Medienspiegel 23. Juni 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Abgewiesene Asylsuchende: Schützende Anonymität in der Stadt
Seit langem wehren sich Geflüchtete gegen das behördlich geschaffene Elend in Berner Rückkehrzentren. Doch die Behörden ignorieren alle Kritik. Nun haben Aktivist:innen in Biel ein leer stehendes Altersheim besetzt.
https://www.woz.ch/2225/abgewiesene-asylsuchende/schuetzende-anonymitaet-in-der-stadt



derbund.ch 23.06.2022

Pierre Alain Schnegg im Interview: «Das Beste wäre, wenn wir das Containerdorf nie nutzen müssten»

Der SVP-Regierungsrat äussert sich zur Kritik an der Flüchtlingssiedlung auf dem Viererfeld, zur Rolle der Gastfamilien und zu untergetauchten Flüchtlingen.

Michael Bucher, Andres Marti

Herr Schnegg, laut der Kampagnenorganisation Campax bieten Privatpersonen über 8000 Plätze für ukrainische Flüchtlinge an. Warum werden diese vom Kanton nicht genutzt?

Dass wir Flüchtlinge lieber in Kollektivunterkünfte pferchen, statt sie bei Gastfamilien wohnen zu lassen, ist schlicht falsch. Von den rund 7000 ukrainischen Flüchtlingen im Kanton Bern sind 65 Prozent bei Gastfamilien untergebracht, 18 Prozent haben eine Wohnung gefunden, und bloss 15 Prozent leben in Kollektivunterkünften. Ein Viertel der 4500 bei Privaten untergebrachten Personen wurde durch Campax vermittelt. Dafür sind wir dankbar. Drei Viertel der Gastfamilien wurden aber anderswo fündig.

Trotzdem: Über 1000 Geflüchtete befinden sich in Kollektivunterkünften. Die würden sich doch wohler bei einer Gastfamilie fühlen, oder nicht?

Bei der Unterkunftsfrage geht es darum, Risiken zu minimieren. Um flexibel zu bleiben, braucht es einen Mix an verschiedenen Unterbringungsmöglichkeiten. Nur auf Gastfamilien zu setzen, wäre ein zu grosses Risiko. Gastfamilien sind gut. Aber: Ist es für Private machbar, Flüchtlinge während eines Jahrs oder länger bei sich wohnen zu lassen? Wenn das irgendwann nicht mehr geht, muss der Kanton auf eigene Unterkünfte als Reserven zurückgreifen können.

Laut Ihrer Direktion sind es bloss wenige Fälle, bei denen Gastfamilien eine Umplatzierung wünschen. Das zeigt doch, dass das Gastfamilien-Modell gut funktioniert.

Ja, es sind wenige Fälle. Trotzdem: Von den 4500 Gastfamilien haben wir 1000 befragt. Davon gaben 15 Prozent an, ihre Gäste hätten mittlerweile eine eigene Wohnung gefunden. 35 Prozent teilten mit, die aufgenommenen Flüchtlinge seien ausgezogen, wohin wüssten sie jedoch nicht.

Sind diese zurück in ihr Heimatland gereist?

Das wissen wir nur in 11 Fällen genau. Wo die anderen hin sind, ist auch uns nur teilweise bekannt. Von einigen wissen wir, dass sie in einen anderen Kanton übergesiedelt sind – womöglich, weil sie dort bei jemandem unterkamen, den sie kannten. Wir stellen generell fest, dass die aktuelle Flüchtlingswelle völlig anders ist als solche, die wir bisher kannten. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sind gut vernetzt untereinander und sehr mobil.

Es gibt Gastfamilien, die finden, 195 Franken Entschädigung pro geflüchtete Person und Monat würde ihre Auslagen nicht decken. Was sagen Sie dazu?

Die Kantone erhalten vom Bund im Monat eine Pauschale von 1500 Franken pro Flüchtling. 195 Franken sehen wir dabei fürs Wohnen vor, dieser Betrag wird 1:1 den Gastfamilien ausgezahlt. Der Rest ist für Asylsozialhilfe, Krankenkassen und die Betreuung durch unsere regionalen Partner bestimmt. Für Essen und andere alltäglichen Aufwendungen ist die Asylsozialhilfe da. Bekochen Gastfamilien ihre Gäste, so müssen sie mit diesen eine Entschädigung vereinbaren. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass die Aufnahme von
Gästen nicht aus finanziellen Gründen erfolgt.

