Medienspiegel 22. Mai 2022

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+++AARGAU
Wie eine Ukrainerin die Schweiz erlebt: «Sie meinte, ich soll nachts einfach Ohropax reinmachen»
Mehr als 50’000 Ukrainerinnen und Ukrainer sind in die Schweiz geflohen. Kann das Asylsystem so viele Menschen verkraften? Der kantonale Sozialdienst Aargau zieht eine positive Bilanz, doch der Fall von Iryna deutet auf grosse Lücken im System hin.
https://www.blick.ch/schweiz/wie-eine-ukrainerin-die-schweiz-erlebt-sie-meinte-ich-soll-nachts-einfach-ohropax-reinmachen-id17510218.html


+++APPENZELL
Sonntagszeitung 22.05.2022

Flüchtlinge in Appenzell Ausserrhoden: Sie kämpfen gegen Asylzentren, nehmen aber viele Geflüchtete aus der Ukraine auf

Der katholische Seelsorger Stefan Staub holt 120 Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz und löst in Appenzell Ausserrhoden eine Debatte aus – über Menschlichkeit, Glauben und richtige und falsche Flüchtlinge.

Alessandra Paone

Von seinem Balkon aus im Pfarrhaus in Teufen blickt Stefan Staub auf den Säntis. Im Hintergrund hört man Kuhglocken bimmeln. Bergidylle. «Es ist uh läss hier. Eigentlich müsste ich in den Ferien gar nicht verreisen», sagt er. Katze Emilie streicht ihm um die Beine und macht es sich dann bequem auf dem Balkonboden.

Stefan Staub ist 54 Jahre alt, Diakon der katholischen Pfarrei Teufen-Bühler-Stein im Kanton Appenzell Ausserrhoden und – das sagt er von sich selbst – ziemlich unkonventionell: ein goldener Stecker am linken Ohr, eine Yamaha in der Garage, drei erwachsene Töchter, die bei ihm ein- und ausgehen, eine Partnerin und eine Ex-Frau, mit der er trotz schmerzhafter Trennung ein «uh guets» Verhältnis hat.

Anfang März erlangte Staub nationale Bekanntheit, als er zusammen mit einem protestantischen Kollegen einen Konvoi nach Lemberg in der Ukraine startete, 120 Menschen vor dem Krieg rettete und sie in Teufen und den umliegenden Gemeinden einquartierte. Spontan und unkonventionell, noch lange bevor die Behörden überhaupt wussten, wie sie auf den Krieg mitten in Europa und dessen Konsequenzen reagieren sollten. Er liess das Beziehungsnetz der Kirche spielen und reagierte rasch.

Zu rasch, fanden die Behörden. Auch von anderen kirchlichen Institutionen kam Kritik. Er solle doch warten, habe man ihm gesagt, in zwei Wochen gebe es immer noch arme Teufel, denen man helfen könne. «Stellen Sie sich das einmal vor!», sagt Staub. «Wer weiss, was diesen Menschen passiert wäre. Ich fühlte mich für sie verantwortlich.»

Vorübergehender Zuweisungsstopp

Auch wegen Staubs Aktion beherbergt Appenzell Ausserrhoden gemessen an der Bevölkerung am meisten Schutzsuchende von allen Kantonen. Hinzu kommt eine weitere private Initiative eines Unternehmers aus Herisau, der 42 ukrainische Mitarbeiter und ihre Angehörigen in die Schweiz holte, und jene des Vereins Tipiti in Rehetobel, der 55 Kinder und Jugendliche mit ihren Pflegefamilien aufgenommen hat. Viele von ihnen sind Waisen oder stammen aus schwierigen Verhältnissen.

Derzeit leben 573 Geflüchtete im Kanton, fast doppelt so viele, wie es laut nationalem Verteilschlüssel sein müssten. Das Staatssekretariat für Migration hat deshalb für den Moment einen Zuweisungsstopp verfügt. Die Zahl wachse dennoch, wenn auch nur leicht, sagt Marco Kuhn vom Departement Gesundheit und Soziales. Denn Verwandte und vulnerable Personen seien vom Zuweisungsstopp ausgenommen.

Mehr als zwei Drittel der Ukrainerinnen und Ukrainer sind bei Privaten untergebracht, ein Fünftel in Wohnungen der Gemeinden. Die meisten wohnen in Teufen und Umgebung und in Herisau. 57 Personen befinden sich aktuell im Kinderdorf Pestalozzi in Trogen, das vom Kanton als Aufnahmezentrum genutzt wird.

Konservativer Kanton mit humanistischer Tradition

Der Ostschweizer Kanton ist sehr konservativ, seine Einwohnerinnen und Einwohner gelten als knorzig. Mit Persönlichkeiten wie dem Friedensnobelpreisträger Henry Dunant oder dem Diplomaten Carl Lutz hat er aber durchaus eine humanistische Tradition. Die offensichtlich anhält: Trotz Zuweisungsstopp gebe es immer noch viele Leute, die sich als Gastfamilien anböten, sagt Kuhn.

Von den 120 Personen, die Diakon Staub im März in die Schweiz geholt hat, sind rund 100 im Kanton geblieben. Bis auf eine Familie können alle in der privaten Unterkunft bleiben, die ihnen bei ihrer Ankunft zugewiesen wurde. Die Stimmung sei nicht gekippt, obwohl die Konstellationen teilweise speziell seien, sagt Staub. Die Frau eines Unternehmers, die mit ihrem Porsche Cayenne aus der Ukraine angereist sei, lebe zum Beispiel mit ihren Kindern bei alternativen Demeter-Bauern und fühle sich dort sehr wohl.

Dass es so gut klappt, hat für den Seelsorger mehrere Gründe: Rund die Hälfte der ukrainischen Gemeinschaft lebe nicht im selben Haushalt wie ihre Gastfamilien, sondern in Einlieger- oder Ferienwohnungen. Auch betreue die Pfarrei und das Begleitteam, das sich mittlerweile gebildet hat, die Gastfamilien und überlasse sie nicht einfach ihrem Schicksal. Und dass die Geflüchteten als Gruppe und nicht einzeln gekommen seien, spiele ebenfalls eine Rolle: «Es ist eine Gemeinschaft entstanden, die als solche funktioniert. Man trifft sich, tauscht sich aus, hilft einander.»

Staub glaubt auch, dass die Anwesenheit der Ukrainerinnen den Leuten helfe, über die schwierige Corona-Zeit hinwegzukommen. «Viele waren während der letzten zwei Jahre sehr einsam und fühlten sich nutzlos. Jetzt werden sie gebraucht, das tut gut.»

Gratiswerbung für Ausserrhoden

Der Seelsorger lehnt sich in seinem Stuhl auf dem Balkon zurück und hält einen kurzen Moment inne. Dann sagt er: «Eigentlich hat die aktuelle Situation vor allem positive Effekte – auf die Geflüchteten, die Bevölkerung und auf das Image des Kantons.» Für einmal werde Appenzell Ausserrhoden von aussen als offen wahrgenommen und könne glänzen. «Das ist Gratiswerbung!», sagt Staub. Die Regierung müsste sich doch darüber freuen. «Stattdessen spüre ich starke Zurückhaltung. Ständig wird von Kontingenten, Zuweisungen, Registrierungen und Kosten gesprochen.»

Staubs Kritik richtet sich primär an den Ausserrhoder Sozialdirektor Yves Noël Balmer. Der 43-jährige Regierungsrat hat schon früh beim Bund auf die hohe Anzahl Geflüchteter in seinem Kanton aufmerksam gemacht und in den Medien immer wieder auf die «herausfordernde» Situation hingewiesen.

Balmer sagt geradeheraus: «Ja, ich begrüsse den Zuweisungsstopp.» Weil er eine längerfristige Planung ermögliche, um gut vorbereitet zu sein, für die nächsten ukrainischen Geflüchteten, die kämen, sobald der Zuweisungsstopp aufgehoben werde. Es brauche weit mehr als nur ein Bett zum Schlafen, etwa Tagesstrukturen für die Kinder, medizinische Versorgung, genügend Platz in den Schulen. Anhaltende Qualität sei wichtig und nicht Quantität. «Wir möchten den Menschen, die wir aufnehmen, und ihrer Situation gerecht werden.»

Als Sozialdemokrat hat Balmer grundsätzlich Sympathien für die Rettungsaktion des katholischen Diakons. Die privaten Initiativen seien für die doch sehr kleinen Gemeinden im Kanton aber ein «grosser Lupf» gewesen, sie seien teilweise an ihre Grenzen gestossen. «Appenzell Ausserrhoden hatte in den letzten 30 Jahren noch nie so viele Schutzsuchende wie jetzt», sagt er.

Eine klare Mehrheit der Bevölkerung von Appenzell Ausserrhoden war bisher in Asylfragen restriktiv. Die Abstimmungsresultate der letzten Asylvorlagen sprechen eine klare Sprache: Die Ressourcen im Asylwesen wurden knapp gehalten. Gegen ein geplantes Asyldurchgangszentrum in Walzenhausen wehrten sich die Anwohner bis vor Bundesgericht. «Und nun dieser plötzliche Meinungsumschwung, von heute auf morgen. Es ist nicht einfach, damit umzugehen», sagt Balmer.

Der Sozialdirektor hätte sich gewünscht, dass sich die Institutionen und deren Anhängerinnen, die sich für die Menschen aus der Ukraine engagieren, 2015 genauso für die syrischen und afghanischen Geflüchteten eingesetzt hätten. Damals sei von Solidarität kaum etwas zu spüren gewesen.

Ideologische Kämpfe – links wie rechts

Andernorts bröckelt die Solidarität gegenüber den ukrainischen Geflüchteten bereits. Die SVP Schweiz fordert etwa, die Aufnahme zu verschärfen, und schlägt deshalb vor, den Schutzstatus S regional zu beschränken. Da sich das Kriegsgeschehen immer mehr nach Osten verlagere, solle die Schweiz den Schutzstatus nur noch Leuten aus dieser Region gewähren.

