Medienspiegel 21. Mai 2022

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+++BERN
hauptstadt.be 21.05.2022

Schutzstatus S – Prinzip Hoffnung?

Fast 5000 Geflüchtete aus der Ukraine leben im Kanton Bern bei Gastfamilien. Bald läuft die Zeit von drei Monaten, für die viele Wohnraum zur Verfügung stellen, ab. Welche Lösungen hat der Kanton Bern?

Von Jürg Steiner

Das politische Bern pflegt enge persönliche Beziehungen zur Ukraine. Stadtpräsident Alec von Graffenried (Grüne Freie Liste) und seine Frau haben bekanntlich in ihrem Haushalt eine geflüchtete ukrainische Familie aufgenommen. Regierungsrat Christoph Ammann (SP) ist mit einer Ukrainerin verheiratet, und gestern liess der kantonale Wirtschaftsminister die Medien kurz an seiner persönlichen Befindlichkeit teilhaben. «Ich habe den Krieg in der Wohnstube», sagte Ammann.

Seine Frau sei logischerweise mit zahlreichen Ukrainer*innen – ob geflüchtet oder noch in der Heimat – in Kontakt. Zudem leben derzeit Familienangehörige aus der Ukraine in Ammanns Haushalt. Der mentale Status der meisten Ukrainer*innen, die in die Schweiz gekommen sind, sei der gleiche, so Ammann: Sie sitzen auf gepackten Koffern (sofern sie überhaupt mit Koffern kamen und nicht mit Plastiksäcken). Fast alle möchten nichts anderes, als so schnell wie möglich wieder nach Hause zurückzukehren.

Die Rückkehrmöglichkeiten hängen vom Kriegsverlauf ab. Parallel zur Hoffnung, heimreisen zu können, stellen sich im Alltag in der Schweiz immer neue praktische Fragen, je länger der Aufenthalt dauert. Zum Beispiel müssen sich Geflüchtete aus der Ukraine ab Ende Mai an ein neues Mobilitätsregime gewöhnen. Bis jetzt verkehrten sie im schweizerischen ÖV gratis. So fuhren Dutzende Ukrainer*innen auch aus Bern etwa am Freitagmorgen früh nach Zürich, um sich an einschlägigen Abgabeorten mit stark verbilligten Lebensmitteln und Kleidern einzudecken. Ab 1. Juni müssen alle Geflüchteten mit Status S den regulären Ticketpreis bezahlen.

Die Wohnungsfrage

Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto komplizierter wird für die Geflüchteten in der Schweiz die Wohnungsfrage. Die Unterbringung bei Gastfamilien, sozusagen das Rückgrat der Ukraine-Solidarität in der Schweiz, sei eine Übergangslösung, sagte etwa Nathalie Barthoulot, Präsidentin der kantonalen Sozialdirektor*innen, unlängst. Längerfristig brauche es andere Lösungen, deshalb würden an verschiedenen Orten Containerdörfer gebaut.

Zum Beispiel auf dem Viererfeld in der Stadt Bern. Dort entsteht für Kosten von laut Kantonsbehöreden 10 Millionen Franken ein Containerdorf, in dem 1000 Menschen Platz finden sollen – allerdings nicht als dauerhafte Wohnsituation, sondern als Übergangslösung, wie betont wird.

Was ist in Bern Übergangslösung und was nicht?

Aktuell leben 6600 Geflüchtete aus der Ukraine im Kanton Bern, 4700 von ihnen wohnen bei Gastfamilien.

Letztere haben in der Regel die Garantie abgegeben, ihre Unterkunft für mindestens drei Monate zur Verfügung zu stellen. Am kommenden Dienstag ist es drei Monate her, seit Russland den Krieg gegen die Ukraine startete. In wenigen Tagen läuft deshalb in vielen Gastfamilien die «Drei-Monats-Frist» ab. Ungeklärt ist, was dann passiert und wer die Initiative übernimmt.

Gefragte Gastfamilien

Gundekar Giebel, Sprecher der Sozial- und Integrationsdirektion des Kantons Bern, bestätigt: «Wir wünschen uns, dass die Gastfamilien die Geflüchteten aus der Ukraine für mindestens drei Monate aufnehmen.» Von einer erwarteten Beendigung nach drei Monaten gehen die Behörden aber nicht aus. Giebel formuliert es so: «Müsste eine Unterbringung nach drei Monaten beendet werden, sind die regionalen Partner im Asylwesen eine erste Ansprechstelle.» In der Stadt Bern und Umgebung wäre das der Asylsozialdienst der Stadt Bern (für die anderen Regionen des Kantons sind diese Anlaufstellen zuständig).

Es gebe bisher wenige vorzeitige Abbrüche von Gastfamilien-Aufenthalten, aber es gebe sie, und sie hätten in letzter Zeit leicht zugenommen, sagt Christoph Egger. Er ist Leiter des kantonalen Sonderstabs Ukraine. Laut Gundekar Giebel hat es «schon mehrmals sehr erfreuliche Rückmeldungen von Gastfamilien gegeben, die durch eigene Initiative eine permanente Wohnsituation schaffen konnten, etwa durch die Vermittlung einer Wohnung aus dem Bekanntenkreis». Aktuell leben im Kanton 639 Ukrainer*innen in eigenen Wohnungen.

Der zuständige Regierungsrat Pierre Alain Schnegg (SVP) verweist auch darauf, dass es im Kanton Bern immer noch viele Familien gebe, die Wohnraum zur Verfügung gestellt haben, aber noch keine Geflüchteten zugewiesen erhielten. Es seien also noch Reserven vorhanden, die in Anspruch genommen werden könnten.

Zumal weniger Geflüchtete eintreffen könnten als zunächst erwartet: Die Kanton hat – gemäss den neuen Zahlen des Staatssekretariats für Migration (SEM) – die Prognosen nach unten korrigiert. Vor wenigen Wochen sprach Schnegg noch von 30’000 Geflüchteten, die bis Ende Jahr in den Kanton Bern kämen, aktuell geht er noch von 10’000 bis 20’000 Personen aus. Eines bleibe aber klar, so Schnegg: «Wir rechnen damit, dass wir bis Ende Jahr noch mehrere Tausend Menschen zusätzlich unterbringen müssen.»

Im Klartext: Im Kanton Bern hängt für eine langfristige Lösung in der Wohnfrage von Geflüchteten sehr viel von der Solidarität und der Initiative der Gastfamilien ab. Und vom Prinzip Hoffnung.

Der schwierige Arbeitsmarkt

Der Schutzstatus S ermöglicht es Ukrainer*innen und Ukrainern, sofort in der Schweiz zu arbeiten. Allerdings erweist sich die Arbeitssuche für die meisten als schwierig bis unmöglich. Laut Christoph Ammann hat der Kanton bisher erst gut 200 Arbeitsbewilligungen für Ukrainer*innen ausgestellt. Vor einem Monat, als die «Hauptstadt» erstmals Zahlen nachfragte, waren es 15 Bewilligungen gewesen.

Der offizielle Weg für Ukrainer*innen, zu einem Job zu kommen, führt über die Regionalen Arbeitsvermittlungsstellen (RAV). Doch dieser Weg führt kaum je zum Ziel, weil für die Anmeldung beim RAV Deutschkenntnisse zwingend sind: Bis jetzt vermittelte der Kanton auf diesem Weg nur gerade acht Ukrainer*innen eine Stelle. Erfolgversprechender sei es, rät Ammann (aus persönlicher Erfahrung, wie er sagte), wenn man direkt bei möglichen Arbeitgeber*innen vorspreche. So fanden im Kanton Bern etwa 90 Ukrainer*innen einen Job in der Gastronomie, die stark unter Personalmangel leidet. 27 Geflüchtete aus der Ukraine arbeiten in der Landwirtschaft, 25 in technischen Berufen, zum Beispiel in der Informatik.

Die ungebrochene Solidarität

Die Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine scheint im Kanton Bern ungebrochen. Auf einen Aufruf für Unterstützung von geflüchteten Kindern an den Schulen meldeten sich – trotz Mangel an Lehrpersonen –- über 1000 Personen, wie Erwin Sommer von der kantonalen Bildungsdirektion sagte. Ein warmes Zeichen sendet auch der Verband bernischer Musikschulen aus, der dieses Wochenende seine Solidaritätswoche Ukraine abschliesst. Die Kollekten aus den zahlreichen Konzerten sollen es geflüchteten Kindern ermöglichen, kostenlosen Musikunterricht an den 28 kantonalen Musikschulen zu besuchen.
(https://www.hauptstadt.be/a/schutzstatus-s-was-macht-bern)


+++AARGAU
Trotz Bedenken einiger Einwohnerräte: Flüchtlinge sollen künftig von der Gemeinde selber betreut werden
Der Einwohnerrat von Obersiggenthal entschied an seiner Sitzung grossmehrheitlich, die Zusammenarbeit mit Caritas per Ende Jahr zu kündigen. Weniger umstritten war der Beitritt zur regionalen Asylbetreuung Baden.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/baden/obersiggenthal-trotz-bedenken-einiger-einwohnerraete-fluechtlinge-sollen-kuenftig-von-der-gemeinde-selber-betreut-werden-ld.2293520



aargauerzeitung.ch 21.05.2022

So viel kostet es den Kanton, wenn 37’200 Ukraine-Flüchtlinge in den Aargau kommen

Der Regierungsrat beantragt dem Grossen Rat mehrere Verpflichtungs- und Nachtragskredite für die Unterbringung, Betreuung und Bildung der geflüchteten Menschen aus der Ukraine. Seine Berechnungen kann er dabei nur auf Szenarien stützen.