Sie sagen, die Zeit in Kollektivunterkünften solle bloss von kurzer Dauer sein, der Umzug in eine eigene Wohnung möglichst rasch geschehen. Das dürfte beim allgemein knappen Wohnraum schwierig werden.

Ja, es ist schwierig, aber es gibt diesen Wohnraum. Vielleicht nicht unbedingt in den Städten. Aber immerhin leben aktuell mehr ukrainische Flüchtlinge in eigenen Wohnungen als in Kollektivunterkünften.

Wie sieht es eigentlich mit der regionalen Verteilung der Geflüchteten aus?

Auch hier muss der Kanton für eine gute Balance sorgen. Denn sollten die Geflüchteten über längere Zeit bleiben, muss man sie in den Arbeitsprozess integrieren. Das Oberland zum Beispiel hat deutlich mehr Flüchtlinge aufgenommen, als es seiner Wohnbevölkerung entsprechen würde. Auch das Emmental und der Berner Jura liegen darüber. Um eine gute Arbeitsintegration zu ermöglichen, können wir nicht noch mehr dorthin schicken. Auch um diese Balance zu gewährleisten, brauchen wir verschiedene Unterkunftsmöglichkeiten.

Mitte April hiess es, Ende Mai sollen die ersten Flüchtlinge ins Containerdorf auf dem Berner Viererfeld einziehen. Das ist bis heute nicht geschehen. Warum?

Es gibt verschiedene Gründe. Wie überall in der Baubranche hatten auch wir mit Lieferengpässen zu kämpfen. Ein anderer Grund ist, dass dem Kanton Bern derzeit kaum Flüchtlinge zugeteilt werden, wodurch sich der anfängliche Druck, eine solche Unterkunft möglichst schnell bereitzustellen, verringert hat. Wir haben deshalb entschieden, die Inbetriebnahme um einen Monat zu verschieben.

Braucht es denn die Containersiedlung überhaupt noch?

Das Beste wäre, wenn es in der Ukraine Frieden geben würde und wir das Containerdorf nie nutzen müssten. So wie es während der Corona-Pandemie auch das Beste gewesen wäre, hätten wir die zusätzlich geschaffenen Intensivbetten nie benötigt. Aber wir können uns bei der Planung nicht auf das Bestmögliche konzentrieren. Wir müssen auf alle Eventualitäten vorbereitet sein. Das ist etwas, das uns vor allem die Corona-Krise gelehrt hat.

Dann ist es theoretisch möglich, dass der 10-Millionen-Franken-Bau auf dem Viererfeld leer bleibt?

Das glaube ich nicht. Bald wird die Verteilung unter den Kantonen wieder ausgeglichen sein, und auch Bern wird wieder mehr Geflüchtete aufnehmen müssen. Darauf müssen wir vorbereitet sein. Wir wissen auch nicht, wie viele im Herbst kommen werden, wenn es in den Zelten, in denen heute viele Geflüchtete in
Nachbarländern der Ukraine leben, kalt wird. Und ich will festhalten: Ich bringe die Geflüchteten viel lieber auf dem Viererfeld unter als in unterirdischen Zivilschutzanlagen.

Warum wurde bei der Planung einer von der Dimension her schweizweit einzigartigen Flüchtlingsunterkunft kein Architekt mit Fachwissen beigezogen?

Wir haben genügend Spezialisten in die Planung involviert, auch externe.

Können Sie Beispiele nennen?

Das werden wir. Aber jetzt soll erstmals in Ruhe fertig gebaut werden.

Fachleute wie der Architekt Ueli Salzmann kritisieren das kasernenartige Containerdorf. Warum werden seine Einwände ignoriert?

Ich möchte diese Diskussion wirklich nicht mehr weiterführen. Man kann immer alles kritisieren. Ich halte fest: Das Bauen auf dem Viererfeld ist komplex. Wir haben die Fläche so gut wie möglich genutzt.

Es scheint, als sei bei der Planung alles sehr schnell gegangen. Gibt es Firmen, die einen Auftrag erhalten haben, der über dem Betrag von 250’000 Franken liegt und somit öffentlich hätte ausgeschrieben werden sollen?

