Medienspiegel 21. Juni 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
#WirbleibeninBiel: Reaktionen auf die Besetzung des «Oberen Ried»
Seit Sonntag ist in Biel das leerstehende Altersheims „Oberes Ried“ vom Kollektiv «SoliBiel/Bienne» besetzt. Die Aktion macht darauf aufmerksam, dass es durchaus Wohnraum gäbe in der Stadt, um für die Menschen des Rückkehrcamps Bözingen eine menschengerechte Wohnperspektive für ein selbstbestimmtes Leben zu schaffen. Wer sagt bisher was?
https://migrant-solidarity-network.ch/2022/06/21/wirbleibeninbiel-reaktionen-auf-die-besetzung-des-oberen-ried/



hauptstadt.be 21.06.2022

«Sdrastwujte» am Uferweg

Fast dreihundert Menschen aus der Ukraine bewohnen eine Überbauung in Burgdorf, bis Ende Jahr die Bagger kommen. Zu Besuch in einer Zwischenlösung.

Von Jana Schmid

Die Bauprofile stehen schon am Uferweg. Wie ein Mahnmal an die tatsächliche Durchführbarkeit von langfädigen Bauprojekten wirken sie, die schmalen Metallstangen mit den Winkeln am oberen Ende. Sie überragen die Dächer der alten Wohnblöcke meterhoch, und teilen mit: Nun wird wirklich bald gebaut hier.

Zahlreiche Wohnungen der Überbauung am Stadtrand von Burgdorf standen bereits leer, waren vom Strom genommen, Kühlschränke und dergleichen ausgebaut. Die Pensionskasse Previs plant den Neubau schon lange. Für den Sommer 2022 schien der Baustart endlich gesichert. Und verzögerte sich dann doch noch einmal um einige Monate.

Wie eine kleine Ukraine

An einem Fenster kleben zwei bunte A4-Blätter: blau über gelb. Unweit fliesst gemächlich die Emme vorüber, begradigt und klar lädt sie zum Baden ein.

Die ukrainische Flagge ziert auch die Nummernschilder fast sämtlicher Autos, die zwischen Flussufer und bröckelnden Hausfassaden geparkt sind: UA, blau über gelb.

«Es ist wie eine kleine Ukraine in der Schweiz», sagt Viktoriia Potii und lacht. Ein Mädchen mit Schulrucksack und Leuchtweste düst vorbei und grüsst auf Russisch – die Muttersprache vieler Ukrainer*innen. Drei Kinder, die dem Mädchen mit dem Fahrrad hinterherjagen, tun es ihr gleich. «Überall sdrastwujte, sdrastwujte, sdrastwujte. Es ist komisch.»

Viktoriia Potii lebt seit drei Monaten in der Schweiz. Gemeinsam mit ihrer Tochter und der Schwiegermutter ist sie hierher geflohen, «weil ich gehört habe, dass die Luftschutzbunker so sicher sind». Sie kamen bei einer Gastfamilie in Burgdorf unter. Jetzt haben sie eine Wohnung hier im Quartier gefunden – nicht in den alten Blöcken am Uferweg, sondern in den neueren gleich nebenan. Die werden nicht abgerissen.

Am Uferweg ist Viktoriia Potii trotzdem fast täglich. Sie besucht Menschen, die da wohnen, oder übersetzt bei der Kleiderausgabe, die dreimal wöchentlich in einem kargen Erdgeschoss an der Nummer 24 stattfindet. Im ostukrainischen Sumy hat Viktoriia Potii Deutsch studiert. Das erleichtert ihr und vielen anderen hier den Alltag. «Es ist schön, dass wir hier in diesem Quartier so viele sind», sagt sie etwas verlegen und versteckt ihr Gesicht für einen kurzen Moment hinter den langen, schwarzen Haaren.

Neues Leben in alten Blöcken

Die Pensionskasse Previs musste den Baustart noch einmal um einige Monate verschieben, und in der Ukraine zeichnete sich ab, dass ein baldiges Ende des Krieges nicht zu erwarten war.

Also wurden kurzfristig bereits vom Strom genommene Wohnungen wieder aufgerüstet. Auf Anfrage des kantonalen Amtes für Integration und Soziales stellte die Previs ihre Wohnblöcke am Uferweg ein weiteres Mal zur Zwischennutzung zur Verfügung.

Bereits seit 2020 waren die Wohnungen zum Teil für die Unterbringung von Asylsuchenden genutzt worden – immer mit der Deadline des nahenden Baustarts.

Jetzt wurde mit der Wiederinbetriebnahme der leerstehenden Wohnungen die Kapazität der Gebäude fast verdoppelt. Der Kanton betraute die ORS Service AG mit dem Betrieb, und an einem Montag Mitte März bezogen die ersten 180 Menschen aus der Ukraine die Häuser am Uferweg im Burgdorfer Gyrischachen-Quartier. Drei Monate später sind es rund 300 Ukrainer*innen, fast die Hälfte davon Kinder, die dem Gyrischachen neues Leben einhauchen.

«Eine Hauruck-Übung»

«Ich habe – wie die allermeisten Menschen in Burgdorf – aus den Medien erfahren, dass so viele Menschen aus der Ukraine an den Uferweg kommen», sagt Regula Etzensperger. Sie ist Quartierarbeiterin im Gyrischachen.

Auf Rattanmöbeln hinter einer langen Fensterfront sitzt sie zusammen mit Christine Schneider im Quartierzentrum «Gyriträff». Früher war hier eine Volg-Filiale. Seit zehn Jahren wird der Raum von der reformierten Kirche Burgdorf für die Quartierarbeit genutzt. Er ist eine ruhige Nische, eingebettet inmitten der rund fünfzehn Wohnblöcke, die zusammen den Gyrischachen bilden – das Quartier, das in Burgdorf für tiefe Mieten und einen hohen Migrationsanteil bekannt ist.

«Nachdem wir erst knapp vor der Ankunft der ersten Menschen davon erfuhren, wurde es kurz turbulent hier», sagt Regula Etzensperger. Zusammen mit Freiwilligen wie Christine Schneider organisierte sie eine Kleiderausgabe für die Neuangekommenen, übersetzte Merkblätter, und beantwortete vor allem unzählige Fragen. «Abfallentsorgung, Öffentlicher Verkehr, Haftpflichtversicherung – das Leben in der Schweiz ist kompliziert», sagt sie. «Ich merkte schnell, dass viele kaum informiert waren.»

Damit kritisiert sie implizit die ORS Service AG, die für die Betreuung der Schutzsuchenden am Uferweg zuständig ist.

Wenn sie sich von der privaten Firma, die für zahlreiche Kantone Asylunterkünfte führt, etwas wünschen könnte, dann wäre es mehr Bereitschaft zur Kooperation, sagt Regula Etzensperger. «Die reformierte Kirche Burgdorf leistet hier im Gyrischachen seit 44 Jahren Quartierarbeit. Wir haben einen reichen Erfahrungsschatz, von dem auch die ORS profitieren könnte.»

Stattdessen werde sie von der Firma geflissentlich ignoriert – und dann und wann sogar in die Schranken gewiesen. Es sei nicht erwünscht, dass sie Tätigkeiten übernehme, die nach Wahrnehmung der ORS in deren Aufgabengebiet falle.

«Das ist schade, eigentlich könnten wir einander unterstützen», sagt Regula Etzensperger, und fügt an: «Denn, dass das mit den 300 Leuten aus der Ukraine eine Hauruck-Übung war, das ist spürbar.»

Wer darf bleiben?

So habe es etwa auch Ungereimtheiten gegeben gegenüber bisherigen Bewohner*innen – Menschen aus dem Asylbereich aus anderen Herkunftsländern – die offenbar gedrängt wurden, ihre Wohnungen zu räumen, um den ukrainischen Personen Platz zu machen.

