohnraum für Ukraine-Flüchtende suchen
Für den Fall, dass mehr als 100’000 schutzbedürftige Menschen aus der Ukraine in die Schweiz kommen, sollen die Thurgauer Gemeinden Wohnungen anmieten. Das hat der Thurgauer Regierungsrat entschieden. Was bedeutet das für den Thurgauer Wohnungsmarkt?
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/kanton-thurgau/wohnraum-falls-zahl-ueber-100000-steigt-thurgauer-gemeinden-sollen-wohnraum-fuer-ukraine-fluechtende-suchen-ld.2315764


+++ZÜRICH
nzz.ch 11.07.2022

Kritik an mangelhafter Unterbringung jugendlicher Flüchtlinge: Der Zürcher Kantonsrat vertraut auf externe Abklärungen

Das Parlament lehnt ein Postulat von links-grüner Seite für gleiche Standards in der Betreuung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen wie für Jugendliche in Heimen ab.

Stefan Hotz

Anfang Juni übten ehemalige Betreuer und Lehrpersonen von Jugendlichen in einem Bericht der Tamedia-Zeitungen Kritik an den Verhältnissen im Zentrum Lilienberg in Affoltern am Albis. Im Heim werden seit langem unbegleitete minderjährige Flüchtlinge untergebracht, für die sich die französische Bezeichnung «mineurs non accompagnés» (MNA) eingebürgert hat. Tenor der Vorwürfe: Das Zentrum sei überfüllt, das Kindeswohl gefährdet.

SP, Grüne und AL griffen das Thema im Kantonsrat auf. Sie forderten per Postulat, dass für geflüchtete Jugendliche die gleichen Mindeststandards gelten sollen wie für andere Jugendliche, die in einem Heim leben. Die Dringlicherklärung des Vorstosses führte vor drei Wochen zu einer heftigen Debatte. Der zuständige Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) ging, was ungewöhnlich ist, schon damals inhaltlich auf das Thema ein.

Inzwischen liegt die Stellungnahme der Regierung vor, die am Montag diskutiert worden ist. Sie betont die Zuständigkeit der Asylorganisation Zürich (AOZ), die das Zentrum Lilienberg im Auftrag des Kantons führt. Die AOZ erhielt 2018 den Zuschlag, nachdem sie in der Ausschreibung die einzige Offerte eingereicht hatte. Vorgesehen war im Zentrum die Unterbringung von maximal 90 Jugendlichen, die in der Regel 16 bis 18 Jahre alt sind.

Abklärungen laufen bereits

Dabei sind die Empfehlungen der kantonalen Sozialdirektorenkonferenz einzuhalten. Der Regierungsrat betont in seiner Antwort, dass das Zentrum von einer externen Stelle mit angekündigten und auch unangekündigten Besuchen kontrolliert werde und ein regelmässiger Austausch mit der AOZ stattfinde. Das kantonale Sozialamt erhielt in jüngster Zeit Hinweise auf Schwierigkeiten. Es gab deshalb Ende Mai eine ausserordentliche und unabhängige Betriebsprüfung in Auftrag, deren Ergebnisse nach den Sommerferien vorliegen sollen.

Am Montag ging es nun um die Überweisung des Postulats. Die Erstunterzeichnerin Anne-Claude Hensch Frei (AL, Zürich) erklärte sich mit der Antwort nicht zufrieden. Zwar scheine es einen Konsens zu geben, dass Verhältnisse wie am Lilienberg des Kantons Zürich nicht würdig seien. Doch entstehe der Eindruck, es herrsche eine Doktrin vor, MNA seien schlechterzustellen als andere Jugendliche, die in einem Heim leben müssten. Sogar die AOZ scheine sich damit abzufinden.

Hensch Frei forderte einen eigentlichen Systemwechsel. Insbesondere sei von einem MNA-Zentrum zu regionalen und kleineren Einrichtungen zu wechseln. Das erleichtere die Einbindung der Jugendlichen in die Zivilgesellschaft und die Suche nach einer Lehrstelle. Die Betreuung müsse mehr auf ihre individuellen Bedürfnisse eingehen. Schliesslich lohne sich ein Blick über die Kantonsgrenzen, sagte Hensch Frei. An anderen Orten funktioniere die MNA-Betreuung besser.

Die Bürgerlichen halten den Vorstoss für überflüssig. Sie wollen den bestellten Bericht abwarten. Die Postulanten müssten aufpassen, dass ihnen die ganze Sache nicht auf die Füsse falle, sagte Lorenz Habicher (SVP, Zürich). Dem Verwaltungsrat der AOZ gehörten schliesslich mehrere rot-grüne Mitglieder des Stadtrats an. Nicht der Kanton habe ein Problem, sondern die AOZ, und die müsse es auch lösen.

Die FDP hatte vor drei Wochen zwar die Dringlichkeit unterstützt, aber schon damals angekündigt, dass sie das Postulat in der Sache ablehne. Dabei blieb sie. Alle MNA erhielten einen Beistand, und von denen habe keiner auf unhaltbare Zustände im Zentrum Lilienberg hingewiesen, erklärte Linda Camenisch (FDP, Wallisellen). Der Ball liege bei der AOZ, sagte auch Sandra Bienek (GLP, Zürich). Die Grünliberalen lehnten wie die Mitte und die EVP den Vorstoss ab.

SP und Grüne wiederholten den Vorwurf der unhaltbaren Zustände: Es seien bis zu vier Jugendliche in einem kleinen Zimmer untergebracht, und es fehle jede Privatsphäre. Leandra Columberg (SP, Dübendorf) warf der Gegenseite «bewusste Ignoranz» vor. Der Versuch, im Lilienberg das Asylgesetz und das Kindeswohl unter ein Dach zu bringen, gehe nicht auf. Erinnert wurde an das Grundanliegen, die minderjährigen Flüchtlinge gleich zu betreuen wie andere Jugendliche, die in einem Heim leben müssten.

Derzeit werden 84 jugendliche Flüchtlinge betreut

Sicherheitsdirektor Fehr wies in seinem Votum zurück, dass der Kanton seine Verantwortung nicht wahrgenommen habe. Das Zentrum Lilienberg habe lange schweizweit als mustergültig gegolten. Tatsache sei aber, dass in den letzten Monaten gewissermassen im Schatten des Ukraine-Kriegs ein starker Anstieg von MNA zu verzeichnen gewesen sei. Das bringe die AOZ bezüglich Personalrekrutierung wie andere im Flüchtlingswesen tatsächlich in eine schwierige Situation.

