Medienspiegel 7. Mai 2022

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+++SCHWYZ
luzernerzeitung.ch 07.05.2022

«In Kürze werden wieder mehr Flüchtende kommen» – Leiter des Amts für Migration Schwyz über die Auswirkungen des Kriegs

Markus Blättler, Leiter Amt für Migration, über die Ukraine-Flüchtlinge, die Schwierigkeiten der Gemeinden und über den möglichen Kriegsverlauf.

Jürg Auf der Maur

Noch immer wird in der Ukraine heftig gekämpft. Wie ist die Flüchtlingssituation momentan im Kanton Schwyz?

Die Situation ist im Moment überschaubar, die Abläufe haben sich «eingependelt», seien es die Prozesse mit dem Bund, aber auch mit den Gemeinden. Das heisst aber nicht, dass die Bewältigung für die Akteure leicht ist, denn die Zahl der Ankommenden ist auf einem hohen Niveau.

Was heisst das?

Noch fehlt uns aufgrund der parallelen Wege, wie die ukrainischen Flüchtlinge nach Schwyz kommen, der genaue Überblick. Aber der Nebel lichtet sich. Aufgrund des Lastenausgleichs des Bundes sind in den letzten zwei Wochen wenige Personen dem Kanton Schwyz zugewiesen worden. Dies wird sich in Kürze ändern, und darauf müssen wir, Kanton und Gemeinden, uns vorbereiten. Und was wir nicht vergessen dürfen: Es gibt noch eine Asylsitua­tion ausserhalb der Ukraine-Thematik – und die ruht nicht!

Wie schätzen Sie die ganze Situation in der Ukraine ein?

Dazu machen sich andere Köpfe und Experten viele Gedanken. Vieles hängt vom weiteren Kriegsverlauf ab. Sollte sich die Front mittelfristig noch weiter nach Westen verschieben und sich eventuell entlang des Dnjepr bis nach Odessa erstrecken, würde dies zu weiteren grösseren Fluchtbewegungen führen. Inwieweit diese Flüchtlingsströme dannzumal die Schweiz erreichen würden, bleibt Spekulation.

Die Gemeinden haben an ihren Versammlungen aufgerufen, Plätze zu melden. Sind sie noch immer am Anschlag?

Keine Gemeinde hat einfach so freien Wohnraum auf Vorrat, und erst recht nicht in der Menge und so kurzfristig, wie es diese Ausnahmesituation verlangt. Daher habe ich grossen Respekt vor den Anstrengungen, welche die Verantwortlichen in den Gemeinden unternehmen, um den Ansprüchen gerecht zu werden, sei dies bei der Unterbringung oder der Einschulung der schulpflichtigen Kinder. Ihnen hilft dabei sicher die grosse Solidarität in der Bevölkerung.

Wie viele Flüchtlinge sind derzeit im Kanton Schwyz?

Total sind es – Stand diesen Mittwoch – total 1989 Personen aus der Ukraine. 585 davon sind privat untergebracht. In den Durchgangszentren Stoos und Ibach sind es rund 60 Personen. Der Kanton hat noch 169 verfügbare Plätze, die Gemeinden müssen noch 258 suchen.

Wie viele davon sind privat untergekommen?

Diese Unterscheidung machen wir nicht mehr, aber in den Anfängen waren es sicher 80 Prozent. Heute haben wir die Unterscheidung wie vorhin aufgezeigt. «Privat und Gemeinden» sowie in «kantonalen Strukturen». Also im Moment 90 zu 10 Prozent.

Man hört von vielen Problemen, die eine solche Privatunterbringung mit sich bringt. Kennen Sie viele solcher schlechter Geschichten?

Bis jetzt haben wir keine Kenntnisse davon …

Wie werden die Gastfamilien vom Kanton unterstützt?

Für die finanzielle Unterstützung von ukrainischen Staatsangehörigen in Gastfamilien und Privatunterkünften ist die Gemeinde zuständig. Die Gemeinden erhalten von Bund/Kanton Pauschalen pro Person, welche in Teilen für eine Unterstützung genutzt werden kann. Wir werden eine Informations- und Austauschveranst­altung für Geflüchtete aus der Ukraine sowie deren Gastgeberinnen und Gastgeber veranstalten.

Wo sehen Sie die grössten Probleme? Sprachlich? Einschulung?

Ja, natürlich ist die Sprache oftmals das klassische Hindernis.

Finden sich im Kanton Schwyz genügend Übersetzer?

Es haben sich von Anfang an viele Leute – etwa 30 – bei uns im Amt gemeldet und ihre freiwillige Unterstützung angeboten. Wir haben diese Kontakte gebündelt, und komin, das Kompetenzzentrum für Integration im Kanton Schwyz, koordiniert deren Einsätze als interkulturell Dolmetschende, dies zugunsten von Behörden, Schulen, RAV etc.

Es reisen offenbar ja auch immer viele wieder zurück. Haben Sie da einen Überblick?

Die Zahl ist sehr, sehr klein: Soweit sie uns bekannt ist, ist sie vernachlässigbar.

Gibt es keine Probleme mit «bestehenden» Asylbewerbenden aus anderen Kulturkreisen, die sich benachteiligt fühlen?

Es gibt keine Probleme, aber die erkannte und wahrgenommene «Ungleichbehandlung» wie bei ÖV oder Handy-Abo stösst nicht gerade auf Verständnis – was ich persönlich nachvollziehen kann.

Man hört bei der Schweizer Bevölkerung auch, die Ukrainer würden bevorzugt behandelt. Es sei ja der Mittelstand gekommen, der es nicht nötig hätte. Was sagen Sie zu solchen Ansichten?

Das mit der Bevorzugung sind halb private Angebote der allerdings staatsnahen Unternehmungen, was schon zu entsprechenden Aussagen führen kann. Zum Thema «Mittelstand, der dies nicht nötig hat»: Dies hat man auch schon bei anderen Flüchtlingsströmen gesagt. Dazu sage ich nur eins, die russische Bombe, welche auf ein ukrainisches Wohnhaus fällt, unterscheidet nicht, ob sich darin der Mittelstand, die Sozialfälle oder sogar reiche Menschen befinden, es sind einfach Menschen.



Zur Person

Markus Blättler
Geburtsdatum: 11. Mai 1958
Zivilstand: verheiratet, ein erwachsener Sohn
Lieblingsgetränk: Wasser, Bier, Caipirinha, je nach Situation
Die App brauche ich am liebsten: Spotify Music App
Da erhole ich mich am besten: im Wald beim Laufen (Rennen), Musikhören und Lesen
Lieblingsessen: italienisch und asiatisch
Lieblingslektüre: Thriller-Genre mit politischem Hintergrund
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/schwyz/interview-in-kuerze-werden-wieder-mehr-fluechtende-kommen-leiter-des-amts-fuer-migration-schwyz-ueber-die-auswirkungen-des-kriegs-ld.2286845)


+++ZÜRICH
«Junge Sans-Papiers haben Angst, ihre ganze Familie zu outen»
Nur wenige Sans-Papiers in der Schweiz machen nach der Schule eine Ausbildung. Die SP-Nationalrätin Céline Widmer setzt sich dafür ein, dass sich das ändert. Mit Erfolg: Eine entsprechende Motion ist erst vergangene Woche von der Staatspolitischen Kommission verabschiedet worden. Warum das gerade für junge Menschen ohne geregelten Aufenthaltsstatus wichtig ist, die «Züri City Card» dieses Problem aber nicht lösen kann.
https://tsri.ch/zh/sans-papiers-jugendliche-kinder-ausbildung-celine-widmer-nationalrat.2SshM6kKzpee4AKO


+++SCHWEIZ
Ukraine Krieg: Schweiz hat nur dank Corona genug Flüchtlingsbetten
Der Ukraine-Krieg hat Millionen Menschen zur Flucht gezwungen. Auch die Schweiz nimmt Geflüchtete auf – und hat dank Corona genügend Platz.
https://www.nau.ch/news/schweiz/ukraine-krieg-schweiz-hat-nur-dank-corona-genug-fluchtlingsbetten-66166099


+++EUROPA
Frontex: EU-Grenzschutzagentur im freien Fall
Frontex, die Europäische Agentur für die Grenz- und Küstenwache, wurde 2004 gegründet, um die EU-Mitgliedstaaten und Schengen-Länder beim Schutz der Außengrenzen zu unterstützen. 2005 nahm Frontex die Arbeit auf – und wurde seither europaweit massiv ausgebaut.
https://www.arte.tv/de/videos/107710-123-A/frontex-eu-grenzschutzagentur-im-freien-fall/


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
„In Bern wird momentan gegen die Kriegshandlungen der Irakischen Armee in der Şengal-Region demonstriert. Türkei, NATO, KDP & irakischer Armee versuchen gemeinsam gegen die Selbstverwaltung & den Widerstand der Guerilla anzukommen. Sie werden alle scheitern. #BijiBerxwedanaGerilla„
https://twitter.com/i/status/1522915100549652480


Basler Polizeikommandant zeigt sich zerknirscht
Der Basler Polizeikommandant sagt im Interview mit der „Basler Zeitung“, der Einsatz am 1. Mai sei kein „Ruhmesblatt“ gewesen. Man habe die Gewaltbereitschaft des schwarzen Blocks unterschätzt.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/basler-polizeikommandant-zeigt-sich-zerknirscht?id=12187704


Aktion der Klima-Grosseltern am Bahnhof Luzern
https://www.tele1.ch/nachrichten/aktion-der-klima-grosseltern-am-bahnhof-luzern-146425608


+++KNAST
derbund.ch 07.05.2022

Muttertag im Gefängnis: Hier teilt die Mama mit dem Kind die Zelle

Bis zum dritten Geburtstag können die Kleinen im Frauengefängnis Hindelbank wohnen, da stellen sie noch keine Fragen. Ein Augenschein bei Plüschtieren und Rutschbahn hinter Gittern.

Regina Schneeberger, Franziska Rothenbühler(Fotos)

An der Garderobe hängen kleine Daunenjacken in Pastellfarben, eine Bommelmütze, ein Velohelm mit aufgedrucktem Delfin. Im hellen Aufenthaltsraum laden eine Murmelbahn, eine Miniküche, ein Trottinett und vieles mehr zum Spielen ein. Es ist still, wie in einer Kita, bevor die Kinder eintreffen. Einzig das Brummen eines Rasenmähers ist zu hören. Alles normal also – nur dass der Spielplatz von einem hohen Zaun und Stacheldraht umgeben ist.

Wir sind im Schloss Hindelbank, dem einzigen Frauengefängnis in der Deutschschweiz. Rund 100 Frauen sitzen hier ihre Strafe ab, manche wenige Monate lang, einige über mehrere Jahre oder gar Jahrzehnte. Drogenhandel, Mord, Betrug – die Gründe, warum die Frauen im Gefängnis sind, sind so unterschiedlich wie ihre Geschichten.