Die Migrationsfachfrau Anette Vogt weiss hierzu mehr zu erzählen. Als Mitglied der Ukraine-Taskforce der Stadt Burgdorf war sie nahe am Geschehen dran: Die Menschen, die noch in den Asylwohnungen am Uferweg wohnten, seien mit einem knapp und unpersönlich gehaltenen Brief darüber informiert worden, dass sie ihre Wohnungen verlassen und entweder zurück in die nächstgelegene Kollektivunterkunft Schafhausen ziehen oder aber innert kurzer Frist eine eigene Wohnung finden müssen.

«Da habe ich zusammen mit anderen Akteuren in der städtischen Taskforce interveniert. Denn anders als mit Rassismus war dieses Vorgehen nicht zu begründen», sagt Anette Vogt am Telefon.

Die ORS schwächte daraufhin ihr Vorgehen leicht ab: Bewohner*innen, die noch im Asylverfahren waren, wurden in die Kollektivunterkunft Schafhausen zurück umquartiert. Solchen mit abgeschlossenem Asylverfahren (F- oder B-Ausweis) wurde bloss empfohlen, sich eine eigene Wohnung zu suchen. Zum Auszug gezwungen wurden sie jedoch nicht.

Schliesslich merkt Regula Etzensperger an: Um die Ankunft von so vielen Menschen zu koordinieren, habe die ORS schlicht zu wenig Personal. «Die Mitarbeitenden machen das Möglichste, aber die Rahmenbedingungen sind schwierig. Deshalb sind viele Bewohner*innen kaum informiert über wichtige Dinge wie etwa Versicherungen oder das Gesundheitssystem», sagt sie. Dann klingelt ihr Telefon, sie verschwindet ins Büro.

Im Park

«Es braucht definitiv viel Eigeninitiative, um sich hier zurecht zu finden», sagt Tatjana Zinoveva. Oft habe sie schlicht und einfach gegoogelt, um an notwendige Informationen zu gelangen, oder sich über Chats informiert, in denen ukrainische Geflüchtete sich austauschen. Die ORS sei sehr schwer zu erreichen bei offenen Fragen – dafür habe sie eindeutig zu wenig Personal.

Tatjana Zinoveva teilt sich eine Wohnung am Uferweg mit ihren zwei Kindern und fünf Bekannten, die gehörlos sind. Fünf Zimmer, jeweils zu zweit ein Schlafzimmer. Daneben leben auch ihre Mutter und deren Ehemann.

«Besonders schwierig ist es natürlich für Menschen mit Behinderungen», sagt sie auf Russisch und setzt sich auf eine schattige Bank im Park neben den Wohnblöcken. Etwa, um Arbeit zu finden oder Übersetzer*innen, die Gebärdensprache beherrschen.

Viktoriia Potii setzt sich daneben, übersetzt auf Deutsch. Frauen jeden Alters führen hier ihre Kinder und Hunde spazieren. Zwei Teenager teilen sich einen E-Scooter, die hintere krallt sich an der Fahrerin fest, deren Haare ihr ins Gesicht flattern. «Privjet!» – Russisch für «Hallo», rufen beide im Chor, vorbeirasend. Es riecht von unbekannter Richtung her nach Marihuana.

Noch einmal die Frage: Wie ist es, dass hier so viele Menschen aus der Ukraine zusammen an einem Ort leben?

Eine dritte Frau hört mit, sie war daneben über ein Arbeitsblatt mit deutschen Vokabeln gebeugt. «Aljona», stellt sie sich vor, und antwortet spontan: «Es ist schön. Natürlich ist es schön, weil wir unsere Sprache sprechen können. Uns treffen, austauschen, unsere Kinder können zusammen spielen. Aber für das Leben hier, längerfristig, ist es nicht förderlich. Wir müssten in einer Umgebung leben, wo wir mehr mit Schweizer Leuten in Kontakt kämen.» Dann lacht sie und sagt: «Und wir sind zu laut. Unsere Kinder sind zu laut. Es wäre stiller, wenn wir nicht alle am selben Ort wären.»

Auch die anderen beiden Frauen lachen. Ja, dass hier um 10 Uhr Ruhe sein muss und die Eltern ihre Kinder um 9 Uhr schon zu Bett bringen, daran müsse man sich erstmal gewöhnen. In der Ukraine rede vor 11 Uhr abends niemand von Nachtruhe.

Mikrokosmos Gyrischachen

Zurück im Quartiertreff. Reklamationen, ja klar, die gebe es immer, sagt Regula Etzensperger. Aber nicht im grossen Stil.

Spannungen zwischen albanischen und ukrainischen Jugendgruppen. Ein beschädigtes Velo, ein geklautes Velo. Der Nachbar, der nicht mehr in Ruhe auf dem Balkon essen könne, wegen der lauten Kinder im Park.

«Ich bin natürlich die Sammelstelle für Reklamationen», sagt die Quartierarbeiterin. Aber grundsätzlich, und das habe sich in den sieben Jahren, die sie hier schon arbeitet, nicht verändert, grundsätzlich lebten die Menschen gerne im Gyrischachen.

«Die Aussen- und die Innensicht stimmen für dieses Quartier nicht überein», sagt sie. Während der Gyrischachen für manche Burgdorfer*innen fast schon als «Slum» gelte, sei er für die meisten Menschen, die hier leben, ein friedlicher Ort und eine attraktive Wohnlage ebenso.

Abgegrenzt durch eine Bahnlinie, einen Wald und die Emme ist der Gyrischachen ein kleiner Kosmos für sich. Neben dem Quartierzentrum steht ein Kindergarten, weiter hinten eine Spielgruppe mit Fokus Deutschförderung, und sogar zwei Badis stehen hinter akkurat gestutzten Buchshecken den Bewohner*innen zur Verfügung.

Eine, die das alles schon lange zu schätzen weiss, ist Christine Schneider. Die Rentnerin lebt seit 45 Jahren im Quartier. Seit März packt sie tatkräftig an bei der Kleiderausgabe am Uferweg und übernimmt auch andere Freiwilligendienste im Quartiertreff.

Von Reklamationen will sie nicht viel wissen. «Vermittlung und Toleranz sind hier wichtig.» Und das «Natel», mit dem sie Gott sei Dank übersetzen könne. «Bei Generationenkonflikten muss ich auch schauen, dass ich mich nicht von einer Seite instrumentalisieren lasse», sagt Christine Schneider und erzählt, wie ein anderer Rentner sich über den Lärm beklagt habe mit der Hoffnung, sie würde sich auf seine Seite schlagen.

Da habe der dann schnell merken müssen, dass er bei einer pensionierten Lehrerin an der falschen Adresse sei, um sich über Kindergeschrei zu beklagen.

Nein, alles in allem müsse man wirklich sagen, es ist extrem friedlich hier im Gyrischachen. Und viele alteingesessene Bewohner*innen würden sich freuen, dass die alten Blöcke am Uferweg noch einmal so belebt seien.

«Deshalb ist es auch möglich, plötzlich 300 neue Personen zu beherbergen, ohne dass es im Chaos endet», sagt Regula Etzensperger und nimmt einem älteren Mann einen Sack mit Kleiderspenden ab.

Eine kurze Episode

Dass Ende Jahr schon wieder fertig sei, das hätten sie anfangs nicht gewusst, sagt Tatjana Zinoveva draussen im Park. «Es ist schade. Viele Menschen haben sich jetzt hier eingerichtet, haben Möbel gekauft, ihre Kinder eingeschult. Erst nach einem Monat erfuhren wir, dass die Häuser Ende Jahr abgerissen werden.» Sie sucht nun, genau wie Aljona und viele andere Bewohner*innen, nach einer neuen Bleibe. Andere rechnen damit, noch vor Ende Jahr wieder in die Ukraine zurückkehren zu können.