Auch FDP-Vizepräsident und Ständerat Andrea Caroni, selbst ein Ausserrhoder, stellt Überlegungen in diese Richtung an und erwägt eine dynamische Ausgestaltung des Schutzstatus S. Es seien aber nur theoretische Gedankenspiele, die angesichts der aktuellen Situation im Moment kein Thema seien, sagt er. «Ich stehe hinter der heutigen Ausgestaltung.» Die zuständige freisinnige Bundesrätin Karin Keller-Sutter machte im Interview mit dieser Zeitung allerdings deutlich, dass sie von solchen Massnahmen nicht viel hält.

Stefan Staub stören die ideologischen Kämpfe, die links wie rechts ausgetragen werden. Das Ausspielen von europäischen Geflüchteten mit christlichem Glauben gegen muslimische Schutzsuchende. «Ich lasse mir nichts vorwerfen: Ich bin zweimal mit jeweils 120 Tonnen Hilfsgütern in den Nordirak gefahren», sagt er. Was die Ausserrhoder Bevölkerung leiste, sei ein Akt der Menschlichkeit. Und, ja, auch eine christliche Tat.

In Teufen läuten gerade die Kirchenglocken; jetzt übertönen sie die Kuhglocken.
(https://www.tagesanzeiger.ch/sie-kaempfen-gegen-asylzentren-nehmen-aber-viele-gefluechtete-aus-der-ukraine-auf-433880180228)


+++ST. GALLEN
Die Universität St.Gallen zeichnet das «Solihaus» aus: Es erhält den zweiten HSG-Kulturpreis
An ihrem akademischen Feiertag ehrt die Universität St.Gallen das Solidaritätshaus in der Stadt St.Gallen. Der traditionelle Dies academicus fand nach zwei virtuellen Feiern dieses Jahr wieder auf dem Campus statt.
https://www.tagblatt.ch/ostschweiz/ressort-ostschweiz/auszeichnung-die-universitaet-stgallen-zeichnet-das-solihaus-aus-es-erhaelt-den-zweiten-hsg-kulturpreis-ld.2294487


+++SCHWEIZ
Ukraine-Flüchtlinge: Schweizer Behörden sind gefordert – Tagesschau
Bis jetzt sind über 50’000 Menschen aus der Ukraine in die Schweiz geflüchtet. Für die Ukrainerinnen und Ukrainer ist es schwierig, sich mit den Amtstellen und Behörden zurechtzufinden. Die Behörden geben nun zu, mit der ausserordentlichen Lage sehr gefordert zu sein – und geloben Besserung.
https://www.srf.ch/play/tv/tagesschau/video/ukraine-fluechtlinge-schweizer-behoerden-sind-gefordert?urn=urn:srf:video:397760dd-4894-4f4b-ad9c-f41937452cce


+++MITTEMEER
Migranten bei Schiffbruch in Ägäis von Griechenland gerettet
Küstenwache barg 26 Menschen, nachdem ein Boot bei Windstärke 7 kenterte
https://www.derstandard.at/story/2000135947097/migranten-bei-schiffbruch-in-aegaeis-von-griechenland-gerettet?ref=rss


+++FLUCHT
Buch „Brennpunkt Westafrika“: Warum Menschen fliehen
Aktivist und Soziologe Olaf Bernau analysiert in seinem Buch die Vielfachkrisen und Fluchtursachen in Westafrika. Optimistisch ist sein Befund nicht.
https://taz.de/Buch-Brennpunkt-Westafrika/!5851970/


Das Migrationsthema ist zurück – auch auf der Leinwand – Echo der Zeit
Seit dem Angriff auf die Ukraine steht das Thema Migration wieder auf der politischen Tagesordnung. Mit der Migration und der Migrationskrise ab 2015 spielt auch der neue Film «La dérive des continents (au sud)»des Westschweizer Regisseurs Lionel Baier. Am Filmfestival Cannes war heute die Premiere.
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/das-migrationsthema-ist-zurueck-auch-auf-der-leinwand?partId=12194979


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Juso fordert an Demo am WEF Ende des Kapitalismus
Anlässlich des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos haben sich am Sonntag Klimastreiker und Jungsozialistinnen zu einer Kundgebung getroffen. Sie kritisierten, dass die Mächtigen der Welt am WEF hinter dem Rücken der Bevölkerung gegenseitig ihre Profite erhöhten.
https://www.swissinfo.ch/ger/juso-fordert-an-demo-am-wef-ende-des-kapitalismus/47614198
-> https://www.cash.ch/news/politik/wef-2022-juso-fordert-demo-am-wef-ende-des-kapitalismus-1963642
-> https://www.watson.ch/schweiz/umwelt/409766474-juso-fordert-an-demo-am-wef-ende-des-kapitalismus
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/klima-demonstrierende-treffen-mit-kleinem-aufmarsch-in-davos-ein-66184325
-> https://www.blick.ch/wirtschaft/gewaltsamer-auftakt-das-fruehsommer-wef-startet-mit-scharmuetzeln-in-zuerich-id17507852.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/wenige-personen-an-wef-demo?id=12194988


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHt
Landesverweise machen Arbeit – Die Ausschaffungsinitaitive beschäftigt die St. Galler Gerichte
Die Fälle am Kantonsgericht St. Gallen haben um 42 Prozent zugenommen. Nicht nur, aber auch wegen Landesverweisen. Weil sich auf nationaler Ebene nicht so schnell etwas ändern wird, soll jetzt der Kanton reagieren.
https://www.srf.ch/news/schweiz/landesverweise-machen-arbeit-die-ausschaffungsinitaitive-beschaeftigt-die-st-galler-gerichte


+++POLICE BE
Jugendpatrouille: Immer mehr Jugendliche nehmen Waffen mit in den Ausgang
Wie das Portemonnaie, gehören Waffen heute bei gewissen Jugendlichen zur Grundausstattung, wenn sie in den Ausgang gehen. 2021 flattern bei der Jugendstaatsanwaltschaft 23 Fälle wegen schwerer Körperverletzung auf den Tisch. Das sind doppelt so viele, wie im Jahr zuvor. Wegen der höheren Gewaltbereitschaft setzt die Kantonspolizei Bern schon länger auf so genannte Jugendpatrouillen. Wir haben sie eine Nacht lang in Bümpliz und Bern Bethlehem begleitet.
https://www.telebaern.tv/tele-barn-news/jugendpatrouille-immer-mehr-jugendliche-nehmen-waffen-mit-in-den-ausgang-146588867


+++FRAUEN/QUEER
Hass gegenüber LGBTQ-Menschen hat zugenommen
Ende September im letzten Jahr hat die Schweiz ja zur Ehe für Alle gesagt und anerkennt damit die gleich geschlechtliche Ehe. Durch die Sichtbarkeit von Schwulen, Lesbischen oder einfach queeren Menschen hoffte man, dass die Toleranz und die Akzeptanz zunehmen werden. Passiert ist aber das Gegenteil und so hat sich der Hass gegen LGBTQ-Menschen fast verdoppelt im Vergleich zum Vorjahr. Das steht im neuesten Hate Crime-Bericht, welche diese Woche veröffentlicht wurde.
https://www.telebaern.tv/tele-barn-news/hass-gegenueber-lgbtq-menschen-hat-zugenommen-146596551


+++RECHTSEXTREMISMUS
spiegel.de 22.05.2022

Geheimdienstbericht: Zahlreiche Neonazis kämpfen in der Ukraine für Russland

Wladimir Putin begründet seinen Angriffskrieg mit der »Entnazifizierung« der Ukraine. Ein internes Dokument des BND zeigt nun: Ausgerechnet Moskaus Truppen werden von rechtsextremen Gruppen unterstützt.

Von Fidelius Schmid

Zahlreiche russische Rechtsextreme und Neonazis haben sich offenbar dem Angriff Russlands auf die Ukraine angeschlossen. Das geht aus einem vertraulichen Bericht des Bundesnachrichtendienstes (BND) hervor, den der SPIEGEL einsehen konnte. Das siebenseitige Dokument wurde vorvergangene Woche an mehrere Bundesministerien geschickt.

Dem BND zufolge kämpfen mit der »Russian Imperial League« und der Gruppe »Rusich« »wenigstens zwei Gruppen mit rechtsextremistischer Gesinnung« gegen die ukrainische Armee. Zudem setze Moskau zumindest eine rechtsextreme »Einzelperson für seine Zwecke ein«, heißt es in dem Papier. Die Zusammenarbeit mit diesen Gruppierungen führe »den vorgeblichen Kriegsgrund der sogenannten ›Entnazifizierung‹ der Ukraine ad absurdum«, schreiben die Analysten des deutschen Auslandsgeheimdienstes.

In dem Dokument werden keine Angaben über die Anzahl rechtsextremistischer Kämpfer gemacht. Allerdings werden Gruppierungen und Einheiten benannt.

Demnach hat die »Russian Imperial Legion« (RIL), der paramilitärische Arm der rechtsextremen Vereinigung »Russian Imperial Movements«, bereits in die Kämpfe eingegriffen. Nachdem die Gruppe bereits in den Jahren 2014 und 2015 auf russischer Seite im ukrainischen Donbass gekämpft hatte, schrieb der RIL-Chef Denis Gariejew nur einen Tag nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine im Februar 2022 auf Telegram: »Ganz ohne Zweifel sprechen wir uns für die Liquidierung des separatistischen Gebildes Ukraine aus.«

Neonazis mit Militärerfahrung gesucht

Nachdem Garijew Anfang März die »Legionäre« noch zur Geduld aufgerufen hatte, verkündete die RIL kurz darauf ihren Entschluss, in die Kampfhandlungen einzutreten. Laut dem BND-Dokument wurden dafür als Kämpfer »vor allem Personen mit Militärerfahrung« und Absolventen des organisationseigenen Ausbildungszentrums »Partizan« in Sankt Petersburg geworben. Es sei unklar, »ob diese Entscheidung auf Aufforderung oder in Absprache mit der russischen Führung fiel«, schreiben die BND-Analysten weiter.