Dass es mehr Platz brauche, darauf seien sie in der Sicherheitsdirektion selber gekommen, entgegnete Mario Fehr den Kritikerinnen. Schon im März habe man deshalb die Einrichtung einer zweiten externen Wohngruppe beschlossen, die demnächst vollständig zur Verfügung stehe. Nur knapp die Hälfte der MNA seien in Affoltern am Albis untergebracht, ein Teil nach ihren speziellen Bedürfnissen in Heimen. Die Zahl betreuter junger Flüchtlinge bezifferte er auf derzeit 84.

Je nach Ergebnis der Abklärungen werde man an der Betreuung etwas ändern. Den angeforderten Bericht stellte der Sicherheitsdirektor auf Ende August oder Anfang September in Aussicht. Der Rat lehnte das Postulat mit 113 gegen 54 Stimmen ab.
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-kritik-an-unterbringung-jugendlicher-fluechtlinge-ld.1693093)



tagesanzeiger.ch 11.07.2022

Missstände im Jugendheim: Schuldzuweisungen links wie rechts im Fall Lilienberg

Die Linke greift Mario Fehr an, die Rechte die AOZ: Am Ende vertraut der Kantonsrat darauf, dass der Sicherheitsdirektor das Problem löst.

Pascal Unternährer

Vor drei Wochen unterstützten 93 von 180 Kantonsratsmitgliedern die Dringlichkeit eines Postulats von AL, Grünen und SP. Dieses verlangte eine Verbesserung der Betreuung von minderjährigen, unbegleiteten Flüchtlingen. Am Montag wurde derselbe Vorstoss mit 113:54 Stimmen definitiv abgelehnt. Wie konnte es dazu kommen?

Zur Erinnerung: Recherchen von Medien – unter anderen dieser Zeitung – brachten ans Licht, dass im Jugendheim Lilienberg in Affoltern am Albis Zustände herrschen, die aufhorchen lassen. Es würden zu viele traumatisierte Jugendliche auf zu engem Raum betreut, die Betreuungsteams seien unterdotiert und überfordert, Gewalt herrsche, das Kindswohl sei gefährdet. So lautete die Kritik von Insidern.

Wie bereits vor drei Wochen gingen die Wogen in der Debatte hoch, auch wenn es diesmal keinen Eklat gab – damals hatten sich Sicherheitsdirektor Mario Fehr (parteilos) und Ratspräsidentin Esther Guyer (Grüne) über die Redezeit gestritten.

Aussenstelle mit 12 Plätzen wird eröffnet

Dass es im Lilienberg nicht rundläuft, war im Prinzip unbestritten. Die Frage war, wie damit umzugehen ist. Und wer schuld an der Betreuungsmisere hat. Die Mehrheit des Parlaments stellte sich auf die Seite von Mario Fehr. Er wies darauf hin, dass die Asylorganisation Zürich (AOZ) den Auftrag des Kantons erhalten und sich 2018 bereit gezeigt hatte, in Affoltern 90 allein geflüchtete Jugendliche zu betreuen.

Als Missstände ruchbar wurden, hat Fehr eine ausserordentliche Betriebsüberprüfung angeordnet. Diese soll unter anderem alle Gewaltdelikte im Heim untersuchen und die Frage beantworten, ob die AOZ eigene Standards nicht erfüllt hat, sagte Fehr. Der Bericht wird Ende August oder Anfang September vorliegen. Inzwischen ist als erste Notmassnahme eine zweite Heim-Aussenstelle mit zwölf Plätzen eingerichtet worden, sie wird während der Sommerferien bezogen.

Es gelte, den Bericht abzuwarten, sagte Linda Camenisch (Wallisellen) namens der FDP, die mitgeholfen hatte, das Postulat dringlich zu erklären. Die Linke wolle nur ablenken vom möglichen Versagen der AOZ, in dessen Verwaltungsrat in den letzten Jahren SP-Stadträte sassen und aktuell die Grüne Karin Rykart. Ähnlich äusserte sich Lorenz Habicher (SVP, Zürich), der sagte, das Problem liege bei der AOZ und nicht beim kantonalen Sozialamt. Die AOZ sei zu schnell gewachsen und sei schlecht geführt, sagte er. Mario Fehr gab einen drauf: «Wischen Sie vor der eigenen Tür», sagte er in Richtung der linken Ratsseite.

«Es wird sich etwas ändern im Lilienberg»

Auch die GLP und die EVP lehnten den Vorstoss ab. Man müsse «selbstverständlich genauer hinschauen», sagte Sandra Bienek (GLP, Zürich). Aber das geschehe auch, es brauche keinen politischen Vorstoss dafür. Josef Widler (Die Mitte, Zürich) nannte das Vorgehen der Postulantinnen «operative Hektik» und zeigte sich überzeugt, dass sich im Lilienberg «etwas ändern» wird. Denn dass die Zustände «unhaltbar» sind, sei unbestritten.

Sicherheitsdirektor Fehr wies noch darauf hin, dass der neue Rahmenvertrag für die Betreuung der minderjährigen Geflüchteten nächstes Jahr neu vergeben wird, also noch bevor der geforderte Postulatsbericht ins Parlament käme.

Linke will Gleichbehandlung

Die Linke versuchte, Gegensteuer zu geben. Postulantin Anne-Claude Hensch Frei (AL, Zürich) sagte, es gehe im Vorstoss um einen Systemwechsel. Geflüchtete, unbegleitete Minderjährige sollen nach denselben Standards betreut werden wie in allen anderen Jugendheimen. Das würde zum Beispiel mehr als doppelt so viele Betreuende bedeuten als heute.

Leandra Columberg (SP, Dübendorf) kritisierte, dass das Controlling nicht funktionierte. Und sie lobte die Stadt Zürich, deren Gemeinderat am Mittwoch 700’000 Franken sprechen werde, damit sich in der Aussenstelle im Vergleich zum Lilienberg mehr Betreuende um die Jugendlichen kümmerten.