Tatjana Zinoveva und Aljona sind sich einig: Die Wohnungen am Uferweg sind gut. Klein, aber fein, ruhig, friedlich. Wenn sie könnten, würden sie gerne vorerst bleiben.

Dass die Bauten aus den frühen sechziger Jahren heutigen Standards nicht mehr genügen würden und deshalb abgerissen werden, das erstaunt die beiden Frauen. Auch, dass manche Menschen dieses Quartier zuweilen als gefährlich oder gar als «Slum» bezeichnen.

Sie lachen und schauen sich um. Es ist ruhig an diesem Vormittag im Gyrischachen. Nur ein Fadenmäher surrt in der Ferne. Die Metallstangen der Bauprofile ragen hinter den Dächern hervor. Sie schwanken leicht im Wind.

Bereits jetzt verringert sich die Anzahl der ukrainischen Bewohner*innen langsam wieder. Einige kehren in die Heimat zurück. Andere finden längerfristige Wohnungen.

Langsam, aber sicher werden ukrainische Wortfetzen und Kindergeschrei von Baulärm abgelöst werden. Dann startet der Uferweg in ein neues Kapitel.



Was sagt die ORS zu dieser Kritik?

Wir haben die ORS Service AG mit den Vorwürfen von Seiten der Quartierarbeit konfrontiert. Das sind ihre Standpunkte…

… zur mangelnden Kooperationsbereitschaft:

ORS arbeitet in Burgdorf sehr eng mit den lokalen Partnern zusammen. Im Sinne einer «Ukraine-Taskforce» gab es einen runden Tisch mit der Stadt Burgdorf. Diese enge Kooperation funktioniert sehr gut. Mit Vertretenden der Freiwilligenorganisationen treffen sich ORS-Vertreter regelmässig und auch hier funktioniert die Zusammenarbeit einwandfrei. Wie eng die Kooperation ist, zeigt auch, dass in den Unterkünften, die ORS betreibt, die Freiwilligengruppen über ihr Angebot laufend informieren.

… zum Druck auf bisherige Bewohner*innen, ihre Wohnungen zu räumen:

Vor der Ukraine-Krise plante der Vermieter der Unterkünfte am Uferweg in Burgdorf, diese per Ende Juni 2022 abzubrechen. Klienten mit Status «vorläufig aufgenommen» und B suchten mit Unterstützung deshalb eine eigene Mietwohnung. Klienten mit Status N wurden wieder in Schafhausen untergebracht (diese dürfen nicht in privaten Wohnraum umziehen). Der Krieg in der Ukraine und der grosse Flüchtlingsansturm veränderten die Lage dramatisch: Die Vermieterschaft am Uferweg zeigte ein grosses Entgegenkommen – der Abbruch der Unterkünfte wurde verschoben, um die Ukraine-Flüchtlinge unterbringen zu können. ORS hat alle Klienten korrekt und rechtzeitig informiert und das Vorgehen eng abgestimmt.

… zum Personalmangel:

ORS hat ausserordentlich grosse Anstrengungen vorgenommen, um genügend Personal zur Bewältigung der Ukraine-Krise zu haben. Dank der grossen Agilität hat ORS spezielle Teams gegründet, die sich ausschliesslich und spezialisiert um die Flüchtlinge aus der Ukraine kümmern.
(https://www.hauptstadt.be/a/ukrainische-gefluchtete-in-burgdorf)


+++LUZERN
Im Kanton Luzern sollen Ukrainische Flüchtlinge weiter in Zivilschutzanlagen untergebracht werden können
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zentralschweiz/kanton-uri-zeigt-erstmals-das-neue-kantonsspital?id=12210872



luzernerzeitung.ch 21.06.2022

Ukrainische Flüchtlinge müssen weiterhin in unterirdischen Unterkünften wohnen

Wohnen ohne Tageslicht sei nicht zumutbar, argumentierte der Grüne Kantonsrat Urban Frye. Seinen Vorstoss lehnte das Luzerner Parlament ab. Zu Diskussionen Anlass gaben zudem die tiefen Beträge in der Asylsozialhilfe.

Reto Bieri

2400 Flüchtlinge aus der Ukraine hat der Kanton Luzern bislang aufgenommen, bis Ende Jahr rechnet die Regierung mit bis zu 6000. Es handle sich um eine Notsituation, das sei ihm bewusst, sagte Kantonsrat Urban Frye am Dienstag im Kantonsrat. Dennoch erachtet es der Stadtluzerner als nicht zumutbar, Menschen «unterirdisch, ohne Tageslicht, unter beengten Platzverhältnissen und ohne Privatsphäre unterzubringen». Zudem verstehe er nicht, warum der Kanton nicht mit privaten Institutionen zusammenarbeitet, um Platz für Neuankommende zu schaffen.

Die bürgerliche Mehrheit des Kantonsrats folgte allerdings der Regierung und lehnte Fryes dringlich eingereichtes Postulat mit 68 Nein- zu 25 Ja-Stimmen ab. «Ich habe durchaus Sympathien für das Anliegen, auch wir möchten möglichst niemanden unterirdisch unterbringen», sagte Regierungsrat Guido Graf. «Wir sind aber an einem Punkt, wo wir nicht mehr wählen können, wo wir die Geflüchteten beherbergen.»

Lob für das Erstaufnahmezentrum

Jede Woche kämen rund 100 Flüchtlinge dazu. Zudem sei bezahlbarer Wohnraum knapp. Eine unterirdische Unterkunft sei nicht ideal, gerade für Familien mit Kindern. «Wir lassen aber niemanden länger als nötig dort, sondern nutzen diese Zivilschutzunterkünfte als Auffangzentren.» Wie sich zudem zunehmend zeige, eignen sich viele Privatunterbringungen nicht als nachhaltige Lösungen. «Immer mehr Gastfamilien beenden ihr Engagement», so Graf.

Aktuell wird im Kanton Luzern mit der Sanitätshilfestelle Rönnimoos in Littau eine unterirdische Unterkunft betrieben. Lob erhielt Graf von Frye für das Erstaufnahmezentrum auf der Allmend in Luzern. «Ich war positiv überrascht, wie in der Halle die Privatsphäre für Menschen gewährt wird.» Meta Lehmann (SP) sagte, unterirdische Unterkünfte dürften nur im Notfall für wenige Tage dienen. «2015 hatten wir den letzten Engpass. Die Regierung hat anscheinend die Zeit nicht genutzt, um eine Strategie für neue Flüchtlingswellen zu entwickeln.» Die SP unterstütze deshalb das Postulat.

Graf: «Kanton lehnt sich nicht zurück»

Die FDP lehnte den Prüfauftrag hingegen ab, «weil die Regierung auf einem gutem Weg ist», so Helen Schurtenberger (Menznau). Laut Mitte-Kantonsrat Thomas Oehen aus Aesch seien Zivilschutzanlagen, die den Mindestanforderungen entsprechen, aktuell notwendig. «Die momentan angespannte Lage braucht Geduld und Verständnis von allen Seiten.»

Um mehr Plätze zu erhalten, hat der Kanton kürzlich den Verteilschlüssel für die Luzerner Gemeinden aktiviert. Diese sind verpflichtet, pro 1000 Einwohnende 23,5 Unterbringungsplätze für Personen aus dem Asyl- und Migrationsbereich zur Verfügung zu stellen. «Das heisst nicht, dass sich der Kanton zurücklehnt, im Gegenteil», sagte Gudio Graf. «Wir sind täglich unterwegs und suchen neue Unterkünfte. Nur mit einem gemeinsamen Kraftakt wird es uns gelingen, die Krise zum Wohle der Schutzsuchenden zu meistern.»