Bei öffentlichen Ausschreibungen gibt es Ausnahmen. Das war auch in der Corona-Krise der Fall, als man notfallmässig nicht zertifizierte IPS-Betten für Intensivpatienten nutzen musste. Hätte man auf die Vorschriften pochen und die Patienten sterben lassen sollen?

Zu Beginn gab es reihum Lob für das unbernisch schnelle Vorgehen beim Bau der Flüchtlingssiedlung. Nervt Sie die nun aufkeimende Kritik?

Nein, nein. Ich habe schon zu viel erlebt, um mich darüber aufzuregen.

Macht Sie Ihre SVP-Parteizugehörigkeit bei diesem Thema angreifbarer?

Es war klar, dass gewisse Kreise versuchen, daraus eine politische Geschichte zu konstruieren. Aber ich nutze die Ukraine-Krise nicht für meine Politik. Das habe ich auch während der Pandemie nie getan.
(https://www.derbund.ch/das-beste-waere-wenn-wir-das-containerdorf-nie-nutzen-muessten-531713066804)


+++LUZERN
Luzerner Gemeinden müssen Unterkünfte für Flüchtende suchen
74 der 80 Luzerner Gemeinden müssen zusätzliche Unterkünfte für Flüchtende mit Schutzstatus S, also aus der Ukraine suchen. Die Gemeinden müssen nach einem Verteilschlüssel von 24 Flüchtende pro 1000 Einwohnerinnen und Einwohner Plätze bereitstellen. (ab 00.54)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/luzerner-gemeinden-muessen-unterkuenfte-fuer-fluechtende-suchen?id=12211457


+++SCHWEIZ
Ukraine: Unterbringung Schutzsuchender mit Kantonen diskutiert
Auf Einladung des Staatssekretariates für Migration SEM und der Konferenz der kantonalen Sozialhilfedirektorinnen und Sozialdirektoren (SODK) diskutierten Vertreterinnen und Vertreter der kantonalen Migrationsämter, der Schweizer Flüchtlingshilfe sowie des Städte- und Gemeindeverbandes die kurz- und mittelfristigen Perspektiven zur Unterbringung ukrainischer Geflüchteter in der Schweiz. Aktuell können die Kantone die ihnen zugewiesenen Geflüchteten unterbringen – nicht zuletzt auch dank der zahlreichen privaten Unterkünfte, die von der Schweizer Bevölkerung solidarisch zur Verfügung gestellt werden. Im Herbst könnte die Situation anders aussehen.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-89440.html


++++MITTELMEER
Hunderte Geflüchtete an Bord: „Sea-Eye“ darf in Sizilien anlegen
Die Crew des deutschen Schiffes „Sea-Eye“ hat hunderte Menschen aus Seenot gerettet. Sie waren vor dem libyschen Bürgerkrieg geflohen.
https://taz.de/Hunderte-Gefluechtete-an-Bord/!5863047/


+++GASSE
bernerzeitung.ch 23.06.2022

Für den sicheren Ausgang: Er beschützt die «Schütz»

Für die Sicherheit auf der Berner Schützenmatte sorgen in den nächsten Jahren Hussam Abouzannad und sein Team. Kriegt er das «harte Pflaster» in den Griff?

Carlo Senn

Hussam Abouzannad lächelt: «Ich liebe diesen Kulturplatz einfach», sagt er, als wäre er Kinderbetreuer statt Chef und Inhaber einer Sicherheitsfirma. Es ist Samstagnacht um 23 Uhr auf der Berner Schützenmatte. Im Hintergrund zeigen die Skater ihr Können, während leicht bekleidete Männer und Frauen über den Platz flanieren. Denn obwohl die Sonne längst untergegangen ist, kommt man hier immer noch ins Schwitzen.

Abouzannads Arbeit beginnt meist erst, wenn es dunkel wird. An jenem Abend wird sie bis 6 Uhr morgens dauern. Abouzannad ist gross, trägt Bart, Pferdeschwanz – und eine Weste, die ihn vor Messerangriffen schützt.