Eines aber haben viele Insassinnen gemeinsam: Sie sind Mütter. 60 Prozent der Frauen haben Kinder. So ist die Justizvollzugsanstalt Hindelbank nicht nur das einzige Frauengefängnis weit herum, sondern auch das einzige, in dem Mädchen und Jungen leben. Passen die Umstände, können Mutter und Kind in einer Familienzelle wohnen, bis der Nachwuchs drei Jahre alt ist.

 Auf der Muki-Wohngruppe treffen wir deren Leiterin Eva Straumann und Betreuerin Silvia Messerli. Mit den Insassinnen selbst können wir nicht sprechen, die Gefängnisleitung will die Frauen vor zu viel Öffentlichkeit schützen. Sie sind an diesem Nachmittag bei der Arbeit in einem der gefängnisinternen Werke, etwa in der Küche, in der Wäscherei oder im Stoffwerk. Erst gegen 16 Uhr kommen sie zurück. Wir setzen uns in den kleinen Garten, der zur Wohngruppe gehört.

Dass es in der Muki-Wohngruppe nicht nach Gefängnis aussieht, hat einen Grund. «Die Kinder sind nicht gefangen», sagt Eva Straumann. Sie sollen unter möglichst normalen Umständen aufwachsen. Derzeit wohnt lediglich ein zweijähriges Mädchen mit seiner Mutter hier. Platz hätte es für sechs Frauen mit ihrem Nachwuchs. «Die Bindung zwischen Mutter und Kind wird in den ersten Jahren besonders stark aufgebaut», sagt Straumann. Deshalb sollten die Insassinnen, wenn es geht, nicht von ihren Babys oder Kleinkindern getrennt werden.

Da die Kinder nicht in Haft sind, können sie das Gefängnis auch regelmässig verlassen, indem sie die Wochenenden und Ferien beim Vater oder bei Verwandten verbringen. Und wochentags besuchen sie die Kindertagesstätte im Dorf. Ab vier Monaten ist die Kita Pflicht. «Für die Entwicklung der Kinder ist das wichtig», sagt Straumann. So würden sie lernen, mit anderen in der Gruppe zu interagieren. Ausserdem müssten die Mütter während dieser Zeit arbeiten und könnten sich nicht um die Betreuung kümmern.

Angst vor Stigmatisierung

In der Kita würden die Kleinen nicht gross auffallen, so Silvia Messerli. Angst vor einer Stigmatisierung hätten aber manche Insassinnen. «Sie schauen, dass ihre Kinder perfekt gekämmt und mit den schönsten Turnschuhen ins Dorf gehen.» Obwohl Gummistiefel manchmal praktischer wären, sagt Messerli und schmunzelt. Nach dem Frühstück bringen Mitarbeiterinnen der Wohngruppe die Kinder jeweils in die Tagesstätte.

«Das Muttersein schützt nicht vor Straftaten», sagt Eva Straumann. Oftmals hätten die Delikte gar etwas mit der Mutterrolle zu tun. Beispielsweise würden manche Frauen Drogen transportieren, um die finanzielle Situation für sich und die Familie zu verbessern. Wegen Drogenhandel sitzen in Hindelbank am meisten Verurteilte, gefolgt von Tötungsdelikten. Vielfach handle es sich dabei um Beziehungsdelikte, um Frauen, die selbst viel Gewalt erfahren hätten, sagt Straumann.

In der Muki-Wohngruppe leben neben der Mutter mit Kind neun weitere Insassinnen. Wer hier wohnt, hat beim Eintritt keine Tötungs- und auch keine Sexualdelikte begangen. Weil sonst der Kontakt zu den Kindern nicht zu verantworten wäre. Und weil die Insassinnen hier mehr Freiheiten hätten, wie Eva Straumann erklärt. So sind die Zellen nachts nicht abgeschlossen, lediglich die Türen zum Haus sind verriegelt. Auch können die Frauen jederzeit in einen kleinen, eingezäunten Aussenbereich. Wenn das Baby beispielsweise Koliken habe, müsse sich die Mutter mit dem Kind bewegen können.

Zudem sind die Zellen grösser. Wie eine solche aussieht, zeigt sich im Obergeschoss. Wir betreten das Zimmer, in dem die Frau, die eine mehrjährige Haftstrafe absitzt, und ihre kleine Tochter wohnen. Auf dem Doppelbett liegen bunte Kissen und Stofftiere. Die Wände sind mit Briefen und Fotos von Freunden und Familie tapeziert – ein Stück Aussenwelt.

Bilder seien für die Frauen wichtig. «So können sie auch hier drin zeigen, wer sie sind» sagt Straumann. Auf vielen Fotos strahlt die Kleine in die Kamera, breites Lachen, braune Locken, haselnussfarbige Augen. Selbst kann die Mutter keine Bilder machen, elektronische Geräte wie Fotoapparate und Handys sind verboten. Zu gross ist die Gefahr, dass sie für kriminelle Machenschaften genutzt würden.

Während die Insassinnen einmal im Jahr von den Mitarbeitenden fotografiert werden, entstehen vom Mädchen einmal im Monat Bilder. «Damit sie eine Geschichte hat», sagt Straumann. Die Mutter solle später aber selber entscheiden können, ob sie dem Kind die ganze Geschichte erzähle. So würden sie darauf achten, dass auf den Bildern nichts zu sehen sei, was auf das Gefängnis hindeute, etwa Gitter oder Zäune.

Keine Erinnerungen

Dass die Kleinen bis dreijährig hier sein können, hat ebenfalls mit ihrer Geschichte zu tun. «Die Kinder sollen keine aktive Erinnerung an die Zeit in Haft haben», so Straumann. In der Regel würden deshalb nur Mütter aufgenommen, die eine kürzere Strafe absitzen müssten. Sodass sie entlassen werden, bevor man sie vom Kind trennen muss. Doch nicht immer geht die Rechnung auf.

Vor einiger Zeit war eine Brasilianerin mit ihrem Sohn in Hindelbank. Sie wurde ausgeschafft, als das Kind knapp vier Jahre alt war. Für diese kurze Zeit wollte man die beiden nicht mehr trennen. Das sei in den letzten Monaten sehr schwierig gewesen, erinnert sich Eva Straumann. Der Junge habe angefangen, Fragen zu stellen, die jüngere Kinder nicht stellen würden, habe wissen wollen, wie und wann er denn wegfliegen müsse.

Wenn Kinder mit ihren Müttern ausgeschafft würden, wenn man nicht wisse, unter welchen Bedingungen sie in ihrer Heimat aufwachsen würden, sei das schon schwierig, so Silvia Messerli. «Aber wir können die Welt hier nicht ändern.» Alles, was sie tun könnten, sei, die Frauen in ihrer Mutterrolle zu stärken. «Nur weil eine Frau in Haft ist, ist sie nämlich noch lange keine schlechte Mutter.»

Backen für den Besuch

Die meisten Mütter in Hindelbank sind jedoch ohne Nachwuchs hier. Weil die Kinder älter sind als drei Jahre, weil sie im Ausland leben oder weil sie fremdplatziert wurden. Ob die Frauen bei Haftantritt der Verantwortung der Obhut gewachsen sind, entscheidet unter anderem die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde.

Doch auch diese Insassinnen sollen sich regelmässig mit ihren Töchtern und Söhnen austauschen können. Die Beziehung zu den Kindern sei sehr wichtig für die Resozialisierung, so Straumann. «Wenn die Frauen es nicht für sich machen, dann vielleicht für die Kinder.» Telefonanrufe und Videocalls sollen helfen. Und fünfmal im Monat kann der Nachwuchs die Mutter besuchen. «Die Vorfreude bei den Frauen ist jeweils gross, oft backen sie für die Familie.»

Im Film sitzen die Insassen in solchen Situationen hinter Panzerglas, werden von den Wärtern überwacht. In der Realität sieht das anders aus. Im Besucherzimmer gibt es kein Panzerglas und keine Überwachung. Stattdessen Tische, Stühle, einen Snackautomaten und einen Schrank voller Spiele und Bücher. Letzterer ist neu. Vielfach hätten die Kinder anfangs gefremdet, seien erst gegen Ende des zweistündigen Besuchs aufgetaut. Nun könnten sie gemeinsam etwas zum Spielen aussuchen, das breche das Eis zwischen Mutter und Kind, sagt Messerli. Ganz ohne Kontrolle geht es aber nicht. So wird der Schrank nach den Besuchen überprüft und danach abgeschlossen – sodass nichts reingeschmuggelt werden kann.

Die Schuldgefühle

Obschon man im Gefängnis eine gewisse Normalität schaffen will, ist der Entzug der Freiheit immer wieder spürbar. Speziell wohl an diesem Sonntag. Wie alle Feiertage sei der Muttertag schwierig für die Frauen, sagt Silvia Messerli. Weil sie von ihren Liebsten getrennt seien. «Und weil sie die Schuldgefühle dann besonders quälen.»



Kaum Frauen im Gefängnis

In der Schweiz sind lediglich 6 Prozent aller Menschen in Haft Frauen. Es braucht also viel weniger Justizvollzugsanstalten für Frauen als für Männer. In der Deutschschweiz ist jene in Hindelbank die einzige. In der Westschweiz gibt es in Lonay bei Lausanne ein weiteres Frauengefängnis.

Seit 126 Jahren ist das Schloss in Hindelbank ein Gefängnis. Eine Berner Patrizierfamilie liess das Schloss vor 300 Jahren erbauen. Im 19. Jahrhundert erwarb es der Kanton und machte es zu einer Anstalt. Im sogenannten «Weiberhaus» wurden nicht nur strafrechtlich Verurteilte untergebracht, sondern auch Frauen, deren Lebensweise nicht den vorherrschenden Normen und Wertvorstellungen entsprach.