Noemi Lea Landolt

In weniger als drei Monaten sind bereits mehr als 50’000 Ukrainerinnen und Ukrainer in die Schweiz geflüchtet. Der Kanton Aargau muss gemäss Verteilschlüssel acht Prozent der Geflüchteten aufnehmen. Bisher sind 4179 Ukrainerinnen und Ukrainer dem Aargau zugewiesen worden. Jeden Tag kommen zwischen 60 und 120 weitere Personen im Kanton an.

Niemand weiss, wie viele Menschen aus der Ukraine in den nächsten Wochen und Monaten in der Schweiz Schutz suchen werden. Bund, Kantone und Gemeinden müssen in Szenarien denken, Prognosen aufstellen und diese regelmässig mit der Realität abgleichen.

Im Aargau rechnet der Kantonale Sozialdienst mit 37’200 Zuweisungen bis Ende 2023. Auf diese Zahl kommt er, indem er für das laufende Jahr mit durchschnittlich 80 Zuweisungen pro Tag rechnet und für das Jahr 2023 mit 40 Zuweisungen pro Tag.

Auf Basis dieses Szenarios hat der Regierungsrat einen möglichen Finanzrahmen für das laufende und das nächste Jahr abgesteckt. Denn die 37’200 Menschen würden nicht nur eine Unterkunft, Betreuung, Sozialhilfe oder eine Krankenversicherung brauchen. Die geflüchteten Kinder und Jugendlichen haben die Pflicht und das Recht, die obligatorische Schule zu besuchen.

Bis Ende Jahr müssten 6780 Kinder eingeschult werden

Der Kanton geht aufgrund der bisherigen Erfahrungen davon aus, dass 30 Prozent der Schutzbedürftigen Kinder im schulpflichtigen Alter sind und rund 4 Prozent der Jugendlichen im Alter von 16 bis 20 Jahren ein nichtobligatorisches Angebot der Sekundarstufe II nutzen werden. Bei durchschnittlich 80 Zuweisungen pro Tag müssten bis Ende dieses Jahres 6780 Kinder in der Aargauer Volksschule eingeschult werden und weitere 904 in der Sekundarstufe II.

Daneben braucht es auch in der Verwaltung, in den Schulen oder Unterkünften zusätzliches Personal. Das kostet.

Zwar muss der Kanton nicht sämtliche anfallenden Kosten selbst tragen. Der Bund richtet pro Person und Monat eine Globalpauschale von rund 1500 Franken aus. Trotzdem haben die Auswirkungen des Krieges auch für den Kanton finanzielle Konsequenzen.

Die Regierung beantragt dem Grossen Rat mehrere Verpflichtungs- und Nachtragskredite im Zusammenhang mit den Ukraine-Flüchtlingen. Insgesamt rund 288 Millionen Franken. Am Freitag sind die zugehörigen Botschaften publiziert worden.

Grosser Rat entscheidet im Juni

Zum jetzigen Zeitpunkt ist noch offen, ob das Geld tatsächlich gebraucht wird. Die effektive Entwicklung der Anzahl Schutzsuchender und damit die Auswirkungen auf den Finanzhaushalt kennt auch der Regierungsrat nicht. Die Sicherheitslage in der Ukraine ändere sich laufend, heisst es in der Mitteilung der Staatskanzlei.

Mit den beantragten 288 Millionen Franken wolle die Regierung aber «die nötige Handlungsfähigkeit sicherstellen, um auch für ein Szenario mit anhaltend hohen Zuweisungen gewappnet zu sein», heisst es in der Mitteilung. Der Regierungsrat verspricht, die Situation laufend zu überprüfen, sodass neue Erkenntnisse bereits in die Budget-Debatte im Herbst einfliessen können. Über die Verpflichtungs- und Nachtragskredite entscheidet der Grosse Rat im Juni.

Im Worst Case braucht es Ende Juni Notunterkünfte

Mindestens so wichtig wie die Finanzierung sind die Unterbringungsplätze selbst. Dass im Aargau jeden Tag bis zu 120 zusätzliche Menschen ein Bett brauchen, stellt Kanton und Gemeinden vor grosse Herausforderungen. Die Gemeinden hatten per September 2021 eine Aufnahmepflicht für insgesamt 2213 Personen. Per 14. April 2022 betrug die Aufnahmepflicht bereits 4195 Personen – sie hat sich also fast verdoppelt.

Obwohl Kanton und Gemeinden ihre Kapazitäten laufend erhöhen, geht der Regierungsrat davon aus, dass die bestehenden Plätze rasch belegt sein werden. Für diesen Fall hat der Ukraine-Stab im Departement von Regierungsrat Jean-Pierre Gallati eine Eventualplanung ausgearbeitet.

Die Geflüchteten würden dann temporär auch unterirdisch untergebracht werden: in den geschützten Spitälern (Gops) in Muri, Aarau und Laufenburg oder in anderen Zivilschutzanlagen oder militärischen Einrichtungen. Bei weiterhin 80 Zuweisungen pro Tag müssten die Gops Ende Juni eröffnet werden, sofern keine zusätzlichen Plätze bei Kanton, Gemeinden oder Privaten gefunden werden, heisst es in der Botschaft der Regierung an den Grossen Rat.
(https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/ukraine-krieg-so-viel-kostet-es-den-kanton-wenn-37200-ukraine-fluechtlinge-in-den-aargau-kommen-ld.2293799)


+++SOLOTHURN
solothurnerzeitung.ch 21.05.2022

Von erwünschten und unerwünschten Flüchtlingen: Wie Menschen im Kanton Solothurn ungleich behandelt werden

Familie Vali flüchtete 2018 aus dem Iran in die Schweiz. Ihr Asylgesuch wurde nach drei Jahren abgelehnt, die Beschwerde ist seither hängig. Die Familie darf weder arbeiten oder Deutschkurse besuchen, noch hat sie Anrecht auf eine Wohnung. Sie lebt von Nothilfe im Durchgangszentrum in Selzach.

Raphael Karpf

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie an Ihrer Situation ändern? «Wir wünschen uns das nicht nur für uns, sondern für alle Flüchtlinge, die in Camps in der Schweiz leben: Dass sie früher Bescheid bekommen. Dass ihr Leben weitergehen kann», sagt Fardin.

Familie Vali kam im Frühling 2018, damals noch zu viert, Vater, Mutter, zwei Söhne, aus dem Iran in die Schweiz. Mit dem Flugzeug nach Griechenland, von dort nach Italien, dann nach Genf, erzählt Fardin, der älteste Sohn. Die Familie wurde im Durchgangszentrum auf dem Balmberg untergebracht. Neun Monate lang lebte sie dort.

Im Frühling 2019 führte die Schweiz das beschleunigte Asylverfahren ein. Neu angekommene Flüchtlinge verbringen die ersten 140 Tage in einem der Bundesasylzentren. Nur Menschen, die in der Schweiz bleiben dürfen, oder aber bei denen das Asylverfahren länger dauert, kommen anschliessend in ein kantonales Durchgangszentrum. Die Idee: Die Asylverfahren sollen schneller abgewickelt werden, sodass Flüchtlinge nicht jahrelang auf Entscheide warten müssen.

Fardin wollte sich an der PH zum Lehrer ausbilden lassen

Für Familie Vali kam diese Neuerung zu spät. Ihr Asylverfahren war noch hängig, als sie eine erste eigene Wohnung bekam. In Selzach, in der Nähe des Bahnhofs. Der Vater fand Arbeit beim Verein Tischlein deck dich in Grenchen, die beiden Söhne besuchten die Schule und spielen seither für den FC Selzach in der dritten Liga, Fardin spricht mittlerweile fliessend Hochdeutsch. Und die Familie bekam Zuwachs: Im Bürgerspital Solothurn wurde Maral, eine Tochter, geboren. 1,5 Jahre lang lebte die Familie in dieser Wohnung.

Dann folgte der Entscheid im Asylverfahren: negativ. Kein Asyl. In einem ersten Schritt bedeutete das: Der Vater darf nicht mehr zur Arbeit, Fardin, der die obligatorische Schule abgeschlossen hat, darf nicht an die pädagogische Hochschule, um sich zum Lehrer ausbilden zu lassen. Und die Familie muss ihre Wohnung aufgeben und zurück ins Durchgangszentrum. Nun in jenes in Selzach, nur wenige hundert Meter von der alten Wohnung entfernt.

«Wir sagten bitte, nein», übersetzt Fardin für seine Mutter, die unter Tränen erzählt. Man solle sie doch in der Wohnung lassen, bis die Tochter etwas grösser sei. Es sei schwierig, mit einem Baby in einem Camp zu leben.