Wie der BND berichtet, sei Garijews Stellvertreter bei Kämpfen in der Ukraine ums Leben gekommen. Garijew selbst sei verletzt ausgeflogen worden, mindestens zwei weitere Rechtsextreme seien schwer verwundet worden.

Mögliche Kontakte zur Gruppe Wagner

Die Gruppe »Rusich« soll ebenfalls in die Kämpfe verwickelt sein soll. Sie wird vielerorts der berüchtigten russischen Söldnertruppe »Wagner« zugerechnet und war ebenfalls bereits 2014 und 2015 im Donbass im Einsatz.

Laut dem BND-Bericht sei Rusich seit damals »für ihre besondere Brutalität bekannt« gewesen. Sie habe den Ruf gehabt, »niemals Gefangene zu machen«. Teile der Einheit hätten wahrscheinlich auch in Syrien gekämpft.

Rusich soll spätestens Anfang April Teil der Kampfhandlungen auf ukrainischem Territorium geworden sein, schreiben die deutschen Geheimdienstler.

Grausamkeiten mit Hundewelpen

Einer der beiden Rusich-Gründer gelte als Sadist, »seit er in einem Auftritt in den sozialen Medien einen Hundewelpen getötet hat«, heißt es in dem Dokument. Zum Beleg des rechtsextremen Hintergrunds der Organisation fügten die BND-Analysten ihrem Bericht Bilder der Rusich-Gründer Alexej M. und Jan P. bei: Eine Aufnahme zeigt M. mit einer Hakenkreuzfahne, eine weitere zeigt P. mit Hitlergruß vor einem Lagerfeuer.

Darüber hinaus habe der aus Donezk stammende Rechtsextremist Alexander M. im April über Telegram versucht, Freiwillige für den Krieg zu werben: Man habe beschlossen, ein Bataillon zur Unterstützung prorussischer und russischer Kräfte zu gründen. M. selbst hatte in der Vergangenheit bereits im Donbass auf russischer Seite gekämpft. Einem größeren Publikum in Russland ist er als Militärkorrespondent des staatlichen russischen Fernsehsenders »Pervyy Kanal« bekannt.
(https://www.spiegel.de/politik/deutschland/ukraine-krieg-organisierte-neonazi-gruppen-kaempfen-fuer-russland-geheimdienstbericht-a-f1632333-6801-47b3-99b9-650d85a51a52)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
nzz.ch 21.05.2022

Der Glaube an satanistischen Missbrauch breitet sich in der Schweiz aus

Dürfen Therapeuten allen Erinnerungen ihrer Patientinnen glauben? Ein grosser Gedächtnis-Streit hat unser Land erreicht.

Reto U. Schneider; Aline Wanner

Das Ende der Beziehung zu ihrer Tochter begann an einem Sonntag im August 2015. Cornelia Widmer und ihr Mann brachten die 17-Jährige in ein Internat in der Ostschweiz mit weissen Mauern und grünen Fensterläden. Hier will das Mädchen die pädagogische Maturitätsschule besuchen. Unter der Woche wird sie dort wohnen, damit sie nicht jeden Tag nach Hause fahren muss. Drei Jahre später war nichts mehr wie zuvor. Die Tochter hatte ihren Vater wegen sexuellen Missbrauchs angezeigt und erinnerte sich, an satanistischen Ritualen teilgenommen zu haben.

Cornelia Widmer sitzt am Küchentisch ihres Hauses, sie hat ihre Geschichte schon oft wiederholt. Cornelia Widmer heisst eigentlich anders, zum Schutz der Privatsphäre ihrer Familie ist der Name in diesem Artikel geändert worden. In den vergangenen Monaten erzählte Widmer mehreren Journalisten, was ihr widerfahren ist. Die grösste Resonanz hatte ein Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens vom Dezember 2021, «Der Teufel mitten unter uns». Widmer ist darin eine der Kronzeuginnen für ein Phänomen, das zwar alt ist, in dieser Ausprägung in der Schweiz aber doch neu: Frauen entdecken in Psychotherapien, Opfer von ritueller Gewalt und satanistischen Zirkeln geworden zu sein.

Diese Woche veröffentlichte das Schweizer Fernsehen einen zweiten Film, in dem mehrere Angehörige und Patientinnen davon berichten, wie sie in Therapien in der Schweiz nach einem schweren Trauma suchten, das es nicht gab – und wie sehr sie darunter litten. Das «Regionaljournal Bern Freiburg Wallis» berichtete am vergangenen Dienstag von kruden Therapiemethoden an Berner Kliniken. In Fachkreisen verbreitete sich die Idee des sogenannten Mind-Control: Täter seien in der Lage, das Verhalten ihrer Opfer zu steuern.

In dieser Geschichte geht es um mehr als die Überzeugung, die Gesellschaft sei von Geheimorganisationen unterwandert, die in satanistischen Kulten Kinder schändeten. Eine Idee, die in gewissen Kreisen von Therapeuten, der Polizei, Opferberaterinnen, Juristen und Lehrerinnen an Popularität gewonnen hat. Es geht um die Frage, wie wir mit der Unzulänglichkeit unseres Gedächtnisses umgehen. Wie weit dürfen wir unseren Erinnerungen vertrauen? Welche Verantwortung haben Therapeutinnen, wenn sich ihre Klientinnen plötzlich an Dinge zu erinnern glauben, die sie während Jahrzehnten vergessen zu haben meinten? Und was sollen die Gerichte damit anfangen?

Über diesen Fragen sind Familien zerbrochen, Unschuldige im Gefängnis gelandet und Schuldige entkommen. Wissenschafter streiten seit vierzig Jahren erbittert darüber.

Die Tochter entfremdete sich

Wer Cornelia Widmer zuhört, hat den Eindruck: Je öfter sie es wiederholt, desto weniger kann sie begreifen, was passierte. Widmer hat einen Mann, drei Kinder, einen Hund und eine Katze. Draussen vor dem Küchenfenster leuchten die Wiesen grün, auf dem Parkplatz steht ein Wohnmobil, mit dem sie früher alle zusammen in die Ferien fuhren. Früher, als sie noch eine Familie waren. In ihrer Welt, in der alles in Ordnung scheint, ist nichts in Ordnung. Kontakt zu ihrer Tochter hat sie heute keinen mehr. Die Tochter reagierte auch auf Anfragen der NZZ nicht.

Cornelia Widmer schildert jenen schicksalhaften Sonntag vor sieben Jahren. Die Leiterin des Internats habe ihr gesagt, die Schüler hätten nun Aufnahmerituale und sie solle nicht erschrecken, wenn ihre Tochter am Freitag k. o. sei. Als Widmer ihre Tochter eine Woche später am Bahnhof abholte, erschrak sie trotzdem. «Ich weiss bis heute nicht, was in dieser Woche passiert ist», sagt sie. «Aber von da an war irgendwie ein negativer Faden drin.»

Es folgten schwierige Monate, in denen sich Eltern und Tochter entfremdeten. Mutter und Vater wollten, dass sich ihre Tochter auf die Schule konzentriert. Sie habe aber Alkohol getrunken und gekifft, einmal sei sie weggerannt. Nach ein paar Wochen liess sie sich in die Psychiatrie einweisen. Danach ging sie wieder zur Schule, wollte aber an den Wochenenden nicht mehr nach Hause, sondern zu den Grosseltern. Cornelia Widmer sagt: «Eine Psychiaterin, bei der meine Tochter in dieser Zeit in Behandlung war, sagte mir, in ihrer Funktion als Ärztin verordne sie, dass die Tochter nicht mehr zu uns nach Hause komme.»

Die Tochter blieb im Internat. Dort wollte sie auch ihre Weihnachtsferien verbringen. Die Mutter machte sich Sorgen. Ihre Tochter habe nicht auf Whatsapp-Nachrichten geantwortet, auch auf Telefonanrufe habe niemand reagiert. Die Eltern fuhren ins Internat und fanden ihre Tochter «halb verwahrlost». Überall im Zimmer hätten sie Essensreste vorgefunden. «Wir wollten sie nach Hause nehmen, aber sie wollte nicht mitkommen.» Widmer informierte die Kinder- und Jugendpsychiatrie. Sie solle mit dem Mädchen vorbeikommen, hiess es. Widmer hörte dort zum ersten Mal von den Vorwürfen, die ihr Leben in ein Davor und ein Danach teilen: Ihre Tochter sagte, der Vater habe sie als Kind missbraucht.

Die Kinder- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) schaltete sich ein, nur wenige Tage später kümmerte sich eine Beiständin um die Tochter, sie wurde drei Monate in einer psychiatrischen Klinik behandelt. Von nun an lebte sie in einer Einrichtung für betreutes Wohnen. Einmal versuchte sie sich das Leben zu nehmen. Die Mutter erfuhr erst Wochen später davon, als sie von der Krankenkasse eine Rechnung für einen Rettungstransport erhielt.

Was im Leben ihrer Tochter zwischen 2016 und heute passierte, weiss Cornelia Widmer vor allem aus den Akten des Strafverfahrens gegen ihren Mann. Ihre Tochter zeigte ihn im Februar 2017 an. Gab es einen Moment, in dem sie in Betracht zog, dass die Vorwürfe stimmen? «Nein», sagt Widmer. «Ich kenne meinen Mann schon ewig. Ich war hundert Prozent Mami, ich war immer hier.» Er habe gearbeitet, Weiterbildungen besucht, «er würde alles machen für die Familie und sicher nie jemanden anfassen».