Heute bietet die JVA Hindelbank insgesamt 107 Haftplätze im offenen und im geschlossenen Straf- und Massnahmenvollzug, und sie beschäftigt 110 Mitarbeitende. Direktorin ist seit elf Jahren die Theologin und Sozialarbeiterin Annette Keller. (rsc)
(https://www.derbund.ch/wenn-das-kind-mit-der-mama-die-zelle-teilt-386594630051)


+++FRAUEN/QUEER
Freikirchen versuchen noch immer, Homosexuelle «umzupolen» – jetzt regt sich Widerstand
Glaubensgemeinschaften sehen sich als Hüter von Moral und Ethik. Pastoren von radikalen Freikirchen fühlen sich deshalb als Experten bei der Beurteilung von Gut und Böse und taxieren die Sünden. Weit oben in der Skala angesiedelt ist das angebliche Fehlverhalten in sexuellen Belangen. Einen Spitzenplatz nimmt dabei die Homosexualität ein, die als eine Art Ursünde angesehen wird. Doch damit manövrieren sich manche Freikirchen direkt in Teufels Küche.
https://www.watson.ch/blogs/sektenblog/933575831-freikirchen-wollen-homosexuelle-umpolen-jetzt-regt-sich-widerstand


+++RASSISMUS
Berner Schoggi-Hersteller : LKW mit Aufschrift «M*****könig» sorgt auf Twitter für Empörung
Die Berner Firma Chocolat Ammann hat ihre Süssigkeiten längst umbenannt. Dennoch fuhr am Donnerstag ein Lastwagen mit den Aufschriften «M*****könig» und «M*****prinz» durch Bern. Wie kommt das?
https://www.20min.ch/story/lkw-mit-aufschrift-m-koenig-sorgt-auf-twitter-fuer-empoerung-767976475079


Podium zu Integration: «Redaktionen widerspiegeln rassistische Gesellschaft»
Rund ein Drittel der Personen in Zürich haben keinen Schweizer Pass. Weder in der Berichterstattung noch in den Redaktionen sind diese Menschen mit Migrationshintergrund entsprechend vertreten. Warum? Und wie kann sich das ändern? Diesen Fragen widmete sich das letzte Podiumsgespräch unseres Fokusmonats Journalismus.
https://tsri.ch/zh/podium-journalismus-integration-diversitaet-rassismus-migrationshintergrund-redaktionen-medien-fokusmonat.lOU5Vo95eLazV2q3


+++RECHTSEXTREMISMUS
Neonazi-Partei „III. Weg“: Die rechte Sekte
Der „III. Weg“ ist dabei, im deutschen Rechtsextremismus die Führung zu übernehmen. Und er profiliert sich mit der Nähe zu ukrainischen Nationalisten.
https://taz.de/Neonazi-Partei-III-Weg/!5850506/


«Wer ein Nazi ist, bestimmt Putin» – Echo der Zeit
Diese Woche hat der russische Aussenminister Sergej Lawrow mit antisemitistischen Äusserungen Schlagzeilen gemacht. International ist Lawrow deswegen viel Empörung entgegengeschlagen. Wie sieht das in Russland aus? Gespräch mit Pavel Lokshin, Russland-Korrespondent der deutschen Zeitung «Die Welt».
https://www.srf.ch/audio/echo-der-zeit/wer-ein-nazi-ist-bestimmt-putin?partId=12187719
-> https://www.srf.ch/news/international/judentum-in-russland-antisemitische-aeusserungen-wer-ein-nazi-ist-bestimmt-putin


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Ukraine-Krieg: Mehrheit der Ungeimpften glaubt an eine Verschwörung
Telegram-Nutzer zwischen 30 und 50 Jahren sind am anfälligsten für pro-russische Propaganda
https://www.derstandard.at/story/2000135524755/ukraine-krieg-mehrheit-der-ungeimpften-glaubt-an-eine-verschwoerung?ref=rss


Die Welt der Alice Schwarzer: Köppel ist Fan und Putin das «kleinere Übel»
Bald kommt ein schöner, affirmativer Dokfilm über Deutschlands grösste und einst irrsinnig verdienstvolle Feministin ins Kino. Leider blendet er viele kritische Punkte aus. Wir zählen ein paar davon auf.
https://www.watson.ch/!918059904


Putins fünfte Kolonne: Deutscher Publizist Jürgen Elsässer gastiert in Österreich
Bei der Corona-Demonstration am 1. Mai in Wien waren nicht nur Russland-Fahnen allgegenwärtig, auch das Z-Symbol war zu sehen
https://www.derstandard.at/story/2000135418000/putins-fuenfte-kolonne-deutscher-publizist-juergen-elsaesser-gastiert-in-oesterreich



luzernerzeitung.ch 07.05.2022

Massnahmen-Gegner errichten 3,6 Meter hohes «Corona-Mahnmal» – ohne Bewilligung

In Sisikon wurde ein fast ein Tonnen schweres Denkmal errichtet, das an die «unverhältnismässigen Grundrechtseinschränkungen» während der Pandemie erinnern soll, wie das Bündnis der Urkantone schreibt. Die Gemeinde prüft nun, ob es dafür eine Bewilligung braucht.

Martin Messmer

Seit Ende April hat die Gemeinde Sisikon oberhalb der Tellsplatte ein neues Denkmal: Es handelt sich um ein grosses «Coronamahnmal», das dort «von Steinbildhauer Cide Rüefli aus Grenchen SO mit Unterstützung des Bündnisses der Urkantone aufgestellt wurde», wie das Aktionsbündnis in einer Mitteilung schreibt. Die Gruppierung organisierte etliche Kundgebungen, um gegen die Coronamassnahmen des Bundes zu demonstrieren.

«Das Mahnmal stellt Justitia, die Göttin der Gerechtigkeit, mit schräg gestellter Waage und offenen Augen dar und soll an die unverhältnismässigen Grundrechtseinschränkungen der letzten zwei Jahre erinnern», wird in der Mitteilung beschrieben. Das steinerne Mahnmal ist 3,6 Meter hoch und 900 Kilogramm schwer; sein Erschaffer Rüefli hat nach eigenen Angaben an 47 Coronademos teilgenommen. Für den Bau des Mahnmals arbeitete er neun Monate.

«Evidenz der Gefährlichkeit der Pandemie nicht belegt»

Am Fuss der grossen Skulptur ist eine Inschrift angebracht, die den Titel «Corona Nachdenk-Ort» trägt. Darin heisst es unter anderem: «Im Jahre 2022 waren die Grundrechte immer noch nicht wiederhergestellt, die Evidenz zur Gefährlichkeit der Pandemie nicht belegt und die Aufarbeitung dieser Grundrechts-Verletzungen wurde in die Zukunft verlegt.» Gezeichnet ist die Inschrift mit «Dipl. Steinbildhauer, Alcide Rüefli, Grenchen, Februar 2022». Am Freitag sei er extra nochmals nach Sisikon gefahren, um seine Skulptur sturmsicher zu machen.

Am Ende der Medienmitteilung schreibt das Bündnis der Urkantone: «Das Aktionsbündnis Urkantone bedankt sich bei Cide Rüefli für das eindrucksvolle Denkmal, das die Erinnerung an das Unrecht der vergangenen zwei Jahre Coronapolitik wachhalten wird.»

Eine Baubewilligung für die Skulptur liegt nicht vor, wie Sisikons Gemeindepräsident Timotheus Abegg (parteilos) auf Anfrage erklärte: «Von diesem Denkmal habe ich noch keine Kenntnis. Und eine Baubewilligung dafür liegt definitiv nicht vor.»

Auch Bauchef Sebi Gisler sagt, er wisse weder etwas von einem Coronamahnmal noch von einer Baubewilligung.

Gemeinde prüft, ob das Coronadenkmal eine Bewilligung braucht

Gemeindepräsident Abegg verweist darauf, dass das Mahnmal auf einem privaten Grundstück aufgestellt wurde – was allerdings nicht unbedingt heisst, dass es nicht bewilligungspflichtig ist. Abegg sagt: «Ab einer gewissen Grösse braucht es eine Baubewilligung, einen Hühnerstall in seinem Garten kann man ja auch nicht einfach so bauen. Bei der Grösse dieser Skulptur, einem eigentlichen Monument, würde ich per se sagen, sie sei bewilligungspflichtig.»

Er werde jetzt innerhalb der Gemeindeverwaltung die nötigen Schritte einleiten, dann werde entschieden, wie weiterverfahren wird.

Bündnis der Urkantone will nicht für Coronadenkmal verantwortlich sein

Beim Bündnis der Urkantone weist man die Verantwortung für eine allenfalls fehlende Baubewilligung des Coronadenkmals von sich. Bündnis-Sprecher Josef Ender, der die Medienmitteilung unterzeichnet hat, sagt:   «Künstler Cide Rüefli hat den Ort ausgewählt, und der private Grundstückbesitzer hat zugesagt. Rüefli hat uns dann angefragt, ob wir das Denkmal zusammen mit dem Bündnis der Urkantone aufstellen könnten.»

Das Bündnis der Urkantone habe zugesagt, weil es sich inhaltlich mit den Aussagen des Coronadenkmals identifizieren könne, so Ender weiter. Für alle weiteren Fragen, zum Beispiel, wie teuer die Skulptur war und wer sie finanziert hat, verweist Ender an Künstler Rüefli.

«Ich bin einfach der Künstler, mehr nicht»

Künstler Rüefli beziffert den Wert der Arbeit, die er für die Statue aufgewendet habe, auf 80’000 Franken. Für eine allfällige Baubewilligung sei auch er nicht zuständig, der Ort auf dem privaten Grundstück in Sisikon sei ihm angeboten worden, er sei einfach der Künstler, mehr nicht.

Der Standortvermittler* möchte nicht namentlich erwähnt werden. Er sagt: «Ich vernahm aus dem Umfeld des Künstlers, dass ein Standort gesucht wird für seine Skulptur. Es gab auch Privatpersonen, die sie in ihrem Garten aufstellen wollten, aber ein Denkmal muss man zeigen.»

Mit einer Baubewilligung habe er sich nicht auseinandergesetzt, da die Skulptur wieder entfernt werde. Es sei nämlich vorgesehen, dass die Skulptur auf eine «Tour de Suisse» gehe und an verschiedenen Orten aufgestellt werde.

Unklarheit herrscht darüber, wer und wie tatsächlich die Zusage gegeben hat, dass das Coronadenkmal zum Start der «Tour de Suisse» in Sisikon aufgestellt wird. Sie steht neben dem Restaurant Tellsplatte; dort, wo früher ein Telldenkmal aufgestellt war. Dessen Geschäftsführer will damit nicht in Verbindung gebracht werden, weder mit einer allenfalls fehlenden Bewilligung noch inhaltlich. Er verweist darauf, dass ihm gesagt worden sei, der Besitzer des Grundstücks sei einverstanden.

Restaurantbesitzer Paul Franz Aschwanden, dem das gesamte Areal Tellsplatte gehört, weiss auf Anfrage nichts mehr von einer Zusage, und er distanzierte sich vom Coronadenkmal.

Der Standortvermittler freut sich derweil über die Unklarheiten rund um die Skulptur: «Wenn es jetzt etwas Aufruhr um das Coronadenkmal gibt, dann finde ich das gut.»

*Name der Redaktion bekannt.
(https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/uri/sisikon-ur-massnahmen-gegner-errichten-36-meter-hohes-corona-mahnmal-ohne-bewilligung-ld.2286164)


+++FUNDIS
derbund.ch 07.05.2022

Sekte aus den USA: Scientology zügelt von Bern ins Dorf

Der Berner Ableger von Scientology hat seit Jahren Mühe, Nachwuchs zu finden. Nun musste die Gruppierung ihr Haus im Monbijouquartier verlassen.