Seine Firma Samson Security hat einen grossen Auftrag an Land gezogen: Sie soll im Auftrag des Berner Gemeinderats für die nächsten fünfeinhalb Jahre beim Ausgeh-Hotspot Schützenmatte für Sicherheit und Ordnung sorgen. Kostenpunkt: über 750’000 Franken. Jeweils am Wochenende oder an speziellen Anlässen patrouillieren Abouzannad und sein Team entlang des Platzes, der seit Jahren in Bern für Schlagzeilen sorgt. Erkennbar sind die Mitarbeitenden an ihren gelben Westen.

Eingeklemmt ist der Platz zwischen Hauptstrassen und Bahngleisviadukt und grenzt an den Vorplatz der Reitschule und an mehrere Clubs. Damit handelt es sich um einen – gelinde ausgedrückt – schwierigen Ort.

Gewalt auf der Schütz stoppen

Es gibt wohl kaum jemanden, der den Platz besser kennt als Christoph Ris. Seit 2018 hat der Ex-Reitschüler die Nutzung des Platzes mit Kevin Liechti organisiert, mittlerweile ist er als Koordinator des Platzes direkt bei der Stadt angestellt. Er hatte den Platz bereits 2018 im «Bund» als «hartes Pflaster» bezeichnet.

Doch auch ihn hat der Sommer 2019 auf dem «falschen Fuss erwischt». Massenschlägereien und organisierte Überfälle waren auf der Schütz verbreitet, die männlichen Täter stammten laut der Kantonspolizei Bern meist aus dem «nördlichen Teil Afrikas».

Da die Gewalttaten auch auf dem Vorplatz der Reitschule geschahen, bezeichnete auch die autonome Kulturstätte die Situation als «untragbar», Stadtpräsident Alec von Graffenried (GFL) sprach von einer gravierenden Situation.

Die Stadt versuchte die Problematik mit interkulturellen Vermittlern zu lösen, gab das Projekt jedoch kurz danach wieder auf. Parallel suchte Ris eine andere Lösung: Es brauche einen Sicherheitsdienst, war er überzeugt. Doch woher auf die Schnelle einen finden, der zum Platz passt?

Und so wandte sich Ris an Hussam Abouzannad, der unter anderem für die Grosse Halle und das ISC, einen Club gleich um die Ecke, für Sicherheit gesorgt hatte. Seither entspanne sich die Situation. Auch die Polizei attestiert, dass «verschiedene Massnahmen» – darunter der Sicherheitsdienst – zur Beruhigung der Lage beigetragen hätten.

Allerdings: Während der Pandemie war auf der Schützenmatte generell weniger los. Wie nachhaltig friedlich es dort tatsächlich ist, wird sich erst in diesem Jahr zeigen. Es ist somit ein entscheidendes für Abouzannad und sein Team.

Diverses Team

Es ist mittlerweile 23.30 Uhr. Heiter stellt Abouzannad seine Mitarbeitenden vor, die sich mittlerweile um die Fotografin und den Journalisten geschart haben – es ist eine ruhige Nacht bisher.

Da ist John*, «ein guter Maler, am Wochenende hilft er mir hier», sagt Abouzannad. Der Mann nickt. Da ist eine Frau mit Kopftuch, sie spricht fünf verschiedene Sprachen. «So können wir ganz anders auf die Menschen zugehen», so Abouzannad. Man kenne die jeweilige Kultur, könne meist die Sprache. «Wenn eine Frau mit Kopftuch auftaucht, ist der Respekt bei vielen ein ganz anderer.»

Abouzannad hat sein Team selber ausgebildet. Er selbst hat in der Schweiz als Botschaftsschützer und im Verkehrsdienst gearbeitet. «Ich arbeite seit 23 Jahren in der Security-Branche», sagt er.

«Die Leute hier kennen uns»

All die negativen Schlagzeilen über die Schützenmatte verängstigen Abouzannad kein bisschen: «Dieser Kulturplatz ist auch mein Platz», sagt er und fasst sich an sein Herz.

Er sei glücklich, für die Sicherheit der Nachtschwärmer zu sorgen, und betont mehrmals, dass es meist um «helfen» gehe, nicht um «durchgreifen». Das könne beispielsweise bei Leuten sein, die sich verletzt hätten oder stark betrunken seien. Selbst bei Konflikten sei es selten nötig, Gewalt anzuwenden. «Wir reden mit den Leuten, und meistens können wir brenzlige Situationen so entschärfen», sagt er. «Die Leute auf der Schützenmatte kennen uns.»