Erinnerungen an satanistische Rituale kommen hoch

Der Fall Widmer führt mitten in das schwierige Dilemma bei der Aufklärung von Sexualdelikten: Oft finden die Taten im engsten Umkreis statt, und oft will niemand sehen, was nicht sein darf. Opfer leiden jahrelang darunter, dass man ihnen nicht glaubt. Stimmen die Vorwürfe nicht, hat es für die falsch Beschuldigten fatale Folgen. Sie leiden, werden isoliert, sind verzweifelt.

Rechtlich ist jemand unschuldig, bis seine Schuld erwiesen ist. Doch im Alltag gelten andere Regeln. Cornelia Widmers Mann wurde von seinen Eltern und von Kollegen angefeindet. Obwohl er beteuert, nichts getan zu haben, war er für manche Leute nur noch der Sexualstraftäter. Bekannte wechselten die Strassenseite, wenn sie ihn sahen. Warum sollte die Tochter ihn beschuldigen, wenn da nichts war?

Dass der ganze Sachverhalt komplizierter ist, zeigten E-Mail-Nachrichten vom Sommer 2017, die die Kriminalpolizei bei einer Auswertung des Handys der Tochter fand. Sie erzählte damals ihrem Therapeuten von Erinnerungen, die sie plötzlich wieder erlangt habe.

5. 8. 2017: «Mir ist gerade wieder eine Erinnerung hochgekommen. (. . .) Es waren Erwachsene in schwarzen Umhängen dort und einige Kinder in weissen Kleidern. In der Mitte lag ein Baby, und eine Person in schwarzem Gewand hatte eine Axt oder so was in der Art in der Hand und hackte die Arme und Beine und den Kopf vom Körper ab.»

14. 8. 2017: «Ich musste auch zum Altar nach vorne, und dort schlitzten sie wieder Tiere auf für das Blut im Kelch, und irgendwie rastete ich aus, (. . .) und zwei Männer (. . .) warfen mich dann auf den Tisch, um mich aufzuschlitzen.»

26. 8. 2017: «Mir ist (. . .) eine Erinnerung hochgekommen, von der schon einmal etwas kam. Ich erzählte Ihnen, dass gewisse Rituale und Zeremonien im Wald meiner Eltern stattfanden. (. . .) Sie liessen Kinder gegeneinander kämpfen mit Waffen. Ich musste auch (. . .), und es war erst vorbei, wenn die andere Person umgebracht wurde (. . .). Ich will’s nicht wahrhaben, dass ich jemanden umgebracht habe.»

Wer sich in der Geschichte der Psychiatrie auskennt, dem kommen solche Nachrichten bekannt vor.

Am Anfang stand ein dubioses Buch

Im November 1980 publizierten Michelle Smith und Lawrence Pazder das Buch «Michelle Remembers». Pazder war Psychiater in Kanada und Michelle Smith ab 1973 seine Patientin. Ursprünglich hatte sie ihn wegen ihrer Depressionen aufgesucht. Doch in den sieben Jahren der Therapie bis zur Publikation des Buchs will Smith ungeheuerliche Dinge über ihre Kindheit herausgefunden haben. Unter Hypnose erinnerte sie sich an satanistische Rituale, an denen sie als Fünfjährige hatte teilnehmen müssen. Sie sei in einen Käfig mit Schlangen eingesperrt worden, habe der Schlachtung von Babys beigewohnt, und die Satanisten hätten ihr in Operationen Hörner und einen Schwanz angenäht.

Als strenggläubiger Katholik reiste Pazder mit Smith in den Vatikan, um sich mit den Experten in Sachen Satanismus zu besprechen. Es war nicht die erste gemeinsame Reise, und schon bald liessen sich beide von ihren Partnern scheiden, so dass der Psychiater seine Patientin heiraten konnte.

Das Buch über Smiths Erinnerungen wurde zu einem phänomenalen Erfolg. Smith war in zahllosen Talkshows zu Gast, Pazder hielt Vorträge und wurde als Experte von Fürsorgebehörden und der Polizei konsultiert. Er prägte den Begriff des «rituellen Missbrauchs» und regte an, sein Buch zu verfilmen – mit Dustin Hoffman in der Rolle des Psychiaters Lawrence Pazder.

Die Begriffe «ritueller Missbrauch» und «rituelle Gewalt» sind nicht exakt definiert, was die Diskussion um das Phänomen erschwert. Zu den Elementen, die immer wieder auftauchen, gehören: eine männlich dominierte, streng hierarchische Gruppe, die in ein Glaubenssystem eingebettet ist und ihren Mitgliedern ein Schweigegebot auferlegt. Oft betonen jene, die von der Existenz solcher Gruppen überzeugt sind, dass führende Exponenten der Gesellschaft, wie Ärzte oder Richter, daran beteiligt seien. Das Phänomen sei nicht zu verwechseln mit organisierter Kriminalität wie Menschenhandel, sexueller Ausbeutung oder Drogenhandel. Zu den Tätern bestünden allenfalls Verbindungen.

An den Schilderungen von Michelle Smith kamen schon bald Zweifel auf. Obwohl Heerscharen von Erwachsenen und Kindern am Missbrauch beteiligt gewesen sein sollen, gab es keinen einzigen Zeugen. Auch zeigten einige von Smiths Schilderungen erstaunliche Ähnlichkeiten mit Ritualen aus dem Film «Der Exorzist», der in die Kinos kam, als Smith ihre Therapie begann, andere erinnerten verdächtig an Rituale aus Afrika, wo Pazder einmal gelebt hatte. Zudem gab es in Bezug auf die Daten, an denen die Missbräuche stattgefunden haben sollen, unauflösbare Widersprüche.

Trotzdem stand dieses heute diskreditierte Buch aus Kanada wohl am Anfang einer langen Kette von Ereignissen, an deren Ende Cornelia Widmers Tochter die seltsamen E-Mails an ihren Therapeuten schrieb. Denn ungeachtet aller Ungereimtheiten breitete sich der Mythos von einer geheimen Elite, die an satanistischen Messen Kinder missbraucht, vor vierzig Jahren über die Welt aus.

Wie aus dem Nichts wurden bald hier, bald dort Leute verdächtigt – mit tragischen Konsequenzen: Angestellte von Kinderkrippen verbrachten Jahre im Gefängnis, weil Kindern mit manipulativen Fragen völlig unplausible Missbrauchsgeschichten entlockt worden waren. Mitte der 1990er Jahre, auf dem Höhepunkt der Satanic Panic, wie diese Hysterie bald genannt wurde, zählte das National Center on Child Abuse and Neglect über 12 000 Anschuldigungen von satanistischem Missbrauch. Nicht einer davon konnte nachgewiesen werden.

So ist es bis heute geblieben. Die Panik vor Satanismus verbreitet sich, obwohl es keinen einzigen belegten Fall gibt. Das bedeutet nicht, dass es keinen sexuellen Missbrauch von Kindern gibt. Nachdem jahrzehntelang weggeschaut oder beschönigt wurde, ist inzwischen klar, dass eine erschreckende Anzahl von Kindern Opfer von sexueller Gewalt wird: zu Hause, in der Kirche oder in Vereinen und in Strukturen von organisierter Kriminalität. Aber ritueller Missbrauch wie ihn Michelle Smith oder die Tochter von Cornelia Widmer beschrieben, hat so wohl nie stattgefunden.

Der Vater wird freigesprochen

Am 14. August 2018 stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren gegen Cornelia Widmers Mann wegen versuchter vorsätzlicher Tötung, sexueller Handlungen mit Kindern, sexueller Nötigung, Vergewaltigung und Inzest ein. Während der Einvernahmen, heisst es in der Verfügung der Staatsanwaltschaft, habe die Tochter geschildert, im Alter zwischen 3 und 17½ Jahren durch ihren Vater missbraucht worden zu sein. Irgendwann hatte sie auch ihre beiden älteren Brüder und ihre Mutter beschuldigt, sich an den Missbrauchshandlungen beteiligt zu haben.

Die Staatsanwaltschaft hielt fest, die Tochter habe immer wieder von Erinnerungslücken gesprochen. Aus ihren Aussagen hätten sich «keine weiteren objektivierbaren Ermittlungsansätze» ergeben. In den Chat-Nachrichten sei «eine Tendenz zu Phantasiebildern, so auch Gewaltphantasien (etwa Essen von Babyfleisch oder Baden in Tierblut) ersichtlich». Diese Tendenz bestätigte ein unabhängiger forensischer Gutachter.

Es sei ein Sachverhalt zur Anzeige gebracht worden, «der sich durch das vorliegende Ermittlungsergebnis in keinem Punkt objektivieren liess», schrieb die Staatsanwältin. «Glaubhafte Aussagen von Auskunftspersonen, insbesondere aller restlichen Familienangehörigen», würden den Aussagen der Tochter «diametral widersprechen».

Bevor Cornelia Widmers Tochter Anzeige erstattete, wurde sie in verschiedenen Abteilungen von psychiatrischen Kliniken stationär behandelt, im Sommer 2016 in der Clienia Littenheid im Kanton Thurgau. Im Austrittsbericht stand unter dem Titel Traumaanamnese: «sexueller Missbrauch durch Vater 2001/02». Während bei der Familiengeschichte vorsichtig in indirekter Rede formuliert wurde – «der Urgrossvater (. . .) habe unter Depressionen gelitten» –, wurde der Missbrauch als Tatsache formuliert. Zwei Jahre bevor das Gericht den Vater freisprach, waren sich die Mitarbeiter in der Klinik offenbar sicher, dass die Anschuldigungen stimmten. Der frühste Missbrauch soll stattgefunden haben, als die Tochter drei- oder vierjährig war. Das ist ein Alter, in dem nach dem gegenwärtigen Stand der Gedächtnisforschung, Kinder – wenn überhaupt – kaum zuverlässige Erinnerungen formen können.

