Medienspiegel 27. April 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Unsere Schwester Jamilia wurde in der Nacht vom 23. auf den 24. April von ihrem Ehemann getötet. Es handelt sich um den siebten Feminizid in der Schweiz in diesem Jahr. Sieben Leben, die durch die gleiche patriarchale Gewalt zerstört wurden.
Jamilia war vor dem Krieg in Afghanistan geflohen und hatte mit ihren fünf Kindern in der Schweiz Zuflucht gesucht. Die Menschen, die sie kannten, beschrieben sie als sympathische und zurückhaltende Person. Sie war dabei, auf den Feldwegen um Büren an der Aare Fahrradfahren zu lernen. Dort lebte sie mit ihrem Mann und ihren fünf Kindern auf kleinstem Raum in einem Lager für geflüchtete Menschen.
Vor einigen Wochen hatte sie mit der Leitung des Lagers darüber gesprochen, dass ihr Mann gewalttätig gegen sie und ihre Kinder vorging.
Wir denken an ihre Angehörigen, ihre Familie in Afghanistan und die Menschen, die mit ihr in diesem Lager den Alltag geteilt haben. Wir sind mit unserem Herzen bei ihnen und teilen ihre Traurigkeit.
Wir sind traurig, aber auch wütend. Wütend auf den Schweizer Staat, in dem seit Anfang des Jahres sieben Feminizide begangen wurden, ohne dass die Öffentlichkeit davon Notiz nahm. Wir sind wütend auf einen Staat, der sich weigert, seine Verantwortung anzuerkennen, anzuerkennen, dass Feminizide keine Privatangelegenheit sind, sondern Ausdruck der Krankheit des patriarchalen Systems, in dem wir leben. Wir sind wütend auf das sogenannte Asylsystem, das Menschen nicht aufnimmt, sondern sie abweist oder unter unmenschlichen Bedingungen einsperrt.
Gemeinsam werden wir unsere Wut in Widerstand verwandeln!
Ni una menos
(https://www.facebook.com/migrantsolidaritynetwork/posts/303868838589655)


Massiver Spenden-Einbruch: «Die Leute haben sich wohl einfach an die Situation gewöhnt»
Die Sammelstelle für Hilfsgüter im Fischermätteli in Bern verzeichnet einen starken Rückgang an Spenden. Freiwillige betonen, die Not in der Ukraine sei noch nicht vorbei.
https://www.20min.ch/video/die-leute-haben-sich-wohl-einfach-an-die-situation-gewoehnt-302065622332



bernerzeitung.ch 27.04.2022

Asyl Berner Oberland in Thun: «Dann waren die ersten Geflüchteten schon da»

Bei Asyl Berner Oberland deutete Anfang Jahr vieles auf eine Entspannung der Lage hin – bis im Februar in der Ukraine der Krieg ausbrach. Nun muss der Verein zusätzliches Personal anstellen und weitere Büroräume mieten. Geschäftsführer Christian Rohr gibt Einblick in sein derzeit turbulentes Berufsleben.

Christoph Buchs

Angeregte Gespräche in einer Fremdsprache sind dieser Tage häufig das Erste, was man wahrnimmt, sobald man das Treppenhaus an der Frutigenstrasse 4 in Thun betritt. Die Zentrale von Asyl Berner Oberland, der Anlaufstelle für Geflüchtete, die im Oberland untergebracht sind, befindet sich oben im zweiten Stock. Sich einen Weg bis zum Schalter zu bahnen, ist gar nicht so einfach. Geschätzt 50 Menschen – es sind fast ausschliesslich Frauen – stehen Schlange oder sitzen auf der Treppe an diesem Dienstagvormittag.

Die drei Mitarbeiterinnen am Schalter lassen sich nicht aus der Ruhe bringen. Freundlich kümmern sie sich um alle Anliegen. Aus einem Hinterzimmer schreitet der Chef in den Empfangsbereich, begrüsst seinen Gast, wirft einen flüchtigen Blick ins Treppenhaus – und ist einigermassen bestürzt. «So viele auf einmal waren noch nie da», sagt Christian Rohr.

Es ist nicht hundertprozentig klar, ob die anstehenden Frauen ausschliesslich aus der Ukraine stammen, aber man muss es annehmen, bestätigt auch Rohr. «Die meisten holen ihr Geld ab», so der Geschäftsführer von Asyl Berner Oberland. Ein monatlicher Sozialbetrag wird standardmässig an Geflüchtete ausbezahlt. Zumeist in bar. Denn ein Schweizer Konto haben bislang die wenigsten. Eine der vielen Pendenzen, die sich im Berner Asylwesen stapeln. «Die nächste Auszahlung erfolgt hoffentlich elektronisch.»

Oberland als Anziehungspunkt

Rohr kann schlecht verbergen, dass er derzeit – gelinde gesagt – alles andere als eine ruhige Kugel schiebt. Wie die meisten Gremien und Behörden wurde auch Asyl Berner Oberland vom Ausbruch des Kriegs vollkommen überrumpelt. «Als sich abzeichnete, dass der Konflikt andauern wird, konnten wir uns nur wenige Tage vorbereiten, dann waren die ersten Geflüchteten schon da», sagt er.

Nicht zufällig gehört das Berner Oberland zu den ersten Gebieten in der Schweiz, die Geflüchtete aufnahmen. Jahrelange Verbindungen existieren dank dem Verein Bär und Leu, der seit 1999 bedürftige Ukrainerinnen und Ukrainer unterstützt, aber auch über das Kinderheim in der Nähe von Kiew, das von Nathalie und Marek Wnuk aus Reichenbach gegründet wurde. Über diese Kontakte fanden viele Geflüchtete schnell eine Bleibe im Oberland.