Auf den Zeigefinger Fehrs und der Bürgerlichen, welche die AOZ ins Visier genommen hatten, reagierte Selma L’Orange Seigo (Grüne, Zürich) so: «Aufgaben lassen sich delegieren, die Verantwortung nicht.» Die AOZ arbeite im Auftrag des Kantons. Es gehe eigentlich nur darum, dass alle Kinder gleich behandelt werden, sagte Sibylle Marti (SP, Zürich) abschliessend. Und Hensch Frei kündigte weitere Vorstösse zum Thema an.
(https://www.tagesanzeiger.ch/schuldzuweisungen-hueben-und-drueben-im-fall-lilienberg-684862036010)

-> https://www.srf.ch/news/schweiz/missstaende-in-asylzentrum-regierungsrat-mario-fehr-wir-sind-genuegend-selbstkritisch
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/regierung-muss-keinen-bericht-zu-asyl-jugendheimen-vorlegen-00188521/



City-Card kommt für Winterthurer Stadtrat nicht in Frage
Der Winterhurer Stadtrat hält Winti-City-Card für unnötig und teuer. Nachdem das Zürcher Stadtvolk den städtischen Ausweis knapp angenommen hat, stellt sich der Winterthurer Stadtrat gegen die Idee.
https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/city-card-kommt-fuer-winterthurer-stadtrat-nicht-in-frage-00188499/


+++SCHWEIZ
Bundesrätin Karin Keller-Sutter in Prag: Die Sicherheit des Schengen-Raums im Mittelpunkt des Ministertreffens
Bundesrätin Karin Keller-Sutter hat am 11. Juli 2022 in Prag am informellen Treffen der Schengen-Innenministerinnen und -minister teilgenommen. Im Zentrum der Gespräche standen die Auswirkungen des Ukraine-Kriegs auf die Sicherheit im Schengen-Raum sowie die Verbesserung der sicherheitspolitischen Zusammenarbeit.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-89687.html


Keine Armee-Hilfe für Kantone bei Unterbringung von Flüchtlingen
Die Armee will den Kantonen bei der Unterbringung von ukrainischen Flüchtlingen nicht helfen. Die Kasernen brauche sie selber.
https://www.nau.ch/news/schweiz/keine-armee-hilfe-fur-kantone-bei-unterbringung-von-fluchtlingen-66220338


+++POLEN
Polens Grenzschutz: Zaun an Belarus-Grenze hält Migranten ab
Der an der polnisch-belarusischen Grenze errichtete Grenzzaun zeigt Wirkung: Der Grenzschutz registriert deutlich weniger illegale Migration.
https://www.nau.ch/news/europa/polens-grenzschutz-zaun-an-belarus-grenze-halt-migranten-ab-66219908


+++RUSSLAND
Russland: Jagd auf Flüchtlingshelfer
Viele Ukrainer konnten die umkämpfte Stadt Mariupol nur in Richtung Russland verlassen. Bei der Suche nach einem Weg in den Westen werden sie von russischen Flüchtlingshelfern unterstützt. Doch das wird im Land nicht gerne gesehen.
https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/russland-jagd-auf-fluechtlingshelfer-100.html


+++MITTELMEER
Unser Pilot Omar von Humanitarian Pilots Initiative – HPI erklärt die aktuelle Lage unserer Luftaufklärungsoperation – warum das Flugverbot im Luftraum über der libyschen Such- und Rettungszone nicht rechtens ist und wie unsere Einsätze derzeit aussehen.
https://www.facebook.com/watch/?ref=saved&v=715679763026306


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Protest in Bern: Freiheit für Yaser Örnek!
In Bern ist für die Freilassung des Kurden Yaser Örnek demonstriert worden. Der politische Geflüchtete mit Aufenthalt in der Schweiz befindet sich seit Tagen auf Veranlassung der türkischen Regierung in einem bayerischen Gefängnis.
https://anfdeutsch.com/aktuelles/bern-freiheit-fur-yaser-Ornek-33036
-> Demoaufruf: https://barrikade.info/article/5273
-> https://www.jungewelt.de/artikel/430167.brd-als-handlanger-ankaras-aktivisten-droht-auslieferung.html?sstr=%C3%B6rnek


+++KNAST
Aufseher wegen Drogenschmuggel in Zürcher Gefängnis verhaftet
Mehrere Personen wurden am Montag in der Strafanstalt Pöschwies verhaftet – darunter ein Mitarbeiter. Sie werden verdächtigt, Drogen ins Gefängnis geschleust zu haben.
https://www.20min.ch/story/aufseher-wegen-drogenschmuggel-in-zuercher-gefaengnis-verhaftet-777449814276
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/schmuggelvorwuerfe-angestellter-der-strafanstalt-poeschwies-verhaftet
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/drogen-und-handyschmuggel-mitarbeiter-in-der-poeschwies-verhaftet?id=12221044 (ab XXX



tagesanzeiger.ch 11.07.2022

Drogen und Handys in Zürcher Gefängnis: Polizei verhaftet bei Razzia gegen Schmugglerring mehrere Personen

Am Montag wurden ein Gefängnisaufseher und weitere Personen festgenommen. Während der Aktion ritt die SVP im Kantonsrat einen verbalen Angriff auf Justizdirektorin Jacqueline Fehr.

Lorenzo Petrò, Pascal Unternährer

Am Montagvormittag ist es im Zusammenhang mit Drogenschmuggel in die Strafanstalt Pöschwies zu mehreren Verhaftungen gekommen. Die Polizei führte Hausdurchsuchungen in drei Kantonen durch. Auch in der Pöschwies intervenierten die Ermittler. Dort wurden ein Mitarbeiter und mehrere Insassen verhaftet, wie die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich auf Anfrage mitteilt.

Die beschuldigten Personen werden verdächtigt, über einen längeren Zeitraum Betäubungsmittel und weitere verbotene Waren in die Pöschwies eingeschleust zu haben, um sie gewinnbringend an Insassen zu verkaufen. Wegen des laufenden Verfahrens könnten keine weiteren Informationen bekannt gegeben werden.

Erneut handelt es sich dabei um einen Fall von Gefängnismitarbeitern, die Insassen mit Drogen und anderen verbotenen Gegenständen versorgt haben sollen. Anfang Juni wurde bekannt, dass auch im Gefängnis Zürich ein Verfahren gegen einen Aufseher läuft.

Publik geworden war der Fall durch die anonymen Aussagen eines ehemaligen Insassen. Er hatte «20 Minuten» berichtet, dass der Aufseher auf ihn zugekommen sei, als er neu im Gefängnis war, und meinte, er soll ihm Bescheid geben, wenn er etwas brauche. «Am Anfang habe ich abgelehnt, aus Angst», so der ehemalige Insasse. Doch mit der Zeit habe er gemerkt, dass alle bei besagtem Aufseher Drogen und Telefone «bestellen» würden. Also habe er dies auch getan.