Der Psychiater, bei dem die Tochter lange in Behandlung war und an den sie die Nachrichten mit ihren Erinnerungen an satanistische Rituale schickte, heisst Bernd Frank. Er baute die Traumastation der Clienia Littenheid vor knapp zwanzig Jahren auf. Heute arbeitet er in der Bodenseepraxis Kreuzlingen. In Aussagen, auf die sich die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde bezieht, hatte Frank bestätigt, dass es «niemals den geringsten Zweifel am Narrativ der Betroffenen» gegeben habe. Fragen der NZZ wollte er keine beantworten, er gebe «keine Auskünfte mehr aus guten Gründen».

In der Dokumentation des Schweizer Fernsehens vom vergangenen Dezember äusserte sich dafür Matthias Kollmann zu Satanismus. Er war damals noch Oberarzt in Littenheid. Er sagte, es gebe «rituellen, satanistischen Missbrauch». Es würden «unvorstellbare Gewalttaten» passieren, «mit körperlicher Gewalt, das, was wir aus dem ‹Dritten Reich› als Foltermethoden kannten, wird alles dort angewendet. Eine Parallelwelt, die sich extrem gut zu schützen weiss.»

Kollmann wurde nach der Ausstrahlung des Films freigestellt und später entlassen. Alle anderen Mitarbeiter hingegen seien «sehr engagiert und fachlich kompetent». Das soll eine Untersuchung durch externe Experten ergeben haben. Es gibt jedoch viele Hinweise, dass im Umfeld von Littenheid nicht nur Matthias Kollmann problematische Thesen verbreitete. Darauf machte unlängst auch Thomas Ihde aufmerksam. Der Psychiater ist Präsident der Stiftung Pro Mente Sana, die sich für Menschen mit einer psychischen Beeinträchtigung einsetzt. Ihde bezeichnete Littenheid in einem Interview mit dem «St. Galler Tagblatt» als «Hotspot der satanistischen Verschwörungstheorie». Solange er den Untersuchungsbericht nicht geprüft habe, könne er Littenheid «für eine Therapie nicht empfehlen».

Wann ist eine Erinnerung ein Hirngespinst?

Jan Gysi ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie. In seinen Therapien habe noch nie jemand vom Teufel erzählt, vom Friedhof oder von Babys. «Ich bin sehr skeptisch», sagt er in seiner Praxis in Bern, wo er Menschen mit Traumafolgestörungen behandelt. Allerdings seien die, die in das Rituelle und Satanistische abglitten, ebenso problematisch wie jene, die alles verleugneten. «Ich bin vorsichtig geworden, über etwas zu sagen: Das gibt es nie.» Tatsächlich hält Gysi vieles für möglich, auch Dinge, die andere als Hirngespinst abtun. Zum Beispiel die Schilderung einer seiner Patientinnen, die vor zwei Jahren in der NZZ zu lesen war. Die junge Frau erzählte, wie sie im Klassenlager in der Schweiz regelmässig in der Nacht, wenn die anderen Kinder geschlafen hätten, vom Lehrer an geheime Treffpunkte gefahren worden sei. Dort hätten sich Männer an ihr und an vielen anderen Kindern aus dem Ausland, die dort gewesen sein sollen, vergangen.

Gysi sagt, die Familie und die medizinischen Berichte aus der Jugend hätten viele Aussagen bestätigen können. Von der Pubertät an habe die junge Frau versucht, darüber zu reden, sei aber nicht gehört worden, weil die Hinweise auf Gewalt übersehen worden seien. «Es gibt Menschenhandel, Kinderpornografie, Prostitution. Wie kann man also ihre Schilderungen kategorisch als erfunden abtun?»

Das ist eines der häufigsten Argumente in der Diskussion um den Wahrheitsgehalt von Schilderungen schwer vorstellbarer Taten. In ähnlicher Weise äussert sich im Gespräch an der Klinik für Konsiliarpsychiatrie und Psychosomatik ein Traumaspezialist und leitender Arzt des Universitätsspitals Zürich. Die Zitate zieht er später «nach Rücksprache mit der Klinikleitung und der Medienstelle» zurück. Auch seine Kernaussage war: Man sollte zunächst nichts ausschliessen.

In der Wissenschaft aber gilt: Behauptungen müssen widerlegt werden können. Es ist aus logischen Gründen unmöglich, zu beweisen, dass es etwas nicht gibt. Wir haben uns darauf geeinigt, dass keine rosaroten Einhörner herumspringen, allein, weil uns über Jahre keines begegnet ist.

Therapeuten wie Jan Gysi stehen auf der einen Seite eines Grabenkampfs, der mit der Satanic Panic begann, aber in dem es um mehr geht als um absonderliche Geschichten über Babyblut und Pentagramme. Die umstrittenen Anschuldigungen aus den 1990er Jahren hatten nämlich eine entscheidende Gemeinsamkeit: Wie bei Cornelia Widmers Tochter beruhten sie auf wiedererlangten Erinnerungen. Die vermeintlichen Opfer wussten über lange Zeit nichts vom Missbrauch, der ihnen widerfahren sein soll. Erst Jahre oder Jahrzehnte danach erinnerten sie sich wieder daran, oft in einer Therapie, manchmal auch bei bestimmten äusseren Reizen oder wenn sie jemand direkt fragte: «Könnte es nicht sein, dass du missbraucht worden bist?»

Die Fachwelt stand nun vor einem schwerwiegenden Problem. Im Gegensatz zu satanistischen Ritualen schienen andere wiedererlangte Erinnerungen durchaus plausibel. Durfte man ihnen trauen, oder waren sie so fiktiv wie jene an die Rituale? Diese Frage entzweit die Experten bis heute. Die Auseinandersetzung bekam den Namen Memory-Wars, Gedächtniskriege.

Nachdem sich in einigen spektakulären Prozessen in den 1990er Jahren die wiedererlangten Erinnerungen von vermeintlichen Opfern nachweislich als falsch herausgestellt hatten, wurden die Gerichte vorsichtig bei der Bewertung der Aussagen. Auch weil Psychologen zu dieser Zeit erstmals in Experimenten zeigen konnten, dass sich falsche Erinnerungen mit einfachen Methoden in die Köpfe von Versuchspersonen pflanzen liessen.

Bei einigen Gerichtsfällen stellte sich heraus, dass die Erwartungshaltung von Therapeuten oder suggestive Verhöre der Polizei die falschen Aussagen provozierten. Oft glaubten die Betroffenen danach tatsächlich an die falschen Erinnerungen, mit fatalen Folgen für die Familien.

Heftiger Streit um das Vergessen

Heute geben sich die Therapeuten geläutert. Es gibt Richtlinien, die suggestive Behandlungen verbieten. Auch Jan Gysi warnt in seinem Lehrbuch «Diagnostik von Traumafolgestörungen» wiederholt vor Suggestion. Und eine Mediensprecherin der Klinik Littenheid schrieb nach der Entlassung von Matthias Kollmann der «Wochenzeitung»: «Als seriöse Vertreter der Psychotraumatologie lehnen wir jegliche suggestive Therapieform ab.» Doch das bedeutet nicht, dass man den wiedererlangten Erinnerungen abgeschworen hätte. Sie überlebten als Teil eines aussergewöhnlichen Krankheitsbildes: der dissoziativen Identitätsstörung.

«Bei der dissoziativen Identitätsstörung, früher multiple Persönlichkeitsstörung genannt, alternieren zwei oder mehrere Identitäten in derselben Person», so beschreibt das MSD-Manual, das führende Handbuch für Medizin, die Krankheit. Dabei könne es sein, dass «Erinnerungen und Gefühle ihrer Lebenserfahrung getrennt bleiben». Die Ursache sei normalerweise ein «überwältigendes Trauma».

Die dissoziative Identitätsstörung ist eine der faszinierendsten und umstrittensten Diagnosen in der Psychiatrie. Dass sich manche Menschen in verschiedene Identitäten gespalten fühlen, ist so ziemlich das Einzige, worin sich die Fachleute einig sind. Wenn es hingegen um die Häufigkeit, die Ursachen und die Folgen geht, stehen sich zwei Lager unversöhnlich gegenüber.

Auf der einen Seite sind vor allem therapeutisch tätige Fachleute, die glauben, die dissoziative Identitätsstörung werde unterdiagnostiziert und trete nur als Folge sehr schwerer Gewalt auf. Auf der anderen Seite stehen Gedächtnisforscher und forensische Psychologinnen wie Susanna Niehaus von der Hochschule Luzern, die auf die Beeinflussbarkeit von Erinnerungen hinweisen und nicht davon überzeugt sind, dass die Ursache der Störung zwingend ein Trauma sein muss.

Besonders heftig wird die Debatte geführt bei einem Phänomen, das als Folge einer dissoziativen Störung auftritt: der dissoziativen Amnesie. Dabei kommt es zu einem «vorübergehenden Verlust des Erinnerungsvermögens durch Dissoziation, der Sekunden oder Jahre andauern kann», wie es das Handbuch für psychische Störungen DSM-5 definiert. Ein Vorgang also, bei dem Menschen einen Teil ihrer Persönlichkeit abspalten, um sich vor besonders schmerzhaften Erinnerungen zu schützen.

«Es handelt sich eigentlich nur um dieselbe Idee von verdrängten Erinnerungen, aber in einem anderen Gewand», sagte Chris French, ein emeritierter Psychologieprofessor von der University of London im «New Scientist». Er gehört zu den Forschern, die der Meinung sind, die Diagnose der dissoziativen Amnesie gehöre nicht in das DSM-Handbuch.