Hinzu kommen die Personen, die vom Kanton Bern zugewiesen worden sind. Alles in allem eine Menge, die sich von Asyl Berner Oberland kaum bewältigen lässt. «Zuvor betreuten wir rund 700 Personen, innerhalb eines Monats sind nun 1500 dazugekommmen», sagt Christian Rohr. Im Normalfall werden diese Personen vorgängig von Bund und Kanton registriert; Asyl Berner Oberland erhält mit der Zuweisung elektronisch alle wesentlichen Angaben. «Zurzeit überprüfen und erfassen wir vor Auszahlung der Sozialhilfe alle Personen manuell – weil sie ohne Umwege bei Privaten Unterschlupf gefunden haben und die Registrierungen bei Bund und Kanton noch nicht erfolgt sind.»
Christian Rohr, Geschäftsführer von Asyl Berner Oberland.

Zuerst die Grundbedürfnisse

Würden sich alle Geflüchteten zuerst in Bern anmelden, wäre der Betrieb für Asyl Berner Oberland weit geordneter. So weit die geschäftliche Sicht, aber Christian Rohr anerkennt auch die menschliche. «Private können schneller helfen, das muss man nicht infrage stellen. Niemand macht etwas falsch. Und es ist auch nicht realistisch, jetzt etwas ändern zu wollen.»

Dennoch wünscht sich Rohr von der lokalen Bevölkerung ein gewisses Mass an Verständnis. Etwa dann, wenn Hilfsangebote nicht angenommen werden können. «Derzeit sind wir mit der Organisation der Grundbedürfnisse ausgelastet. Da können wir nicht auch noch eine Kleiderbörse anbieten.» Dies seien hilfreiche Angebote – aber erst zu einem späteren Zeitpunkt, oder wenn sie autonom realisiert würden. «Das Gleiche gilt beispielsweise für Aktivitäten mit Kindern in Kollektivunterkünften: Sehr gern, aber zuerst müssen wir alles koordinieren können.»

Freiwillige Arbeit und die Abläufe im Asylprozess sind zwei der Themen, die heute Mittwoch an öffentlichen Informationsanlässen in Interlaken (Beatushus katholische Kirche, 17 Uhr) und Thun (Schadausaal KKThun, 18 Uhr) thematisiert werden. «Wir erhalten viele Mails und Telefonate, häufig sind es die gleichen Fragen», sagt Rohr, der selber referieren wird. «Wir möchten den Menschen aufzeigen, wie sie sich engagieren und wo sie sich am besten informieren können.»

Wacker Thun packte an

Freilich hat Asyl Berner Oberland nicht alle Hilfsangebote abgewiesen. Freiwillige Arbeit ist höchst willkommen. In der Kollektivunterkunft Ringgenberg beispielsweise hat der Männerturnverein einen ganzen Tag lang die Betten zusammengeschraubt. Und auch die Handballprofis von Wacker Thun leisteten Hilfe: In einem neu dazu gemieteten Büro – nur unweit von der Zentrale entfernt – bauten sie die Möbel auf.

Der weitere Standort wird nötig, weil die Büros an der Frutigenstrasse 4 aus allen Nähten platzen. «Infolge der Flüchtlingswelle haben wir unseren Personalbestand nahezu verdoppelt», sagt Christian Rohr. Unter den neuen Angestellten sind übrigens auch zwei geflüchtete ukrainische Frauen – sie arbeiten als Übersetzerinnen.

Und weiteres Personal wird nötig. Es zeichnet sich ab, dass weitere Kollektivunterkünfte öffnen. Jene in Oberhofen, Matten, Ringgenberg und an der Lenk sind bereits gefüllt. «An der Lenk werden wir ab Mai weitere 150 Plätze haben», so Rohr. Darüber hinaus würden derzeit weitere Optionen geprüft. «Es gibt glücklicherweise noch einige Plätze mit Potenzial.»

Parallel dazu ist bereits die Suche nach geeigneten Wohnungen im Gang. Nicht immer ein einfaches Thema – viele Geflüchtete hatten in ihrer Heimat einen gehobenen Lebensstil und müssen hier mit einfachem Wohnraum vorliebnehmen. Zwangszuweisungen seien möglich, sagt Rohr, «auch wenn wir das  natürlich verhindern wollen».

Und wie wird die Situation bei Asyl Berner Oberland in ein paar Wochen sein? Wie in einem halben Jahr? «Das lässt sich unmöglich voraussagen», antwortet der Geschäftsführer. Er kann sich vorstellen, dass – falls sich der Krieg beispielsweise auf die Ostukraine konzentriert – viele Geflüchtete etwa in die Region Kiew zurückkehren. «Von einer Abreisewelle bis zu einem weiteren Ansturm ist alles möglich.»
-> www.asyl-beo.ch
(https://www.bernerzeitung.ch/dann-waren-die-ersten-gefluechteten-schon-da-765638008840)


+++AARGAU
In der Überbauung Dianapark in Rheinfelden gibt es Platz für rund 450 Menschen aus der Ukraine. Die Wohnungen sind dort teilweise leer, weil die Wohnblöcke im nächsten Frühling saniert werden sollen. (ab 04.39)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/kein-stadtfest-solothurner-maeretfescht-abgesagt?id=12183198


+++BASEL
Das UKBB betreut krebskranke Kinder aus der Ukraine und sucht weiter Aushilfspersonal (ab 08:32)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/sorgen-beim-faehrimaa?id=12183177


Anouchka Gwen kämpft um ihre Mutter: «Armut ist kein Verbrechen»
Gwens Mutter soll nach 26 Jahren ausgeschafft werden. Diese Woche gibt es eine Demo – eine Petition wird eingereicht und Bundesbern befasst sich mit dem Thema.
https://telebasel.ch/2022/04/27/anouchka-gwen-kaempft-um-ihre-mutter-armut-ist-kein-verbrechen/


450 Plätze für Geflüchtete aus Ukraine in Rheinfelden
Bis zur Sanierung der Dianapark-Überbauung in Rheinfelden sollen dort Geflüchtete aus der Ukraine leben. Es gibt Platz für 450 Personen.
https://telebasel.ch/2022/04/27/450-plaetze-fuer-gefluechtete-aus-ukraine-in-rheinfelden/?channel=105100
-> https://www.bazonline.ch/rheinfelden-stellt-fluechtlingen-eine-ganze-ueberbauung-zur-verfuegung-922991410642