Sind jedoch Waffen im Spiel oder zu viele Personen involviert, ruft Abouzannads Team die Polizei. Klar ist, das Team von Samson hat seine Grenzen: Die Dealerproblematik dürften sie kaum lösen können, erklärtes Ziel ist denn auch lediglich die «Befriedung der Situation bzw. allgemein eine Verbesserung der Sicherheitslage», wie die Stadt in einer Medienmitteilung schreibt.

Ihn freue es, wenn zahlreiche Kulturen wie hier auf der Schützenmatte aufeinanderträfen, sagt Abouzannad. Schliesslich komme er auch selber von überall her: Geboren in Kuwait, floh er während der irakischen Invasion. Seine Biografie ist geprägt von Krieg, vier habe er am eigenen Leib erlebt, sagt er.

Seine Odyssee führte ihn auch über die Länder Syrien und Libanon. Immer bei Kriegsausbruch packte er seine Sachen und zog weiter – bis vor 26 Jahren. «In der Schweiz, hier werde ich sterben», sagt er bestimmt, nur um hinzuzufügen: «Ausser es gibt Krieg, dann bin ich weg.»

*Name geändert
(https://www.bernerzeitung.ch/er-beschuetzt-die-schuetz-111340499229)



Tanzen und Testen: Stadt Zürich lanciert Drug Checking an der Langstrasse
Im Club eine Pille kaufen und diese testen lassen? Das soll bald möglich sein. Die Stadt Zürich plant den Ausbau ihres bisherigen Drug-Checking-Angebots. Bereits ab nächsten Sommer sollen Konsument:innen am Wochenende direkt an der Langstrasse ihre Substanzen testen lassen können.
https://tsri.ch/zh/tanzen-und-testen-stadt-zuerich-lanciert-drug-checking-an-langstrasse.4kz1jZdMnY2qQd4k



solothurnerzeitung.ch 23.06.2022

Drogenszene Solothurn und Olten: «1992 hatten wir im Kanton wegen Drogenkonsum 28 Tote, 2020 waren es 0»

In den 1990er-Jahren waren die Drogenszenen noch Teil der Stadtbilder von Solothurn und Olten, heute sind sie verschwunden. Zwei «alte Füchse» der Kantonspolizei erinnern sich und die Leiterin der Perspektive erzählt, wie ihr Verein drogenabhängigen Menschen hilft.

Fisnik Zuberi

Frau Stoop, hatten Sie letztes Wochenende ein Glas Wein?

Karin Stoop (lacht): Oh ja.

Heisst das also, dass die Prävention von Perspektive bei Ihnen nicht gewirkt hat?

Stoop: Wenn Sie Suchtmitteln nur mit Abstinenz begegnen wollen, dann ist das weder unser noch ein kantonales noch ein nationales Ziel der heutigen Drogenpolitik. Suchtmittel gibt es. Menschen müssen aber befähigt werden, sich und andere möglichst wenig zu schaden, wenn sie Drogen konsumieren. Und auch bei der Prävention versuchen wir, dass Menschen «konsumkompetent» werden. In der Beratung helfen wir zudem Menschen mit Risikokonsum und deren Angehörigen. Ausserdem gehören Gassenküche, Konsumräume und begleitetes Wohnen zu dieser breiten Palette an Hilfsangeboten.

Kritikerinnen und Kritiker fragen sich, ob Ihr Verein Menschen wirklich eine Perspektive anbietet, wenn er durch die Bereitstellung von Konsumräumen deren Sucht «erleichtert».

Stoop: Es ist insofern eine Lösung, als wenn man das nicht machen würde, wären die Alternativen Verwahrlosung, Infektionen von HIV und Hepatitis sowie ganz viele Drogentote. Jedes Leben, welches wir hiermit retten, ist es wert. Es geht auch um Solidarität mit diesen Menschen, hat also auch etwas mit Würde zu tun. Und unser Staat muss sich das leisten können.

Hans Rudolf von Rohr: 1992 hatten wir im Kanton akut wegen Drogenkonsum noch 28 Tote, 2020 waren es 0. Der Rückgang dieser Zahlen ist somit eine Folge der Arbeit von Perspektive und allen, die hierin involviert sind. Das ist also auch ein Grund, wieso wir diese Angebote haben.