Tiefe Asylsozialhilfe gibt Anlass zu Diskussionen

Zu reden gab zudem ein weiterer Dringlicher Vorstoss, eingereicht von Laura Spring (Grüne). Die Stadtluzernerin kritisierte, dass die Asylsozialhilfe zu tief sei. «Während die Grenze für normale Sozialhilfe bei 1000 Franken pro Monat liegt, erhalten Personen mit dem Schutzstatus S bloss 421 Franken. Also sehr viel unterhalb des Existenzminimums. Diese Personen leben in Armut», sagte Spring. Der Handlungsbedarf sei dringend. «Wir haben die finanziellen Mittel, damit sich Kanton Luzern menschenwürdige Ansätze leisten kann.»

Sämtliche Rednerinnen und Redner von links bis rechts waren sich einig, dass die Beträge der Asylsozialhilfe tief sind. «Allen ist bewusst, dass keine grossen Sprünge möglich sind», so Helen Schurtenberger (FDP, Menznau). In erster Linie solle aber der Grundbedarf gedeckt sein. Zudem sei gesetzlich geregelt, dass die Asylsozialhilfe unterhalb der Sozialhilfe liegen muss.

Regierung soll den Betrag anpassen

Das sei sogar bei einer Verdoppelung der Asylsozialhilfe noch der Fall, rechnete Pia Engler (SP, Kriens) vor. Sie beträgt je nach Unterbringungsart zwischen 11.20 oder 13.30 Franken pro Tag für Personen mit dem Schutzstatus S. In der Sozialhilfe sind es 32.40 Franken. Urban Frye appellierte an den Regierungsrat, die entsprechende Verordnung anzupassen «und den Betrag wenigstens minim anzuheben, damit die Leute ein erträglicheres Leben führen können».

Tatsächlich stellte Guido Graf eine Anpassung in Aussicht, ohne Details zu nennen. Der Schutzstatus S habe eine Zweiklassengesellschaft geschaffen. «Ob das klug war, lasse ich so stehen.» Der Kanton Luzern sei daran, auf Stufe Bund zu klären, wie es weitergehen soll. Es sei der Bund, der sich nun bewegen müsse.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/kanton-luzern/kantonsrat-ukrainische-fluechtlinge-muessen-weiterhin-in-unterirdischen-unterkuenften-wohnen-ld.2307173)


+++ZÜRICH
Keine Beiträge für Privatschulen für ukrainische Flüchtlinge
Die Rudolf-Steiner-Schule bietet, wie viele andere Schulen auch, Extra-Klassen an oder hat den Unterricht für die Schulkinder aus der Ukraine angepasst. Aus diesem Grund findet die Privatschule, dass sie dafür vom Kanton finanziell entschädigt werden müsste, doch der winkt ab.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/keine-beitraege-fuer-privatschulen-fuer-ukrainische-fluechtlinge?id=12209909


+++SCHWEIZ
Schutzstatus S: Erst zahlen, dann arbeiten
Ukrainer*innen können hier arbeiten. Dafür müssen sie sich aber erst im kafkaesken Bürokratiewirrwar zurechtfinden und ihr Diplom anerkennen lassen. Das kostet bis zu 1400 Franken.
https://bajour.ch/a/egvX8a05rsFDVA9H/so-teuer-ist-die-pruefung-auslaendischer-diplome


Flüchtlinge aus Griechenland und aus anderen Krisengebieten
Bei der zweiten Beratung der Standesinitiative des Kantons Basel-Stadt (21.310 «Aufnahme von Menschen aus Griechenland und Auslastung der Asylzentren») ist die Kommission dem Nationalrat gefolgt und gibt der Initiative mit 8 zu 3 Stimmen keine Folge. Das Anliegen, die Situation der Flüchtlinge in Griechenland zu verbessern und die Asylzentren besser auszulasten, ist berechtigt. Die vorgeschlagene Initiative trägt jedoch nicht konkret zur Verbesserung dieser Herausforderungen bei. Eine Minderheit möchte der Standesinitiative Folge geben.
https://www.parlament.ch/press-releases/Pages/mm-spk-s-2022-06-21.aspx
-> https://www.parlament.ch/de/ratsbetrieb/suche-curia-vista/geschaeft?AffairId=20210310


Im Asylbereich nichts Neues
Der Freisinn will «die Schraube» bei Wirtschaftsgeflüchteten anziehen. Holt die Partei so Stimmen bei SVP-Wähler*innen oder macht sie in urbanen Zentren wie Basel die Bühne frei für die GLP?
https://bajour.ch/a/QBPi3WCXxUFYdM8E/schweizer-fdp-naehert-sich-svp-an


+++GRIECHENLAND
Missachtung der Menschenrechte an den EU-Außengrenzen: Drakonische Strafen für Schiffbrüchige
Die Einhaltung der menschenrechtlichen Verpflichtungen gegenüber Schutzsuchenden sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Doch das Recht auf Zugang zu einem fairen Asylverfahren wird an den Außengrenzen der EU systematisch missachtet. So beispielsweise in Griechenland. Mehr noch: Dort drohen schiffbrüchigen Schutzsuchenden im Extremfall lange Haftstrafen.
https://de.qantara.de/inhalt/missachtung-der-menschenrechte-an-den-eu-aussengrenzen-drakonische-strafen-fuer


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
WOHNEN STATT PROFIT!
Im Zentrum der Stadt Luzern wurde das Haus in der Bruchstrasse 64 am Dienstag, 21. Juni 2022 besetzt!
Der seit zweieinhalb Jahren andauernde Leerstand des Hauses vermehrt den Reichtum derer, die bereits mehr als genug haben, während Mieter*innen durch immer höhere Mieten und Wohnungsknappheit aus der Stadt verdrängt werden. Wir Besetzer*innen fordern: Luzern soll nicht von den Reichen geformt werden. Luzern gehört denen, die darin wohnen, arbeiten, leben; denen, die Luzern beleben.
https://barrikade.info/article/5236
-> https://www.tele1.ch/nachrichten/hausbesetzung-in-luzern-146936246
-> https://www.zentralplus.ch/wohnen-bauen/aktivisten-haben-haus-an-der-bruchstrasse-luzern-besetzt-2392571/
-> https://www.zentralplus.ch/wohnen-bauen/bruchstrasse-mieterinnen-wurden-auf-die-strasse-gestellt-2392835/
-> https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/stadt-region-luzern/bruchstrasse-64-umbruch-im-bruch-wurde-das-seit-zweieinhalb-jahren-leerstehende-haus-besetzt-ld.2307181



Basler Zeitung  21.06.2022

Anstieg ums Achtzehnfache: Baslerinnen und Basler protestieren immer öfter illegal

Die Anzahl bewilligter und unbewilligter Demonstrationen in Basel-Stadt hat in den letzten sechs Jahren markant zugenommen. Ein Experte ordnet die Entwicklung ein.

Yannik Schmöller, Katrin Hauser

Die Baslerinnen und Basler zieht es vermehrt auf die Strasse. Seit Januar finden gemäss Angaben der Basler Polizei fast täglich Kundgebungen statt. Ganze achtzig bewilligte und fünfzig unbewilligte Protestaktionen wurden seit Anfang Jahr bis Mitte Juni registriert. Das sind deutlich mehr Demonstrationen und Kundgebungen in sechs Monaten als im gesamten Jahr 2015. Noch extremer ist der Anstieg bei den unbewilligten Protestaktionen. Diese haben sich innert sechs Jahren verachtzehnfacht. Über diese Zahlen berichtete die bz am Montag. Polizeisprecher Adrian Plachesi sagt dazu: «Es gibt ein allgemein grösseres Bedürfnis, sich auf der Strasse zu äussern.»

Wieso gibt es so viel mehr Demonstrationen? Was drängt die Menschen, ihre Anliegen so vehement und regelmässig in die Öffentlichkeit zu tragen?

Experte Dirk Baier, der an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) doziert, macht zwei Ursachen für diesen Trend aus: «Erstens natürlich die Corona-Zeit mit den Demonstrationen der Massnahmenkritiker. Zweitens haben wir bereits vor Corona eine Art Repolitisierung von bestimmten Teilen der Bevölkerung erlebt.» Damit meint er, dass sich wieder mehr Menschen mit den politischen Themen auseinandersetzen, wie zum Beispiel die Jugend, die sich für Klimaschutz einsetzt.