Von Deutsch bis Yoga
Hunderte Freiwillige in Basel setzen sich für aus der Ukraine Vertriebene ein. Von Deutschkursen bis Yoga-Stunden ist fast alles dabei.
https://telebasel.ch/2022/04/27/von-deutsch-bis-yoga


+++LUZERN
Psychische Gesundheit ist bei Ankunft kein Thema: Trauma des Kriegs: viele Flüchtlinge werden allein gelassen
Die Flüchtlinge, die uns aus der Ukraine erreichen, haben Schreckliches hinter sich. Fachstellen schätzen, dass rund 60 Prozent von ihnen traumatisiert sind. Eine Behandlung bekommen aber nur die wenigsten. In der Luzerner Psychiatrie werden derzeit drei Patientinnen behandelt.
https://www.zentralplus.ch/politik/trauma-des-krieges-viele-fluechtlinge-werden-allein-gelassen-2354121/


+++SOLOTHURN
Altes Bürgerspital-Bettenhaus wird keine Flüchtlingsunterkunft
Das ausgediente Bettenhaus des Bürgerspital Solothurn wird ab nächsten Montag abgerissen. Deshalb stellt sich der Solothurner Regierungsrat gegen den Vorschlag der Solothurner SVP, das Bettenhochhaus als Flüchtlingsunterkunft zur Verfügung zu stellen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/altes-buergerspital-bettenhaus-wird-keine-fluechtlingsunterkunft?id=12183012


«Weniger Sozialhilfe für Scheinflüchtlinge». Über diese Initiative stimmen Solothurnerinnen und Solothurner am 15. Mai ab. Im Streitgespräch dazu kreuzen Beat Künzli (SVP) und Daniel Cartier (FDP) die Klingen. (ab 07:44)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-aargau-solothurn/kein-stadtfest-solothurner-maeretfescht-abgesagt?id=12183198



solothurnerzeitung.ch 27.04.2022

Wieder weniger Ärger ums Bundesasylzentrum? Anwohnerinnen und Anwohner treffen sich mit der Polizei

In den vergangene Jahren wurden vermehrt Straftaten beim Bundesasylzentrum festgestellt. Vor Ort im Schachen in Deitingen erhielten die Quartierbewohnerinnen und Quartierbewohner die Möglichkeit, Fragen zu stellen sowie Sorgen und Nöte mitzuteilen.

Urs Byland

Zweimal in den vergangenen zwei Jahren war das Schachenquartier in Deitingen in aller Munde. Ab zirka Dezember 2020 musste die Kantonspolizei eine Zunahme von Straftaten rund um das Bundesasylzentrum feststellen. Dieses befindet sich im Schachen auf Flumenthaler Boden, aber in der Nähe von Deitingen.

Gemeldet wurden der Polizei zu jener Zeit vor allem Fahrzeugaufbrüche, Diebstähle aus unverschlossenen Autos sowie Personen, die nachts um Liegenschaften im Deitinger Schachenquartier herumgeschlichen sind. Im Herbst 2021 rumorte es erneut, was erneut zu einer allgemeinen Verunsicherung führte.

Aktuell sei die Situation rund um das Bundesasylzentrum «sehr ruhig», so die Polizei. Zu verdanken sei dies mehreren Massnahmen, wie etwa einer verstärkte Polizeipräsenz. Nebst der Polizei hat auch der Bund reagiert und in Absprache mit der Polizei, den betroffenen Gemeinden, der Leitung des Bundesasylzentrums und dem Staatssekretariat für Migration einen Sicherheitsdienst eingerichtet.

Die eingeleiteten Massnahmen hätten ihre Wirkung nicht verfehlt und letztendlich zu einer deutlichen Entspannung der Situation rund um das Bundesasylzentrum geführt, erklärt der Mediendienst der Kantonspolizei. Weitergehende Massnahmen seien im Moment nicht angedacht.

Direkt Fragen stellen und Sorgen mitteilen

Gut möglich, dass dies noch nicht überall angekommen ist. Denn nun sucht die Kantonspolizei auch das direkte Gespräch. Per Inserat hat sie Anwohnerinnen und Anwohnern rund um das Bundesasylzentrum dazu eingeladen, in unmittelbarer Nähe ihres Wohnortes Fragen und Sorgen direkt zu äussern. Am Lokaltermin vor Ort im Schachen erschien die Polizei mit einem Fahrzeug. Die Anwesenden konnten einzeln beim Fahrzeug im Gespräch mit der Polizei ihre Fragen kundtun.

Von dieser Möglichkeit haben etwas mehr als 30 Personen Gebrauch gemacht. Mit dabei war Gemeinderat Benedikt Meier, der die Gemeinde in der Verbindungsgruppe Schachen/Gemeinde/Bundesasylzentrum vertritt. «Ich war positiv überrascht. Am Anfang waren etwa 15 Personen vor Ort.» Die Einzelgespräche habe er nicht mitverfolgen können, er wisse aber, dass einige Anwohnerinnen und Anwohner unsicher sind, wann sie bei Vorkommnissen zum Telefonhörer greifen und die Polizei anrufen sollen.

Thematisiert wurde die Sicherheitslage rund um das Bundesasylzentrum

Der Mediendienst der Kantonspolizei teilt mit, dass es erfreulich viele und gute Gespräche zwischen der Polizei und den anwesenden Bürgerinnen und Bürgern gegeben habe. Die Aktion der Polizei sei sehr geschätzt worden und werde deshalb weitergeführt. Hauptthema sei die Sicherheitslage rund um das Bundesasylzentrum gewesen, wobei die Polizei auch alle übrigen Fragen beantwortet habe. Aufgrund der Rückmeldungen und der guten Gespräche falle die Bilanz der Kantonspolizei durchwegs positiv aus.

Auch der Deitinger Gemeinderat Meier ist zufrieden. Grundsätzlich finde er diesen Austausch zwischen der Polizei sowie Anwohnerinnen und Anwohnern eine löbliche Sache. Er ist überzeugt: «Manche Leute sind verunsichert. Mit dieser Aktion wird die Hemmschwelle, mit der Polizei in Kontakt zu treten, herabgesetzt.»