Niklaus Büttiker: Dank diesen Strukturen, die wir heute haben, haben wir praktisch keine offenen Drogenszenen mehr. Da sind wir gottfroh, sonst sähe die Lage anders aus.

Kürzlich berichteten Medien von neuen, zumindest periodischen, offenen Drogenszenen entlang der Aare hinter dem Krummturm. Was ist dran an diesen Berichten?

Büttiker: Ja, die Frage ist, wann ist es eine offene Drogenszene? Wenn drei, vier Leute herumstehen und Drogen konsumieren, sprechen einige schon von einer offenen Drogenszene. Ich habe aber nicht das Gefühl, dass wir offene Drogenszenen haben. Wir haben immer wieder solche Meldungen. Es gibt immer wieder Leute, die sich so treffen, aber ich glaube nicht, dass wir ein Problem haben. Letztes Jahr konnte die Perspektive wegen Corona auch nicht alle Angebote offenhalten. Das führte unweigerlich dazu, dass es wegen der fehlenden Infrastrukturen zu Anzeichen offener Drogenszenen kam.

Rudolf von Rohr: Massnahmenbedingt mussten wir umdisponieren – in den Konsumräumen durfte man wegen einer kantonsärztlichen Verordnung nicht mehr spritzen. So musste man dislozieren und dazwischen bildeten sich dann solche «Szenen». Meiner Meinung nach sollte es auch nicht so sein, dass die Bevölkerung nichts sehen dürfe, dass hier eine heile Welt sei. Die Bevölkerung darf sehr wohl zur Kenntnis nehmen, dass wir Drogenkranke haben.

Sind Sie zufrieden mit der aktuellen Situation, wie mit Drogenkonsumierenden umgegangen wird?

Büttiker: Grundsätzlich sind wir mit diesen Institutionen und Strukturen, die wir haben, zufrieden. Ich habe das Gefühl, dass wir auf einem sehr guten Weg sind. Die verschiedenen Behörden und Institutionen arbeiten auch eng zusammen und das ist wichtig.

Stoop: Wenn Sie mich nach meiner politischen Meinung fragen würden, dann bin ich für eine klare Legalisierung aller Substanzen. Das Kaufen und Konsumieren sind nämlich immer noch grosse Probleme.

Büttiker: Das ist auch meine Meinung. Ich würde legalisieren. (Rudolf von Rohr nickt.)

Wieso mussten in den 1980er- und 1990er-Jahren Menschen öffentlich in solch katastrophalen Zuständen Drogen konsumieren?

Rudolf von Rohr: Weil wir eine sehr liberale Drogenpolitik hatten, im Gegensatz zu anderen Kantonen, die nur eine repressive Linie fuhren. Mit dem Resultat, dass die Leute dort dann zu uns kamen.

Könnte man also von einem damaligen Szenentourismus sprechen?

Stoop: Ja und dieser Szenentourismus besteht weiterhin. Im Kanton Aargau beispielsweise gibt es kaum niederschwellige Angebote. Die Süchtigen dort gehen deswegen nach Olten, Basel und Zürich.

Bei der Auflösung der damaligen Szenen sagte der damalige Regierungsrat Rolf Ritschard, man würde eine «liberale» Politik verfolgen. Inwiefern war es aber «liberal», diese Menschen aus der Öffentlichkeit zu verbannen und sie in ihre Wohngemeinden zurückzuführen?

Rudolf von Rohr: Die Gemeinden waren froh, dass all ihre Drogensüchtigen in die Stadt kamen. Aus diesem Grund mussten wir sie zuerst dafür sensibilisieren, bis sie dann reagierten und sich zum Beispiel am Verein Perspektive beteiligten.

Wie musste man sich diese Rückführungen in die Wohngemeinden operativ denn vorstellen?

Büttiker: Sie wurden zur Gemeindeverwaltung gebracht.

Rudolf von Rohr: Zuerst kamen sie aber ins Untersuchungsgefängnis und dies war rechtlich sehr umstritten. Die kamen aber nicht in Kontakt mit den Untersuchungsgefangenen.