Somchai-Peter Allemann ist stellvertretender Leiter des Selzacher Durchgangszentrums. «Ich verstehe, dass die Situation schwierig ist. Wir versuchen den Bewohnenden den Aufenthalt im Zentrum trotzdem so angenehm wie möglich zu machen», sagt er. Doch so seien die Gesetze. Und daran müssen auch sie sich halten. Und die Gesetze sagen: Wer einen negativen Asylentscheid hat, hat im Kanton Solothurn keinen Anspruch auf eine eigene Wohnung.

Nun lebt Familie Vali im ehemaligen Kinderheim, der «Villa» Schläfli, direkt an der Hauptstrasse zwischen Solothurn und Grenchen. Vierer- und Sechserzimmer, ein Aufenthaltsraum mit Sofas und einem Fernseher, gemeinsame Küche und Esszimmer, ein Fitnessraum im Keller, ein grosszügiger Garten mit Grillstelle hinter dem Haus.

Platz für 80 Flüchtlinge bietet das Haus, 60 leben momentan dort, Menschen aus Afghanistan oder dem Iran, aus Sri Lanka, Algerien, Syrien oder Äthiopien, mehrheitlich junge Männer.

Manche haben bereits das Bleiberecht und suchen eine eigene Wohnung – die ORS, die die Zentren im Auftrag des Kantons betreibt, hilft ihnen dabei. Bei anderen läuft das Asylverfahren noch. Diese Menschen dürfen Arbeit suchen, Deutschkurse besuchen, sich integrieren.

Den meisten, rund zwei Dritteln der Bewohnerinnen und Bewohner, geht es aber wie Familie Vali: Sie haben einen negativen Asylentscheid und dürfen nichts davon. Einzig schulpflichtige Kinder werden beschult, bis sie das Land verlassen müssen.

Nicht alle Länder nehmen abgewiesene Flüchtlinge zurück

Dass sie alle noch hier sind, kann verschiedene Gründe haben. Fehlende Papiere, um ausreisen zu können. Keine oder nur unzureichende Abkommen mit den Heimatländern, die sich weigern, die Menschen zurückzunehmen. Es gibt Fälle, da bleiben Menschen mit negativem Entscheid jahrelang hier.

Ein ganz extremer Einzelfall ist derjenige eines Mannes aus Belarus, gegen Mitte 70, er lebt seit 15 Jahren in verschiedenen Durchgangszentren im Kanton. Weil Belarus ihn nicht zurücknimmt. Er lebt von neun Franken Nothilfe in den Tag hinein, bleiben darf er nicht, gehen kann er nicht.

«Solange die Haltung des Gesetzgebers und der Politik ist, Menschen mit negativem Asylentscheid nicht zu integrieren, können wir nichts tun», sagt Alain Hervouêt, Leiter Fachbereich Asyl beim Kanton. Das Ziel ist, dass diese Menschen das Land verlassen, und nicht integriert werden. Wolle man das ändern, müsse das politisch ausgefochten werden.

Dass Familie Vali noch in der Schweiz ist, hat noch einen anderen Grund: Sie hat beim Bundesverwaltungsgericht gegen den negativen Asylentscheid Beschwerde eingelegt. Seit einem Jahr wartet sie auf eine Antwort.

Eine Rückkehr in den Iran um jeden Preis verhindern

Und wenn auch die Beschwerde abgewiesen wird? «Ich weiss es nicht», sagt Fardin. Vielleicht ein Härtefallgesuch stellen. Oder sonst einen Ausweg finden. Um jeden Preis wollen sie verhindern, dass sie in den Iran zurückkehren müssen. Der Vater sei politisch aktiv, ein Gegner des Regimes. Ihm könnte die Todesstrafe drohen, so Fardin.

Andere tauchen unter. Versuchen ihr Glück in einem anderen Land. Doch wer in der Schweiz bereits registriert ist und im Ausland aufgegriffen wird, wird zurückgebracht. Das Dublin-Abkommen sieht vor, dass Flüchtlinge nur in einem Land Asyl beantragen können.

Wie viele Menschen untertauchen, ist unbekannt. Diese Statistik wird nicht geführt. In Selzach seien es eine Handvoll pro Jahr, sagt der stellvertretende Zentrumsleiter Allemann. Hervouêt vom Kanton betont: «Das Zentrum ist kein Gefängnis.»

Die Menschen können gehen und bleiben, wie sie wollen. Nur über Nacht müssen sie anwesend sein – sonst gibt es die neun Franken Nothilfe nicht. Einmal im Monat haben die Flüchtlinge Urlaub und dürfen auswärts übernachten.

Mit Ämtli verdient Fardin etwas Taschengeld

Mit einer zweiten Familie teilen sich Valis einen kleinen Anbau des Zentrums. Drei Zimmer, ein gemeinsamer Aufenthaltsraum mit Sofa, einige Spielsachen. Spielen mit der kleinen Maral, spazieren, in die Bibliothek oder ins Fitness gehen, so sieht Fardins Alltag aus. Und manchmal Training beim FC Selzach. Fardin sagt: «Wir versuchen, uns zu beschäftigen.»

Andere würden illegal arbeiten. Um etwas Geld zu verdienen. Er selbst wolle das nicht. Das würde nur das Asylverfahren gefährden.

Was seine Eltern den Tag über tun? Sein Vater lacht, als Fardin die Frage übersetzt. Seine Mutter weint. «Es ist schwierig», lässt sie ausrichten. Sie mache sich Sorgen, um ihre Kinder. Was aus ihnen werde, wenn sie arbeitslos bleiben, keine Beschäftigung haben.

Kurz vor Mittag ist im Zentrum wenig los. Einige Männer sitzen im Garten, jemand liegt in seinem Bett, jemand putzt gerade ein Zimmer. «Es macht keinen Sinn», sagt Fardin. «Mir ist egal, welchen Ausweis ich bekomme. Ich möchte einfach arbeiten.»

Ämtli gibt es im Zentrum, die Gänge oder die Küche putzen etwa, so verdient Fardin etwas Taschengeld. Freiwillige kommen hier selten vorbei. Manchmal werden Spieleabende durchgeführt oder Wanderungen angeboten.

Doch das Interesse sei gering, sagt Andreas Jaross, der bei der ORS für die Region Solothurn zuständig ist. «Die Leute wollen jemanden kennen lernen, der ihnen helfen kann, hier zu bleiben. Wenn sie merken, dass das nicht geht, erlischt mit der Hoffnung auch das Interesse, etwas zu unternehmen», sagt er.

«Wir haben uns an das Leben hier gewöhnt», sagt Fardins Mutter. «Wir haben die Regeln verstanden, haben versucht, unser Bestes zu geben, aktiv und fleissig zu bleiben. Aber es passieren Dinge, die man nicht erwartet.»
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/krieg-in-der-ukraine-erwuenschter-fluechtling-unerwuenschter-fluechtling-wie-menschen-im-kanton-solothurn-je-nach-herkunftsland-ungleich-behandelt-werden-ld.2294056)



solothurnerzeitung.ch 21.05.2022

Vor den Bomben geflohen, in Egerkingen Schutz gefunden: Auf Besuch bei Familie Momot aus Kiew in der Fridau

Familie Momot flüchtete Anfang April aus der Ukraine in die Schweiz. In der Fridau ob Egerkingen erhielt sie ein vorübergehendes Zuhause. Dank Schutzstatus S bekam sie bald eine eigene Wohnung, die Eltern dürfen Arbeit suchen.

Raphael Karpf

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie an Ihrer Situation ändern? «Ich bin zufrieden», sagt Yulia. «Wir bedanken uns für alles, was für uns gemacht wird. Wir haben alles, was wir zum Leben brauchen.» – «Unserem Kind geht es sehr gut. Das ist die Hauptsache», sagt Wladimir, ihr Ehemann.

Yulia Semydko-Momot und Vladimir Momot lebten mit ihrem bald vierjährigen Sohn in Kiew. Am 24. Februar rief Yulias Schwester an: Es ist Krieg. Kiew wird bombardiert. Sie packten ins Auto, was ins Auto passte, und versuchten, wie tausend andere auch, die Stadt zu verlassen. Es war sehr hektisch, als sie sich durch den Stau kämpften, erzählt Wladimir. Sie schafften es zu Yulias Mutter, die rund 100 Kilometer ausserhalb von Kiew wohnt.

Die Fridau ob Egerkingen, es ist Mitte Mai. Von Hektik keine Spur. Höchstens vielleicht wegen der Buben, die sich auf dem Vorplatz ein Rennen liefern – einer auf blauem Laufrad, ein anderer auf rotem Bobbycar, während Momots drinnen ihre Geschichte erzählen.

Sie sind drei von rund 100 ukrainischen Flüchtlingen, die in der Fridau darauf warten, in eine Wohnung weiterziehen zu können. Die ehemalige Klinik wurde, ebenso wie das Bildungsheim Balmberg, nach Ausbruch des Krieges als Durchgangszentrum für ukrainische Flüchtlinge eröffnet.

Aus Angst um das Kind aus der Ukraine geflüchtet

«Wir mussten sehr schnell reagieren», sagt Alain Hervouêt, Leiter Fachbereich Asyl beim Kanton. Normalerweise verbringen Flüchtlinge die ersten 140 Tage in einem Bundesasylzentrum. Nicht so Ukrainerinnen und Ukrainer: Sie müssen kein Asylverfahren durchlaufen, sondern erhalten mit dem Schutzstatus S direkt ein Bleiberecht. Mit der Folge, dass sie innerhalb weniger Tage im Kanton Solothurn sind. Und ein Obdach brauchen.