Adrian Hopf-Sulc

Tom Cruise und John Travolta, prunkvolle Gebäude und eine perfekte Inszenierung in den eigenen Medien: Das ist Scientology in den USA. In der Schweiz ist alles etwas weniger glamourös. Und in Bern noch etwas kleiner als in anderen Schweizer Städten.

Bis Ende April trafen sich die Berner Scientologen in einem alten, kleinen Haus beim Monbijoupark. Dann wurden die Schriftzüge «Scientology Kirche» und «Dianetik Beratung» abgeschraubt und das Haus leer geräumt. Die Hauseigentümerin hat den Mietvertrag mit Scientology gekündigt, weil sie das Gebäude gemäss Baugesuch zu einer grossen Wohngemeinschaft umbauen will.

Die religiöse Gruppierung hat eine neue Bleibe gefunden, jedoch ausserhalb der Stadtgrenze: einen Gewerbebau in Frauenkappelen. Also weiterhin weit weg vom Hollywood-Glamour der kalifornischen Scientology-Zentrale.

Der Science-Fiction-Autor L. Ron Hubbard gründete Scientology 1953 in den USA. Mit (pseudo-) wissenschaftlichen Methoden sollten die Mitglieder höhere Bewusstseinsstufen erlangen. Ende der 70er-Jahre öffnete in Bern die erste Niederlassung von Scientology in der Schweiz, in den 80ern florierte sie.

Inzwischen ist das Durchschnittsalter der Berner Scientologen deutlich gestiegen. Und: Die Mitgliederzahl in Bern ist geschrumpft. Fällt die Ideologie in Bern nicht auf fruchtbaren Boden? Die Präsidentin von Scientology Bern, Edith Hilfiker, wollte nicht mit dieser Zeitung sprechen.

5500 oder 500 Mitglieder?

Hilfiker verweist auf Jürg Stettler, den Mediensprecher von Scientology in der Schweiz. Er führt den Mitgliederschwund darauf zurück, dass die später aufgebauten Scientology-Gemeinden in Zürich, Basel und Lausanne viele Leute aus Bern angezogen hätten. Bern ist heute mit knapp zehn hauptamtlichen Mitgliedern die kleinste der fünf als Vereine organisierten Scientology-Kirchen in der Schweiz. Basel zählt laut Stettler deren 80, Zürich sogar 100 Mitglieder, die Voll- oder Teilzeit für Scientology arbeiten. Wobei die Rede nicht von bezahlten Anstellungen ist. Die vollamtlichen Mitglieder arbeiten in der Regel gratis oder für symbolische Beiträge und müssen sich ihren Lebensunterhalt mit anderen Mitteln finanzieren.

Stettler beziffert die Zahl der Scientologen in der Schweiz auf etwa 5500, «wobei nicht alle regelmässig in den Vereinen aktiv sind». Davon seien schätzungsweise 300 bis 400 Personen mit der Berner Niederlassung verbunden. Georg Schmid von der evangelischen Fachstelle Relinfo nennt auf Anfrage eine deutlich tiefere Zahl: «Scientology zählt in der Schweiz nach Angaben von Ehemaligen nur noch rund 500 aktive Mitglieder, gegenüber 3000 im Jahr 1990.»

Bekannte Berner Namen

Ein bekannter Name unter den Mitgliedern von Scientology in Bern ist Housi Knecht. Der Künstler und Eisenplastiker hat eben beim Umzug nach Frauenkappelen mitgeholfen. Knecht will als «einfaches Mitglied» nicht für Scientology sprechen. Auf Anfrage sagt der langjährige Scientologe aber, dass das aktuelle Weltgeschehen zeige, dass Scientology mit ihrem obersten Credo, «eine Welt ohne Geisteskrankheit und Krieg», richtig liege.

Öffentlich zu ihrer Scientology-Mitgliedschaft äusserten sich in der Vergangenheit auch Ernst Brönnimann, früherer Grossrat und Könizer Gemeinderat der Schweizer Demokraten, und Hans Peter Klötzli, Patron der Klötzli-Messerschmiede in Bern und Burgdorf.

In der Öffentlichkeit treten die Scientologen in Bern heute weniger in Erscheinung. Einer, der darüber genau Buch führt, ist Beat Künzi. Der Baselbieter und seine Frau nennen sich «Freie Anti-Scientology-Aktivisten» und werden immer dort mit Warnschildern aktiv, wo die Scientologen mit einem Stand das Publikum ansprechen wollen. In Bern war das zuletzt im Oktober 2021. Gemäss Künzis Informationen hat Scientology Bern seither keine Standaktionen mehr durchgeführt.

Künzi erkundigt sich bei den Schweizer Städten jeweils im Voraus nach Ständen von Scientology und deren diversen «Tarnorganisationen», wie er es nennt. In Bern tritt die Gruppe meist unter dem Label Dianetik auf, der Lehre von Scientology-Gründer Hubbard. Andere Scientology-nahe Vereine heissen «Sag Nein zu Drogen, sag Ja zum Leben», «Bürgerkommission für Menschenrechte – Psychiatrie zerstört Leben» oder «Der Weg zum Glücklichsein».

Die Masche mit dem Test

Ist Scientology nun eine gefährliche Sekte oder ein serbelnder Seniorenverein? Für den deutschen Verfassungsschutz ist die Antwort klar: Er stuft Scientology als verfassungsfeindliche Organisation ein, die es zu beobachten gilt. Scientology sehe sich selbst als Führungselite, die den Rest der Menschheit regieren sollte, heisst es im Verfassungsschutzbericht 2020. «Das – die Demokratie ersetzende – System einer solchen alleinherrschenden scientologischen Regierung ist nicht mit dem Demokratieprinzip des Grundgesetzes vereinbar.»

Der betont gemässigt auftretende Scientology-Sprecher Jürg Stettler, der auch die Zürcher Scientologen präsidiert, spricht von einer «völlig falschen und absurden Interpretation» von wenigen, «aus dem Zusammenhang gerissenen» Texten des Scientology-Gründers. «Wir können mit seinen Zitaten das genaue Gegenteil belegen.» In der Schweiz wird Scientology, soweit bekannt, nicht vom Nachrichtendienst beobachtet.

Die deutschen Verfassungsschützer warnen davor, dass Scientology kostenlose Onlinekurse anbiete, «um Interessenten auf diese Weise an das kostenintensive Angebot heranzuführen». Meist sei der Bezug zu Scientology nicht auf den ersten Blick erkennbar. So verhält es sich etwa auch bei Website «Deine-Lebensveränderungs-Lösung», die einen kostenlosen Persönlichkeitstest anbietet – und von den Berner Scientologen betrieben wird.
(https://www.derbund.ch/scientology-zuegelt-von-bern-ins-dorf-400987309052)


+++HISTORY
Obdachlose Jugendliche 1996
Drei Jugendliche schlagen sich als Obdachlose auf den Strassen von Zürich durch. [«Rundschau», 21. August 1996]
https://www.srf.ch/play/tv/archivperlen/video/obdachlose-jugendliche-1996?urn=urn:srf:video:0ba5763e-32a7-4244-9b05-8177abe23a9e&aspectRatio=16_9


Contre les violences patriarcales hier et aujourd’hui
56, c’est le nombre recensé de personnes percues comme femmes, qui ont été condamnées à mort pour sorcellerie entre 1611 et 1667 sur le plateau de Diesse.
7, c’est le nombre recensé de personnes percues comme femmes assassinées depuis le début de 2022, 26 durant toute l’année de 2021. [1]
Derrières ces chiffres, derrières ces meutres et condamnations, se cachent des violences qui tirent leurs origines dans un système fondamentalement patriarcal.
https://renverse.co/infos-locales/article/contre-les-violences-patriarcales-hier-et-aujourd-hui-3529



derbund.ch 07.05.2022

Er kämpfte für die Revolution, aber dann kam alles anders

Im April 1972 flog in Zürich eine Anarchogruppe auf. Kurz darauf floh André Chanson, der Kopf der Zürcher 68er-Bewegung, nach Chile: Sein Leben steht exemplarisch für die extreme Linke.

Andreas Tobler

Dramatische Nacht auf der Zürcher Hauptwache: Nachdem die Polizisten «verdächtige Geräusche» gehört hatten, durchsuchten sie die Zelle eines 25-jährigen Häftlings. In seinen Sachen fanden die Polizeibeamten einen alarmierenden Brief: «Ich erhänge mich, weil ich unschuldig bin», hiess es da.

Verfasst hatte den Brief André Chanson, ein gelernter Feinmechaniker, der als Kopf der Zürcher 68er-Bewegung gelten kann: Chanson war bei allen Aktionen mit dabei, mit denen die linken Aktivisten die Polizei und die Öffentlichkeit seit den Globuskrawallen im Juni 1968 in Atem gehalten hatten. Von der Gründung des autonomen Jugendzentrums im Lindenhofbunker gegenüber der Zürcher Urania-Wache über die Stadtratswahlen, bei denen er als Protestkandidat antrat – bis hin zur Heimkampagne.

Chanson war also auch bei jener politischen Gruppierung dabei, die im September 1971 mehrere Zöglinge aus dem Erziehungsheim in Uitikon befreit und während einiger Tage vor der Polizei versteckt hatte, damit die Jugendlichen dem Schweizer Fernsehen Interviews über die Missstände in den Heimen geben konnten: ein Triumph für die Zürcher Linken, eine grosse Schmach für die Polizei.

WG-Durchsuchungen wegen LSD-Rausch

Aber im Mai 1972, als Chanson in der Untersuchungshaft sass, waren die radikalen Linken in Zürich am Ende: Just am Tag bevor Chanson seinen Abschiedsbrief zu Papier brachte, waren im Rahmen der «Aktion K» alle grossen Kommunen durchsucht und zahlreiche Genossen verhaftet worden. Darauf nahm Chanson in seinem Abschiedsbrief Bezug: «Ich solidarisiere mich mit all denen, die die Kraft haben, gegen diese ungerechte Klassenherrschaft zu kämpfen», heisst es da.

Fünfzig Jahre später wurden uns Dossiers, Fichen und Telefonabhörprotokolle zugänglich gemacht, die Ermittler über André Chanson angelegt hatten: Dank dem Schweizer Staatsschutz können wir sein Leben rekonstruieren, das geradezu exemplarisch für den radikalen Kern der Zürcher 68er-Bewegung steht, der im Mai 1972 mit der «Aktion K» zerschlagen wurde. Mit den Bildern des Globuskrawalls haben sich diese militanten Aktivisten zwar ins kollektive Gedächtnis eingeprägt. Aber fast nichts ist über ihr weiteres Schicksal bekannt – nicht zuletzt, weil fast niemand vom radikalen Kern den berühmten Marsch durch die Institutionen geschafft hatte.