Büttiker: Sie durften dort duschen, Kleider wechseln. Denn man kann sich nicht vorstellen, wie diese Menschen damals lebten. Während Leibesvisitationen dachte man, diese Menschen hätten eine andere Hautfarbe, bis sie geduscht hatten. Vor allem in Olten war das massiv. Doch an einen Mann in Solothurn erinnere ich mich, wie er am linken Unterarm eine offene Wunde hatte und diese Wunde lebte. Es hatte Maden drin!

Verdanken wir eigentlich der Ordensschwester Sara Martina-Giger, dem «Engel der Solothurner Drogenkranken», dass es Anfang der 1990er einen Wandel im Umgang mit der Drogenpolitik gab?

Büttiker: Sie hat sich damals stark diesen Drogenkranken angenommen und hat auch gewisse Strukturen gegeben. Schaute, dass sie Arbeit haben. Wir arbeiteten damals auch zusammen.

Stoop: Es war jedoch ein Ziel, das damals national wuchs. Dass man überhaupt Spritzen abgeben durfte, dass man überhaupt Räume zur Verfügung stellen durfte, wo man konsumieren konnte. Das hat auf nationaler Ebene gesetzliche Regelungen gebraucht, bevor man kantonal tätig werden konnte. Und als HIV auftauchte, da wusste man, jetzt wird es brenzlig und jetzt müsse gehandelt werden.

Rudolf von Rohr: Die Situation war einfach unerträglich geworden. Der damalige Vorsteher des Stadtsolothurner Sozialamtes sagte, Solothurn und Olten hätten die grösseren Drogenszenen gehabt als Zürich, im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Es gab Zeiten, da rückte der Krankenwagen für Drogenkranke drei- bis viermal pro Tag aus. Man musste etwas machen. Man konnte sich zwar noch nicht vorstellen, wie man es machte. Aber da kam auch der Druck von Zürich, als dort die Szenen geschlossen wurden. Die ärztliche Heroinabgabe wurde lange Zeit als befristete Therapieform toleriert, obwohl sie rechtlich nicht ganz unbedenklich war. 2008 verabschiedete man eine entsprechende Gesetzesrevision. Bis dahin stützte man sich bloss auf ärztliche Gutachten.

Wie funktionierte das genau?

Rudolf von Rohr: 1975 kam die Methadonabgabe. Zwei Solothurner Ärzte initiierten die Programme.

Stoop: 1995 kam dann die Heroinabgabe. Das alles gab den Leuten einen Boden. Sie hatten genügend Stoff. Es kam dann zu viel weniger Entreiss-Diebstählen, weil die Süchtigen nicht mehr zuerst das Geld aufsuchen mussten, um ihren Stoff zu bekommen.

Wie viele Leute besuchen heute die Kontakt- und Anlaufstelle der Perspektive?

Stoop: 2019 waren dies im Schnitt 75 Personen täglich, welche psychoaktive Substanzen wie Kokain, Heroin oder andere konsumierten.

Rudolf von Rohr: Bei der ärztlichen Heroinabgabe gibt es auch Leute, die polizeilich überhaupt nicht auffällig sind und sogar einen Job haben. Sie brauchen einfach ihr Heroin und das bekommen sie.

Büttiker: Drum: Legalisieren! Diese Erfahrung mache ich jeden Tag und das sagen mir alle auf der Strasse. Es gibt durch diese Angebote praktisch keine Beschaffungskriminalität mehr und das ist gut so.



Zu den Personen

Zu den Personen Karin Stoop ist Geschäftsleiterin des Vereins Perspektive Region Solothurn-Grenchen. Hans Rudolf von Rohr ist ehemaliger Kommandant der Solothurner Kantonspolizei, nun im Ruhestand und im Vorstand der Perspektive. Niklaus Büttiker ist Chef Sicherheitsabteilung bei der Kantonspolizei Solothurn und ehemaliger operativer Leiter bei der Auflösung der offenen Drogenszenen in Solothurn und Olten in den 1990er-Jahren.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/drogenpolitik-drogenszene-solothurn-und-olten-1992-hatten-wir-im-kanton-wegen-drogenkonsum-28-tote-2020-waren-es-0-ld.2307974)