Einen Monat lang blieb Familie Momot bei Yulias Mutter. Bis sie sich entschied, aus dem Land zu fliehen. «Für unser Kind war es zu gefährlich», sagt Yulia. Häufig mussten sie wegen des Flugalarms im Keller Schutz suchen. Sie hatten Angst, dass ihr Sohn traumatisiert werden könnte.

Da beide Deutsch sprechen – Yulia war als Au-pair in Deutschland, Wladimir hatte Deutsch studiert –, sollte es in ein deutschsprachiges Land gehen. Er habe gelesen, dass sie in Deutschland überlastet seien, erzählt Wladimir. In der Schweiz hingegen könne man eine Wohnung bekommen und Arbeit finden.
Mit dem Auto flüchteten sie aus der Ukraine

Also packten sie erneut ihr Auto – diesmal hatten sie noch weniger Platz, da sie noch eine weitere Mutter und ein Kind aus dem Land brachten – und fuhren am 1. April los. An der Grenze wurde Wladimir eine Stunde lang verhört. Da er aber Bürger Kasachstans ist, durfte er das Land verlassen.

Ukrainische Männer dürfen das normalerweise nicht. Drei Viertel der Menschen in der Fridau sind Frauen und Kinder. Das jüngste 1, die älteste 86. Eine ganz andere Situation als in den «normalen» Durchgangszentren, wo die Mehrheit der Bewohner junge Männer sind.

Das zeigt sich auch im Alltag. Auf den ersten Blick sehe es hier aus wie in den Ferien, sagt Zentrumsleiter Peter Nyiro irgendwann im Gespräch. Auch wenn die Erlebnisse, die die Menschen hinter sich haben, so gar nichts mit Ferienidylle zu tun haben. Nyiro arbeitet für die ORS, die im Auftrag des Kantons sämtliche Durchgangszentren betreibt.

Keine Anwesenheitspflicht in der Nacht, keine Putzämtli, die zugewiesen werden müssen, ja nicht einmal einen Wäscheplan brauchen die 100 Leute, die sich sechs Maschinen teilen.

Man organisiert sich selbst, um die Zimmer, Gänge und Küche zu putzen. Konflikte gebe es kaum jemals, die Polizei habe noch nie gerufen werden müssen.

Am 2. April kam Familie Momot in der Schweiz an. Im Bundesasylzen­trum in Basel registrierte sie sich, blieb eine Nacht dort, am 3. April fuhr sie bereits in die Fridau. Ihr Alltag ist gemächlich, um nicht zu sagen langweilig.

Sie haben ein Viererzimmer für sich, für Persönliches hat es nur wenig Platz: Zwei Etagenbetten, ein Schrank, ein Bad. Am Morgen spazieren in den Hügeln, mit dem Kind spielen, hin und wieder andere Bewohnerinnen und Bewohner zu Arztterminen begleiten, um zu übersetzen. Für Erwachsene werden Deutschkurse angeboten – die sie beide aber nicht brauchen. Highlight sei jeweils der Bus, der einmal die Woche zum Gäupark fährt.

Zahlreiche Spielsachen und Kleider werden gespendet

Mehr zu tun hat ihr Sohn. Von Kirchen und Sportvereinen kommen regelmässig Freiwillige in die Fridau, um mit den Kindern zu spielen, basteln oder malen. Gemeinsam wurden schon Kekse verziert oder Blumentöpfe bemalt. Zusätzlich zu den Velos und Bobbycars konnten zwei ganze Zimmer mit Spielsachen gefüllt werden – alles Spenden.

Auch Kleiderspenden kommen viele in der Fridau an. Das Rote Kreuz hat in zwei Zimmern eine kleine Boutique eingerichtet, wo sich die Bewohnerinnen und Bewohner gratis eindecken können.

Auch Hygieneartikel und Geschirr wird abgegeben. Selbst zuständig sind sie «nur» noch fürs Essen. 10 Franken gibt es dafür pro Tag pro Person, so viel, wie auch vorläufig Aufgenommene bekommen. In Familien ist es abgestuft etwas weniger. Das muss für drei Mahlzeiten am Tag reichen. Hervouêt sagt: «Wenn man sich bewusst ist, was das Leben kostet, ist das nicht viel.»

Doch so seien die gesetzlichen Vorgaben. Fürs Essen reiche das Geld gerade so, sagt Yulia. Um das Auto zu tanken, nicht mehr.

Die Menschen sollen in der Fridau zur Ruhe kommen

Gekocht wird in den zwei grossen Küchen der Fridau. Alle Bewohnerinnen und Bewohner haben ein abschliessbares Vorratsfach, ebenso eines im Kühlschrank. An diesem Nachmittag sind zwei Männer dabei, Kartoffeln zu schälen und Gemüse zu rüsten.

Um die Ecke besuchen ein Mann und eine Frau den Deutschunterricht. Vormittags seien die Kurse jeweils besser besucht. Den Gang runter ist ein ganzes Zimmer mit Kindern gefüllt. Drei Tage die Woche werden die schulpflichtigen Kinder in der Fridau von einer Lehrerin unterrichtet.

Die Idee ist nicht, die Menschen in der Fridau schnellstmöglich in Wohnungen in den Gemeinden unterzubringen. Sie sollen hier zuerst zur Ruhe kommen, Infoveranstaltungen zum Leben in der Schweiz besuchen können, erste Deutschkurse absolvieren. «Es geht auch darum, etwas Druck aus dem System herauszunehmen», sagt Hervouêt.

Die Gemeinden sollen genug Zeit bekommen, gute Unterkünfte aufzutreiben. Auch davon hängt ab, wie lange die Leute in der Fridau bleiben. In den «normalen» Durchgangszen­tren bleiben Flüchtlinge im Schnitt drei bis vier Monate, in der Fridau sind es aktuell vier Wochen.

Die Rückkehr ist ungewiss

Yulias Mutter ist in der Ukraine geblieben, um sich um die kranke Grossmutter zu kümmern. Auch ihre Schwester blieb, sie wollte ihren Mann nicht verlassen. «Sie versuchen, weiterzuleben», erzählt Yulia. Die Kinder haben Fernunterricht, im Garten hat die Familie Kartoffeln angepflanzt. Täglich telefoniert Yulia mit ihrer Schwester.

Auch mit den anderen Bewohnerinnen und Bewohnern in der Fridau tauschen sie sich aus. Erzählen ihre Geschichten. «Wer aus Mariupol stammt, erzählt grausame Dinge», sagt Yulia. Sie alle warten auf ein Ende des Krieges. Viele wollen dann zurück. Yulia selbst hat Angst: «Wenn meinem Kind etwas passieren würde, könnte ich mir das nie verzeihen.»

Auch Wladimir ist unschlüssig. Solange der Krieg andauert, wolle er sicher hierbleiben. Und dann? «Wir wissen gar nicht, ob unser Haus noch steht.» Auch hänge es davon ab, ob sie hier Arbeit finden, selbstständig werden können. «Wenn wir uns hier ein gutes Leben aufbauen können, dann bleiben wir hier. Wir wollen das beste Leben für unser Kind.»

Kurz nach unserem Besuch hat Familie Momot die Fridau verlassen. Sie lebt nun in einer Wohnung in Schönenwerd.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/kanton-solothurn/krieg-in-der-ukraine-vor-den-bomben-geflohen-in-egerkingen-schutz-gefunden-auf-besuch-bei-familie-momot-aus-kiew-in-der-fridau-ld.2294095)


+++SCHWEIZ
«Ungerechter» Flüchtlingsstatus: Engagierte Afghanin (18) stellt «Arena» auf den Kopf
Moderator Sandro Brotz hatte in der SRF-Diskussionssendung sichtlich Mühe, eine 18-jährige Geflüchtete aus Afghanistan zu beschwichtigen.
https://www.20min.ch/story/engagierte-afghanin-18-stellt-arena-auf-den-kopf-346658518264
-> https://www.watson.ch/!928307507
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/arena-zum-schutzstatus-s-junge-gefluechtete-reden-politikern-ins-gewissen


+++ITALIEN
Seenotretter der Iuventa vor Gericht: Unter Ausschluss der Öffentlichkeit
In Sizilien endet nach dreistündiger Verhandlung das Vorverfahren gegen 21 Seenotretter*innen. Ob es zu einer Hauptverhandlung kommt, bleibt unklar.
https://taz.de/Seenotretter-der-Iuventa-vor-Gericht/!5856130/


Strafverfahren gegen Iuventa-Crew Seenotrettung als Beihilfe zu illegaler Einwaderung?
Italienische Behörden werfen den Seenotrettern Beihilfe zur illegalen Einwanderung vor. In Trapani findet jetzt die erste Anhörung statt. Am Ende entscheidet sich, ob die Anklage fallen gelassen wird – oder ein Strafprozess beginnt.
https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/italien-gericht-schiff-iuventa-seenotrettung-mittelmeer-fluechtlinge-strafverfahren-beihilfe-illegale-einwanderung/
-> https://www.proasyl.de/news/das-eigentliche-problem-ist-die-kriminalisierung-von-flucht-und-migration/