Bei einer Razzia aufgeflogen

Pro Gerät soll der Aufseher zwischen 1500 und 3500 Franken verlangt haben. Für das Einschleusen von Drogen sollen Häftlinge 500 Franken bezahlt haben. Das Geld sei dem Aufseher von Freunden der Insassen ausserhalb des Gefängnisses überreicht worden. Auch die Drogen habe der Wärter nicht selbst erwerben müssen. «Das mussten Bekannte der Häftlinge tun. Sie haben die Ware dann dem Aufseher übergeben», wird der ehemalige Insasse zitiert.

Mehrere Monate lang soll der Aufseher mit dem Schmuggel sein Einkommen verbessert haben, doch Anfang April sei sein Geschäft bei einer Razzia aufgeflogen. Gegenüber «20 Minuten» behauptet der Ex-Insasse, dass mindestens ein Mitarbeiter des Zürcher Gefängnisses freigestellt wurde. Die Oberstaatsanwaltschaft hält fest, dass für alle beteiligten Personen bis zu einem rechtskräftigen Verfahrensabschluss die Unschuldsvermutung gilt.

Angriff auf Jacqueline Fehr

Die Verhaftungsaktion fand am Montagmorgen just dann statt, als Justizdirektorin Jacqueline Fehr (SP) im Kantonsrat eine Interpellation der SVP und FDP mit dem Titel «Korruptionsanfälliger Justizvollzug?» mündlich beantwortete. In der ersten Wortmeldung durfte sie noch nichts dazu sagen, weil sie das Okay der Staatsanwaltschaft noch nicht hatte. In der zweiten Wortmeldung durfte sie die Aktion erwähnen, weil sie beendet war.

Der Vorstoss zielte allerdings nicht auf Schmugglereien in der Pöschwies ab, sondern auf die erwähnten Vorgänge im Gefängnis Zürich. Nach der knappen, ersten Antwort von Fehr zog Romaine Rogenmoser (SVP, Bülach) richtiggehend über die Justizdirektorin und das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung (Juwe) her. Es gebe nur über Pleiten, Pech und Pannen zu berichten, sagte sie. Und Fehr versuche nicht einmal, das Problem zu lösen. «Der Fisch stinkt vom Kopf her», sagte Rogenmoser.

Die Mitarbeiter würden nicht kontrolliert, die Botschaft laute: «Dealt, was das Zeug hält, bereichert euch ungeniert, denn Kontrollen gibt es keine.» Die Insassen befänden sich in einem Paradies, sagte die SVP-Politikerin weiter. Statt Wein, Weib und Gesang gebe es halt Handys und Drogen. Das Resultat: Die Staatsanwaltschaften führten einen aussichtslosen Kampf, da sich die Kriminellen mit der Aussenwelt absprechen könnten und damit einen Wissensvorsprung hätten, sagte Rogenmoser. Ohne präziser zu werden, forderte sie personelle Konsequenzen.

Die nächste Rednerin, SP-Kantonsrätin Nicola Yuste (Zürich), war im ersten Moment verdutzt über die heftigen Worte und sagte, sie müsse sich zuerst sammeln. Auch die SP sei für eine seriöse Ermittlung und fordert Konsequenzen, so Yuste. «Schmuggel im Gefängnis darf nicht passieren, passiert aber», sagte sie auch und nahm das Juwe in Schutz: Es arbeite gut, es gebe nur wenige Rückfälle. Florian Heer (Grüne, Winterthur) forderte Rogenmoser auf, sich für die Fisch-stinkt-vom-Kopf-Aussage zu entschuldigen. Die Aussagen in der Interpellation von SVP und FDP seien schamlos und zementierten nur einen Generalverdacht.

«Verbale Kraftmeierei ohne Inhalt»

Markus Bischoff (AL, Zürich) wunderte sich zuerst, dass ausgerechnet er den Justizvollzug verteidigen musste, und sprach von «verbaler Kraftmeierei ohne Inhalt» der Gegenseite. Damit übertünche sie nur die eigene Ignoranz, so der Anwalt, der – als Strafverteidiger – schon oft in der Pöschwies war und stets sogar seine – nicht digitale – Uhr beim Eintritt hat abgeben müssen.

Jacqueline Fehr schliesslich verteidigte die Juwe-Mitarbeitenden und sagte, die Aussagen der Interpellanten seien «faktenfrei». Die Vorgesetzten stehen hinter ihren Mitarbeitenden, sagte Fehr. Ständige Kontrollen der Aufseher wären schädlich für das Vertrauen.

Die beiden letzten Jahre seien die «ereignisärmsten Jahre im Zürcher Justizvollzug» gewesen, sagte Fehr. Das Amt konnte sich zudem bis zu diesem Montag nicht gegen Angriffe verteidigen, wie Fehr sagte – weil es die Ermittlungen nicht gefährden durfte, die schliesslich zu den Verhaftungen geführt haben.
(https://www.tagesanzeiger.ch/drogenschmuggel-im-gefaengnis-polizei-verhaftet-mehrere-personen-210610406834)



nzz.ch 11.07.2022

Drogen und Handys für Gefängnisinsassen: Polizei geht mit einer Grossrazzia in mehreren Kantonen gegen einen Schmuggelring vor

Aufseher sollen in Zürcher Gefängnissen Insassen mit verbotenen Gegenständen versorgt haben. Bei Razzien sind nun mehrere Personen verhaftet worden, unter ihnen ein Mitarbeiter der Pöschwies.

Fabian Baumgartner

Drogen, Mobiltelefone und andere verbotene Dinge: Immer wieder werden Waren hinter Gefängnismauern geschmuggelt. Am Montagmorgen haben die Behörden nun zu einem Schlag gegen einen Schmugglerring ausgeholt.

In drei Kantonen hat die Polizei im Auftrag der Zürcher Staatsanwaltschaft Razzien durchgeführt. Dabei wurden mehrere Personen verhaftet, unter ihnen ein Mitarbeiter sowie mehrere Insassen des grössten Gefängnisses der Schweiz, der Justizvollzugsanstalt Pöschwies.

Über längeren Zeitraum Drogen eingeschleust

Die Beteiligten werden verdächtigt, über einen längeren Zeitraum Drogen und weitere verbotene Waren in die Strafanstalt in der Zürcher Gemeinde Regensdorf eingeschleust zu haben. Dort wurden die Waren gewinnbringend verkauft, wie die Zürcher Oberstaatsanwaltschaft auf Anfrage schreibt. Wegen des laufenden Verfahrens will der Sprecher Erich Wenzinger keine weiteren Angaben machen. Es gelte die Unschuldsvermutung für alle Beteiligten.