+++SPORT
Neuer Fussball-Modus bereitet Sorgen: «Das gefährdet die öffentliche Sicherheit»
Mit einem neuen Modus will die Swiss Football League mehr Spannung im Schweizer Fussball schaffen. Sorgen bereitet das vor allem den Polizeikorps in den Kantonen. Alarm schlagen aber auch die SBB
https://www.blick.ch/politik/neuer-fussball-modus-bereitet-sorgen-das-gefaehrdet-die-oeffentliche-sicherheit-id17600316.html
-> https://www.watson.ch/sport/fussball/361700553-sp-politiker-david-roth-wehrt-sich-gegen-playoffs-im-schweizer-fussall
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/nicht-nur-grund-zur-freude-bei-hug-in-malters?id=12211805 (ab 04:40)
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/luzerner-politiker-sorgen-sich-wegen-fussball-playoffs-um-sicherheit-146960401


Sicherheitskosten im Fussball: Allein Berner Steuerzahler blechen 2 Millionen
Mit einem neuen Modus will die Swiss Football League mehr Spannung im Schweizer Fussball schaffen. Doch mit den Emotionen steigen auch die Sicherheitskosten weiter an. Blechen muss vor allem der Steuerzahler.
https://www.blick.ch/politik/sicherheitskosten-im-fussball-allein-berner-steuerzahler-blechen-2-millionen-id17603303.html


+++BIG BROTHER
Profiling von Passagieren könnte auch für Frontex verboten werden
Im Rahmen des neuen ETIAS-Systems bearbeitet Frontex Antragsformulare von Reisenden aus visafreien Staaten. Die EU-Grenzagentur soll einen Algorithmus entwickeln, um deren Risiko zu bestimmen. Ein Gerichtsurteil bringt diese Pläne nun vielleicht zum Einsturz.
https://netzpolitik.org/2022/big-data-profiling-von-passagieren-koennte-auch-fuer-frontex-verboten-werden/


+++TRANSPORTPOLIZEI
Öffentlicher Verkehr – SBB rüstet Transportpolizei mit Bodycams aus
Wegen zunehmender Aggressionen gegen die Bahnpolizei stattet die SBB das Korps mit Bodycams aus. Dies haben die Verantwortlichen entschieden. Die Kameras sollen in den nächsten Monaten eingeführt werden.
https://www.srf.ch/news/schweiz/oeffentlicher-verkehr-sbb-ruestet-transportpolizei-mit-bodycams-aus


+++FRAUEN/QUEER
Katholische Kirche: Churer Priesterkreis will Homosexuelle weiterhin diskriminieren
Das Bistum Chur will jegliche Form von Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung verbieten. Der Churer Priesterkreis wehrt sich dagegen.
https://www.20min.ch/story/churer-priesterkreis-will-homosexuelle-weiterhin-diskriminieren-646921914839


++++RASSISMUS
«Man sieht es an ihrem Blick»: Jugendliche rapen über Rassismus
Mit Musik gegen Rassismus: In der Stadt Bern hat die offene Jugendarbeit Toj aus einer Woche gegen Rassismus ein ganzes Jahr gemacht. Junge Erwachsene haben dabei ihre Erfahrungen rund um Rassismus mit Musik aufgearbeitet. Und es bleibt nicht dabei.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/man-sieht-es-an-ihrem-blick-jugendliche-rapen-ueber-rassismus?partId=12211838


+++RECHTSEXTREMISMUS
Wie rechtsextreme Freiwillige zum Kampf in die Ukraine ziehen
Ein neuer Bericht von Antifascist Europe
https://www.rosalux.de/news/id/46693


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Bezirksgericht March spricht Satiriker Andreas Thiel frei (ab 07:40)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/nicht-nur-grund-zur-freude-bei-hug-in-malters?id=12211805


+++HISTORY
Parlament stützt Entscheid des Stadtrats: Der «Mohr» muss aus dem Zürcher Stadtbild verschwinden
Die Hausnamen «Zum Mohrentanz» und «Zum Mohrenkopf» in der Zürcher Altstadt sollen definitiv überdeckt werden. Der Gemeinderat hat ein Postulat abgelehnt, das den Stadtrat stoppen wollte.
https://www.nzz.ch/zuerich/der-mohr-muss-aus-dem-zuercher-stadtbild-verschwinden-ld.1690295
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/abdeckung-fuer-mohrenkopf-inschrift-verzoegert-sich?id=12211451