+++GASSE
Visp VS: Sozialhilfeempfängerin muss mit Tochter in einem Zelt leben
In der Walliser Gemeinde Visp ist die Wohnungsnot so gross, dass eine Sozialhilfeempfängerin und deren Tochter gezwungen waren, in einem Zelt auf dem Campingplatz in Visp zu wohnen.
https://www.20min.ch/story/sozialhilfeempfaengerin-muss-mit-tochter-in-einem-zelt-leben-852169006853


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
BASEL NAZIFREI VS.SVP VS POLIZEI
-> Medienmitteilung Basel Nazifrei: https://baselnazifrei.info/blog/kommunique-dlut-gege-dsvp
-> https://www.bzbasel.ch/basel/linke-gruppierung-svp-bi-de-luet-in-basel-durch-demo-gestoert-polizei-schiesst-gummischrot-gegen-demonstranten-ld.2294219
-> https://www.bazonline.ch/machen-die-linken-ihre-androhungen-gegen-die-volkspartei-heute-wahr-919272150202
-> https://telebasel.ch/2022/05/21/polizei-griff-rund-um-svp-veranstaltung-hart-durch
-> https://telebasel.ch/2022/05/21/polizei-schirmt-svp-bi-de-luet-mit-grossaufgebot-ab
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/gummischrot-einsatz-bei-demonstration-gegen-svp-veranstaltung?id=12194820
-> https://www.onlinereports.ch/News.117+M520bb87ba7e.0.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/basel/321818727-polizeiaufgebot-in-basel-wegen-demonstration-gegen-svp-veranstaltung
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/bei-svp-bi-de-lut-in-basel-setzt-polizei-gummischrot-ein-66183808
-> https://www.blick.ch/politik/svp-fest-in-basel-polizei-setzt-gummischrot-gegen-linksradikale-ein-id17509406.html
-> https://www.nzz.ch/schweiz/linksradikaler-angriff-auf-svp-anlass-in-basel-ld.1685245?mktcid=smch&mktcval=twpost_2022-05-21
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/grossaufgebot-in-basel-polizei-setzt-gummischrot-bei-demo-gegen-svp-veranstaltung-ein
-> https://www.20min.ch/story/gummischrot-bei-anti-svp-demo-289255461384
-> https://twitter.com/ShockTrendy
-> https://twitter.com/RegulaSterchi
-> https://twitter.com/___R___EL



Basler Zeitung 21.05.2022

«Feuer frei» gegen «Basel Nazifrei»: Polizei geht rigoros gegen Anti-SVP-Demo vor

Am Samstagmorgen setzte die Polizei Gummischrot gegen rund 40 Demonstrierende aus der linksautonomen Szene ein, während auf dem Meret Oppenheim-Platz unter anderem Bundesrat Ueli Maurer mit der Bevölkerung auf Tuchfühlung ging.

Tobias Gfeller

Alles begann ganz heimelig mit Alphornklängen, Kaffee und Gipfeli. Immer mehr Personen fanden sich gegen 9:30 Uhr am Samstag auf dem Meret Oppenheim-Platz beim Hintereingang des Bahnhofs SBB ein. Nach und nach gesellten sich die Granden der nationalen SVP zu ihren Kolleginnen und Kollegen aus Basel-Stadt um Kantonalpräsident Eduard Rutschmann, Parteisekretär Joël Thüring und Grossratsfraktionschef Pascal Messerli.

Mit «SVP bi de Lüt» tritt die wählerstärkste Partei in Kontakt mit der Bevölkerung. Dass sie dieses Mal in Basel zu Gast war, war gleich aus mehreren Gründen brisant. Zu Gast waren unter anderem Bundesrat Ueli Maurer, Nationalrätin Magdalena Martullo Blocher, Nationalrat und Bundeshausfraktionschef Thomas Aeschi und der Aargauer Hardliner Andreas Glarner.

Linksautonome Kreise um die lose Gruppe «Basel Nazifrei» riefen im Vorfeld zur Gegendemonstration auf. Ein Bewilligungsgesuch dafür ging erst gar nie ein, betonte Polizei-Mediensprecher Stefan Schmitt vor Ort.

Die Basler Polizei war unterstützt durch die Baselbieter Kollegen von Beginn weg präsent: in zivil, in orangen Vesten zu Fuss und auf dem Velo und in Kampfmontur. Auch ein privater Sicherheitsdienst war auf dem Meret Oppenheim-Platz im Einsatz. Dazu kamen die persönlichen Personenschützer der Politikerinnen und Politiker, allen voran von Bundesrat Maurer.

Die Polizei kontrollierte von Beginn weg vorwiegend jüngere Passantinnen und Passanten. Es war zu spüren: Die Polizei wollte an diesem Samstagmorgen überhaupt nichts zulassen, was den Anlass in irgendeiner Form stören könnte.

«Feuer frei» gegen «Basel Nazifrei»

«Basel Nazifrei» rief um 10 Uhr zur Demonstration auf. Just um diese Zeit machte sich bei der Polizei Nervosität breit. Und tatsächlich tauchte weniger Minuten später auf der Güterstrasse eine kleine Gruppe Demonstrierende auf – Polizeisprecher Schmitt sprach später von rund 40 Personen – und rief mit einem Transparent «D Lüt gege d SVP» Parolen gegen die Volkspartei.

Die Polizei schritt sofort ein und setzte nach zwei polizeilichen Abmahnungen nach dem Kommando «Feuer frei» eines Einsatzleiters zügig Gummischrot ein und drängte so die Gruppe zurück. Damit wollte die Polizei verhindern, dass die Demonstrierenden die SVP-Veranstaltungen stören können.
-> Video: https://unityvideo.appuser.ch/video/uv444969h.mp4

Die Hektik auf der Güterstrasse war gross: verdutzte Passantinnen und Passanten, gestresste Polizistinnen und Polizisten und ein älterer, unbeteiligter Herr, der gemäss Augenzeugenberichten von einem Gummischrot-Projektil am Auge getroffen wurde. Nach kurzer Behandlung entfernte sich der verletzte Mann, ohne Auskunft zu geben. Polizei-Mediensprecher Stefan Schmitt hatte vor Ort keine Kenntnis vom Zwischenfall.

Die Botschaft der Basler Polizei in Richtung linksautonome Demonstration war klar: Die Veranstaltung der SVP muss geordnet über die Bühne gehen können. Dass mit Ueli Maurer auch ein Bundesrat vor Ort war und der Anlass im nationalen Scheinwerferlicht stand, setzte die Basler Polizei nach dem misslungenen Laissez-faire-Auftritt an der 1. Mai-Demo vor drei Wochen zusätzlich unter Druck.

Basel eine «teilweise verlorene Stadt»

Während Bundesrat Maurer die Situation gewohnt gelassen nahm und sogar meinte, dass er es gerne habe, dass die Leute gegen die SVP seien, zeigte sich Martullo-Blocher von der ängstlichen Seite. «Das war das erste Mal, dass ich an einem Anlass war und Gummischrot eingesetzt wurde. Ich wusste gar nicht, wie das tönt und bin im ersten Moment ganz schön erschrocken.»

Die Rückmeldungen aus der Bevölkerung zum Anlass seien äusserst positiv gewesen, berichtet die Tochter von Alt-Bundesrat Christoph Blocher. Es wurden eifrig Selfies gemacht und immer wieder hiess es: «Danke für Ihren Einsatz, machen Sie weiter so.» Mehrfach war zu hören, wie sich Baslerinnen und Basler über ihre linke Stadt beklagten.

Dass der Stadt-Land-Graben im vergangenen Jahr vor allem von der SVP befeuert wurde, wollte Parteipräsident und Ständerat Marco Chiesa nicht bestätigen. Und sowieso käme die Spaltung mehr von den Städterinnen und Städtern aus. Bundesrat Maurer sprach über Basel aus Sicht der SVP von einer «teilweise verlorenen Stadt».

SVP bedankt sich bei der Polizei

Der Basler SVP-Präsident und Gastgeber des Tages Eduard Rutschmann war mit dem Anlass «eigentlich zufrieden». Es sei schade, dass es für solch eine Veranstaltung derart viel Polizei braucht. «Ich hätte diese Leute gerne bei Kaffee und Gipfeli dabei gehabt und hätte mit ihnen geredet», meinte Rutschmann in Richtung «Basel Nazifrei» und sprach von einer «totalen Untergrabung der Demokratie».

Als der Stand der SVP auf dem Meret Oppenheim-Platz weggeräumt war, bedankte sich die Basler SVP auch im Namen der SVP Schweiz in den sozialen Medien bei der Polizei für ihren Einsatz. Vor drei Wochen am 1. Mai hatte es noch ganz anders getönt.
(https://www.bazonline.ch/polizei-geht-rigoros-gegen-anti-svp-demo-vor-850947514960)



primenews.ch 21.05.2022

Unbewilligte Demos gehören konsequent unterbunden

Die zahllosen Kundgebungen werten die Innenstadt ab. Das Gewerbe leidet. Pragmatische Lösungen liegen auf der Hand.

von Christian Keller

Es war gegen das Ende der Debatte, als sich die Basler Ex-Wirtin Andrea Strähl im Publikum erhob und zu einer kurzen Brandrede gegen die beiden linken Exponenten auf dem Podium ansetzte.