Zudem gebe es einen generellen Trend in modernen Gesellschaften. «Diese sind einerseits sehr divers, sodass die vielen Gruppen Aufmerksamkeit für ihre Bedürfnisse herstellen möchten. Andererseits sind sie durch die mediale Berichterstattung für weltweit stattfindende Ereignisse sensibilisiert, was dann dazu führt, dass Demonstrationen gegen Kriege, für unterdrückte Minderheiten in anderen Ländern et cetera stattfinden», sagt Baier. Tatsächlich hat sich die Hälfte aller bewilligten Protestaktionen im letzten halben Jahr gegen den Krieg in der Ukraine gerichtet. Dies zeigt eine Liste der Basler Polizei, über welche die bz am Montag berichtete.

Teile der Klimabewegung radikalisieren sich

Ein weiterer Grund für den Anstieg bestehe darin, dass viele Veranstalter auf regelmässige Kundgebungen setzten. Als bestes Beispiel sind die Fridays-for-Future-Proteste zu nennen. An Podien hinterfragen Teilnehmende oft die Wirksamkeit der häufigen Proteste. Baier aber sagt: «Generell denke ich, dass man ein Thema nur dauerhaft im Bewusstsein von Politik und Öffentlichkeit verankern kann, wenn man entweder kontinuierlich oder mit aufsehenerregenden Formen in Erscheinung tritt.»

Seine Ausführungen erklären den Anstieg von Protestaktionen im Allgemeinen – ein Trend, der auch in anderen Schweizer Städten zu beobachten ist. Was aber ist der Grund für die Verachtzehnfachung von unbewilligten Demonstrationen?

«Teilweise haben sich die Gruppen radikalisiert, was zu mehr unbewilligten Kundgebungen führt», sagt Baier, der sich an der ZHAW unter anderem mit Extremismus und Sozialforschung befasst. Dafür nennt er als Beispiel Teile der Klimabewegung. «Hier sind viele junge, ungeduldige, linksorientierte Menschen unterwegs, sodass es aus meiner Sicht durchaus ein Potenzial für eine sehr aktive Protestbewegung jenseits demokratisch legitimer Formen gibt.» Auch radikalisiert hätten sich Teile der Corona-Demonstrierenden, was aber eher zu einer Zunahme der Gewalt (wie man es beispielsweise in Deutschland sah) als einer Zunahme von unbewilligten Protesten geführt habe.

Um welche Themen es bei den unbewilligten Demonstrationen in Basel-Stadt geht oder wer die Aktionen verantwortet, kann die Polizei nicht sagen. «Die genauen Inhalte anzugeben, wäre Spekulation», sagt Polizeisprecher Adrian Plachesi. Der Inhalt der Demonstrationen sei für die Polizei nicht wichtig, ausser er sei sicherheitsrelevant. Im letzten Halbjahr wurden keine Bewilligungsgesuche aus sicherheitstechnischen Gründen abgelehnt.

Nimmt die Gewalt zu?

Bei Ausschreitungen wie am diesjährigen 1. Mai entsteht der Eindruck, dass die Gewalt an Demonstrationen in Basel zunimmt. Adrian Plachesi widerspricht: «Unserer subjektiven Einschätzung nach lässt sich in den letzten Jahren kein Trend zu mehr oder weniger Gewalt bei Demos erkennen.» Dirk Baier teilt diese Einschätzung: «Mein Eindruck ist, dass es auch schon früher Gewalt bei Demonstrationen gab.»

Auch ist zu erwähnen, dass die absoluten Zahlen der Basler Polizei nicht nur die grossen Demonstrationszüge durch die Innenstadt, welche bei Passanten und Gewerblern oft Unverständnis auslösen, erfassen. Eine kleine Standaktion, die den Verkehr nicht behindert, wird ebenso mitgezählt.
(https://www.bazonline.ch/baslerinnen-und-basler-protestieren-immer-oefter-illegal-114177709549)


+++BIG BROTHER
Fluggastdatenregister: EuGH-Urteil beschränkt Massenüberwachung bei Flugreisen
Die massenhafte EU-weite Sammlung und Auswertung von Fluggastdaten ist mit einem heutigen Urteil des Europäischen Gerichtshofs auf das „absolut Notwendige“ beschränkt worden. Die EU-Richtlinie, die das anlasslose massenhafte Sammeln, Übermitteln und Verarbeiten von Reisedaten vorschreibt, um Terrorismus und schwere Kriminalität vorzubeugen, bleibt aber bestehen.
https://netzpolitik.org/2022/fluggastdatenregister-eugh-urteil-beschraenkt-massenueberwachung-bei-flugreisen/


+++KNAST
Communiqué : la canicule à Champ-Dollon, il y a urgence !
Communiqué de Parlons Prisons sur la canicule à Champ-Dollon. Aucune mesure n’a été prise à notre connaissance, il faut agir et vite !
Nous, le collectif Parlons Prisons, proches de personnes détenues et/ou sensibles à la dignité et à la vie des personnes détenues, sommes particulièrement inquiètexs quant à la situation des personnes détenues et tout particulièrement à la prison de Champ-Dollon en cette période de fortes chaleurs.
https://renverse.co/infos-locales/article/communique-la-canicule-a-champ-dollon-il-y-a-urgence-3601


+++RASSISMUS
Rassismus am Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest
Am Schwing- und Älplerfest in Pratteln findet auch ein Trachtenumzug statt. Nicht nur Schweizer Trachten, sondern auch solche aus Albanien, Sri Lanka oder dem Kosovo werden dort präsentiert. Mitorganisatorin Shqipe Sylemani erntet dafür Hass in den sozialen Medien.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/rassismus-am-eidgenoessischen-schwing-und-aelplerfest?id=12210644
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/botschafterin-fuers-schwingfest-schlaegt-hass-entgegen?id=12210812
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/schwing-und-aelplerfest-esaf-schwingfest-botschafterin-wird-rassistisch-beschimpft


+++RECHTSEXTREMISMUS
Extremismus-Experte: «Die Junge Tat stellt für LGBTQ-Personen eine Gefahr dar»
Ein homophober Mob hat am Sonntag den Pride-Gottesdienst gestört. Vermummte Männer versuchten, ein Kreuz mit der Aufschrift «No Pride Month» in die Kirche zu tragen. Extremismus-Experte Fabian Eberhard (38) vermutet dahinter die rechtsextreme «Junge Tat».
https://www.kath.ch/newsd/extremismus-experte-die-junge-tat-stellt-fuer-homosexuelle-eine-gefahr-dar/


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Günter Diexer brach mehrfach das Siegel in seinem Café in Elsau ZH auf: Corona-Beizer drohen neun Monate Knast – unbedingt!
Dreister ging es kaum im Lockdown: Die Polizei erwischte im März 2021 Wirt Günter Diexer in seinem Cafe in Elsau ZH mit 25 «ungebetenen» Gästen. Tags darauf bediente er erneut Kunden. Nun drohen ihm neun Monate Knast – unbedingt.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/guenter-diexer-brach-mehrfach-das-siegel-in-seinem-cafe-in-elsau-zh-auf-corona-beizer-drohen-neun-monate-knast-unbedingt-id17595601.html
-> https://tv.telezueri.ch/news/rebellen-wirt-vor-dem-bezirksgericht-winterthur-146936506
-> https://www.toponline.ch/news/winterthur/detail/news/ein-winterthurer-wirte-muss-hinter-gitter-00186919/
-> https://www.tagesanzeiger.ch/corona-rebell-muss-ins-gefaengnis-843414600066



nzz.ch 21.06.2022

«Hier werden Menschenrechte missachtet, ich gehe jetzt eine rauchen» – ein Corona-Wirt aus Elsau sabotiert seinen Prozess

Der Beizer hat während der Pandemie trotz Restaurantschliessungen publikumswirksam sein Lokal geöffnet. Nun muss der Corona-Skeptiker ins Gefängnis.