Es ist nicht das einzige Strafverfahren im Zusammenhang mit Schmuggel in Zürcher Gefängnissen. Anfang Juni war durch einen Bericht von «20 Minuten» bekannt geworden, dass im Gefängnis Zürich Häftlinge mutmasslich über Monate hinweg mit Drogen und Mobiltelefonen versorgt worden waren.

Das Amt für Justizvollzug und Wiedereingliederung Kanton Zürich bestätigte damals, dass Anfang April im Gefängnis Zürich bei Kontrollen in den Zellen von Insassen verbotene Gegenstände sichergestellt wurden. Dabei wurden auch Spürhunde eingesetzt. Das Amt reichte daraufhin bei der Staatsanwaltschaft Strafanzeige ein. Offen blieb damals, ob Häftlinge oder Mitarbeiter für den Schmuggel verantwortlich waren.

Harsche Kritik an Justizdirektorin Fehr

Über die grossangelegte Aktion gegen Schmuggel in der Pöschwies hat am Montagmorgen die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr im Kantonsparlament Auskunft gegeben. Laut Fehr muss man die Vorfälle in einem grösseren kriminellen Kontext sehen. «Es kam tatsächlich viel Substanz in die Gefängnisse.» Die Regierungsrätin brachte das Thema im Rahmen einer Debatte zum Schmuggel in Gefängnissen zur Sprache.

Diskutiert wurde im Rat eine dringliche Interpellation von FDP und SVP. Darin forderten Kantonsrätin Romaine Rogenmoser und zwei Mitunterzeichner von Fehr wegen der Vorgänge im Gefängnis Zürich Aufklärung. Die drei Kantonsräte wollten unter anderem wissen, wie es möglich sei, dass der Schmuggel unter dem Radar der Behörden stattfinden könne und ob Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Justizvollzugs tatsächlich nicht kontrolliert würden.

Romaine Rogenmoser sprach in ihrem Votum von besorgniserregenden Ereignissen. «Es ist nicht normal, dass man im Gefängnis an Handys und Drogen kommen kann. Da hilft auch alles Schönreden der Justizdirektorin nichts.»

Stossend sind für Rogenmoser vor allem die fehlenden Kontrollen bei den Gefängnisangestellten. «Man dealt, was das Zeug hält, Kontrollen gibt es keine. Die Insassen leben dadurch im Paradies, mit Handys und Drogen.» Die SVP-Politikerin sieht durch die Vorgänge das Image eines ganzen Berufsstands beschädigt. Und dafür trage Justizdirektorin Fehr die Verantwortung. «Wenn die Justizdirektion nicht willens ist, dann stinkt der Fisch vom Kopf her.»

Auch Mitunterzeichner Alex Gantner (FDP) befand, ein lascher Vollzug sei nicht akzeptierbar. Entsprechend ortete er Handlungsbedarf bei den Eingangskontrollen. Als Vorbild diente ihm der Zürcher Flughafen. «Dort gilt Nulltoleranz, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter werden täglich kontrolliert, weil einfach nichts passieren darf. Da müssen wir auch beim Justizvollzug hinkommen.» Dafür seien eine Reorganisation, vielleicht auch zusätzliche Investitionen nötig.

«Schweben Ihnen bei jedem Schichtwechsel Leibesvisitationen vor?»

Mit Unverständnis reagierte die linke Ratsseite auf die Vorwürfe der Bürgerlichen. Die SP-Kantonsrätin Nicola Yuste sagte, auch ihre Partei halte die Vorgänge für besorgniserregend. «Es ist für niemanden schön, dass einzelne Personen ihre Macht so missbrauchen.» Damit richteten diese erheblichen Schaden an. Doch Schmuggel lasse sich nie ganz vermeiden. «Jede Institution versucht mit Kontrollmassnahmen, Schmuggel zu verhindern.» Für Yuste war klar: Mit der dringlichen Interpellation wollen die Bürgerlichen im Hinblick auf die Wahlen polemisieren.

Ähnlich tönte der grüne Kantonsrat Florian Heer: «Wir wissen, dass die Mitarbeiter nur auf konkreten Verdacht hin kontrolliert werden.» Das sei aber auch kein Problem. Und an die FDP und die SVP gerichtet, fragte Heer: «Schweben Ihnen bei jedem Schichtwechsel Leibesvisitationen oder Taschenkontrollen vor?» Angestellte, die eine solche Prozedur über sich ergehen lassen, finden sich nicht. Davon zeigte sich Heer überzeugt.

Jacqueline Fehr hielt sich bei der Beantwortung der Fragen kurz und verwies auf das laufende Verfahren. Die Justizdirektorin sagte, Schmuggel sei in jedem Gefängnis der Welt ein grosses Thema. Er komme in Zürcher Gefängnissen selten vor, könne aber nicht vollkommen ausgeschlossen werden. Und: «Keine Kontrolle kann eine absolute Sicherheit bieten. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass von einem hineingeschmuggelten Handy Nachrichten verschickt werden.»

Fehr verteidigte zugleich die Mitarbeiter im Justizvollzug. Diese leisteten in einem anspruchsvollen Umfeld sehr gute Arbeit. Es habe selten so wenige Vorkommnisse gegeben wie in den letzten beiden Jahren. Vertrauen sei im Justizvollzug zudem wesentlich. Kontrollen von Angestellten würden dieses Vertrauen beschädigen und Sicherheit vermindern. Die Warenflüsse würden hingegen kontrolliert, sagte Fehr. Und an die bürgerlichen Kritiker gerichtet, meinte sie: «Die Welt ist etwas komplizierter als in dieser schludrig verfassten Interpellation niedergeschrieben.»
(https://www.nzz.ch/zuerich/zuerich-grossrazzia-gegen-gefaengnis-schmuggelring-in-poeschwies-ld.1693071)


+++POLIZEI LU
Das neue Polizeigesetz des Kantons Luzern kommt bei der zuständigen Kommission grundsätzlich gut an, einer Minderheit gehen die Änderungen aber zu weit. (Ab 04:36)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/nidwaldner-gesamtverkehrskonzept-nun-soll-eine-arbeitsgruppe-ran?id=12220828
-> https://www.zentralplus.ch/news/justizkommission-befuerwortet-luzerner-polizeiueberwachung-2406575/