«Die Polizei hat verhaftete Demonstranten misshandelt»: TV-Bericht über die Globuskrawalle im Juni 1968.
Video: SRF Archiv (Youtube)
https://youtu.be/USzPrgGcJY4

Anlass für die Zerschlagung der radikalen Linken war die Bändlistrasse, also jene Gruppe, die am 25. April 1972 aufgeflogen war, weil der damals 19-jährige Werner Meier im LSD-Rausch durchs geschlossene Fenster aus dem dritten Stock einer Mietwohnung in Zürich-Altstetten gesprungen war. Die Polizei führte nach dem Fenstersprung in der Wohnung eine Hausdurchsuchung durch. Dabei fand sie Waffen, Sprengstoff und an einer Wand in roter Schrift den Schriftzug RAF. Und dies alles nur wenige Tage bevor die deutschen Terroristen um Andreas Baader und Gudrun Ensslin mit mehreren Bomben ihre sogenannte Mai-Offensive startete, die mehreren Menschen das Leben kostete.

Gerüchte, Mutmassungen, Verschwörungstheorien

Die Gruppe Bändlistrasse war lange ein Mythos: Es war völlig unklar, was ihre sechs Mitglieder antrieb. Und wer damals tatsächlich involviert war. Stattdessen verbreiteten sich Gerüchte, Mutmassungen und Verschwörungstheorien. Das war es, was mich dazu bewog, in die Archive zu steigen, Tausende von Aktenseiten zu durchforsten, alle noch lebenden Mitglieder der Gruppe Bändlistrasse zu treffen – und ein Buch über diese Gruppe zu schreiben, in dem ich aufzeige, wie die Bändlistrasse mit der RAF und der Zürcher Szene verbunden war. Und ich recherchierte dafür die Biografie von André Chanson.

Tatsächlich hatte die Zürcher Linke im Frühling 1972 bereits seit mehreren Jahren Kontakte zur RAF: Wie ich in meinem Buch erstmals zeigen kann, diskutierten einige ihrer Exponenten noch wenige Tage vor der Mai-Offensive bei Besuchen in Stuttgart mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin darüber, ob zwei Bändlistrasse-Mitglieder bei der RAF einsteigen sollten. Einer von ihnen war dann sogar in Stuttgart zu Gast: Eine Nacht lang diskutierte er mit Baader über die Frage, wie die Bomben am besten gezündet werden könnten.

Mit dem Fenstersprung und der «Aktion K» wurden die Kontakte der Zürcher Linken gerade noch vor den Bombenattentaten der RAF gekappt. Der Verdacht fiel nun auch auf André Chanson: Ihm wurde vorgeworfen, so etwas wie der Drahtzieher der Gruppe zu sein, weil er im Sommer 1971 mit der «Politechnik» eine Tarnfirma gegründet hatte, mit welcher der bewaffnete Kampf finanziert werden sollte. Und weil Chanson an der Universität Zürich eine Rede gehalten hatte, in der er die Ansicht vertrat, dass man auch in Zürich darüber reden müsse, «wie der bewaffnete Kampf, den wir langsam aufnehmen müssen, auszusehen hat».

Ein Kleinkalibergewehr und ein falscher Schnauz

Verdächtig war Chanson nicht zuletzt, weil er der Proletarischen Kampforganisation angehörte, die sich als Elite der Zürcher Bunkerbewegung verstand. Bei einer Sitzung im Café Boy hatte er ein Schema präsentiert, in dem von einer politischen, einer ökonomischen und einer militärischen Front die Rede ist. Für die Polizei war damit klar, dass Chanson den bewaffneten Kampf in Zürich organisieren wollte. In den zahlreichen Verhören konnte er jedoch glaubhaft machen, dass in seinem Schema die militärische Front durch eine Linie von den anderen Bereichen abgetrennt war. Und dass er selbst nie die rote Linie überschritten hatte.

Neben einem Kleinkalibergewehr mit Schalldämpfer, einem falschen Schnauz, Schminkmasse und Zahnschwarz, mit dem eine Zahnlücke vorgetäuscht werden konnte, fand die Polizei nur wenig Verwertbares bei der Durchsuchung von Chansons «Politechnik» in der Kommune an der Zürcher Wiesenstrasse. Dennoch war klar, dass der Aktivist mit einer Verurteilung rechnen musste: Nach dem Fenstersprung von Werner Meier hatte er die Flucht der Gruppe mit einem Mietauto und seinem Führerausweis unterstützt.

Nach zwei bedingten Strafen wegen der Globuskrawalle und einer Demo gegen die spanische Botschaft, bei der Chanson ein «Hoheitszeichen» des Franco-Regimes abmontiert hatte, musste er diesmal mit Gefängnis rechnen. Das wollte er um jeden Preis verhindern. Deshalb hatte er am Tag nach der «Aktion K» seinen Abschiedsbrief geschrieben, «um seinem Gesuch um Hafterleichterung etwas Nachdruck zu verschaffen», wie er gegenüber einer Psychiaterin erklärte.

Einstieg in die Chefetage des Sozialismus

Es blieb nicht der einzige Versuch, die Haftbedingungen zu lockern: Nur wenige Tage nach dem vorgetäuschten Suizidversuch wollte Chanson während eines Spitalbesuchs fliehen. Als er dem Polizisten davonrannte, verfehlte er den Hauptausgang und knallte mit voller Wucht gegen eine Glastür.

Kurze Zeit später kam Chanson dann aber tatsächlich dank eines Arztzeugnisses vorübergehend frei. Er nutzte diese Gelegenheit, um zusammen mit seiner damaligen Frau nach Chile zu fliehen, wo Salvador Allende seit November 1970 als Präsident des Landes den Sozialismus auf demokratischem Weg durchzusetzen versuchte. Er sei vor der Alternative gestanden, entweder «eine politisch nicht sehr fruchtbare Zeit» in einem Schweizer Gefängnis zu verbringen oder für eine Weile zu «verreisen» und sich dabei «im Exil» weiterzubilden und Erfahrungen zu sammeln, wird Chanson später erklären.

André Chanson war von seinem «Temporär-Exil» begeistert: Keine drei Tage nach seiner Ankunft habe er «als politischer Flüchtling» und ausgewiesener Fachmann im Bereich Feinmechanik «eine stolze Anstellung bei einer staatlichen Organisation antreten können». So war es in einem Artikel zu lesen, der gut ein halbes Jahr nach Chansons Flucht im «Züri Leu» erschien.

Auch sonst war der «Züri Leu»-Reporter beeindruckt von Chansons Neuanfang: Jeden Tag fahre ein Regierungsjeep mit Chauffeur vor, um den blondhaarigen Zürcher ins Büro zu bringen. Chanson hatte im Sozialismus also gleich den Einstieg in die Chefetage geschafft. Gewohnt hatte der damals 26-Jährige in einem Achtzimmerhaus zusammen mit fünf weiteren Bewohnern aus der Schweiz, Österreich und Chile. Das Kommunenleben sei noch etwas ungewöhnlich, erklärte Chanson beim Besuch des «Züri Leu», was den Reporter aber nicht daran hinderte, seinem Landsmann eine «Pionierstellung in chilenischen Lebensweisen» zu attestieren.

Schweden? Langweilig!

Die Arbeit als «ingeniero» in Chile scheint Chanson Spass gemacht zu haben: «Soeben haben wir den Prototyp einer Sämaschine konstruiert, die in all ihren Teilen im Lande selbst hergestellt werden kann», erzählte er dem Reporter aus Zürich. Chanson war optimistisch, dass sie die Produktion steigern und ausweiten liess: «In zwei Jahren werden wir mit Traktoren beginnen!», heisst es im «Züri Leu». Dazu sollte es nicht kommen: Knapp ein Jahr nach Chansons Ankunft kam es in Chile zum Militärputsch. Allende beging Suizid, Hunderte seiner Anhänger wurden getötet, mehrere Tausend verhaftet.

Auch André Chanson wurde gesucht. Bei zwei, drei Demonstrationen sei er dabei gewesen, erzählte er später in einem Interview. Auch Waffen und politische Literatur hätte er besessen. Nach dem Putsch musste er diese so rasch wie möglich verschwinden lassen. Diese Aufgabe übernahm Chansons zweite Ehefrau Elisabeth, die der Schweizer in Chile kennen gelernt hatte – und die damals im sechsten Monat schwanger war. Als sie die Waffen und die Literatur aus der Wohnung geschafft hatte, wurde sie von Militärs aufgegriffen.
Soldaten und Feuerwehrmänner transportieren die Leiche von Salvador Allende ab.

Elisabeth wurde verhaftet und während mehrerer Tage gefoltert. Dabei verlor sie ihr Kind. Dennoch konnte sie sich zu ihrem Mann durchschlagen, der Kontakt mit der Schweizer Botschaft aufnahm: Wenn er die Garantie erhalten würde, nicht in die Schweiz zurückkehren zu müssen, würde er um Asyl ersuchen, teilte er der Botschaft mit. «Das wurde uns sofort zugesichert», erzählte Chanson später.

Die Tatsache, dass die Botschaft einem gesuchten Straftäter Hilfe bei der Flucht leistete, löste in der Schweiz eine Debatte aus. Sie änderte aber nichts daran, dass Chanson auf der Schweizer Botschaft unter fünf Ländern auswählen konnte, in die er hätte ausreisen können: Schweden, Nordkorea, Kuba, Mexiko und Algerien. Bei den Fluglinien nach Mexiko und Kuba gab es damals Probleme. Da Nordkorea nicht infrage kam und Schweden ihn «weiter nicht interessiert» hatte, entschied sich Chanson schliesslich für Algerien.

Im November 1973 kam Chanson in Nordafrika an. Und hier trat nun endgültig die grosse Ernüchterung ein, obwohl er auch in Algerien – trotz mangelhaften Französischkenntnissen – wieder eine Blitzkarriere hinlegte: Auf Vermittlung von Gewährsleuten konnte er sich bei der algerischen Einheitspartei FLN vorstellen, für die er ein Dossier mit Zeitungsausschnitten über sich angelegt hatte. Die Algerier waren offensichtlich beeindruckt von Chansons revolutionärer Vergangenheit in Zürich: Sie vermittelten ihm eine Stelle – wieder als Ingenieur im Landwirtschaftssektor.

Die anfängliche Begeisterung für den algerischen Staatssozialismus verflüchtigte sich aber schon bald: Chanson erlebte mit, wie ein Fabrikdirektor seine Mitarbeiter schlug und Streiks unterdrückte. Er erfuhr von illegalen Landverkäufen, von Schmiergeldern und Millionenbeträgen, die von den jeweils Verantwortlichen in die eigenen Taschen hineingewirtschaftet wurden. Chansons Resignation kam auch in einem Telefongespräch zum Ausdruck, das er im Mai 1978 mit seinem früheren Heimkampagne-Genossen Rolf Thut führte – und das von den Schweizer Behörden abgehört wurde:

Rolf Thut: «Wie sieht es unten aus?»