Meier findet es auch gut, dass diese Treffen monatlich wiederholt werden. Das nächste Mal wird die Kantonspolizei am Samstag, 21. Mai, zwischen 8.45 Uhr und 11.15 Uhr vor Ort sein.
(https://www.solothurnerzeitung.ch/solothurn/lebern-bucheggberg-wasseramt/deitingenflumenthal-wieder-weniger-aerger-ums-bundesasylzentrum-anwohnerinnen-und-anwohner-treffen-sich-mit-der-polizei-ld.2280964)


+++ST. GALLEN
Asylzentrum Uznach: Kritische Fragen aus der Bevölkerung
Aus dem ehemaligen Pflegezentrum Linthgebiet in Uznach soll ein Asylzentrum werden. So die Idee des Kantons und der lokalen Behörden. Am Dienstagabend luden die Verantwortlichen zu einem Informationsanlass und stellten sich heiklen Fragen aus der Bevölkerung.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/asylzentrum-uznach-kritische-fragen-aus-der-bevoelkerung?id=12182892
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-ostschweiz/die-rhema-geht-gestaerkt-aus-der-covidpause?id=12183141
-> https://www.tvo-online.ch/aktuell/geplantes-asylzentrum-uznacher-buergerinfo-verlaeuft-ruhig-146310419


+++ZÜRICH
Andrang von ukrainischen Patienten im Zürcher Kinderspital
130 Kinder von Flüchtlingen hat das Zürcher Kinderspital seit Ausbruch der Ukraine-Krise behandelt. Nur: Der Andrang von Kindern aus dem Kriegsgebiet verschärft die Personal-Engpässe des Spitals. Eine Möglichkeit für das Kinderspital, dieses Problem zu lösen, ist Pflegepersonal aus der Ukraine.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/andrang-von-ukrainischen-patienten-im-zuercher-kinderspital?id=12183018
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/richard-wolff-blick-zurueck-auf-9-jahre-im-zuercher-stadtrat?id=12183138


+++SCHWEIZ
Strengere Kriterien bei Überstellungen nach Griechenland
Das Bundesverwaltungsgericht präzisiert seine Rechtsprechung zur Zumutbarkeit des Vollzugs der Wegweisung von anerkannten Schutzberechtigen nach Griechenland. Bei vulnerablen Personen gelten fortan strengere Kriterien.
https://www.bvger.ch/bvger/de/home/medien/medienmitteilungen-2022/ueberstellung-griechenland.html


Bündnis: Gleichbehandlung aller Geflüchteten
Das «Bündnis unabhängiger Rechtsarbeit im Asylbereich» freut sich über die grosse Unterstützung der Geflüchteten aus der Ukraine. Die Solidarität steht allen Schutzsuchenden zu.
https://beobachtungsstelle.ch/news/buendnis-gleichbehandlung-aller-gefluechteten/


Flüchtlingssituation: Erinnerungen an den Kosovo-Krieg – 10vor10
Der Schutzstatus S für Flüchtende wurde durch die Erfahrungen nach den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien eingeführt. Damals nahm die Schweiz über 52’000 Flüchtende auf.
https://www.srf.ch/play/tv/10-vor-10/video/fluechtlingssituation-erinnerungen-an-den-kosovo-krieg?urn=urn:srf:video:41d0fe84-d844-47a7-bb6f-8da48499702a



nzz.ch 27.04.2022

Ukraine-Flüchtlinge: Kantone wollen Chaos wegen der privaten Aufnahme verhindern

Rund die Hälfte der Ukrainer in der Schweiz sind privat untergebracht. Die direkte Zuweisung vom Bund an Gastfamilien führt jedoch zu Problemen. Einige Kantone nehmen die Zügel selber in die Hand.

Tobias Gafafer

Auch mehr als zwei Monate nach Kriegsbeginn ist die Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingen riesig. Von den über 41 000 Personen, die bis anhin in der Schweiz Schutz gesucht haben, sind gemäss dem Bund rund die Hälfte privat untergebracht. Privatpersonen haben über eine Plattform der Organisation Campax und der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) rund 66 000 Betten angeboten.

Die Erwartungen an die SFH waren gross. Anfang März erteilte Christine Schraner Burgener, die Staatssekretärin für Migration, ihr das Mandat, um Ukrainerinnen und Ukrainer direkt aus den Bundesasylzentren an Gastfamilien zu vermitteln. Inzwischen hat sich eine gewisse Ernüchterung breitgemacht.

Die Zahl der ukrainischen Flüchtlinge, die die SFH aus den Bundeszentren an Private vermittelt hat, ist bis anhin mit lediglich rund 3800 tief. Über die Kantone hat die Organisation nur wenige Personen zugewiesen, weil die Strukturen erst im Aufbau sind. Zudem häufen sich kritische Wortmeldungen von Vertretern der Kantone und Gemeinden: Sie klagen, die direkte Zuteilung aus den Bundesasylzentren an Private stelle das Schweizer System auf den Kopf.

Direkt zu Bekannten

Miriam Behrens, die Direktorin der SFH, relativiert die tiefe Zahl der Zuweisungen. «Ein grosser Teil der privat Untergebrachten ist nicht auf uns angewiesen, sondern direkt zu Bekannten und Verwandten gegangen.» Die rund 3800 Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihre Organisation vermittelt habe, würden auf den ersten Blick nach wenig aussehen. «Für Flüchtlinge und Gastfamilien, die sich vorher nicht kannten, ist es aber ein sehr gutes Ergebnis.» Zudem sei es aufwendig, längerfristig eine seriöse Betreuung sicherzustellen. Die SFH will jede Gastfamilie besuchen.

Behrens führt die tiefe Zahl der vermittelten Flüchtlinge zudem auf den Föderalismus zurück. «Wir müssen mit jedem Kanton eine individuelle Lösung suchen, teilweise sogar mit den Gemeinden», sagt sie. Je mehr Akteure beteiligt seien, desto komplizierter werde es. Die SFH hat zwar Angebote von Gastfamilien aus allen Kantonen erhalten. Die Organisation darf aus den Bundesasylzentren heraus aber nur in 14 von 26 Kantonen Flüchtlinge vermitteln.