+++POLIZEI ZH
Polizei verlässt Kasernenareal: Der Gefängniszaun fällt: Kasernenwiese wird frei zugänglich
Der frei zugängliche Teil der Kasernenwiese wird ab Anfang 2023 doppelt so gross sein wie heute. Der Zaun ums provisorische Polizeigefängnis Propog wird derzeit abgebaut.
https://www.tagesanzeiger.ch/der-gefaengniszaun-faellt-kasernenwiese-wird-frei-zugaenglich-944879140539


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
luzernerzeitung.ch 11.07.2022

Corona-Kritiker Marco Rima erhielt 150’000 Franken Corona-Gelder

Auch wenn der Komiker das Vorgehen des Bundes während der Pandemie kritisierte, wurde sein Gesuch um Ausfallentschädigung gleichwertig behandelt, ohne Berücksichtigung seiner politischen Einstellung. Die öffentliche Auflistung auf der kantonalen Lotteriefonds-Webseite ist allerdings fehlerhaft.

Tijana Nikolic

Wenn man an den Schauspieler, Komiker und Kabarettisten Marco Rima denkt, bleibt es mittlerweile wohl bei vielen nicht mehr nur bei Erinnerungen an Filme wie «Achtung, fertig, Charlie!» oder seiner beeindruckenden und witzigen Bühnenpräsenz.

In vielen Köpfen ist er noch als der Massnahmenkritiker bekannt, der während der Pandemie auf Facebook seine Zweifel am Vorgehen des Bundes bezüglich der Coronamassnahmen kundtat oder an einer Demonstration der Massnahmenskeptiker in Zürich teilnahm.

Zwischendurch legte er gar öffentlich seine Bühnenkarriere als Kabarettist auf Eis, bis es allen Menschen wieder möglich sei, eine Vorstellung von ihm ohne ein Zertifikat, eine Maske, einen Test oder andere Einschränkungen besuchen zu dürfen. Denn er fand es unerträglich, dass gesunde Menschen von der Politik und den Medien «geächtet» werden.

«Die Gleichbehandlung ist oberstes Credo»

Interessant allerdings ist, dass Marco Rima sowie seine Firma Rima Entertainment AG aus Oberägeri bei den Vergaben der coronabedingten Ausfallentschädigungen für Kulturschaffende 2021 aus dem Lotteriefonds des Kantons Zug zwölf Mal mit Beträgen aufgeführt sind, die zusammen rund 190’000 Franken ergeben.

Obwohl Rima die Massnahmen des Bundes, zu denen auch die Ausfallentschädigungen zählen, kritisierte, bezog er also Corona-Hilfsgelder. Auf Anfrage möchten Marco Rima und seine Frau Christina Rima, die seine Managerin ist, zu dem Thema keine Auskunft geben.

«Grundsätzlich wurden alle Gesuche um Ausfallentschädigung selbstverständlich gleichwertig behandelt, ohne Berücksichtigung von Bekanntheitsgrad oder politischer Position. Die Gleichbehandlung der Gesuche ist in einem Rechtsstaat oberstes Credo», sagt Aldo Caviezel, Kulturbeauftragter und Leiter des Zuger Amts für Kultur.

Einige Beiträge sind doppelt aufgeführt

Rima stellte in jener Zeit, als er bewusst auf Auftritte verzichtete, obwohl er diese hätte durchführen dürfen, kein Gesuch um Ausfallentschädigung. «Auch ihm war bewusst, dass wir für eine Entschädigung unter diesen Umständen keine Rechtsgrundlage haben. Weder Herr Rima noch die Firma Rima Entertainment haben für die ausgefallenen Shows in dieser Zeitspanne Geld von uns erhalten», versichert Caviezel.

Die Auflistung der Swisslos-Liste ist aber fehlerhaft. Einige Beiträge sind doppelt aufgeführt, was der komplizierten Buchhaltung zuzuschreiben ist. «Da die Beiträge jeweils hälftig mit Bundesgeldern finanziert wurden, mussten Rückbuchungen vollzogen werden. Einige davon haben es in die Swisslos-Liste geschafft. Anscheinend konnte hier das System die Zahlungsverschiebung nicht als Rückzahlung erkennen», erklärt Aldo Caviezel. Der tatsächlich ausbezahlte Betrag liege bei rund 150’000 Franken.

Der Betrag ist nur «ein Tropfen auf den heissen Stein»

«Anzumerken gibt es noch, dass der Schaden über die vergangenen zwei Jahre in diesem Fall um ein Vielfaches dieser Summe grösser war. Diese Unterstützung war also ein Tropfen auf dem heissen Stein für so ein erfolgreiches Comedyunternehmen», gibt der Experte eine Einschätzung ab.

Denn sie mussten Dutzende Shows verschieben, diese neu aufgleisen, wieder verschieben, wieder neu aufgleisen, um dann erneut abzusagen. «Das Unternehmen musste Ticketrückzahlungen bei tausenden Kunden tätigen und dabei Gagenausfälle hinnehmen, die wir mit einer Richtgage bloss zu einem kleinen Bruchteil der regulären Gage entschädigen konnten», führt Caviezel weiter aus.

Die Finanzdirektion bereinigt nun die Zahlen auf den Swisslos-Listen und wird sie anschliessend wieder online stellen.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/zug/ausfallentschaedigung-corona-kritiker-marco-rima-erhielt-150000-franken-corona-gelder-ld.2313576)
-> https://www.blick.ch/schweiz/trotz-kritik-am-bund-und-massnahmen-skeptiker-komiker-marco-rima-erhielt-150000-franken-vom-bund-id17651083.html


+++FUNDIS
Umstrittene Esoterikerin Teal Swan propagiert Suizid – auch Fans sehen Probleme
Auf Youtube folgen über 1,6 Millionen der umstrittenen Esoterik-Influencerin Teal Swan. Die selbsternannte Therapeutin gibt in ihren Videos und Workshops Tipps zur Selbstliebe und wird unter anderem für ihre Aussagen über Suizid scharf kritisiert. Sektenexperten warnen vor der Amerikanerin. An einem Workshop in Münchenstein, Basel-Land, verteidigen Swans Fans ihre umstrittenen Methoden.
https://www.20min.ch/video/umstrittene-esoterikerin-teal-swan-propagiert-suizid-auch-fans-sehen-probleme-751360769486


+++HISTORY
Die Schulen, die illegalen Kindern einen Unterricht ermöglichten
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts konnten viele Kinder von Saisonarbeitern nur dank des Muts und der Leidenschaft einiger weniger Menschen eine Ausbildung in der Schweiz erhalten. Diese hatten unter Missachtung des Gesetzes spezielle Schulen gegründet.
https://www.swissinfo.ch/ger/die-schulen–die-illegalen-kindern-einen-unterricht-ermoeglichten/47737766



bernerzeitung.ch 11.07.2022

Suche nach neuer Weltordnung: Wie ein Schweizer Städtchen zum Anarchisten-Hotspot wurde

St-Imier im Berner Jura erinnert sich an das legendäre Anarchistentreffen vor 150 Jahren. Das rebellische Denken lebt im Ort wieder auf.