André Chanson: «In Algerien? Scheissig. Es wird immer schlimmer. Darum bin ich verreist. Vor einer Woche habe ich so genug gehabt, habe den Koffer gepackt und bin ab.»

Rolf Thut: «Verreckt!»

Wie schlimm die Misswirtschaft und die Korruption in Algerien waren, hatte Chanson aus unmittelbarer Nähe erlebt: Als seine Frau schwanger war, wurde ihr die ärztliche Hilfe verweigert. Ihr Kind überlebte, sie selbst starb.

Revolutionsromantik? Lieber nicht

André Chanson setzte sich von Algerien nach Paris ab. Dort empfing er im Mai 1979 einen Reporter des «Tages-Anzeiger»-Magazins, dem er ein grosses Interview gab: Chanson rechnete darin nicht nur mit dem Staatssozialismus ab, wie er ihn in Algerien erlebt hatte und der seiner Frau das Leben gekostet hatte, er ging auch mit der Zürcher Bewegung hart ins Gericht: Die «Revolutionsromantik» sei in der Schweiz einfach Unsinn, erklärte er da. Auch vierzig Jahre später wird Chansons Interview von einigen radikalen Linken noch immer als Verrat empfunden. Dabei hatte die Resignation damals auch die früheren 68er erfasst, wie im Gespräch von André Chanson mit seinem Zürcher Genossen Rolf Thut deutlich wird, der damals gegen die Einführung einer Bundessicherheitspolizei kämpfte:

Chanson: «Läuft bei euch in Zürich etwas?»

Thut: «Nicht schaurig viel. Ich selber krampfe am Referendum gegen die Sicherheitspolizei.»

Chanson: «Eben, das haben die jetzt auch durchgebracht. Ja nu, das ist ja zu erwarten gewesen.»

Thut: «Ist eine ganze Linie, die im Kommen ist. Du, es ist alles schaurig schwierig. Mobilisierungsmässig! Wir haben jetzt noch eine nationale Demo gehabt mit circa achttausend Leuten, aber sonst ist es schwierig und zähflüssig. Die ‹Szene› liegt im Moment schaurig auf der ‹Schnauze›. Zwar hats neue Leute, aber trotzdem, politisch läufts nicht recht.»

Chanson: «Sollte wieder einmal einwenig zurückkommen, he?»

Thut: «Ja, ja.»

Was Thut damals nicht wusste: Sein Komitee sollte die Abstimmung gegen die Bundessicherheitspolizei gewinnen. Und Chanson kehrte dann tatsächlich wieder zurück in die Schweiz: Im Februar 1988 war er im Schweizer Fernsehen zu Gast – in einer Jubiläumssendung zu 20 Jahren Globuskrawall.

Chanson sah sich in dieser Sendung mit einer jüngeren Generation konfrontiert – darunter der langjährige «Tages-Anzeiger»-Journalist Jean-Martin Büttner. Also mit einer Generation, welche die 68er bereits aus Museumsausstellungen kannte, wie ein Teilnehmer in der Diskussionssendung mit Nachdruck betonte. Die Jüngeren hielten Chanson auch vor, dass im Zuge der 1980er-Unruhen nachgeholt werden musste, was die männlich geprägte 68er-Bewegung verpasst hatte, in der Frauen – zumindest bei den radikalen Linken – eigentlich nur als Groupies und Musen vorkamen.

«Bändlistrasse, Bändlistrasse!»

Das alles nahm Chanson ohne grosse Widerrede hin. Aber als es im TV-Gespräch um bewaffneten Kampf ging – und wiederholt das Wort «Bändlistrasse!» eingeworfen wurde, reagierte Chanson scharf: «In der Schweiz ist niemand in den bewaffneten Kampf gegangen.» Das sei Propaganda der Journalisten gewesen, die versucht hätten, die Bewegung «zusammenzuschlagen». Die Bändlistrasse und andere Gruppierungen seien damals eine «Randerscheinung» gewesen, die mit der 68er-Bewegung nicht sehr viel zu tun gehabt hätten.

Chanson wischte dabei unter den Tisch, wie offen damals über die Anwendung von Gewalt diskutiert wurde, dass er der Bändlistrasse zur Flucht verhalf. Und dass einige radikale Linke aus Zürich über Jahre hinweg Kontakte zur RAF hatten, dass sie die deutschen Terroristen mit Waffen und weiterem Material aus der Schweiz belieferten – und dass sie damit dem Bundesanwalt die Tür geöffnet hatten, den radikalen Kern der Zürcher 68er-Bewegung nach dem Auffliegen der Bändlistrasse zu zerschlagen.

Immerhin räumte Chanson ein, dass es in den Jahren nach 1968 Illusionen über die Geschwindigkeiten gab, wie man die Gesellschaft verändern konnte. Dass sie zu naiv waren, wie er zur gleichen Zeit in einem Radiogespräch ergänzte, und dass der Preis eigentlich zu hoch war für die wenigen gesellschaftlichen Veränderungen, die sie damals erreicht hatten. André Chanson starb 1996 in Cannes. Er wurde 49 Jahre alt.



Buchvernissage zur Bändlistrasse im Kaufleuten

Am 25. April 1972 springt an der Zürcher Bändlistrasse ein junger Mann im LSD-Rausch nackt durch die Fensterscheibe aus dem dritten Stock. In der Wohnung findet die Polizei Drogen, Waffen und Sprengstoff; an einer Wand prangt in roter Farbe der Schriftzug «RAF». Terroristen? Mitten in Zürich?

Tamedia-Journalist Andreas Tobler enthüllt in seinem Buch «Bändlistrasse» (erschienen im Echtzeit-Verlag), was hinter dem linksextremen Kollektiv steckte. Er interviewte noch lebende Zeitzeugen und durchforstete Tausenden von Aktenseiten. Herausgekommen ist ein Report über ein Stück Schweizer Geschichte, das bisher gerne beschönigt und verschwiegen wurde.

An der Buchpremiere liest Autor Tobler die dramatischsten Stellen seiner Recherche live vor, um danach mit dem Publikum tief ins Zürich der 70er-Jahre einzutauchen: War die Linke damals tatsächlich bereit, in einen bewaffneten Kampf zu ziehen? Welche Rolle spielten Kontakte zur RAF? Und: Welche Parallelen gibt es zu den Extremisten und Verschwörungstheoretikern von heute?

Als Diskussionspartner zu Gast ist Regisseur Paul Riniker, der sich in den frühen 70er-Jahren in der Szene der Zürcher Linken bewegte. Als Moderator führt Mario Stäuble, Co-Chefredaktor Tages-Anzeiger, durch den Abend.

Montag, 9. Mai 2022

Kaufleuten Zürich

Türöffnung: 19 Uhr, Beginn: 20 Uhr

Eintritt CHF 25.– mit CARTE BLANCHE CHF 15.–

Das Buch von Andreas Tobler erhalten Sie als Abonnentin und Abonnent über den folgenden Link mit einem Rabatt für 26 statt für 29 Franken: https://echtzeit.ch/buch/bandlistrasse



Die wichtigsten Ereignisse der 68er-Bewegung

29. Juni 1968: Globuskrawalle, nachdem der Stadtrat beschlossen hatte, das leerstehende Globusprovisorium an der Limmat nicht für ein autonomes Jugendzentrum zur Verfügung zu stellen.

4./5. Januar 1969: Sogenannte Luzerner Krawallnacht, nachdem ein 23-Jähriger in der Untersuchungshaft gestorben war. Auch Chanson war bei der Demonstration in Luzern dabei.

30. Oktober 1970: Eröffnung des autonomen Jugendzentrum im Lindenhofbunker gegenüber der Urania-Wache in Zürich.

Dezember 1970: Gründung der Heimkampagne im Lindenhofbunker, die sich für die Abschaffung aller Jugendheime einsetzt, da diese als «kapitalistische Anpassungslager» verstanden wurden.

Januar 1971: Schliessung und Räumung des Lindenhofbunkers durch die Polizei.  Zuvor war von linken Aktivisten die «Autonome Republik Bunker» als eigener Staat gegründet worden.

September 1971: Der Heimkampagne gelingt es, während mehrerer Tage 17 Zöglinge aus der Erziehungsanstalt Uitikon vor der Polizei zu verstecken.

25. April 1972: An der Bändlistrasse 73 in Zürich-Altstetten springt im LSD-Rausch ein junger Mann aus dem Fenster im dritten Stock. Die Polizei findet Waffen, Sprengstoff und an der Wand in roter Aufschrift die Buchstaben RAF.

25. Mai 1972: Im Rahmen der «Aktion K» werden in Zürich zahlreiche Kommunen von der Polizei durchsucht.



RAF, LSD und TNT: Das Buch zur Gruppe Bändlistrasse

Das Buch von Andreas Tobler erzählt die Geschichte der gesamten Gruppe Bändlistrasse im Kontext ihrer Zeit. Dank Gesprächen mit allen noch lebenden Gruppenmitgliedern und Tausenden Aktenseiten gibt es einen intimen Blick in eine bis jetzt unbeschriebene Szene: Es zeigt auf, warum der Kreis um Kurt Koller und Werner Meier sich für den bewaffneten Kampf rüstete, worüber Schweizer Linksaktivisten mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin bei ihren Treffen diskutierten – und was aus Angehörigen der radikalen Linken wurde. Leserinnen und Leser von Tamedia erhalten hier das Buch für 26 statt 29 Franken.

Andreas Tobler: Bändlistrasse. LSD, RAF, PKO und TNT. Echtzeit-Verlag, Basel 2022. 160 S., reich bebildert.
(https://www.derbund.ch/er-kaempfte-fuer-die-revolution-aber-dann-kam-alles-anders-393421917655)


+++MITTELMEER
Das Magazin 07.05.2022

Tagebuch einer Seenotretterin: «Dann fielen 40 Menschen ins Wasser, einige ohne Schwimm­westen – alle wurden geborgen»

An guten Tagen rettet die Neuenburgerin Julie Melichar Menschen in Seenot. An schlechten findet sie Leichen.

Ariane Lüthi

Für die einen ist sie eine Heldin, für die anderen eine Kriminelle. Die Neuenburgerin Julie Melichar ist dreissig Jahre alt und hat an siebenundzwanzig Rettungsaktionen im Mittelmeer teilgenommen. Dabei wurden 1938 flüchtende Menschen gerettet, die sonst wohl ertrunken wären.

Melchiars temporäres Zuhause ist das Schiff Geo Barents, ein ehemaliges norwegischen Forschungsschiff, das so umgebaut wurde, dass es zur Rettung von Menschen in Seenot eingesetzt werden kann. Es ist knapp 80 Meter lang und bietet Platz für 300 Schiffbrüchige. Es hat drei medizinische Behandlungsräume, neun Einzelkabinen, sechsunddreissig Doppelkabinen. Für die Rettungseinsätze stehen zwei Schnellboote zur Verfügung. An Bord arbeiten zwei Besatzungen: einerseits die zwanzig Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Hilfsorganisation Médecins sans Frontières (MSF), zu denen Julie Melichar gehört, andererseits siebzehn professionelle Matrosen. Zum Team von MSF zählen ein Arzt, eine Krankenpflegerin, eine Hebamme und humanitäre Helferinnen und Helfer wie Julie Melichar.