In Fachzeitschriften wird die Diskussion ungewohnt ruppig geführt. Beide Seiten stellen die andere als Randgruppe dar und zweifeln an der Wissenschaftlichkeit derer Argumente. Die Psychologin Bethany Brand von der Towson University in Maryland, USA, verglich Kollegen, die die «Beweise» für die dissoziative Amnesie anzweifelten, mit Wissenschaftern, «die sich weigern, Beweise für die globale Erwärmung, die Evolution oder die Erkenntnis, dass Zigarettenrauchen mit Krebs zusammenhängt, zu akzeptieren». Die Neurowissenschafterin Antje Reinders vom King’s College London unterschob ihnen «unbewusste Schutzmechanismen», die dazu führten, dass die Realität eines Missbrauchs geleugnet werde, «ähnlich wie bei der Leugnung von Rassismus, dem Holocaust oder der globalen Erwärmung». Oder anders gesagt: Diese Leute seien einfach nicht bereit, in den Abgrund zu schauen.

Die Kritisierten geben kräftig zurück. «Leider ist es möglich, innerhalb der Grenzen der organisierten Medizin eine Sekte zu gründen. Das ist bei der dissoziativen Identitätsstörung geschehen», schreibt etwa der Psychiater Joel Paris von der McGill University in Montreal. Die Anhänger dieser «Sekte» seien ihrer Sache zutiefst verpflichtet und nicht ernsthaft daran interessiert, ihre Behauptungen mit Daten zu belegen. Die Psychologin Susanna Niehaus von der Hochschule Luzern warf Jan Gysi kürzlich vor, in seinem Handbuch zu sexualisierter Gewalt empirische Befunde der vergangenen zwanzig Jahre zur Entstehung von Scheinerinnerungen konsequent zu ignorieren. Das erscheine hinsichtlich der dahinterstehenden Geisteshaltung höchst bedenklich.

Können Täter ihre Opfer fernsteuern?

Die zentrale Frage bleibt: Was ist die Ursache für eine dissoziative Identitätsstörung? Die Antwort darauf hat weitreichende Folgen. Therapeuten, die überzeugt sind, dass immer ein Trauma dahintersteckt, sind versucht, sich auf die Suche danach zu machen. Schliesslich gehen die meisten Therapieansätze davon aus, der erste Schritt zur Heilung sei, sich zu erinnern. Das ist aber gefährlich, wenn eine dissoziative Identitätsstörung ohne Trauma entstand oder wenn sie falsch diagnostiziert wurde. Dann finden die Therapeuten womöglich einen Missbrauch, wo es keinen gab. Auch bei Cornelia Widmers Tochter wurde eine dissoziative Identitätsstörung diagnostiziert.

Und selbst wenn es diese unterdrückten Erinnerungen aus den tiefen der Zeit gäbe, bisher hat niemand eine Möglichkeit gefunden, ihre Zuverlässigkeit einzuschätzen. Die American Psychological Association hält fest: Ohne zusätzliche Beweise sei es unmöglich, «eine echte Erinnerung von einer falschen zu unterscheiden».

Henry Otgaar von der Universität Maastricht und der Katholischen Universität von Leuven in den Niederlanden sieht mit Besorgnis, wie sich die eigentlich längst diskreditierte Idee der unterdrückten Erinnerungen aus den 1990er Jahren wieder verbreitet. «Es passiert nicht nur in der Schweiz, wir sehen es auch in Deutschland, in den Niederlanden, in Italien.»

In den unterdrückten und wiedererlangten Erinnerungen von Menschen mit dissoziativer Amnesie wollen die Therapeuten auch Hinweise auf ein neues Phänomen gefunden haben: Die Technik, die sie Mind-Control nennen, soll ermöglichen, die verschiedenen Identitäten der Opfer nach Wunsch umzuschalten, um so den Missbrauch unentdeckt begehen zu können.

Wie bei der Satanic Panic in den 1990er Jahren gibt es dafür – ausser den Aussagen von Betroffenen – keine Belege. Trotzdem stellt der Psychiater Jan Gysi in seinem Lehrbuch «Diagnostik von Traumafolgestörungen» das bewusste Abspalten als Tatsache dar: «Der Missbrauch beinhaltet in der Regel die organisierte Ausbeutung von Kindern (. . .), wobei die gezielte Herstellung dissoziativer Anteile dem methodischen Vertuschen der Straftaten dient.» Gysi verweist im Gespräch auf die sogenannten Luxembourg Guidelines, ein Dokument, hinter dem sechzehn Organisationen stehen, unter anderem Unicef und Interpol. «Das sind internationale Standards.» Er hat bei seiner Arbeit zu viel erlebt, als dass er etwas pauschal für unmöglich erklären würde. «Die Menschen haben noch immer alles getan, um ihre Taten zu verdecken.»

Tatsächlich enthält die deutsche Version der Guidelines eine Stelle zu Mind-Control: «Ziel dieser systematischen Abrichtung ist eine innere Struktur, die durch die Täter_innen jederzeit steuerbar ist und für die das Kind und später der Erwachsene im Alltag keine bewusste Erinnerung hat.» In allen anderen Sprachausgaben fehlt dieser Passus allerdings. Hinter den Luxembourg Guidelines steht das Netzwerk ECPAT International, das sich im Kampf gegen die sexuelle Ausbeutung von Kindern engagiert. Eine Nachfrage bei ECPAT ergibt, dass die Länder die Guidelines in ihren Sprachen ergänzen können. ECPAT International unterstütze aber nur die Originalfassungen in Englisch, Französisch und Spanisch uneingeschränkt, nicht aber die Fassungen in anderen Sprachen. Zudem enthalten auch die deutschen Guidelines keine Belege für Mind-Control.

Menschen ohne ihr Wissen zu programmieren, war lange Zeit der Traum von Geheimdiensten. Der britische Journalist Dominic Streatfeild hat für sein Buch «Brainwash» dokumentiert, wie Spionageorganisationen dieses Ziel jahrelang skrupellos und mit viel Aufwand verfolgten. Er fand allerdings keinen Fall, in dem es gelungen wäre. Für die Psychologin Susanne Niehaus bewegt sich die Idee an der «Grenze zur paranoiden Überzeugung»: «Man muss sich schon fragen, wie die Täter an eine Spezialausbildung gelangt sein könnten, die niemandem bekannt ist und über die ausgebildete Psychologinnen und Psychiater nicht verfügen.»

Falsche Diagnosen verursachen Leid

Gysi beklagte in einem seiner Vorträge, dass die Leute durch Hollywoodfilme eine falsche Vorstellung einer dissoziativen Störung hätten. In einer Facharbeit, die er bis vor kurzem auf seiner Website für «Ermittlungen und Justiz» empfahl, wird behauptet, die «inneren Programme» könnten durch einen Handyton oder eine Zahlenkombination ausgelöst werden. Diese Idee, einen Menschen über einen einfachen Reiz zu steuern, hat erstaunliche Parallelen mit der Handlung des Politthrillers «The Manchurian Candidate», in dem ein Soldat ferngesteuert mordet, wenn er die Karodame eines Kartenspiels sieht. In derselben Facharbeit wird auch von der Möglichkeit gesprochen, «vorgeburtlich absichtlich eine dissoziative Identitätsstruktur mit verschiedenen, voneinander abgespaltenen Persönlichkeiten» zu erzeugen. Beweise dafür gibt es einmal mehr keine.

Im Gespräch relativiert Gysi seine Position etwas. Seinen Leitfaden für Strafverfolgung, Opferschutz, Opferhilfe und Therapie mit dem Titel «Organisierte sexualisierte Ausbeutung» habe er vom Netz genommen, weil der Text eine Überarbeitung nötig habe.

Aber dass Mind-Control angewendet werde, davon ist er überzeugt. In einem Aufruf suchte Gysi selber nach Beweisen, zum Beispiel nach Anleitungen oder Videos. In den Grundzügen – geheime Gruppen, die noch nie jemand zu Gesicht bekommen hat, steuern aus der Ferne Menschen – trägt der Vorgang die Merkmale einer Verschwörungstheorie.

Der forensische Psychiater und ehemalige Chefarzt des Psychiatrisch-Psychologischen Dienstes des Kantons Zürich, Frank Urbaniok, sagt dazu: «Wenn man etwas glaubt, wofür es keinen Beleg gibt, dann entzieht man sich jeder Realitätskontrolle.» Damit lasse sich eine Theorie hermetisch gegen Kritik abschirmen. Am Anfang stehe der feste Glaube: Die Organisationen würden ihre Opfer so geschickt fernsteuern, dass nichts ans Tageslicht komme. «Dann wird die Tatsache, dass man nichts beweisen kann, groteskerweise zu einem Beleg für die Theorie. Das ist ein geschlossener Kreis.»

Welchen Leid die Idee von Mind-Control verursachen kann, wenn sie in der Therapie angewandt wird, zeigen Beispiele im jüngsten Dokumentarfilm des Schweizer Fernsehens. Eine Frau, deren Tochter früher in Littenheid in Behandlung war, berichtet, dass diese Ängste und Paranoia gehabt habe, in der Nacht von Tätern abgeholt zu werden. «Am Morgen hatte sie Schmerzen und konnte nicht aufstehen.» Ihre Tochter habe gedacht, sie sei als Kind in einem satanistischen Zirkel umprogrammiert worden. In Littenheid sei es ihr richtig schlecht gegangen: Sie habe sich selber verletzt, einen Suizidversuch begangen und sei psychotisch geworden.

Eine andere Frau, die selbst in Littenheid in Behandlung war, beschreibt gegenüber dem Journalisten, wie sie während der Therapie komplett von der Familie isoliert worden sei, um den angeblichen Täterkontakt abzubrechen. Schliesslich erzählt eine ehemalige Patientin, die nicht in Littenheid war, sie sei während eines Klinikaufenthaltes ans Bett fixiert worden, um vor unbekannten Tätergruppen geschützt zu werden.

Darf man Erinnerungen anzweifeln?

Warum hat sich die Auseinandersetzung um Mind-Control, rituelle Gewalt und wiedererlangte Erinnerungen in den vergangenen zwanzig Jahren nicht entspannt? Hätten neue Forschungsresultate uns der Wahrheit nicht näherbringen müssen?