Stefan von Bergen, Nicole Philipp

Bloss eine Strassentafel im gesichtslosen Industriegebiet erinnert heute an St-Imiers kurzen Auftritt auf der Weltbühne. Die erst kürzlich angelegte Rue Bakounine hat ihren Namen vom russischen Revolutionär Michail Bakunin (1814–1876). Vor 150 Jahren traf sich dieser mit Mitstreitern im bernjurassischen Städtchen zu einer internationalen Konferenz. Es war die Geburtsstunde der internationalen anarchistischen Bewegung.

Bakunin war ihr Vordenker. Flammend sprach er sich gegen Privatbesitz und den Staat aus. Und für eine Zukunft mit individueller Freiheit für alle. Die Rue Bakounine aber passt schlecht zu diesen Idealen. Es ist eine Sackgasse, flankiert von Einfamilienhäusern mit Privatgärten. Bakunin würde sich in seinem Grab auf dem Bremgartenfriedhof in Bern umdrehen, wenn er sie sähe.

Ein paar Schritte weiter stand einst der Gasthof de la Clef, in den 1870er-Jahren der Treffpunkt der Anarchisten aus dem In- und Ausland. Heute befindet sich dort der Technologiepark La Clef. In einer Broschüre warb die bernjurassische Wirtschaftsförderung mit dem saloppen Versprechen, auf diesem Gelände seien immer schon revolutionäre Ideen entwickelt worden.

«So wird Bakunins radikale Systemkritik verwässert zu einem inhaltsleeren Schlagwort», findet Florian Eitel. Der Historiker, der am Neuen Museum Biel als Kurator wirkt, hat einen dicken Wälzer über die anarchistischen Uhrmacher in der Schweiz geschrieben – mit besonderer Berücksichtigung des Vallon de St-Imier.

Bakunins Aufwartung in St-Imier

Eitel macht einen kurzen Abstecher in Europas und St-Imiers Vergangenheit. In der 1864 gegründeten Internationale der Arbeiterbewegung brachen bald Richtungskämpfe aus. Das Lager um Karl Marx war für eine zentrale Führung, Bakunin und die Anarchisten aber forderten eine Auflösung aller autoritären Strukturen und eine Organisation von unten nach oben, mit selbst verwalteten Kommunen.

Am 15. und 16. September 1872 gründeten 15 abtrünnige Delegierte aus Europa und den USA – unter ihnen Bakunin – in St-Imier eine Gegenorganisation: die antiautoritäre Internationale. Wie kam es, dass sich die anarchistische Bewegung ausgerechnet im bernjurassischen Städtchen formierte? «Für den Aufstieg des Anarchismus brauchte es eine Globalisierungserfahrung», sagt Eitel. Und die liess sich in den 1870er-Jahren im aufstrebenden Industrieort St-Imier «wie in einem Labor» machen, erklärt er.

Die Uhrenindustrie zog Arbeitskräfte an. Von 1800 bis 1890 verneunfachte sich St-Imiers Bevölkerungszahl auf 8000, heute sind es noch 5000. Die mobilen Uhrenarbeiter waren den Krisen des Weltmarkts ausgesetzt. Ihre Löhne schwankten heftig. Sie erfuhren so den globalen Ursprung ihrer lokalen Probleme. Früh schlossen sie sich deshalb gewerkschaftlich zusammen. Im Jura sprachen sie auf die Theorien des Anarchismus an, der seinerseits durch die Kampferfahrung der jurassischen Uhrenarbeiter weltweit Schule machte.

Nach anfänglicher Duldung im Schweizer Bundesstaat von 1848 wurden Anarchisten ab 1877 politisch isoliert. «Die antiautoritäre Internationale zerfiel, in St-Imier hat man den Anarchismus, der sich hier formierte, bald vergessen», sagt Florian Eitel. Ausdruck davon sei, dass man 2008 das frühere Hôtel de la Maison de Ville abreissen wollte, in dem der Kongress von 1872 stattgefunden habe, erzählt er. Eine lokale Protestbewegung verhinderte das dann.

Die Spurensuche nach alten Schauplätzen führt von St-Imiers industrieller Peripherie ins Zentrum des Städtchens. Vor dem markanten früheren Hôtel de la Maison de Ville wartet Stadtpräsident Denis Gerber. Er ist froh, dass das Haus noch steht. Denn als Wiege des Anarchismus erhält seine Gemeinde Besuch von historisch interessierten Touristinnen und Touristen.

«St-Imier hat heute ein entspanntes Verhältnis zum Anarchismus, in einer Demokratie respektiert man andere Überzeugungen», sagt Gerber, fügt aber an: «Als FDP-Mann teile ich diese natürlich nicht.» Die hoch qualifizierten Angestellten von St-Imiers Uhrenfirmen seien übrigens nicht mehr so rebellisch wie vor 150 Jahren, versichert Gerber.

Eine Wiedererweckung erlebte St-Imiers anarchistische Vergangenheit 2012, als sich nicht weniger als 4000 Teilnehmende aus aller Welt am Ursprungsort ihrer Bewegung für eine Konferenz einfanden. «Diese zeigte, dass man vor Anarchisten heute keine Angst mehr haben muss», sagt Gerber.

Die bernjurassische SVP warnte, St-Imier könnte in Flammen aufgehen. Kantonspolizei und Gemeinde aber hatten wenig zu tun. Nach ihren Workshops über einen globalen Umbau der Gesellschaft entsorgten die friedlichen Freiheitskämpferinnen und -kämpfer sogar ihre Abfälle perfekt, wie sich Gerber erinnert.