Am 21. März legt die Geo Barents in Sizilien ab. Bis Julie Melichar wieder festen Boden unter den Füssen hat, werden 21 Tage vergehen, 113 Menschen gerettet werden und viele andere sterben. Während dieser Zeit sprechen wir immer wieder mit ihr per Video- und Telefonanruf, per Text- und Sprachnachrichten.

Tag 5: Freitag, 25. März
«Aktuell ist es ruhig»

Julie Melichars Gesicht taucht auf dem Handybildschirm auf, die Verbindung ist gut. Sie sieht frisch aus und fröhlich. Sie erklärt, wie die Arbeit auf dem Schiff abläuft:

«Aktuell ist es ruhig. Die Geo Barents patrouilliert in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste. Ich verbringe die Tage im Schiffsbüro und erledige Papierkram. Noch sammle ich Kräfte, denn es kann jederzeit hektisch werden. Es gibt feste Essenszeiten auf dem Schiff und sogar ein kleines Gym – ein paar Hanteln und ein Laufband.

Wir arbeiten in Schichten und suchen das Meer mit Ferngläsern nach Booten in Seenot ab. Auch über Funk und E-Mail können Notrufe hereinkommen. Manchmal meldet ein Flugzeug uns ein Boot in Seenot, wenn wir in der Nähe sind. Zudem gibt es die private Organisation Alarm Phone. Die flüchtenden Menschen auf den Booten können direkt dort anrufen, wenn sie in Seenot geraten. Dafür brauchen sie allerdings ein Satellitentelefon. Kommt ein Anruf, dann informieren die Mitarbeiter von Alarm Phone die maritimen Rettungsleitstellen der Küstenstaaten und private Retter wie uns.

Wir sehen unsere Aufgabe nicht nur darin, Menschenleben zu retten, sondern auch Verletzungen des internationalen Seerechts und der Menschenrechte zu bezeugen. Jedes Schiff ist verpflichtet, ein Boot in Not ohne Verzögerung zu retten. Das internationale Seerecht schreibt auch vor, dass eine Rettung erst als vollendet gilt, wenn die Geretteten an einem sicheren Ort sind. Die UNO erkennt Libyen nicht als sicheren Ort an. Deshalb ist es eine Verletzung von internationalem Seerecht, wenn Gerettete nach Libyen zurückgebracht werden – durch die libysche Küstenwache oder durch andere Schiffe.»

Tag 7: Sonntag, 27. März
«Es ist stürmisch, das Meer schlägt hohe Wellen»

Zwei Tage später hat die Stimmung an Bord umgeschlagen. Wir sprechen wieder per Videoanruf, Julie Melichar wirkt ernst. Seit einer Woche ist sie nun auf See:

«Es ist stürmisch, das Meer schlägt hohe Wellen. Wir befinden uns westlich der libyschen Hauptstadt Tripolis. Es sind noch zwei andere Rettungsboote in der Nähe, was eher ungewöhnlich ist. Wir stehen in engem Kontakt und sprechen uns ab, damit wir verschiedene Gebiete abdecken. Das Schiff der Hilfsorganisation SOS Méditerranée hat weiter östlich zwei Rettungen durchgeführt, eine davon war sehr schwierig, weil die See so aufgepeitscht war. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter fanden zwei Leichen, von denen nur eine geborgen werden konnte, die andere mussten sie in dem kaputten Boot zurücklassen. Da kommen bei unseren Besatzungsmitgliedern schlimme Erinnerungen hoch: Im November letztes Jahr rettete die Geo Barents ein Boot und fand zehn Tote im Rumpf.

Meine Freunde und Verwandten unterstützen mich in meinem Engagement, aber sie sorgen sich auch wegen des Traumas, das diese Arbeit auslösen kann. Ich kenne viele Leute, denen zugesetzt hat, was sie gesehen haben.

Manchmal ist es schwierig, hoffnungsvoll zu bleiben. Wir sind mit unserem Schiff ein kleines Sandkorn in der übermächtigen Maschine der europäischen Migrationspolitik. Ich bin versucht zu sagen, dass wir nichts sind. Aber das stimmt auch nicht. Zehntausende von Leben wurden bereits von privaten Helfern gerettet. Wir müssen uns auf die einzelnen Menschen konzentrieren.»

Tag 9: Dienstag, 29. März
«Auf See muss man jederzeit bereit sein»

Morgens um 4.47 Uhr erhalte ich eine Textnachricht:

«Ich mache Nachtschicht und werde danach wohl ausschlafen. Ich gebe dir ein Zeichen, wenn ich weiss, wie der Plan für den Tag aussieht.» Später meldet Julie Melichar sich noch einmal, wir verabreden uns für halb sechs am Abend zum Telefonieren:

«Letzte Nacht hielt ich auf der Schiffsbrücke nach Booten in Not Ausschau. Manchmal ist es schwierig, Flüchtlingsboote von Fischerbooten zu unterscheiden. Einige Lichter sieht man mit blossem Auge, aber ich prüfe immer mit dem Feldstecher nach. Wir haben auch Nachtsichtgeräte und das Schiff hat eine Wärmebildkamera, die uns hilft zu erkennen, was wir vor uns haben.

Auf See muss man jederzeit bereit sein. Der Funk ist immer an, deshalb schläft man auch nie wirklich tief. Und deshalb ist es auch so anstrengend.

Das Wetter ist jetzt gut, dadurch wird es wahrscheinlicher, dass Boote von Libyen abfahren. Tendenziell legen mehr Boote im Sommer ab. Aber die Leute fahren zu jeder Jahreszeit los. Im vergangenen Dezember zum Beispiel hat die Geo Barents 558 Menschen gerettet.

Früher bekamen wir viele Hinweise auf Boote in Seenot von den maritimen Rettungsleitstellen der Küstenstaaten. Aber seit 2018 haben sie das leider fast komplett eingestellt. Das war die Zeit, als der damalige italienische Innenminister Matteo Salvini die italienischen Häfen für Rettungsboote schloss. Ich arbeitete damals für die Hilfsorganisation SOS Méditerranée auf dem Rettungsschiff Aquarius, wir hatten 630 gerettete Personen an Bord und durften nicht an Land. Seither ist es für private Retter zunehmend schwieriger geworden, Behörden behindern unsere Arbeit, Regierungen verklagen uns.

Dieser Tage erkannten wir auf einer Webseite, die Flugrouten nachzeichnet, dass Drohnen oder Flugzeuge von Frontex über das Gebiet fliegen, in dem wir uns aktuell befinden. Wir vermuten, dass Frontex damit Boote in Seenot lokalisiert. Aber sie übermitteln uns keine Informationen.

Immer wieder höre ich den Vorwurf, dass unsere Rettungsaktionen Flüchtende erst dazu motivieren, in ein Boot zu steigen. Ich habe mit dutzenden Überlebenden gesprochen. Die Zahl der Rettungsschiffe sind ihnen völlig egal. Viele sagen, sie würden lieber ertrinken, als in der Hölle Libyen zu bleiben. Auch die Fakten widerlegen den Vorwurf: Als Italien seine staatliche Rettungsmission Mare Nostrum im Jahr 2014 einstellte, ging die Zahl der versuchten Überfahrten nicht zurück, im Gegenteil, sie stieg.

Was uns privaten Rettern auch oft vorgeworfen wird: Wir würden mit Schlepperbanden zusammenarbeiten. Das ist absurd. Soeben habe ich mit dem Fernglas ein volles Boot der libyschen Küstenwache vorbeifahren sehen. Diese Menschen wollten nach Europa fliehen und werden nun nach Libyen zurückgebracht. Wir konnten sie nicht retten, was ja schon zeigt, dass wir keine Informationen von Schleppern entgegennehmen.»

Später am Abend schreibt sie per Textnachricht diesen einen Satz:

«Kurz nach unserem Telefongespräch starteten wir die Rettung von 113 Personen.»

Tag 10: Mittwoch, 30. März
«Ich habe das noch nie erlebt»

Am nächsten Abend folgt der ausführliche Bericht per Sprachnachricht, zum Telefonieren hat Julie Melichar nun keine Zeit mehr.

«Es war ein Gummiboot, das Libyen am Morgen verlassen hatte. An Bord waren überwiegend Männer, einige Frauen. Mehr als ein Drittel sind unbegleitete Minderjährige. Die Rettung war sehr schwierig. Das Boot hatte bereits Luft verloren und war teilweise beschädigt. Dreissig oder vierzig Menschen fielen ins Wasser, einige wenige sogar ohne Schwimmwesten. Glücklicherweise konnten alle geborgen werden.

Die Szene war ziemlich überwältigend, ich habe das noch nie erlebt: Die geretteten Menschen fielen auf unserem Deck einfach zu Boden, vollkommen durchnässt. Manche hatten auf dem kaputten Schiff Benzindämpfe eingeatmet. Ein Mann war bewusstlos und wir versorgten ihn mit Sauerstoff, damit er wieder zu sich kam. Alle waren definitiv sehr erschöpft, es gab viele Fälle von Unterkühlung. Einige zitterten noch, was ein gutes Zeichen ist. Sobald sie nicht mehr zittern, wissen wir, dass sie das nächste Stadium der Unterkühlung erreicht haben. Wir verteilten Überlebensdecken und heisse Wasserflaschen, das medizinische Team behandelte die kritischsten Fälle.»

Julie Melichar fährt mit ruhiger Stimme fort:

«Wir haben den Tag alle zusammen an Deck verbracht. Wir kommunizieren auf Englisch oder Französisch mit den Geretteten, einige MSF-Mitarbeitende sprechen Arabisch, notfalls verwenden wir eine Übersetzungs-App. Auf dem Boot waren Menschen vieler Nationalitäten, die meisten stammen aber aus Nigeria, dem Sudan und Guinea. Viele von ihnen können kaum glauben, dass sie gerettet wurden und nicht nach Libyen zurück müssen. Sie sind glücklich. Aber manche werden auch von Sorgen geplagt: Einige wurden von ihren Familienmitgliedern getrennt, als alle in Libyen auf die Boote drängten. Da ist zum Beispiel ein dreizehnjähriger Junge, der seine Mutter verloren hat. Normalerweise haben wir eine Psychologin an Bord, diesmal leider nicht. Wir versuchen nun zu organisieren, dass dem Jungen an Land eine spezialisierte Organisation hilft.»