Zu jenen Kantonen, die nicht mit der Flüchtlingshilfe arbeiten, gehört St. Gallen. Die Behörden schicken alle Ukrainerinnen und Ukrainer, die ihnen der Bund zuweist, zunächst für einige Tage in eine Kollektivunterkunft. Von dort verteilt der Kanton die Flüchtlinge auf die Gemeinden und an Private. «Wir dürfen in der schwierigen Situation nicht die bewährten Prozesse über den Haufen werfen», sagt der St. Galler Sicherheitsdirektor Fredy Fässler (SP). Sonst komme es zu einem Chaos. Mit den bewährten Prozessen meint Fässler, dass der Bund die Flüchtlinge den Kantonen zuteilt, die sich um die weitere Verteilung kümmern.

Der Kanton St. Gallen ist nicht grundsätzlich gegen die Unterbringung bei Privaten. Er ruft diese aber auf, sich bei den Sozialdiensten der Gemeinden zu melden. Die direkte Zuweisung aus den Bundesasylzentren führe zu negativen Reaktionen von Gastfamilien, die sich von den Behörden alleingelassen fühlten, sagt Fässler.

Der Kanton prüft nun selber, ob Private für die Unterbringung geeignet sind. «Das ist in einer Kollektivunterkunft einfacher, als wenn wir jede Person einzeln suchen müssen», sagt Fässler. Die Gastfamilien für die Zuteilung ab den Bundesasylzentren würden dagegen bloss summarisch geprüft. Die SFH hat in der gegenwärtigen Krise auch nicht die Kapazitäten, um zuerst alle Privatunterkünfte zu besuchen. Gemäss Fässler hat die Skepsis in anderen Kantonen ebenfalls zugenommen.

Überlastete Gemeinden

Zu diesen gehört Graubünden, das bis letzte Woche mit den Daten der Flüchtlingshilfe gearbeitet hat. Der Kanton kümmert sich nun ebenfalls selber um die Angebote und Zuweisungen. «Am Anfang waren wir froh um die Hilfe der SFH, bis wir unsere Strukturen aufgebaut hatten», sagt Marcel Suter, der Leiter des kantonalen Migrationsamts. Aber die Zuweisungen aus den Bundesasylzentren hätten vereinzelt zu Problemen geführt.

So kam es zu Doppelspurigkeiten. «Wir wiesen ukrainische Schutzsuchende Gastfamilien zu, die bereits Personen aufgenommen hatten, ohne dass wir oder die SFH etwas wussten», sagt Suter. Zudem kenne der Kanton die Situation in den Gemeinden. Die Einschulung der Kinder stelle eine grosse Herausforderung dar. Einige Gemeinden seien stark belastet, weil sie bereits für Flüchtlinge zuständig seien oder einen hohen Ausländeranteil hätten. «Wir müssen auch innerhalb des Kantons für eine möglichst faire Verteilung sorgen.»

Ein Nebenaspekt der privaten Unterbringung ist, dass ukrainische Flüchtlinge auch bei Bagatellen den Notfall von Spitälern aufsuchen. Sie seien dies von ihrer Heimat gewohnt, sagt Suter. Bei der kollektiven Unterbringung sei es dagegen einfacher, das Schweizer Hausarztmodell zu vermitteln. Mit dem Status S erhalten alle ukrainischen Flüchtlinge Zugang zu einer Krankenkasse – und damit zur Gesundheitsversorgung.

Trotz den Problemen hat Suter mit der privaten Unterbringung auch gute Erfahrungen gemacht. «Ohne diese hätten wir den ersten Ansturm nicht bewältigen können.» Nun müssten die Kantone und Gemeinden die Gastfamilien aber enger begleiten, damit sich diese nicht allein gelassen fühlten. Zahlreiche Kantone haben mit Hilfswerken Verträge abgeschlossen, um die Begleitung sicherzustellen. Dass die private Unterbringung nicht nur kurzfristig funktioniert, liegt im Interesse der Behörden. «Wer einmal in einer Gastfamilie oder Wohnung lebt, wechselt später nicht gerne in eine Kollektivunterkunft», sagt Suter.

Der Kanton bringt Ukrainerinnen und Ukrainer weiterhin in Gastfamilien und in leerstehenden Wohnungen unter. Parallel hat er die Zahl der Plätze in den Kollektivunterkünften erhöht. «Wir weisen die Schutzsuchenden auch diesen zu, behalten aber Reserven für den Ansturm, der je nach der Entwicklung in der Ukraine noch kommen könnte», sagt Suter. Zudem stiegen auch die Asylzahlen. Gemäss dem Bund kehren zwar erste Ukrainer in ihre Heimat zurück. Suter rechnet jedoch nicht damit, dass dies viele sind.

Dass in einer derartigen Krise nicht alles perfekt funktioniert, ist nachvollziehbar. Trotzdem setzt Miriam Behrens weiterhin auf die private Unterbringung via Flüchtlingshilfe. Im Bundesasylzentrum Bern läuft ein Pilotprojekt, um mit mehr Platz und Personal mehr Ukrainerinnen und Ukrainer an Gastfamilien zu vermitteln. Behrens hofft, dass künftig auch andere Flüchtlingsgruppen privat untergebracht werden können. In einigen Kantonen, etwa in Basel, Schaffhausen oder Waadt, sei das bereits der Fall.
(https://www.nzz.ch/schweiz/ukraine-fluechtlinge-kantone-wollen-chaos-wegen-der-privaten-aufnahme-verhindern-ld.1681106)



Frontex-Ausbau – mehr Sicherheit oder mehr Leid an der Grenze?
Die Schweiz soll sich am Ausbau der EU-Grenzschutzorganisation Frontex beteiligen ¬– das wollen Bundesrat und Parlament. Der Vorwurf der Gegner: Der Bund würde sich damit an den Menschenrechtsverletzungen im Grenzgebiet mitschuldig machen. Mehr Schutz oder verfehlte Migrationspolitik? Die kontroverse Debatte heute live im «TalkTäglich».
https://www.telebaern.tv/talktaeglich/frontex-ausbau-mehr-sicherheit-oder-mehr-leid-an-der-grenze-146123638