Organisiert wurde die Konferenz von der Kooperative Espace Noir, ein paar Schritte vom früheren Hôtel de la Maison de Ville entfernt. Hier kann man Anarchisten von heute treffen, die St-Imiers rebellische Tradition wieder aufleben liessen. Auf die Frage, ob er im Espace der Chef sei, reagiert Michel Némitz (63) mit ansteckendem Gelächter und schüttelt seine silbern gelockte Mähne. Natürlich kennt ein anarchistisches Kollektiv keine Hierarchien.
Eine Institution in St-Imier: Die anarchistische Kooperative Espace Noir in einer einstigen Uhrenwerkstatt.

Der Espace vereinigt eine Bar, eine Galerie, ein Kellertheater und St-Imiers letztes überlebendes Kino. Némitz begrüsst in der abenteuerlich vollgestopften Bibliothek. Wollen die Anarchisten immer noch den Staat zerstören? «Wir haben im Moment nicht die Mittel dazu», sagt er mit einem Lächeln. «Aber wir kämpfen in einem weltweiten Netzwerk von Kooperativen und Vereinigungen für einen fundamentalen gesellschaftlichen Wandel.»

Die 1984 gegründete Kooperative Espace Noir kaufte ein zerfallenes früheres Uhrenatelier in St-Imiers Zentrum, um dort dem Anarchismus wieder eine lokale Basis zu geben. Anarchisten kaufen ein Haus auf dem von ihnen geschmähten kapitalistischen Markt? «Warum denn nicht?», sagt Michel Némitz, «wir entzogen das Haus der Spekulation und kollektivierten es, unser Kauf war ein militanter Akt.»
-> Video: https://unityvideo.appuser.ch/video/uv445417h.mp4

Im Espace Noir kommt man sich mitten im weiten Meer des Kapitalismus vor wie auf einer kleinen Insel, auf die sich der Anarchismus heute zurückgezogen hat. «Dieser Ort ist ein Instrument eines globalen Kampfes», erwidert Némitz unbeirrt. Von hier aus wolle man sich auf eine gerechte Gesellschaft zu bewegen. Glaubt er wirklich an so einen Wandel? «Ich glaube nichts», erklärt Némitz. Aber er müsse nicht glauben, um etwas für diesen Wandel zu tun. «Die Dinge können sich ändern, und der Mensch ist anpassungsfähig», ist Némitz überzeugt.

Aber schon bei vielen Einheimischen stösst der Espace Noir auf Skepsis. Man empfange viel auswärtige Besuchende, räumt Michel Némitz ein. «Der Espace Noir wird in St-Imier als kultureller Faktor respektiert und von der Gemeinde mit einem jährlichen Beitrag unterstützt», sagt FDP-Mann Denis Gerber, «aber SVP-Anhänger verkehren dort eher nicht.»

Vorbereitung des Jubiläums

Derzeit arbeiten sie im Espace Noir am nächsten grossen Anarchistenkongress in St-Imier. Wegen der Pandemie kann er nicht rechtzeitig zum 150-Jahr-Jubiläum des Gründungskongresses von 1872, sondern erst im Sommer 2023 stattfinden. Vom 29. bis zum 31. Juli 2022 wird es aber schon ein Vorbereitungstreffen mit 500 Teilnehmenden geben, auf St-Imiers Marktplatz singen dann auch anarchistische Chöre.

Mit von der Partie werden auch zahlreiche Frauen sein. Die anarchistische Feuertaufe von 1872 war noch eine Männersache, weiss Historiker Florian Eitel. In den Mitgliederlisten der frühen Uhrengewerkschaften von St-Imier habe er keine Frauen gefunden. «Für die Uhrenarbeiter waren sie eine Konkurrenz, weil ihnen in den Fabriken tiefere Löhne bezahlt wurden.»

Weltverbesserung auf dem Mont Soleil

Hoch oben über dem Städtchen, auf dem Juraplateau des Mont Soleil, gibt es noch einen zweiten Anarchismus-Hotspot. Er entsprang der Konferenz von 2012. Fünf der sieben Genossenschaftsmitglieder, die ihn schufen, waren Frauen, wie Eda Bilir im wilden Garten eines historischen Hauses erzählt. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass sich das anarchistische Kollektiv in einer 1904 erbauten Direktorenvilla eingerichtet hat, in der der Chef des lokalen Elektrizitätswerks wohnte. Das anarchische Kollektiv nennt das Haus passend die «Dezentrale».

In der Villa finden Workshops statt, in denen Handlungsanleitungen für faire Wirtschaft, partizipative Demokratie oder gegen den Klimawandel diskutiert werden. Gegessen wird vegan, alle beteiligen sich an der Hausarbeit. Am Tisch im Garten haben Chris Zumbrunn aus Thun, Eda Bilir aus Kurdistan sowie Richard Moore aus Irland und Gian Piero de Bellis aus Italien Platz genommen. Gleich entspinnt sich eine partizipative Diskussion, als wärs ein Workshop.

Richard Moore führt aus, dass eine wirklich demokratische Diskussion zu gemeinsamen Lösungen führe – und nicht bloss zu Kompromissen, in denen laut Moore «die Diktatur der Mehrheit» obsiege. De Bellis freut sich über die tiefe Beteiligung bei Frankreichs Wahlen und sieht das als positives Zeichen für eine Krise des gängigen politischen Systems.

Ist die Dezentrale eine idealistische Werkstatt zur Weltverbesserung? «Wir hoffen, dass der Staat zerfällt und einer neuen Realität Platz macht», sagt Chris Zumbrunn. «Viele wirklich demokratischen Alternativen wie gerechter Handel oder ein offenes Internet wären schon da», ergänzt Eda Bilir.
-> Video: https://unityvideo.appuser.ch/video/uv445413h.mp4

Zumbrunn gibt zu, dass die reiche, wohlorganisierte Schweiz für den anarchistischen Turnaround ein hartes Pflaster sei. Verschmitzt verweist er aber darauf, dass es mit der direkten Demokratie oder der Gemeindeautonomie durchaus anarchistische Elemente im System der Eidgenossenschaft gebe.

Nach der Talfahrt mit dem Funiculaire landet man wieder in St-Imiers Wirklichkeit und auf dem Marktplatz. Am Abend des 31. Juli werden die dort feiernden Anarchistinnen und Anarchisten die aufgebaute Bühne freigeben für die Vorbereitung der 1.-August-Feier. Die Gemeinde unterstütze die Feierlichkeiten aktiv, erzählt Stadtpräsident Gerber. Lächelnd führt er an: «Der Switch vom Anarchismus zum Patriotismus ist in St-Imier kein Problem, wir haben da keine Berührungsängste.»