Tag 12: Freitag, 1. April
«Wir haben noch Platz»

Melichar ruft während einer Abendschicht an, die bis 22 Uhr dauert. Die Verbindung ist schlecht, das Video funktioniert nicht. Das Gespräch unterbricht kurz, als sie einen Funkruf erhält.

«Wir befinden uns immer noch vor der libyschen Küste, nun östlich von Tripolis. Die Geretteten schlafen in einem überdachten Bereich des Schiffes mit Decken auf dem Boden. Frauen und Kinder haben ein separates Deck. Viele Jugendliche bleiben aber lieber mit ihren Freunden zusammen, die schon achtzehn oder neunzehn, also volljährig sind.

Wir versuchen, Vertrauen zu den Geretteten aufzubauen, indem wir mit ihnen über ihre Heimat reden, gemeinsam Musik hören und Spiele spielen. Sie befinden sich noch in der glücklichen Phase, sind euphorisiert von der Erkenntnis, dass sie überlebt haben. In den nächsten Tagen wird es schwieriger werden, sobald sie anfangen, sich konkrete Gedanken über ihre Zukunft zu machen. Wir versuchen, die Erwartungen tief zu halten, wann wir an Land gehen können. Wir haben noch Platz auf dem Schiff, deshalb wollen wir zuerst versuchen, weitere Menschen zu retten.

Am Wochenende soll es stürmisch werden. Vielleicht werden wir dann zurückfahren. Wir entscheiden von Tag zu Tag, unsere Arbeit ist nicht planbar, vor allem wissen wir nie, wie lange es dauern wird, bis wir an einem sicheren Ort anlegen können.

Das grosse Thema auf Deck ist Libyen. Einige Leute weinen, wenn sie erzählen, was sie dort erlebt haben. Ein Mann sagt, er sei dreimal von der Küstenwache abgefangen und zurückgebracht worden, bevor wir ihn retteten. Er habe in Libyen in verschiedenen Gefängnissen gesessen, sei an den Füssen aufgehängt und mit geschmolzenen Plastiksäcken verbrannt worden. Die Folterer wollten ihn dazu bringen, seine Verwandten anzurufen, damit sie Geld schicken.

Ein anderer Mann zeigte mir die Narben an seinen Füssen und erzählte, im Gefängnis sei er mit einem Wasserschlauch auf die Sohlen geschlagen worden. Er hat auch alle Vorderzähne verloren, angeblich durch die Folter nach einem Fluchtversuch. Schliesslich sei er entkommen und habe erneut Geld gespart für die Überfahrt. Er sagt, dass er im Juni 2021 mit einem Boot flüchtete, das von der libyschen Küstenwache aufgegriffen wurde. Wir vermuten, dass es sich um einen Vorgang handelt, den wir damals mit eigenen Augen beobachteten. Wir waren mit unserem Schiff in der Nähe, als uns die Küstenwache zuvor kam.

Gestern passierte etwas Ähnliches. Der Dienst Alarm Phone informierte die Küstenwachen der Mittelmeeranrainerstaaten und verschiedene Hilfsorganisationen über einen Notruf. Das Rettungsschiff Sea Eye 4 fuhr zu den Koordinaten, kam aber zu spät. Das Boot wurde von der libyschen Küstenwache aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht mit Frauen und Kindern an Bord.

Viele Gerettete haben mir von der Gewalt an Bord der Schiffe der libyschen Küstenwache erzählt. Sie seien auf den Boden gezwungen und mit Stöcken, Gewehren oder Metallstäben geschlagen worden. Es ist schlimm, wenn man durchs Fernglas zuschauen muss, wie Menschen gegen ihren Willen nach Libyen zurückgebracht werden. Wir haben ein sehr genaues Bild davon, was das für sie bedeutet.

Momentan konzentriere ich mich auf meine Aufgaben an Bord. Ich versuche herauszufinden, welche Personen besonders verletzlich sind und spezielle Unterstützung benötigen, wenn sie an Land kommen. Ich erledige Schritt für Schritt, fast mechanisch, was getan werden muss. Die Gefühle kommen später.»

Tag 13: Samstag, 2. April
«Wir boten Hilfe an, aber sie gingen nicht darauf ein»

Um 22.14 Uhr erhalte ich eine Sprachnachricht. Julie Melichar spricht leise und klingt erschöpft. Ihre sonst so kontrollierte Stimme zittert. Sie habe heute ziemlich viel geweint, sagt sie.

«Heute hörten wir, wie ein europäisches Flugzeug per Funk die Koordinaten eines Boots in Seenot an einen privaten Tanker übermittelte. Dieser rettete daraufhin vier Menschen aus einem lädierten Boot. Wir standen per Schiffstelefon in Kontakt mit dem Tanker. Wir boten an, medizinische Hilfe zu leisten. Aber sie gingen nicht darauf ein. In dem lädierten Boot waren den Überlebenden zufolge hundert Leute gewesen. Das würde bedeuten, dass mehr als neunzig Menschen ertrunken sind – während wir in der Nähe waren. Mit unseren 113 Personen an Bord wird einem besonders schmerzlich bewusst, was das bedeutet: All diese Leute, mit denen wir jetzt schon fast fünf Tage zusammenleben, die Mandalas zeichnen und mit uns das Deck putzen, es hätten auch sie sein können, die jetzt tot im Mittelmeer treiben.»

Tag 16: Dienstag, 5. April
«Die glückliche Anfangsphase ist jetzt definitiv vorbei»

Ich erhalte mittags einen Anruf von Julie Melichar, sie klingt jetzt viel besser, aber immer noch müde. Die Geo Barents ist zurück vor der sizilianischen Küste.

«Vorgestern wurde das Wetter sehr schlecht, und wir drehten nach Norden ab. Die Fahrt von der libyschen Küste zurück nach Europa dauerte etwa zwei Tage. Wir haben bereits die zuständigen Rettungsleitstellen kontaktiert und um Erlaubnis gebeten, in einem sicheren Hafen anlegen zu dürfen.

Der Tag mit den vielen Toten war sehr belastend. Wir erinnerten den Tanker an seine Verpflichtung gemäss internationalem Seerecht, die vier Überlebenden nicht nach Libyen zurückzubringen, weil das Land nicht als sicherer Ort gelten kann. Wir baten auch die Rettungsleitstellen von Malta und Italien darum zu intervenieren. Aber es klappte nicht. Der Tanker antwortete uns nicht mehr und steuerte auf den Golf von Sirte zu, die Küste Libyens. Später erhielten wir von der Firma des Handelsschiffes die Bestätigung, dass die vier Leute nach Libyen zurückgebracht wurden. Damit hat das Schiff internationales Seerecht verletzt.

Die Tage ziehen sich jetzt. Wir wissen immer noch nicht, wann wir in einen Hafen einlaufen können. Leider ist es die Norm geworden, dass uns die Behörden so lange hinhalten. Viele der Geretteten sind seekrank. Sie übergeben sich, einige benötigen eine Infusion. Die glückliche Anfangsphase ist jetzt definitiv vorbei. Die Leute haben Angst, dass wir nicht ankommen. Sie wollen ihre Mütter anrufen und ihnen sagen, dass sie noch am Leben sind. Heute Morgen gab es einen lächerlichen Streit wegen eines Handtuchs, die Crew musste einschreiten. Das zeigt, wie erschöpft alle sind.»

Tag 20: Samstag, 9. April
«Ich bin erschöpft»

Die Stimmung auf dem Schiff ist am Tiefpunkt angelangt, auch bei Julie Melichar. Ihre Sprachnachricht kommt mittags, sie klingt atemlos:

«Die Geretteten wollen ihre Familien benachrichtigen, bevor diese sie aufgeben. Ich bin erschöpft. Gestern war ein langer Tag mit viel Unruhe auf Deck. Ich war immer draussen, bis spät in die Nacht. Wir wissen immer noch nicht, wann wir die Bewilligung erhalten, in einen Hafen einlaufen zu dürfen.»

Zwei Stunden später:

«Wir gehen nach Augusta in Sizilien! Gerade erhielten wir die Nachricht.»

Tag 21: Sonntag, 10. April
«Als kämen da Kriminelle an»

Julie Melichar ruft am frühen Abend an. Heute hat sie die 113 Geretteten ans sizilianische Festland begleitet. Jetzt steht sie bereits wieder auf ihrem Schiff, der Geo Barents, die im Hafen von Augusta ankert.

«Ich habe vielleicht eine Stunde geschlafen. Spät am Abend haben wir erfahren, dass die Geretteten am Morgen das Schiff verlassen dürfen. Um 6.30 Uhr war es soweit: Drei Beamte der italienischen Gesundheitsbehörde kamen an Bord. Meine Aufgabe war es, die Geretteten in Gruppen einzuteilen, je nach Verletzlichkeit – Minderjährige, Kranke und jene, die Angehörige vermissen, gelten als besonders verletzlich. Dann konnten wir an Land gehen. Das war ein gutes Gefühl. Aber es stimmt mich traurig zu wissen, dass die Menschen noch einen langen Weg vor sich haben.

Die Überlebenden sind vom Schiff gegangen, wurden fotografiert, registriert und von einem grossen Aufgebot von Polizisten zu Bussen geführt. Von aussen sah es wohl aus, als kämen da Kriminelle an, und nicht Personen, die gerade einen Schiffbruch überlebt haben.

Je näher man einer sicheren Küste kommt, desto präsenter wird die Frage, was als Nächstes kommt. Wir erklären den Überlebenden die Regeln des Asylprozesses in Europa und ihre Rechte. Manchmal sind diese Diskussionen schwierig, weil die Realität nicht mit den Träumen der Menschen übereinstimmt.

Unsere Arbeit ist diejenige auf dem Schiff. Wir retten Personen aus Seenot, weil sie Menschen sind und sterben könnten, wenn ihnen niemand zu Hilfe kommt. Es ist die Aufgabe der zuständigen Behörden, die Asylanträge zu bearbeiten. Wir kennen die Details nicht, haben keine Kontrolle darüber, was mit den Menschen passiert, sobald sie an Land sind. Es kann schwierig werden für sie, einen positiven Asylentscheid zu erhalten. Aber ich glaube nicht, dass sie chancenlos sind.»

Julie Melichar sagt, sie werde nun in ihre Kajüte gehen und schlafen. Danach wird sie für einen Tag von Bord gehen können. Sie freut sich darauf, die Vögel zwitschern zu hören, das Grün der Bäume zu sehen, Meerwasser an den Füssen zu spüren. Bevor ihr Schiff wieder ausläuft. 

Vom 5. bis 29. Mai läuft in der Photobastei Zürich die Ausstellung «Augenzeugen» mit Bildern der renommierten Fotoagentur Magnum über die humanitären Einsätze von Médecins sans Frontières.
(https://www.derbund.ch/dann-fielen-40-menschen-ins-wasser-einige-ohne-schwimmwesten-alle-wurden-geborgen-996480155893)