«Versteht mich bitte nicht falsch: Ich bin Gewerkschaftsmitglied beim Vpod, ich arbeite im Spital. Aber ich bin genervt: Wegen den vielen Demos kann ich meine Schichten nicht rechtzeitig antreten, weil die Trams ständig verspätet sind».

Strähl redete Klartext, in ihrer Stimme lagen Wut und Ärger. Ich bin mir sicher: Die Frau sprach vielen Menschen in der Stadt und der Region aus dem Herzen – unabhängig von ihrer politischen Verortung.

Bevölkerung hat die Nase voll

Der Frust in der Bevölkerung ist nicht Ausdruck einer Respektlosigkeit gegenüber der freien Meinungsäusserung. Es geht darum, dass seit einiger Zeit das Mass des Zumutbaren um ein Vielfaches überschritten wird.

Der Blick in die Statistik macht das deutlich: 2015 gab es in Basel 85 Demonstrationen. 2021 waren es hingegen 275. Bemerkenswert: 124 davon waren unbewilligt, hätten also eigentlich gar nicht stattfinden dürfen.

Was tun? Darum ging es am «Prime Event» im Parterre One bei der Kaserne, den wir diese Woche durchgeführt haben. Auf unsere Einladung stellten sich Sicherheitsdirektorin Stephanie Eymann (LDP), Juso-Präsident Nino Russano und SP-Grossrätin Danielle Kaufmann (sie ist auch Präsidentin der Justiz- und Sicherheitskommission) der Diskussion.

Weitere Teilnehmende waren Simona Dematté, Abteilungsleiterin Operationen bei der Basler Kantonspolizei sowie Raphaela Cueni, Lehrbeauftragte für Öffentliches Recht an der Universität Basel.

Eine Übung, die nichts bringt

Mein persönliches Fazit: Die von Regierungsrätin Stephanie Eymann mehrfach bekräftigten Bemühungen, in den nächsten Wochen «mit allen Seiten» das Gespräch zu suchen, ist eine Übung für die Katz. Das wird nichts bringen, wie es auch in den letzten 100 Jahren nichts gebracht hat.

Denn: Gewisse «Demonstrierende», die erfahrungsgemäss wenig Hemmungen vor Schmierereien, Sachbeschädigungen und aggressivem Verhalten gegenüber Polizeikräften zeigen, wollen nicht zuhören. Es handelt sich um vermummte Chaotinnen und Chaoten, die sich unter dem Denkmantel irgendeiner vermeintlichen politischen Botschaft das Recht herausnehmen, im öffentlichen Raum ihren Frust auf das Leben rauszulassen.

Will Stephanie Eymann mit diesen Kriminellen tatsächlich an einen Tisch sitzen, um in einen «Dialog» zu treten (was ohnehin nicht klappen wird)? Was soll das bringen?

Die am Prime Event von Juso-Präsident Russano aufgestellte Behauptung, vieles hänge «halt auch vom Auftreten der Polizei ab», ist zurückzuweisen: Nicht die Sicherheitsorgane sind das Problem, sondern der Mob, der auf Vandalismus und Zerstörung aus ist.

Notruf des Gewerbes

Natürlich ist das nur ein Teil des Problems. Demonstrationen müssen nicht immer in Gewalt ausarten, bei den wenigsten ist das der Fall. Aber darum geht es ja letztlich auch gar nicht. Entscheidend ist vielmehr die Frage, ob 275 Protest-Veranstaltungen im Jahr erträglich sind.

Nein, sind sie nicht.

Wenn selbst die ansonsten sehr zurückhaltende Organisation StadtKonzeptBasel (vormals Pro Innerstadt Basel) in einem  offenen Brief an die Regierung gemeinsam mit Wirtschaftsverbänden ihre Unzufriedenheit ausdrückt, dann spricht das Bände. Das ist ein Notruf, der endlich gehört werden sollte.

Damit sind wir – einmal mehr – beim grundsätzlichen Dilemma angelangt. Einerseits sind die freie Meinungsäusserung und das Demonstrieren in der Verfassung festgeschriebene Grundrechte. Anderseits gibt es auch andere Interesse zu wahren – etwa die Gewerbefreiheit. Oder, um es etwas salopp auszudrücken: Das Recht, nicht ununterbrochen belästigt und eingeschränkt zu werden.

In einer Stadt, die jedes Wochenende wegen Massen-Demos lahmgelegt wird, lohnt sich das Geschäften nicht mehr. Die Unternehmen entlassen Personal oder ziehen weg. Die Gleichung ist einfach: Je mehr demonstriert wird, je mehr Jobs werden gekillt und der Standort abgewertet.

Man kann es auch noch anders formulieren: Je mehr demonstriert wird, desto weniger finden die Botschaften Beachtung. Ist das im Sinne der Menschen, die mit ihren Protest-Kundgebungen auf Missstände hinweisen wollen?

Keine Toleranz den Unbewilligten

Was also können wir unternehmen – um auf den entscheidenden Punkt zurückzukommen – um eine für alle Beteiligten pragmatische Lösung zu finden?

Ich erkenne zwei brauchbare, mehrheitsfähige Ansätze, die auch nicht mit dem Gesetz oder der Verfassung in Konflikt stehen sollten:

– Den vielen unbewilligten Demos wird konsequent der Riegel geschoben. Dazu gehört etwa die «Basel Nazifrei»-Kundgebung, die heute Samstag als Gegendemo zum «SVP bi de Lüt»-Anlass angesagt ist (Prime News  berichtete). Ansprechspersonen gibt es keine, ein Gesuch wurde nicht gestellt. Solche illegalen Versammlungen sollte die Kantonspolizei von Beginn an unterbinden. Eine entsprechende Ankündigung hat Stephanie Eymann am Prime Event ja auch prompt gemacht – «sofern wir bei den geplanten Dialog-Gesprächen nicht weiterkommen»
– Bei bewilligten Demonstrationen braucht es konzeptuelle Anpassungen. Muss jeder Umzug durch die Freie Strasse oder über die Mittlere Brücke führen? Kundgebungen können in der Innenstadt genauso gut an einem zugewiesenen Ort stattfinden, zum Beispiel auf dem Theaterplatz.

Es wird aus verfassungsrechtlichen Gründen nicht möglich sein – daran liess Uni-Rechtsexpertin Raphaela Cueni am Prime Event keinen Zweifel – Demonstrationen grundsätzlich einzuschränken. Das ist auch gut so: Unser direkt-demokratisches System zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass jeder und jede das Recht besitzt, seine Meinung in die öffentliche Diskussion einzubringen.

Der gangbare Weg, der «Kompromiss» ist die Umsetzung der oben beschriebenen Massnahmen. Juso-Präsident Nino Russano und SP-Grossrätin Danielle Kaufmann störten sich am Prime Event am Umstand, dass sämtliche Demonstrationen in eine Verbindung mit dem rot-grünen Lager gebracht würden. Kaufmann hielt ausserdem fest, sie wolle unbewilligte Kundgebungen «nicht verteidigen».

Dürfen wir die Linke also beim Wort nehmen, dass sie dazu beiträgt, wieder für geordnete Verhältnisse in Basel zu sorgen?
(https://primenews.ch/articles/2022/05/unbewilligte-demos-gehoeren-konsequent-unterbunden)



300 Personen an Marsch gegen Syngenta und Bayer
Am Samstag haben in Basel mehrere hundert Menschen für eine ökologischere und sozialere Landwirtschaft demonstriert.
https://telebasel.ch/2022/05/21/300-personen-an-marsch-gegen-syngenta-und-bayer
-> https://www.cash.ch/news/politik/300-personen-protestieren-basel-gegen-syngenta-und-bayer-1963550


Demonstrierende fordern in Küblis GR mehr Klimagerechtigkeit
Anlässlich des World Economic Forums (WEF) sind am Samstag rund 50 Demonstrierende von Küblis GR nach Klosters gewandert. Sie forderten mehr Klimagerechtigkeit und kritisierten das WEF.
https://www.watson.ch/schweiz/graub%C3%BCnden/563616565-demonstrierende-fordern-in-kueblis-gr-mehr-klimagerechtigkeit


Gewaltsamer Auftakt: Das Frühsommer-WEF startet mit Scharmützeln in Zürich
Das Frühsommer-WEF findet wegen Corona ausnahmsweise vom 22. bis 26. Mai 2022 statt. Blick ist am wichtigsten Treffen der globalen Wirtschaftselite hautnah dabei. An dieser Stelle halten wir dich auf dem Laufenden.
https://www.blick.ch/wirtschaft/gewaltsamer-auftakt-das-fruehsommer-wef-startet-mit-scharmuetzeln-in-zuerich-id17507852.html
-> https://www.watson.ch/schweiz/z%C3%BCrich/506767003-polizeieinsatz-gegen-unbewilligte-wef-demonstration-in-zuerich
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/im-oev-ist-es-wieder-fast-so-voll-wie-vor-der-pandemie?id=12194838 (ab 01:36)
-> https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/polizeieinsatz-gegen-unbewilligte-wef-demonstration-in-zuerich-00184275/