Stellungnahme zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetzes; Einschränkung der Sozialhilfeleistungen für Ausländer*innen aus Drittstaaten
humanrights.ch reicht eine Vernehmlassungsantwort zur Änderung des Ausländer- und Integrationsgesetz (AIG) ein, welche die Einschränkung der Sozialhilfeleistungen für Ausländer*innen aus Drittstaaten vorsieht.
https://www.humanrights.ch/de/ueber-uns/stellungnahmen/stellungnahme-revision-aig


Das bewegt die Städte: Geflüchtete aus der Ukraine
Seit Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine haben viele Ukrainerinnen und Ukrainer in der Schweiz um Schutz gebeten. Laut dem UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge (UNHCR) handelt es sich um die am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise seit dem 2. Weltkrieg. Ein grosser Teil der Betroffenen kommt in den Schweizer Städten an. In dieser aussergewöhnlichen Situation stehen sie ähnlichen Problemen gegenüber, vor allem bei Unterbringung und Unterstützung der Flüchtenden sowie Einschulung ihrer Kinder. Das bewegt die Städte.
https://staedteverband.ch/884/de/das-bewegt-die-stadte-gefluchtete-aus-der-ukraine?share=1


+++ITALIEN
Lampedusa as an Island of Peace
Safety and Rescue, yes! Hot-spot and militarization, no!
We are impressed by the initiative of the mayor of Lampedusa and Linosa, Totò Martello, who wants to bring the islands into a “Journey for Peace” – a visionary process for humanity, inviting and including also all civil actors at sea.
https://alarmphone.org/en/2022/04/27/lampedusa-as-an-island-of-peace
-> https://sea-eye.org/lampedusa-insel-des-friedens/


Italien eröffnet Verfahren gegen Seenotrettungs-Crew der Iuventa
Nach fast fünf Jahren strafrechtlicher Ermittlungen beginnt am 21. Mai 2022 das Vorverfahren gegen die Seenotretter_innen der Iuventa-Crew in Trapani, Italien. Den vier deutschen Crewmitgliedern drohen in Italien bis zu 20 Jahre Gefängnis, weil sie dabei geholfen haben, mehr als 14.000 Menschen im Mittelmeer vor dem Ertrinken zu retten. Amnesty International fordert, das Verfahren gegen die Iuventa-Crew und andere Seenotrettungsorganisationen sofort einzustellen. Die Menschenrechtsorganisation mahnt außerdem an, den Straftatbestand “Beihilfe zur irregulären Einreise” so zu verändern, dass humanitäre Hilfe an den europäischen Außengrenzen nicht länger kriminalisiert wird.
https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/italien-eroeffnet-verfahren-gegen-seenotrettungs-crew-iuventa


+++GROSSBRITANNIEN
Großbritannien: Handybeschlagnahme bei Asylsuchenden war unrechtmäßig
Das Innenministerium hat tausende Endgeräte von Asylsuchenden unrechtmäßig beschlagnahmt und ausgelesen, so ein britisches Gericht. Auch in Deutschland wird der Umgang mit Datenträgern von Geflüchteten vor Gericht behandelt.
https://netzpolitik.org/2022/grossbritannien-handybeschlagnahme-bei-asylsuchenden-war-unrechtmaessig/


+++EUROPA
Inside Frontex: Die geheime Datenbank der EU – und was sie damit vertuscht
Die Grenzbehörde der EU war in illegale Pushbacks von Hunderten, wahrscheinlich sogar Tausenden Flüchtlingen in der Ägäis involviert. Die illegalen Praktiken klassifizierte sie regelmässig falsch und verhinderte so ihre Aufklärung.
https://www.republik.ch/2022/04/27/inside-frontex-die-geheime-datenbank-der-eu
-> https://www.srf.ch/news/international/migration-frontex-in-pushbacks-in-aegais-involviert
-> Rundschau: https://www.srf.ch/play/tv/rundschau/video/ausgesetzt-in-der-aegaeis-sauberer-strom-kanzler-scholz-unter-druck?urn=urn:srf:video:32f7fabb-0c83-43ae-a9d4-67df0f8dfc9f


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
…UND GELD STINKT DOCH!
Mit der Verschönerung des Ni-Una-Menos-Platzes (ehemals Helvetiaplatz) mit dem Schriftzug “und Geld stinkt doch” haben wir markiert, wem das Quartier gehört. Nämlich weder den Bullen, noch den Yuppies oder den Bonzen, sondern der Arbeiter_innenklasse!
https://barrikade.info/article/5137


Feuer bei Unterstützer von Türkischem Faschismus
Brandanschlag gegen die Heitkamp Construction GmbH, welche dem türkischen Milliardär und Erdogan-Freund Erman Ilicak gehört.
In der Nacht auf den 26.4.2022 haben wir ein Feuer im Eingangsbereich der Heitkamp Construction in Dierikon (Kanton Zug) gelegt. Wir greifen damit Erman Ilicak, einen engen Unterstützer des türkischen Faschismus an. Gegen den neusten Angriffskrieg auf die kurdischen Berge im Nordirak gibt es nur eine Antwort: Widerstand!
https://barrikade.info/article/5139


1. Mai Demonstration endet neu im Kleinbasel (ab 03:40)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-basel-baselland/basler-regierung-leistet-nothilfe-fuer-ballettschule?id=12182904


+++SPORT
Tag der Arbeit und gleich zwei Meisterfeiern: In Zürich droht am 1. Mai das Mega-Chaos
Jedes Jahr ziehen am 1. Mai, dem Tag der Arbeit, Tausende Demonstranten durch die Strassen der Stadt Zürich. Die Polizei hat damit schon jede Menge zu tun. Doch dieses Jahr droht Chaos. Grund: zwei mögliche Meisterfeiern.
https://www.blick.ch/schweiz/zuerich/tag-der-arbeit-und-gleich-zwei-meisterfeiern-in-zuerich-droht-am-1-mai-das-mega-chaos-id17436034.html