Florian Schoop

Irgendwann wird es dem Angeklagten zu viel. Er schiebt den Stuhl zurück, läuft zur Tür und sagt: «Hier werden Menschenrechte missachtet, deshalb gehe ich jetzt eine rauchen.» Der Angeklagte, das ist jener Beizer, der im zürcherischen Elsau ein Café betrieben hat. Trotz strengen Corona-Massnahmen widersetzte er sich der Schliessung seines Lokals. Dafür wurde er von Kritikern der Pandemiepolitik beklatscht.

Am Dienstag ist er dafür vor dem Bezirksgericht Winterthur gestanden. Doch mitten im Prozess läuft er einfach davon. Verschwindet aus dem Saal. Um eine zu rauchen. Nach einer kurzen Unterbrechung und gutem Zureden seines Anwaltes kehrt er nochmals zurück. Doch beruhigt hat er sich nicht. Mit zusammengerollten Papieren in der hinteren Hosentasche tigert er vor der Anklagebank herum, während die Richterin spricht.

Dann sagt er: «Als Mensch ist dieses Verfahren für mich nicht relevant. Ich werde es weiterziehen – bis vor ein internationales Gericht.» Dann öffnet er die Tür und zieht sie mit einem Rumms hinter sich zu.

Zurück bleiben sein Anwalt und ein verdutztes Gericht.

Siegelbruch vor laufender Kamera

Es ist die Eskalation eines Vorfalls, der im März 2021 seinen Anfang findet. Wir befinden uns mitten in der Corona-Pandemie, und es gelten gerade strenge Covid-Massnahmen: Home-Office-Pflicht. Maximal 10 Personen in Innenräumen. Ausgedehnte Maskenpflicht.

Und: Alle Restaurants und Bars müssen geschlossen bleiben. Auch jenes von Günter, dem 56-jährigen Wirt aus Elsau.

Der gebürtige Österreicher will dies aber nicht auf sich sitzen lassen. Mehrfach öffnet er sein Café, trotz behördlichem Verbot. Seinen Widerstand lässt er öffentlichkeitswirksam von einem Videoblogger live auf Youtube streamen.

Die Kamera zoomt auf einen blau-weissen Aufkleber, der die Tür des Cafés Diexer in Elsau versiegelt. Die Aufschrift: Kantonspolizei Zürich. Der Wirt des Lokals nimmt seinen Schlüsselbund hervor und zertrennt den Aufkleber. «Das ist wertlos», sagt er in die Kamera. Es gebe keinen richterlichen Beschluss, keine Anordnung, erklärt der Beizer mit österreichischem Akzent. «Das ist Willkür.»

Als sich die Türe öffnet, erhält der Wirt Applaus von rund 20 wartenden Gästen, die ihm ins Lokal folgen. Für diese Aktionen erhält der 56-Jährige viel Lob, vor allem aus der Corona-skeptischen Szene.

Auch er gibt sich in Videos als Massnahmenskeptiker zu erkennen, als einer, der glaubt, die meisten würden nicht am Coronavirus sterben, sondern an der Impfung. In einem Filmchen erklärt er mit hochgezogenen Augenbrauen, der Staat sei nur eine Firma und Geburtsurkunden würden ausgestellt, damit die Mächtigen über uns als Personen verfügen könnten, nicht aber über uns als Menschen. Es sind Ableitungen einer Ideologie, die man sonst von Reichsbürgern kennt.

Diese Haltung liess er auch am Eingang seines Cafés zur Geltung kommen. So stand etwa auf einem Aushang: «Kein Zutritt für Politiker, Polizei und Denunzianten.» Oder: «Liebe Freunde der Maske: Da die Maske erwiesenermassen gesundheitsschädigend ist, seid IHR für Schwindelgefühl, Ohnmacht und Sauerstoffmangel selber verantwortlich.»

Was dabei herauskommt, wenn ein solches Denken mit der Rechtsprechung kollidiert, konnte man am Dienstag am Bezirksgericht Winterthur sehen. Hier wird dem Österreicher der Prozess gemacht, unter Polizeipräsenz. Die Staatsanwaltschaft wirft ihm unter anderem mehrfachen Siegelbruch, mehrfache Begünstigung und mehrfache Hinderung einer Amtshandlung vor. Und natürlich auch mehrfachen Verstoss gegen die Covid-19-Verordnung.

Der vorbestrafte Wirt handelte aus Überzeugung. Nach jeder Versiegelung folgte die Entsiegelung, nach jeder amtlichen Schliessung seines Lokals öffnete der Mann erneut. Dementsprechend hart fallen die Strafanträge des Staatsanwaltes aus: Er fordert nebst einer Busse von 7000 Franken und einer Geldstrafe eine Freiheitsstrafe von neun Monaten – unbedingt.

«Haben Sie noch Vorfragen, Günter?»

Bereits bei den Vorfragen der Richterin gibt es Probleme. Als sie nach dem Namen des Mannes fragt, sagt dieser, er wolle einfach Günter genannt werden. Sein Nachname gehöre zur Person, die hier verhandelt werde, nicht zum Menschen, der er sei. «Als Mensch habe ich keinen Pass mehr. Ich habe auch keine Adresse, nur eine Postanschrift.»

Richterin: «Okay, Günter, haben Sie noch Vorfragen?»

Günter: «Sind Sie unbefangen? Als Parteimitglied wohl kaum. Ist dieses Gericht öffentlich? Die Firma Bezirksgericht Winterthur ist ein gewinnorientiertes Unternehmen.»

Die Richterin bleibt ruhig und beantwortet seine Fragen. Dann beginnt die Befragung zur Person. Günter aber sagt nichts mehr. Er will keine Aussage machen, sondern dreht dem Gericht den Rücken zu, schaut seine Entourage an, die ihn begleitet hat, und grinst. «Dann schreiben wir eben ‹schweigt› ins Protokoll», so quittiert die Richterin sein Verhalten stoisch. Als aber nach einigen Fragen Gelächter aus der Reihe der Besucher zu hören ist, droht die Gerichtsvorsitzende, den Saal zu räumen.

Und dann ist für Günter fertig. Er läuft davon. «Jetzt ist Schluss», ruft er, als er zur Tür läuft. Bevor er die Tür schliesst, wünscht er dem Gericht noch einen schönen Tag.

Das Gericht aber macht weiter. Es verurteilt ihn zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von sieben Monaten, einer Geldstrafe sowie einer Busse von 2500 Franken. «Wir haben das Urteil als unabhängiges, verfassungsgemässes Gericht gefällt», erklärt die Richterin. Die Gesetze gälten in der Schweiz für alle Menschen. Und sowieso sei das Wort Personen ein Synonym für Menschen.

Die Covid-Verordnung sei rechtmässig, das hätten zwei Gerichte in Zürich jüngst entschieden. «Wir haben aber erkannt, dass die Schliessungen für Betreiber von Restaurants schwierig waren.» Das sei aber dennoch kein Entschuldigungsgrund gewesen für das Handeln des Wirts. Ohnehin habe der Mann keine Einsicht gezeigt, habe seine politischen Ansichten ohne Wenn und Aber durchsetzen wollen. Deshalb sah das Gericht von einem bedingten Urteil ab.

Beizer eröffnete Café kurz vor Pandemie

Der Anwalt des Mannes hatte zuvor vergeblich versucht, die Vorwürfe zu entkräften. In seinem Plädoyer verlangte er einen vollumfänglichen Freispruch für seinen Mandanten. Die Covid-Massnahmen hätten ihn brutal getroffen. «Kurz vor der Pandemie hat er das Café eröffnet, und er hat dafür seine Pensionskasse aufgelöst.» Als Entschädigung für die Schliessung seines Lokals habe er jedoch nur 68 Franken erhalten. «Dies ist ein Affront.» Wenn die Existenz so gefährdet werde, dann fördere das eben kritische Gedanken.