Mehrere hundert Personen an Demonstration für «Nur Ja heisst Ja»
Die Teilnehmenden der bewilligten Kundgebung in Zürich fordern, dass der Grundsatz nur «Nur Ja heisst Ja» gesetzlich verankert wird.
https://www.nau.ch/news/schweiz/mehrere-hundert-personen-an-demonstration-fur-nur-ja-heisst-ja-66183820
-> https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/demo-in-zuerich-mehrere-hundert-gehen-fuer-nur-ja-heisst-ja-auf-strasse-id17510199.html
-> https://www.tagesanzeiger.ch/hunderte-gehen-fuer-sexuelle-selbstbestimmung-auf-die-strasse-621052292813
-> https://tv.telezueri.ch/zuerinews/frauen-demonstrieren-nur-ja-heisst-ja-146588994
-> https://www.20min.ch/story/rund-1000-personen-demonstrieren-in-zuerich-fuer-neudefinition-von-vergewaltigung-574474602337


+++KNAST
Die Hindelbank-Gespräche
Einst thronte der Schultheiss von Bern auf dem Hügel über Hindelbank. Heute steht dort eine Haftanstalt. Die Geschichte des grössten Frauen¬gefängnisses der Schweiz – und Einblicke, präsentiert von den Insassinnen selbst.
https://www.republik.ch/2022/05/21/die-hindelbank-gespraeche


+++RECHTSPOPULISMUS
Putins nützliche Patrioten
Wie sollen die westlichen Länder mit dem Russland-Ukraine-Krieg umgehen? In den USA stellen sich noch nicht einmal die Rechtspopulisten offen auf Putins Seite. In der Schweiz haben sie weniger Hemmungen.
https://www.republik.ch/2022/05/21/putins-nuetzliche-patrioten


Junge SVP lancieren Anti-Chaoten Initiative
Im letzten Jahr gab es in der Stadt Zürich 294 Demonstrationen. Davon waren 96 unbewilligt. So auch die illegale Demo gegen das WEF, welche gestern stattgefunden hat. Die Junge SVP des Kantons Zürich will dies nicht mehr dulden und lanciert ihre Anti-Chaoten Initiative. Heute haben sie mit der Unterschriften-Sammlung begonnen.
https://tv.telezueri.ch/zuerinews/junge-svp-lancieren-anti-chaoten-initiative-146589006
-> https://www.20min.ch/story/die-junge-svp-lanciert-anti-chaoten-initiative-614580846735


+++BERN 2
derbund.ch 21.05.2022

Negativer Asylentscheid: Yosef B. – der Musterlehrling, der keiner mehr sein soll

Er ist integriert, geschätzt und auf bestem Weg zur Fachkraft: Yosef B., Elektroinstallateur-Lehrling in Spiez. Sein Problem: Der Kurde soll seine Ausbildung abbrechen und das Land verlassen.

Jürg Spielmann

Es sind Bilder, die Bände sprechen. Die Berufsschulklasse stellt sich am Bildungszentrum Interlaken (BZI) geschlossen hinter den jungen Mitlernenden. Steht für ihn ein. Und hin. Der Fototermin auf der Treppe sei für alle freiwillig, betont Lehrer Stefan Hänni vor seiner Klasse. Für die angehenden Elektroinstallateure im zweiten Lehrjahr ist das Mittun keine Frage.

Ortswechsel. Vor dem Sitz der Firma Beoelektriker im Spiezer Zentrum legt Samuel Matzinger seine Hand freundschaftlich auf die Schulter von Yosef B. «Wir wollen ihn unbedingt behalten», hält der Firmeninhaber sinnbildlich und unmissverständlich fest. Er kann nicht nachvollziehen, dass die Lehre seines Schützlings abgebrochen werden soll – erzwungen abgebrochen. «Das ist wider jede Menschenvernunft», sagt er.

Das Leben in Gefahr?

Die baren Fakten sind klar: Nach dem Staatssekretariat für Migration (SEM) hat im vergangenen Januar auch das Bundesverwaltungsgericht das Asylgesuch des jungen kurdischen Iraners abgelehnt. Vor dreieinhalb Jahren war er, 24-jährig, allein und ohne Papiere in die Schweiz geflüchtet. «Als Kurde bin ich in der Heimat ein Mensch zweiter Klasse», erzählt der junge Mann mit den dunklen Augen und dem hellwachen Blick. Er sei «diskriminiert und unterdrückt» worden. Mit fester Stimme ergänzt er, nie ein Verbrechen begangen zu haben.

Die Asylbehörden glaubten ihm nicht, dass sein Leben im Iran in Gefahr sei. Sie halten die Rückkehr für zumutbar. «Das sei sein Tod, sagte er mir klar», erklärt derweil Jürg Schneider. «Soll er in sein Land zurück, wo er mit einem Elektroschockgerät gefoltert wurde?», schiebt er, ein emeritierter Betriebswirtschaftsprofessor aus Köniz, fragend nach. Dies tut er rein rhetorisch. Den Asylentscheid hält er für «fragwürdig».

Jürg Schneider setzt sich seit sieben Jahren für Menschen wie Yosef B. ein, deren Berufs- und Ausbildungsvertrag wegen eines negativen Asylentscheides jäh abgebrochen werden soll. Er präsidiert den Verein Offenes Scherli in Niederscherli und ist Mitglied der Aktionsgruppe Nothilfe Bern. Er sagt: «Yosef ist ein absoluter Musterlehrling – und nicht der Einzige. Und sein Fall ist ein Musterfall, wie es nicht laufen sollte.» Er spricht von einem Konflikt der Asyl-, Integrations- und der Wirtschaftspolitik. «Erstere wird leider am stärksten gewichtet.» So könnten sich Entscheide unter der Bundeshauskuppel bisweilen interpretieren lassen (siehe Kasten unten).

Schneiders Ziel – und das zahlreicher Mitstreitenden – ist die sogenannte Flüchtlingslehre. «Sie sähe vor, dass ein Asylverfahren bis zur Beendigung der Ausbildung ausgesetzt wird.» Deutschland kenne diese Praxis längst, auch Österreich habe Vergleichbares umgesetzt. «In der Schweiz aber fehlt der politische Wille», sagt er. «Wir gehen davon aus, dass in den letzten Jahren landesweit 600 bis 800 Lehrlinge mitten in der Ausbildung ihre Lehre abbrechen mussten.» Offizielle Zahlen würden keine erhoben. «Das SEM hat keine Zahlen, wir haben sie anhand vorliegender Zahlen auf die Schweiz hochgerechnet», sagt er.

Unter grossem Druck

Der junge Mann mit dem kurzen schwarzen Haar findet im Sommer 2020 den Weg in Samuel Matzingers Spiezer KMU-Betrieb. Nach diversen Stationen im Kanton Bern: Vom Asylzentrum in Bern kommt er nach Langenthal, wo er ein Integrations- und Schulungsprogramm der Heilsarmee besucht, im Eiltempo die deutsche Sprache und, beachtlich gut, gar auch Berndeutsch lernt. Und sich um eine Lehrstelle bemüht. Im Iran hat Yosef B. nach eigenen Angaben das Gymnasium in Elektrotechnik abgeschlossen und drei Semester studiert. Sein Lehrmeister und sein Klassenlehrer attestieren ihm, «sehr intelligent, willig und breit interessiert» zu sein.

Eine Anfrage des Hilfswerks der Heilsarmee führt den Iraner schliesslich an den Thunersee. «Ich fühlte mich als Christ verpflichtet, dem jungen Flüchtling eine Chance zu geben», erinnert sich Samuel Matzinger. Doch nicht nur das: Einen Lehrling zu finden, sei schwieriger denn je. Es habe damals seitens des Hilfswerks geheissen, dass während der Lehre noch nie jemand ausgeschafft worden sei. Ein Trugschluss. Ein Vertrag für die dreijährige Lehre als Montageelektriker («wir dachten, wegen der Sprache») wird aufgesetzt und vom kantonalen Bildungsamt genehmigt.

Das kantonale Amt für Bevölkerungsdienste (Abev), das bei rechtskräftigen Entscheiden für die Ausreiseorganisation zuständig ist, schreibt auf Anfrage, dass es die Arbeitgeber ausdrücklich auf die Risiken eines derartigen Lehrantritts hinweise. «Der Arbeitgeber bestätigt mit seiner Unterschrift die Kenntnisnahme dieses Risikos. Es liegt im Ermessen der Arbeitgeber, die gängige Praxis zu kritisieren, seinen Informationspflichten kommt das Abev nichtsdestotrotz umfassend nach», heisst es. Samuel Matzinger wusste dies nicht, wie er beteuert.

Yosef B. findet schliesslich Unterschlupf in einem Spiezer Flüchtlingshaus, just hinter seinem Lehrbetrieb gelegen. Nach einem halben Jahr wird sein Chef von Berufsschullehrer Stefan Hänni kontaktiert. «Wir wechseln in die vierjährige Installateuren-Lehre», sagte dieser. Der Lehrling ist unterfordert. Nach dem ersten Ausbildungsjahr wird der Vertrag im Sommer 2021 angepasst. Doch kaum ist die Tinte trocken, beginnen die Behördenmühlen zu mahlen – mit dem letztlich abschlägigen Asylurteil im Januar. Sein Lehrling stehe seither Tag für Tag unter riesigem emotionalem Stress und Druck, weil er die Schweiz verlassen soll, sagt Samuel Matzinger. «Und trotz der ständigen Ungewissheit bringt er seine Leistung, im Betrieb wie in der Schule.»