+++KNAST
Haftanstalt Gnjilane: Dänemark schickt Abschiebehäftlinge in Gefängnis im Kosovo
Um die überfüllten dänischen Gefängnisse zu entlassen, sollen bis zu 300 ausländische Insassen ihre Strafen im Kosovo absitzen. Danach werden sie abgeschoben.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/daenemark-abschiebehaeftlinge-kosovo-haftanstalt-gnjilane


Meilenstein: Baugesuch für forensische Station in Wil
https://www.tvo-online.ch/aktuell/meilenstein-baugesuch-fuer-forensische-station-in-wil-146310411


+++POLICE BE
Polizist erschoss Mann in Adelboden: Staatsanwaltschaft muss Verfahren wieder aufnehmen.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/freiburg-entscheidet-ueber-die-industriepolitik-der-zukunft?id=12183225


Adelboden/Bern: Beschwerdekammer pfeift Staatsanwaltschaft zurück
Die kantonale Staatsanwaltschaft hätte eine Untersuchung gegen drei Polizisten nach tödlichen Schüssen nicht einstellen dürfen. Zu diesem Schluss kommt die Beschwerdekammer des Obergerichts.
https://www.derbund.ch/verfahren-gegen-drei-berner-polizisten-wird-wieder-aufgenommen-512837383866


+++FRAUEN/QUEER
Zwei Jahre nach Coming-out – Curdin Orlik: «Ich habe mir mehr Sorgen gemacht als nötig»
Der Schwinger outete sich im März 2020 als schwul. Danach brauchte er Zeit, um die Folgen dieses Schrittes zu verarbeiten.
https://www.srf.ch/news/panorama/zwei-jahre-nach-coming-out-curdin-orlik-ich-habe-mir-mehr-sorgen-gemacht-als-noetig


Luzerner Rapper äussert sich zu Vorwürfen: Homophobie an Rap-Event «Cypher»: «Es tut mir weh»
An der diesjährigen Hip-Hop-Sendung von «SRF» Cypher haben sich 86 Rapper miteinander gemessen. Teilweise sind dabei sexistische, rassistische und homophobe Sprüche gefallen. Der Luzerner Rapper und Co-Moderator der Live-Sendung stellt sich nun der Kritik.
https://www.zentralplus.ch/news/hip-hop-sendung-cypher-geraet-in-kritik-2353801/
-> Nachbesprechung 2022: https://www.youtube.com/watch?v=3f_yOpfeUOs


+++RASSISMUS
Sechseläuten in Zürich: «Nicht zeitgemäss» und «rassistisch» – Kritik an Zünftern wegen «Brownface»
Sind die braun geschminkten Gesichter der Kämbel-Zünfter rassistisch? Die Meinungen sind geteilt.
https://www.20min.ch/story/nicht-zeitgemaess-und-rassistisch-kritik-an-zuenftern-wegen-brownface-712408282576


+++RECHTSEXTREMISMUS
Warum Wähler:innen rechtsextremer Parteien nicht „dumm“ sind.
Ob Frankreich oder Österreich: Nach jeder Wahl herrscht Entsetzen über die Erfolge extrem rechter Parteien. Ein schneller Reflex ist es, die Wähler:innen als „dumm“ oder “ungebildet” zu bezeichnen. Aber: Man macht sich die Erklärung damit zu einfach. Politologin Natascha Strobl analysiert.
https://www.moment.at/story/warum-waehlerinnen-rechtsextremer-parteien-nicht-dumm-sind


+++HISTORY
Rassismus: Harvard zahlt 100 Millionen Dollar für Wiedergutmachung von Sklaverei
Ein Bericht listet auf, wie sehr auch die US-Elitehochschule von Sklavenhandel und Rassismus profitiert hatte. Mit einem Fonds will die Uni jetzt Schadensersatz leisten.
https://www.zeit.de/gesellschaft/2022-04/harvard-sklaverei-fonds?utm_referrer=https%3A%2F%2Ft.co%2F



Appenzell Ausserrhoden – Zwangsarbeit im Töchterheim «Sonnenberg» – Schweiz Aktuell
Was früher als «nacherzieherische Massnahmen» betitelt wurde, benennt ein Historiker heute als «Zwangsarbeit». Eine Recherche des Magazins Beobachter zeigt: In Appenzell Ausserhoden wurde bis in die 1970er Jahre rund 2’000 junge Frauen mit Zwangsarbeit ausgenutzt.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/appenzell-ausserrhoden—zwangsarbeit-im-toechterheim-sonnenberg?urn=urn:srf:video:82d46882-0f57-4ff3-ae64-29aabcfbfc44



beobachter.ch 26.04.2022

Zwangsarbeit in der Schweiz: Wie die Stickerei-Industrie junge Frauen ausnutzte

2000 Mädchen waren ab den Fünfzigerjahren im Fabrikheim in Walzenhausen AR interniert. Weggesperrt von den Behörden. Sie mussten für umliegende Betriebe Zwangsarbeit leisten.

Von Yves Demuth

Es ist noch dunkel, als sich die jungen Frauen vor dem Töchterheim Sonnenberg einreihen. In der Ebene liegt schwarz der Bodensee. Auf dem Vorplatz des Heims zerrt der Wachhund Senta aufgeregt an seiner Kette.

Als die Zweierkolonne steht, stapfen die Heimmädchen in den frühen Morgen hinaus – die Köpfe geradeaus gerichtet, ohne zu grüssen. Wie es ihnen Heimbesitzer Pierre V.* (Name der Redaktion bekannt) vorschreibt.

Die Strasse führt sie von Walzenhausen ins benachbarte Wolfhalden. In einem Gebäude voller Saurer-Stickautomaten beginnen die Frauen eine weitere Frühschicht in der Nastuchstickerei Kleinberger. Lohn erhalten sie kaum. Sie alle sind gegen ihren Willen in Walzenhausen untergebracht.

«Man kann sich gar nicht vorstellen, wie das war», sagt die ehemalige Insassin Liselotte S.*: «Die ganze Zeit mussten wir arbeiten. Das Heim hatte ja keine Angestellten, wir mussten alles selbst machen, neben der Schicht in der Stickerei.»