Der 56-Jährige habe sich nur über Wasser halten können, weil die Vermieterin des Ladenlokals auf den Mietzins verzichtet hatte. Doch damit ist nun Schluss. Ende Juli endet der Vertrag zwischen Günter und der Vermieterin. Auch die Partnerschaft mit seiner Freundin ist laut Anwalt in der Zwischenzeit zerbrochen. «Eigentlich ist der Mann doch schon genug bestraft», sagt der Verteidiger.

Der bestrafte Wirt machte allerdings auch nach den Schliessungen weiter. Derzeit hat er sein Café umbenannt. Auf Google heisst die Lokalität nun «Verein Urig Elsau». Gemäss einem Medienbericht des «Boten der Urschweiz» breitet sich diese Gruppierung immer weiter aus. In der Deutschschweiz sind demnach bereits über 50 Urig-Vereine gegründet worden. Ihnen wird eine enge Verbindung zur Szene der Massnahmenkritiker nachgesagt.

Urteil GG210046 vom 21. 6. 2022, noch nicht rechtskräftig.
(https://www.nzz.ch/zuerich/winterthur-corona-beizer-aus-elsau-muss-ins-gefaengnis-ld.1689875)


+++FUNDIS
Gebetsgruppe an der Schule löst kritische Fragen aus – SP-Grossrätin ist irritiert über Aktivitäten von Lehrpersonen im Aargau
Evangelikale Christen planen offenbar, an der Schule Safenwil ein regelmässiges Lehrergebet durchzuführen. Lehrpersonen wehren sich dagegen und haben die Schulaufsicht informiert. Nun schaltet sich die kantonale Politik ein: SP-Grossrätin Lelia Hunziker stellt der Regierung kritische Fragen zu religiösen Aktivitäten von Lehrpersonen.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/kirche-und-staat-gebetsgruppe-an-der-schule-safenwil-loest-kritische-fragen-aus-sp-grossraetin-ist-irritiert-ueber-religioese-aktivitaeten-von-lehrpersonen-im-aargau-ld.2307309


+++PSYCHIATRIE
Kirschblütler-Affäre: PZM Münsingen entlässt Klinikdirektor
Das Psychiatriezentrum Münsingen trennt sich vom ärztlichen Direktor Thomas Reisch. Dieser hatte drei Personen aus dem Umfeld der sektennahen Kirschblüten-Gemeinschaft angestellt. Eine externe Untersuchung hält fest, dass keine Patientinnen und Patienten zu Schaden gekommen sind.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/kirschbluetler-affaere-pzm-muensingen-entlaesst-klinikdirektor?id=12210638
-> https://www.neo1.ch/artikel/psychiatriezentrum-muensingen-zieht-nach-kirschbluetler-affaere-konsequenzen
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/wegen-kirschbluetler-affaere-psychiatriezentrum-muensingen-entlaesst-klinikdirektor
-> Rendez-vous: https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/kirschbluetler-affaere-psychiatrie-muensingen-entlaesst-direktor?partId=12210680
-> https://www.watson.ch/schweiz/bern/567886939-kirschbluetler-affaere-im-psychiatriezentrum-muensingen-hat-folgen
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/wie-die-pzm-verantwortlichen-ihr-zuwarten-erklaeren?id=12210875 (02:45)
-> Schweiz Aktuell:
-> Medienmitteilung PZM: https://www.pzmag.ch/fileadmin/user_upload/documents/2022/Wir_fuer_Sie/Medienmitteilungen/PZM_Medienmitteilung_Untersuchungsergebnisse_21062022.pdf
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/kirschbluetler-affaere-hat-folgen-psychiatriezentrum-muensingen-trennt-sich-von-chefarzt-146936593



derbund.ch 21.06.2022 (20:00 Uhr)

Psychiatriezentrum MünsingenExpertenbericht deckt diverse Probleme auf

Das Psychiatriezentrum Münsingen plant verschiedene Änderungen. Die einschneidendste Massnahme ist die Entlassung des ärztlichen Direktors.

Marius Aschwanden, Brigitte Walser

Knall am Psychiatriezentrum Münsingen (PZM): Thomas Reisch, der ärztliche Direktor und Chefarzt der Klinik für Depression und Angst, wird nicht mehr ins Unternehmen zurückkehren. Dies wurde am Dienstagmorgen bekannt, als PZM-Verantwortliche über die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung zur Anstellung von drei Mitgliedern der umstrittenen Kirschblüten-Gemeinschaft informierten.

Schon während der letzten Monate hat Reisch seine Funktionen nicht mehr ausgeübt, denn seine Rolle war Teil der Untersuchung. Er pflegt eine private Beziehung zu einer der drei Kirschblütlerinnen, die mittlerweile alle nicht mehr im PZM arbeiten.

Die Geschäftsleitung war über die Liaison informiert. Zu Beginn der Untersuchung betonte Verwaltungsratspräsident Jean-Marc Lüthi denn auch, dass sein Gremium hinter Reisch stehe. In einem Interview sagte PZM-Chef Ivo Spicher kürzlich zudem, Reisch habe sich klar von den umstrittenen Therapiemethoden der Gemeinschaft distanziert.

Kirschblütlern wird vorgeworfen, inzestuöse Handlungen sowie sexuelle Kontakte zwischen Therapeuten und Patienten nicht auszuschliessen (lesen Sie dazu die Recherche: «Eine Gemeinschaft unter Druck»).

Bericht wird nicht veröffentlicht

Mittlerweile beurteilt der Verwaltungsrat die Rolle von Thomas Reisch offenbar anders: Aufgrund der Untersuchungsresultate sei er einstimmig zum Schluss gekommen, «dass die gemeinsame Basis für eine weitere Zusammenarbeit fehlt». Dies sagte Lüthi an der kurzfristig anberaumten Medienkonferenz. Das Arbeitsverhältnis mit Reisch wird aufgelöst. Welche Rolle die Kirschblüten-Geschichte bei diesem Entscheid gespielt hat, wurde jedoch nicht klar.

Der Verwaltungsratspräsident begründete den Schritt nicht mit den umstrittenen Anstellungen, sondern allgemein mit «unterschiedlichen Auffassungen zu Führungs- und Kulturfragen». Weiter ins Detail könne er aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes nicht gehen, so Lüthi. Reisch selbst war am Dienstag für eine Stellungnahme nicht verfügbar.

Ebenfalls mit Verweis auf den Persönlichkeitsschutz will das PZM den Untersuchungsbericht nicht veröffentlichen. Denn dieser enthalte Aussagen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. «Eine Veröffentlichung dürfte diverse Klagen nach sich ziehen», so Lüthi.

Somit kann nicht unabhängig beurteilt werden, welche Ungereimtheiten die vier Experten, die mit der Untersuchung beauftragt worden waren, tatsächlich alle entdeckt haben. Gemäss dem PZM sind sie aber zum Schluss gekommen, dass Führungsprobleme besonders in Reischs Klinik für Depression und Angst bestünden.

Als Gründe dafür würden die Experten einerseits die problematische Doppelfunktion Reischs als ärztlicher Direktor des gesamten PZM und Chefarzt der Klinik nennen. Andererseits würden sie darauf hinweisen, dass die Geschäftsleitung seine Arbeit «nicht ausreichend» kontrolliert habe.

Gemäss Lüthi sind diese Probleme und damit die Person von Reisch auch mitverantwortlich für die schlechte Stimmung und die hohe Fluktuation innerhalb der betroffenen Klinik. Bereits zweimal musste wegen Personalmangels dort die Bettenzahl reduziert werden.