Wie bei vielen Entwicklungen dürfte auch hier das Internet eine Rolle spielen. Wer surft, braucht heute keine suggestive Therapie mehr, um auf seltsame Ideen zu kommen. Youtube-Videos über rituellen satanistischen Missbrauch werden hunderttausendfach angeklickt, haltlose Berichte über unmögliche Ereignisse verbreiten sich über Social Media wie eine ansteckende Krankheit. Bei der Selbstdiagnose helfen das Habe-ich-unterdrückte-Erinnerungen-Quiz oder der Dissoziative-Identitätsstörungs-Test.

Einen anderen Grund für die anhaltende Kontroverse vermutet der Gerichtspsychologe Henry Otgaar gerade in der Tatsache, dass Traumata heute ernst genommen werden. Nach Jahrhunderten der Verharmlosung und Verleugnung sexueller Gewalt ist diese zu einem grossen gesellschaftlichen Thema geworden. «Es gibt einige sehr gute Entwicklungen in der Welt, wie etwa die #MeToo-Bewegung», sagt Otgaar.

Diese Entwicklung hatte zur Folge, dass man Menschen erst einmal glaubte, wenn sie einen sexuellen Übergriff meldeten. Der Anteil von Falschanzeigen ist marginal. Wenn es aber um unterdrückte Erinnerungen geht, die während Therapien wiedererlangt werden, sieht es anders aus. Über ihren Wahrheitsgehalt lässt sich nichts sagen. Sie können wahr sein, teilweise wahr oder ganz falsch.

Erinnerungen an sexuellen Missbrauch infrage zu stellen, ist aber auch bei wiedererlangten Erinnerungen tabu. Das Credo lautet: Dem vermuteten Opfer muss unter allen Umständen geglaubt werden. Schon leise Zweifel sind Verrat.

Diese Haltung zeigte sich auch, als eine NZZ-Journalistin im Herbst 2021 einen Artikel über das Buch «Das Schweigen brechen» von Gisela Föllmi verfassen wollte. Föllmi beschreibt darin, wie sie mit 43 Jahren nach einem Suizidversuch in eine Therapie ging. Dort habe sie die Erinnerungen an den sexuellen Missbrauch durch ihren Vater wiedererlangt. Wer das Buch liest, zweifelt nicht daran, dass Föllmi eine schreckliche Kindheit und Jugend erlebt haben muss. Trotzdem sah es die Journalistin als ihre Pflicht an, in ihrem geplanten Artikel zu erwähnen, dass wiedererlangte Erinnerungen auch falsch sein können.

Darauf zogen Föllmi und die anderen Involvierten aufseiten des Verlages alle ihre Aussagen zurück. Die blosse Erwähnung des wissenschaftlichen Konsenses – es gibt keine Möglichkeit, den Wahrheitsgehalt wiedererlangter Erinnerungen zu überprüfen – empfanden sie als Affront.

Im Vorwort klärt Föllmis Therapeutin Nahid Katla die Leserinnen und Leser nicht über die mögliche Unzuverlässigkeit der Erinnerung auf. Stattdessen stellt sie die These, dass die Betroffenen «nicht selten» keine bewusste Erinnerung an die traumatischen Erlebnisse haben, als unumstrittene Tatsache dar. Katla wollte für diesen Artikel keine Fragen beantworten. Im Buch schreibt sie, sie habe Gisela Föllmi 2007 kennengelernt, als sie nach dem Suizidversuch Hilfe in einer psychiatrischen Klinik suchte. Es war dasselbe Jahr, in dem Katla für die Clienia Littenheid zu arbeiten begann.

Der Anwalt des Verlags schreibt im Nachwort des Buches darüber, wie es Gisela Föllmi gelungen sei, «ihre Lebensgeschichte in den angebracht drastischen Worten präzise aus dem Dunkel herauszubrechen». Auch hier kein Hinweis auf die wissenschaftlich dutzendfach erbrachte Erkenntnis, dass präzise Worte und Detailgenauigkeit keine Hinweise darauf sind, ob eine Erinnerung wahr ist. Genauso wenig wie die emotionalen Ausbrüche, die Föllmi bei der Niederschrift erlebt hatte.

Therapie und Rechtsstaat sind verschiedene Welten

Gisela Föllmis Schilderungen haben nichts mit satanistischen Ritualen zu tun. Sie sind durchaus plausibel. In dieser Hinsicht sind sie glaubwürdiger als die Erzählungen von Cornelia Widmers Tochter. Ein oft gehörtes Argument für den Wahrheitsgehalt einer Schilderung lautet: «Warum sollte jemand eine solche Geschichte erfinden?» Doch das ist die falsche Frage. Niemand behauptet, Gisela Föllmi habe etwas erfunden. Sie dürfte der festen Überzeugung sein, dass sich alles so zugetragen hat, wie es in ihren wiedererlangten Erinnerungen über sie hereinbrach. Und vielleicht war auch alles so, bloss kann das niemand wissen.

Das ist für alle Beteiligten unbefriedigend: für Föllmi selbst, der Misstrauen entgegenschlägt, für Therapeuten, die sich von Gewissheiten verabschieden müssen, für Strafverfolgungsbehörden, deren Arbeit dadurch erschwert wird. Therapie und Rechtsstaat sind zwei Welten, in denen unterschiedliche Regeln gelten. In der einen befürchtet man vor allem, ein Missbrauch könnte unentdeckt bleiben, in der anderen, Unschuldige könnten hinter Gitter landen.

Das Leiden von Gisela Föllmi und vielen anderen Patientinnen ist real. Ob alle ihre erinnerten Episoden der Wahrheit entsprechen, spielt deshalb für viele Therapeuten keine Rolle. «Sie kümmern sich nicht darum, ob die Behauptungen ihrer Klienten auf einer authentischen Erfahrung beruhen oder nicht», sagt Henry Otgaar, «sie wollen den Menschen einfach nur helfen.» Das ist schon im geschützten Rahmen der Therapie eine schwierige und verantwortungsvolle Aufgabe. Geht es doch meist um vulnerable Personen, die tatsächlich Schlimmes erfahren haben oder aus einem anderen Grund an einer psychischen Krankheit leiden.

Doch sobald nach Jahrzehnten wiedererlangte Erinnerungen an einen Missbrauch den Raum der Therapie verlassen und an die Öffentlichkeit gelangen oder zu einem Prozess führen, leiden nicht mehr nur die Betroffenen selbst, sondern auch die Beschuldigten. Dann können Erinnerungen Existenzen vernichten. Dann ist noch entscheidender, ob sie wahr sind oder nicht.

Die Tochter von Cornelia Widmer ist mittlerweile 24-jährig und beschäftigt sich immer noch intensiv mit ihrer Diagnose. Als Maturaarbeit verfasste sie einen Selbsthilferatgeber für Betroffene dissoziativer Identitätsstörungen. Darin legt sie ihre eigene Geschichte offen und beschuldigt wieder ihren Vater.

Cornelia Widmer vermutet, es gehe ihrer Tochter nicht gut. Die Eltern versuchten immer wieder, zu ihr eine Beziehung aufzubauen – bisher vergeblich.
(https://www.nzz.ch/gesellschaft/der-glaube-an-satanistischen-missbrauch-breitet-sich-in-der-schweiz-aus-ld.1684880)



Streit unter Hetzern: Jetzt macht ein weiterer Vertrauter Attila Hildmann richtig Ärger
Attila Hildmann hat es sich schon wieder mit einem engen Vertrauten verdorben. Der ist über den berüchtigten Verschwörungstheoretiker derart erbost, dass er ihm endgültig das Handwerk legen will.
https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/kriminalitaet/id_92183814/attila-hildmann-weiterer-vertrauter-in-der-tuerkei-macht-ihm-richtig-aerger.html


+++HISTORY
nzz.ch 22.05.2022

 Wir hatten damals recht, also haben wir auch heute recht und werden immer recht haben – neun Thesen zu Putins Faschismus

Faschismus sei «ein erlösender Exzess patriotischer Willkür», heisst es bei Putins ideologischem Ziehvater Iwan Iljin. Reine Willkür ist auch das Kernelement von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Aus seiner «Logik» lässt sich das Abc des russischen Faschismus herauslesen.

Timothy Snyder

Wie kann Wladimir Putin eine offensichtlich faschistische Politik betreiben, wie einen völkermörderischen Vernichtungskrieg in der Ukraine führen, und gleichzeitig den Nimbus des «Antifaschismus» für sich beanspruchen?

Wie man bei seiner Rede zum «Tag des Sieges» am 9. Mai erneut gesehen hat, setzt Putin den Einmarsch Russlands in die Ukraine mit dem sowjetischen Sieg über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg gleich. Die Vergangenheit wird für den Aggressor zu einem Mittel, sich als Opfer zu fühlen und für sich das Recht in Anspruch zu nehmen, jedes Verbrechen zu begehen. Wie kann das funktionieren?

Wiederholt habe ich zu erklären versucht, wie Putins Interpretation des sowjetischen Erbes zum Faschismus tendiert und wie er daher –zumindest für sich selbst – den Einmarsch in die Ukraine mit dem Hinweis auf den Zweiten Weltkrieg rechtfertigt. Putins Feier der vermeintlichen Unschuld Russlands bietet Anlass für eine Zusammenfassung dieser Argumente.

1. Im sowjetischen Sprachgebrauch fehlte eine klare Vorstellung davon, was Faschismus ist. In den dreissiger Jahren schwankte der Stalinismus hin und her in der Frage, ob Faschismus etwas Schlechtes sei oder nicht. Infolgedessen hatte der Faschismus im sowjetischen Sprachgebrauch nie einen ganz klaren Inhalt. Besonders deutlich wurde dies nach 1939, als sowjetische Zeitungen Reden von Nazigrössen abdruckten. Im Jahr 1939 schloss Stalin ein De-facto-Bündnis mit Hitler, was bedeutete, dass der Faschismus in der offiziellen sowjetischen Öffentlichkeit lobenswert wurde.