«Leute gehen kaputt»

«Wir setzen uns auf allen Ebenen dafür ein, dass er zumindest die Lehre beenden kann», meint der Patron. Ein einziges offizielles Schreiben hat der Lehrmeister bis dato erhalten. Letzten Winter. «Da hiess es, dass ich Yosef ab dem 24. Februar nicht mehr beschäftigen dürfe.» Samuel Matzinger stellt darauf ebenso ein Gesuch um Verlängerung der Lehre wie der Lehrling und auch die Berufsschule. Eine Antwort vom Amt für Bevölkerungsdienste hätten sie bislang nicht erhalten. Die Bundesbehörde SEM gewährt schliesslich eine dreimonatige Erstreckung der Ausreisefrist bis zum 24. Mai.

Dann droht Yosef B. – inzwischen hat ihn die Familie des Drittlehrjahrstifts aufgenommen, damit er nicht ins Nothilfezentrum Gampelen umziehen muss –, dass er in ein Rückkehrzentrum kommt. «Und in diesem auf Kosten des Kantons und wie viele andere verharrt, weil er sich nicht zurück in den Iran wagt», so Schneider. Ohne jede Perspektive würden die Menschen dort von der Nothilfe leben. Oder dann irgendwann untertauchen. «Eine Beschäftigung gibt es nicht. Nach zwei bis drei Jahren sind sie kaputt», wählt er markige Worte. Mit dem Iran hat die Schweiz kein Rücknahmeabkommen. Ohne gültige Ausweispapiere wird niemand zurückgenommen. Das SEM fordert Yosef B. auf, sich um solche zu bemühen.

«Ich möchte die Lehre unbedingt beenden», sagt dieser. Sein Chef pflichtet ihm bei und meint: «Faktisch mache ich mich ab dem 24. Mai strafbar, wenn ich ihn weiterbeschäftige.» Den Lehrvertrag müsste er auflösen. Das Abev schreibt dazu: «Mit Eintritt der Wegweisungsverfügung erlischt auch eine bereits erteilte Bewilligung zur Erwerbstätigkeit.» In den Augen Samuel Matzingers ist es «wirtschaftlich ein Unsinn, wenn er die Lehre abbrechen muss». Yosef B. reife zu einer Handwerksfachkraft, wie sie in der Schweiz an allen Ecken und Enden fehle. «Man entzieht ihm die Lebensgrundlage und uns den Lehrling.»

Für die offene Lehrstelle ab Sommer hat der Spiezer Elektrounternehmer «keine einzige Bewerbung» erhalten. Er sagt: «Ich möchte, dass Yosef die Berufsschule weiterhin besuchen kann und wäre bereit, für die Kosten aufzukommen und Spenden in Höhe seines Lohnes auszurichten.» Das System sieht dies indes nicht vor.

«Es ist paradox…»

Jürg Schneider sieht den Patron und dessen Lehrling in einem echten Dilemma, «aus dem ihnen zwar viele heraushelfen möchten, was aber nicht so einfach geht». Auf die Frage, was nun unternommen werde, entgegnet er: «Wir bleiben dran.» Denn: Eine Ausbildung sei die beste Überbrückungshilfe, die man den willigen Flüchtlingen geben könne, egal, in welchem Land sie später leben würden.

«Yosef ist für unsere Klasse eine Bereicherung, ist integriert und einer der Klassenbesten», lobt ihn ein Mitschüler beim Besuch im BZI. «Müsste er uns verlassen, wäre das menschlich wie fachlich ein Verlust», ergänzt ihn eine Kollegin. Seine Situation beschäftige die Klasse, sagt Berufsschullehrer Stefan Hänni. «Auch ich würde ihn gerne bis zu seinem Lehrabschluss begleiten.»

Der Abschluss wäre im Sommer 2024, für Yosef B. ist das heute sehr weit weg. Präsent bleibt die Ungewissheit. Lehrmeister Samuel Matzinger sagt ohne jede Ironie: «Es ist, bei allem Leid, paradox: Käme Yosef aus der Ukraine, dürfte er bleiben und arbeiten.» Sein Lehrling fühle sich mitunter auch in unserem Land als Mensch zweiter Klasse.



Der Druck wächst, auch wegen Grossen und Markwalder

Der Lehrling, der wegsoll: Das Thema der erzwungenen Lehrabbrüche nach einem negativen Asylbescheid des Staatssekretariats für Migration (SEM) umtreibt die Politik seit geraumer Zeit. Die Berner Aktionsgruppe Nothilfe, welcher der Könizer Jürg Schneider angehört, lancierte zusammen mit welschen Mitstreitern eine Petition mit 10’000 Unterschriften. Deren Ziel: Lehren sollen auch nach einem negativen Asylentscheid beendet werden können.

Die Forderung wurde als Kommissionsmotion vom Nationalrat im Dezember 2020 mit 129 zu 54 Stimmen bei 7 Enthaltungen klar angenommen, im März 2021 dann vom Ständerat abgelehnt. Wenig später brachte der GLP-Präsident und Nationalrat Jürg Grossen aus Frutigen eine Motion ins Bundeshaus. Er forderte nach einem negativen Asylentscheid flexiblere Bedingungen für Lernende, er fand, die Möglichkeit für Ausnahmen würde zu selten genutzt und die Praxis auf Bundesebene sei zu restriktiv.

Der Nationalrat stimmte Grossens Motion im Herbst 2021 mit 118 zu 71 Stimmen zu. Wieder war es der Zweitrat, der am vergangenen 7. März die Vorlage knapp mit 22 zu 20 Stimmen verwarf. «Der Ständerat hat sich gegen die Motion Grossen ausgesprochen, weil zwei Standesvertreterinnen, die positiv zur Motion standen, kurzfristig wegen Krankheit ausfielen», bedauert Jürg Schneider. Auf dem Kurznachrichtendienst Twitter zeigte sich Jürg Grossen enttäuscht: «Bundesrätin Karin Keller-Sutter und der Ständerat haben die Zeichen der Zeit nicht erkannt.» Arbeitnehmende und ihr Potenzial gingen verloren. Die Justizministerin hatte sich in der Ratsdebatte gegen die Motion ausgesprochen.

Selbiges tat die Bundesrätin auch fünf Tage zuvor, als der Nationalrat am 2. März eine weitere, zielgleiche Motion von ihrer FDP-Parteikollegin Christa Markwalder klar mit 133 zu 56 Stimmen angenommen hat. «Mit fast allen Stimmen der FDP und der Mitte», weiss Schneider. «Im Herbst wird sich der Ständerat deshalb ein drittes Mal mit dem Thema beschäftigen müssen. Dann hoffentlich mit mehr Erfolg.» Auch Christa Markwalder will, dass Lehren nach einem negativen Asylentscheid beendet werden können. Davon profitierten alle Seiten, zeigte sie sich überzeugt.

Im Kanton Bern seien allein 2019 rund 60 Fälle von Lernenden bekannt, die in der Zwischenzeit einen negativen Asylentscheid erhalten hätten, schrieb Markwalder im Vorstoss. Nach Angaben des kantonalen Amts für Bevölkerungsdienste (Abev) befinden sich aktuell 14 Personen im hängigen Verfahren in einer Vor- oder Berufslehre. Anfang 2021 waren es deren 30 gewesen. Im selben Jahr seien 4 Lehren abgebrochen worden, im Jahr zuvor deren 7.

Seit der Einreichung der Motion 2020 sei einiges geschehen, fand Karin Keller-Sutter im Nationalrat. Etwa gebe es die Möglichkeit, die Ausreisefrist nach einer rechtskräftigen Wegweisung auf ein Jahr zu verlängern für Personen, die kurz vor dem Abschluss einer Ausbildung stünden. Wie das Abev dazu schreibt, setzte das SEM «in der Regel den Wegweisungsvollzug für die Dauer des Verfahrens aus. Nichtsdestotrotz erlischt eine Bewilligung zur Erwerbstätigkeit nach Ablauf der vom SEM bestimmten Ausreisefrist.»

Auch würden die Asylverfahren seit dem 1. März 2019 im beschleunigten Verfahren durchgeführt, argumentierte Karin Keller-Sutter. Ein erstinstanzlicher Entscheid fällt dabei binnen 140 Tagen. Das Problem werde sich in der Zukunft deshalb nicht mehr stellen, führte die Bundesrätin aus. Dem widerspricht Jürg Schneider: «Bei einem geschätzten Drittel aller Fälle kommt es zu einem sogenannten erweiterten Verfahren, die sich über Jahre erstrecken können. Damit ist dieses systematische Problem keineswegs gelöst.» Allein auf seinem Pult lägen 20 offene Fälle, «solche gibt es in allen Landesteilen». (jss)
(https://www.derbund.ch/yosef-b-der-musterlehrling-der-keiner-mehr-sein-soll-229544678738)