Keine Patienten zu Schaden gekommen

Grundsätzlich habe die Untersuchung aber auch gezeigt, und darauf legte Lüthi besonders Wert, dass sich die drei Kirschblütenmitglieder während ihrer Zeit am PZM keines Fehlverhaltens schuldig gemacht hätten. So seien denn auch keine Patientinnen und Patienten zu Schaden gekommen. «Es gibt keinerlei Hinweise darauf, dass unerlaubte Behandlungsmethoden oder Substanzen eingesetzt oder propagiert wurden», so Lüthi.

Das PZM hatte die Experten im Februar mit einer Untersuchung beauftragt, nachdem Medien die Anstellungen thematisiert hatten und beim Kanton eine Aufsichtsbeschwerde eingegangen war. Als einen der vier Experten engagierte das PZM Erich Seifritz, Präsident des Dachverbandes der psychiatrischen Kliniken und Dienste.

Er hatte sich im Vorfeld sehr kritisch zur Kirschblüten-Gemeinschaft geäussert. Allein eine ideologische Nähe zu deren Gedankengut laufe dem Auftrag einer «qualitätsvollen und effektiven sowie ethisch-moralisch höchststehenden Versorgung» klar zuwider, sagte er etwa.

Beziehungsrichtlinie in Arbeit

Neben der Entlassung von Thomas Reisch präsentierte Lüthi am Dienstag denn auch eine Reihe weiterer Massnahmen, mit denen der PZM-Verwaltungsrat auf die Untersuchungsresultate reagieren will. So wird etwa die ärztliche Direktion künftig nicht mehr durch eine Einzelperson mit Doppelfunktion wahrgenommen. Stattdessen werde es ein Kollegium sein, in dem alle vier Chefärztinnen und Chefärzte Einsitz hätten.

Weiter verzichtet das Unternehmen vorderhand auf die Einstellung von Mitgliedern der Kirschblüten-Gemeinschaft. Aber: «Wir tauschen uns diesbezüglich mit dem Kanton und den Universitären Psychiatrischen Diensten aus und möchten das weitere Vorgehen gemeinsam festlegen», so Lüthi.

Und schliesslich hat das Unternehmen eine Whistleblower-Stelle geschaffen und will klare Regeln zum Thema Beziehungen zwischen Mitarbeitenden erarbeiten.

Für Direktor Ivo Spicher hat die Untersuchung hingegen keine direkten Konsequenzen, obschon offenbar die Geschäftsleitung bei Thomas Reisch zu wenig genau hingeschaut hat. «Bei den übrigen Mitgliedern der Geschäftsleitung gibt es keine Resultate, die Konsequenzen erfordern würden», sagt Lüthi dazu. Mit der neuen ärztlichen Direktion in Form eines Kollegiums sei die Geschäftsleitung aber trotzdem anders aufgestellt worden.

Spicher selbst begrüsste die Massnahmen des Verwaltungsrats. «Diese helfen uns, Lehren aus der Vergangenheit zu ziehen und das Unternehmen zu verbessern», sagte er. Jetzt sei es an ihm, die Massnahmen umzusetzen. «Zusammenfassend kann man sagen, dass wir genauer hinschauen müssen», so Spicher. Viel sei bereits aufgenommen worden, anderes noch in Arbeit.

So oder so ist mit den vorliegenden Untersuchungsergebnissen die Geschichte für das PZM noch nicht ausgestanden. Denn auch der Kanton schaut sich die Vorkommnisse genau an. Neben den Anstellungen der Kirschblütlerinnen steht dabei die Frage im Fokus, ob in Münsingen präventiv freiheitsbeschränkende Massnahmen angewendet wurden. Die Ergebnisse dieser Untersuchung liegen noch nicht vor.
(https://www.derbund.ch/psychiatriezentrum-muensingen-trennt-sich-von-chefarzt-519278752192)



derbund.ch 21.06.2022 (13.00 Uhr)

Thomas Reisch muss gehen: Psychiatriezentrum Münsingen trennt sich von Chefarzt

Die Leitung des Psychiatriezentrums Münsingen reagiert damit auf die Ergebnisse einer Untersuchung im Zusammenhang mit der Kirschblüten-Gemeinschaft.

Marius Aschwanden, Brigitte Walser

Knall am Psychiatriezentrum Münsingen (PZM): Thomas Reisch, der ärztliche Direktor und Chefarzt der Klinik für Depression und Angst, wird nicht mehr ins Unternehmen zurückkehren. Dies wurde am Dienstagmorgen bekannt, als PZM-Verantwortliche über die Ergebnisse der unabhängigen Untersuchung zur Anstellung von drei Mitgliedern der umstrittenen Kirschblüten-Gemeinschaft informierten. Diese arbeiten nicht mehr am PZM.

Schon während der letzten Monate hatte Reisch seine Funktionen am PZM  nicht mehr ausgeübt, denn seine Rolle war Teil der Untersuchung gewesen. Er pflegt eine private Beziehung zu einer der Kirschblütlerinnen. Die Geschäftsleitung war darüber informiert, auch der Verwaltungsratspräsident betonte zu Beginn der Untersuchung, dass sein Gremium hinter Reisch stehe. In einem Interview sagte PZM-Chef Ivo Spicher kürzlich,  Reisch habe sich klar von den umstrittenen Therapiemethoden der Gemeinschaft distanziert.

Aufgrund der Untersuchung sei der Verwaltungsrat nun aber zum Schluss gekommen, «dass die gemeinsame Basis für eine weitere Zusammenarbeit fehlt». Dies auch wegen «unterschiedlicher Auffassungen zu Führungs- und Kulturfragen», hiess es am Dienstag.

Grundsätzlich konnten die vier mit der Untersuchung beauftragten Experten «kein Fehlverhalten» bei den drei Mitgliedern der Kirschblüten-Gemeinschaft feststellen. Auch strafrechtlich relevante Verfehlungen seien keine aufgetaucht und es seien keine Patientinnen und Patienten zu Schaden gekommen.

Allerdings seien «verschiedene organisatorische und führungsspezifische Schwachstellen» zu Tage getreten. Als Gründe nennen die Experten einerseits die problematische Doppelfunktion des ärztlichen Direktors und Chefarztes der Klinik für Depression und Angst sowie Führungsschwächen. Andererseits weisen sie darauf hin, dass die Geschäftsleitung die Arbeit von Thomas Reisch «nicht ausreichend» kontrolliert habe.

Das PZM hatte die Experten im Februar mit einer Untersuchung beauftragt, nachdem Medien die Anstellungen thematisiert hatten und beim Kanton eine Aufsichtsbeschwerde eingegangen war. Als einen der vier Experten engagierte das PZM Erich Seifritz, Professor für Psychiatrie an der Universität Zürich. Er hatte sich im Vorfeld sehr kritisch zur Kirschblüten-Gemeinschaft geäussert. Deren Behandlungsmethoden dürfe man nicht akzeptieren, sagte er als Präsident des Dachverbandes der psychiatrischen Kliniken und Dienste, Swiss Mental Healthcare, gegenüber Radio SRF. Kirschblütlern wird vorgeworfen, inzestuöse Handlungen sowie sexuelle Kontakte zwischen Therapeuten und Patienten nicht auszuschliessen.
(https://www.derbund.ch/psychiatriezentrum-muensingen-trennt-sich-von-chefarzt-519278752192)



“Irrenanstalt, Spinnerei, Windisch links”
Seit 150 Jahren gibt es in Windisch AG die psychiatrische Klinik Königsfelden. Am Anfang wurde die Klinik noch despektierlich als Irrenanstalt, Spinnerei oder einfach Windisch links bezeichnet. Heute gehören die psychiatrischen Dienste zu den Aargauer Kantonsspitälern. (ab 13:12)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/irrenanstalt-spinnerei-windisch-links?id=12210821