Dieser Akt der Kollaboration war der wichtigste des Zweiten Weltkriegs, denn er erst ermöglichte dessen Beginn. (Heute ist es in Russland strafbar, darüber zu sprechen.) 1941 überfiel Nazideutschland die Sowjetunion, und damit wurde der Faschismus zum Feind der Sowjetunion. Das Hauptproblem des Faschismus aber war für die Sowjets die Invasion selbst. Der Faschismus wurde nie wirklich klar definiert. Er war einfach das Glaubensbekenntnis eines Aussenseiters.

2. Ein weiteres Problem ist die sowjetische Tradition, Russland als unschuldig und die Ukrainer als schuldig zu betrachten. Stalin, dessen Akt der Kollaboration mit Hitler der bei weitem wichtigste Akt des Krieges war, beanspruchte für sich selber das Recht, Kollaboration zu definieren. Am Ende des Zweiten Weltkriegs wurden ganze sowjetische nationale Minderheiten – wie die Krimtataren – als Kollaborateure deportiert und die Ukrainer stigmatisiert.

Stalin behandelte die Russen als die Hauptsieger. Tatsächlich blieb der grösste Teil des Territoriums der Russischen Republik der UdSSR vom Krieg verschont, und als westliche Gebiete besetzt wurden, waren die Russen nicht weniger geneigt, mit den Nazis zu kollaborieren, als alle anderen. Aber Stalin und sein damaliger Günstling Schdanow wollten die Russen als die moralisch dominierende Nation darstellen. Andere Nationen konnten bei Bedarf als «faschistisch» stigmatisiert werden.

3. Unter Stalin und seinen Nachfolgern wurde das Wort «Faschismus» jahrzehntelang nach aussen sehr flexibel verwendet. Nach dem Zweiten Weltkrieg war ein «Faschist» jemand, der in die Sowjetunion einmarschiert war, die Sowjetunion bedrohte oder sonst etwas tat, was der sowjetischen Führung nicht gefiel. Im Laufe der Zeit wurde dieser Begriff immer vager. Im Kalten Krieg konnten die Amerikaner und die Briten den Deutschen der Kriegsjahre als «Faschisten» gleichgesetzt werden. Mit der Zeit auch die Israeli. «Faschist» bedeutete einfach «Feind».

4. In den siebziger Jahren wurde das sowjetische Leiden unter der deutschen Besatzung zu einem politischen Mittel, um den Status quo zu legitimieren. Unter dem Sowjetführer Leonid Breschnew, etwa eine Generation nach Kriegsende, schuf man um den Sieg einen Kult, mit Paraden am 9. Mai. Breschnew bot den Sowjetbürgern eher Nostalgie als eine Zukunftsvision. Der «Faschist» wurde zum allgemeinen Feind ohne feste Identität. Wer das sowjetische Erbe infrage stellt, ist der «Faschist».

5. Diese sowjetische Nostalgie war Ideologie in dem negativen Sinne, den Marx meinte, als er das Wort verwendete. Echte Marxisten hätten sich daran erinnert, dass der sowjetische Triumph des Jahres 1945 nur dank der amerikanischen Wirtschaftsmacht zustande gekommen war, in Form etwa von geliehenem Rüstungsgut. Aber die Sowjetführung zog es vor, dies zu vergessen. In den russischen Geschichtsbüchern wird es bis heute nicht erwähnt, und in Russland spricht so gut wie keiner darüber.

Der Unterschied zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem russischen Einmarsch in die Ukraine wird hier besonders augenfällig: Die US-Wirtschaftsmacht positionierte sich von 1942 bis 1945 sehr stark auf der Seite der Sowjetunion, aber heute ergreift sie (wenn auch in geringerem Umfang) gegen einen postsowjetischen Staat (Russland) und für einen anderen postsowjetischen Staat (Ukraine) Partei. Die russische Ideologie konzentriert sich heute ganz auf den Willen der Russen als Quelle des sowjetischen Sieges von 1945 und nicht auf solche strukturellen Faktoren. Der nationale Wille ist denn auch die zentrale Kategorie des Faschismus.

6. Dieses sowjetische Erbe ist die Basis, auf der sich die heutige russische Führung bewegt. Putin ist geprägt von bestimmten Vorstellungen aus den siebziger Jahren, als er ein junger Mann war: Russland ist immer der Sieger; der Feind waren immer die Faschisten; die Macht soll durch eine Nostalgie der Vorherrschaft und der Unschuld legitimiert werden.

Einmal an der Macht, hat Putin sich diese Ideen für Russland zu eigen gemacht und auf die Spitze getrieben. Dass es die UdSSR (und nicht Russland) war, die den Krieg gewonnen hat, wird vergessen. Dass Hitlers massgebliches Kriegsziel die Kolonisierung der Ukraine war, ist unsagbar. Dass der Krieg weitgehend für die Ukraine und in ihr geführt wurde, bleibt unerwähnt. Dass die ukrainische Zivilbevölkerung mehr zu leiden hatte als die russische oder dass ukrainische Soldaten an der Seite der russischen kämpften, wird unvorstellbar.

Dies erinnert an einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen dem Zweiten Weltkrieg und der gegenwärtigen russischen Invasion: Ukrainer und Russen stehen nicht auf der gleichen Seite. Interessanterweise hat die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg in der Ukraine selber nicht die gleiche Wendung genommen wie in Russland. Der Krieg ist nach wie vor ein Prüfstein der Erinnerung, aber er ist nicht mit einem Führerkult oder einem Totenkult verbunden. Im politischen Denken der Ukraine geht es um die Zukunft und weniger um die Vergangenheit.

7. Im spätsowjetischen Siegeskult lag das Potenzial für eine faschistische Interpretation. Obwohl die Siegesnostalgie und die Anbetung der militärischen Macht ihren Ursprung in der Sowjetunion hatten, konnten solche Ideen sehr leicht von der extremen politischen Rechten aufgegriffen werden, wie es in Putins Russland der Fall war.

Die Vorstellung von Politik als militärischem Sieg kann faschistisch sein (man denke an «Sieg Heil») – der Glaube aber, dass Politik mit der Wahl eines Feindes beginnt, ist mit Sicherheit faschistisch (was durch den Nazi-Vordenker Carl Schmitt ebenso belegt wird wie durch Putins faschistischen Lehrer Iwan Iljin). Die Vorstellung von einem goldenen Zeitalter der Unschuld, das durch heilende Gewalt wiederhergestellt werden soll, steht ganz in faschistischer Tradition. Im heutigen Russland spiegelt das Jahr 1945 einen solchen Moment. Blut muss vergossen werden im Namen einer Art Zeitreise zurück ins stalinistische Eden, als Russland unschuldig und die Welt noch in Ordnung war.

8. All dies bedeutet, dass der russische Faschismus behaupten wird, antifaschistisch zu sein. Russland aber kann ein faschistisches Regime sein, auch wenn sein Führer davon spricht, gegen «Faschismus» oder «Nazismus» zu sein. Die tiefe Selbstverliebtheit und die groteske Widersprüchlichkeit von Putins Position bestätigen in der Tat, dass das, was wir vor uns haben, russischer Faschismus ist. Faschisten feiern den nationalen Eigensinn und widersetzen sich der Logik. Wie Iljin es ausdrückte, «ist der Faschismus ein erlösender Exzess patriotischer Willkür». Willkür ist das wesentliche Element von Russlands Krieg gegen die Ukraine. Ein Faschist, der jemand anderen als Faschisten bezeichnet, ist nicht deswegen weniger Faschist, weil er das tut. Er ist umso mehr ein Faschist. Er treibt den faschistischen Triumph des Willens über die Vernunft auf die Spitze.

9. Der automatisch selbstentlastende Charakter der Begriffe «Faschismus» und «Nazismus» ermöglicht Angriffskriege sowie Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Unter Putin bedeutet das Wort «Faschist» (oder «Nazi») einfach «mein auserwählter Feind, der eliminiert werden muss». Diese Begriffe sind im herrschenden russischen Sprachgebrauch Teil einer Hassrede, welche Kriegsverbrechen ermöglicht. Wir wissen dies aus den Äusserungen russischer Soldaten in der Ukraine, welche damit die Ermordung und Vergewaltigung von Zivilisten legitimieren. Wie der Kreml klargemacht hat, bedeutet «Entnazifizierung» «De-Ukrainisierung», was nichts anderes ist als das Streben nach Völkermord.

Die russische Propaganda zu «1945» und «2022» wird in dem beliebten Slogan zusammengefasst: «Wir können das wiederholen!» Aber die Geschichte wiederholt sich natürlich nicht. Und wir können sie auch nicht zwingen, dies zu tun. Die ganze Idee der Wiederholung besteht darin, einen bestimmten Punkt in der Vergangenheit zu wählen, ihn zu idealisieren, den gesamten Kontext und alles, was danach kam, zu ignorieren und sich dann einzubilden, dass man ihn neu zum Leben erwecken kann. Wer diese Übung durchzieht, eliminiert jegliches Verantwortungsgefühl: Wir hatten damals recht, also haben wir auch heute recht, und wir werden immer recht haben – egal, was wir tun. Und so wird aus dem «erlösenden Exzess» des Faschismus «patriotische Beliebigkeit».

Timothy Snyder, Jahrgang 1969, ist amerikanischer Historiker und Professor an der Yale University mit den Schwerpunkten Osteuropa und Holocaust-Forschung. 2010 veröffentlichte er mit «Bloodlands» eine Darstellung zur nationalsozialistischen und stalinistischen Vernichtungspolitik. Zuletzt ist 2020 beim Wiener Passagen-Verlag «Und wie elektrische Schafe träumen wir. Humanität, Sexualität, Digitalität» erschienen. Der abgedruckte Text wurde zuerst auf seiner Website veröffentlicht. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
(https://www.nzz.ch/meinung/timothy-snyder-neun-thesen-zu-putins-faschismus-ld.1684631)