Das Töchterheim Sonnenberg war Teil eines repressiven Systems der Fürsorgebehörden, das aus 16- bis 20-jährigen jungen Frauen mittels «Erziehung durch Arbeit» sittsame und angepasste Ehefrauen formen sollte. Pierre V. führte sein Privatheim mit Handelsregistereintrag von 1957 bis 1975. Rund 2000 Frauen hat er in dieser Zeit nach eigenen Angaben in umliegende Fabriken zur Arbeit geschickt. Wer flüchten wollte, landete in der Arrestzelle des Heims.

Als wäre nie was gewesen

Aufgearbeitet wurde die Ausbeutung der Frauen von Walzenhausen bis heute nicht. Dabei wurden die Behörden schon 1973 von einem St. Galler Rechtsprofessor alarmiert. Doch alle schauten fast 50 Jahre lang weg. Das Töchterheim und die Fabrikbetriebe warfen ihre Akten fort, wie das alle Firmen tun, wenn die Aufbewahrungsfrist abgelaufen ist. Es ist, als ob die Zusammenarbeit zwischen der Fürsorge und der Schweizer Industrie nie stattgefunden hätte.

Liselotte S. und Ursula L.* können ihre Zeit in Walzenhausen nicht vergessen. Sie meldeten sich auf einen Zeugenaufruf des Beobachters nach einem Artikel über Zwangsarbeit für den Industriellen Emil Bührle. Ihre Geschichte zeigt, dass die wirtschaftliche Ausbeutung von Heimkindern zugunsten der Industrie in der Nachkriegszeit häufiger vorkam, als bisher bekannt war. Eine Datenbank des Bundesarchivs, in die der Beobachter per Öffentlichkeitsgesetz Einsicht verlangte, nennt weitere Fabrikheime, etwa das Marienheim in Bettlach SO.

Was im Fabrikheim Walzenhausen geschah, zeigt diese Recherche in drei Kapiteln.

Kapitel 1: Der Skandal

Pierre V. erhielt für sein Arbeitsheim vermutlich nie Subventionen. Trotzdem konnte er sein Bauernhaus in den Sechzigerjahren erheblich ausbauen. Indizien deuten darauf hin, dass das Geld dafür auch von der Industrie stammte. Das legt zumindest ein 18-seitiger Bericht der Arbeitsgruppe für Strafreform der Hochschule St. Gallen (HSG) nahe, die 1969 vom bekannten Rechtsprofessor Eduard Naegeli gegründet worden war. Die Mitglieder der Gruppe sind auf Einladung in Heime gegangen und haben Reformen vorgeschlagen.

Es falle nur wenig Tageslicht durch ein vergittertes Fenster in die Arrestzelle, schrieb die Arbeitsgruppe in ihrem Bericht 1972. Lesbische Beziehungen unter den Mädchen hätten «harte Konsequenzen». Für die Mädchen sei nur «abstumpfende Fabrikarbeit» in der Stickerei Kleinberger und dem Kunststoffwerk Weiss-Buob möglich, Berufswünsche wie eine Lehre oder Anlehre würden abgeschlagen. Der Heimleiter wolle alle, die nicht flüchteten, mit einer «Durchhalteprämie» belohnen. «Delikaterweise handelt es sich bei dieser ‹Durchhalteprämie› nicht um ein Geschenk des Heims, sondern um von den Mädchen verdientes und einbezahltes Geld», so der Report.

Die Autoren des Berichts sandten ihre Recherchen zum Geschäftsmodell des Pierre V. 1973 an zahlreiche Zeitungsredaktionen sowie den Ausserrhoder Regierungsrat. Die «Ostschweizer Arbeiterzeitung» titelte: «Heiminsassen werden an Firmen verschachert: Mädchenhandel in Appenzell?» Eine im ganzen Heim installierte Gegensprechanlage werde vom Heimleiter als Abhöranlage missbraucht, was menschenunwürdig sei.

Der Ausserrhoder Regierungsrat war befremdet ob der «Pressekampagne». Selbst als Rechtsprofessor Eduard Naegeli schriftlich nachfragte, woher Pierre V. «die Kompetenz ableitet, die Mädchen zwangsweise in Fabriken arbeiten zu lassen und gegen sie sogar Disziplinarmassnahmen zu ergreifen (etwa Arreststrafen)», handelte die Kantonsregierung nicht. Es gebe keinen «unmittelbaren Anlass zum Einschreiten», heisst es im Protokoll des Regierungsrats vom 27. Februar 1973. Statt der «behördlichen Untersuchung», die Naegeli forderte, regte der Regierungsrat lediglich «eine neutrale Expertise» an. Das nur, wenn der Heimbesitzer damit einverstanden sei und die Kosten übernehme. Zwei Jahre nach der Artikelwelle schloss Pierre V. sein Heim freiwillig, wohl wegen sinkender Nachfrage.

«Saubere Frauenarbeit»

Der Skandal verpuffte 1973, obwohl der Bericht der Arbeitsgruppe fundiert war. Acht Monate lang war sie immer wieder im «Sonnenberg», führte Gespräche mit V. und den beiden industriellen Arbeitgebern. Der Heimbesitzer erhalte von der Stickerei Kleinberger und vom Kunststoffwerk Weiss-Buob «laut seinen eigenen Angaben […] einen monatlichen Betrag von je 500 Franken, vermutlich als Dank für die garantierte Beschaffung einer bestimmten Anzahl Arbeitskräfte», hielt die Arbeitsgruppe fest.

Pierre V. stritt das nie ab. Ohne die «freiwilligen Zuwendungen der Arbeitgeber» müsste das Heim die Preise erhöhen, schrieb er 1973 in seiner Stellungnahme zuhanden der Presse. Die Provisionszahlungen der Industrie für das Zuhalten günstiger Heimmädchen sah er offenbar als legitim. Jährlich verdiente er so nach heutigem Wert über 30’000 Franken. Seine Dienste waren gefragt, weil Arbeitskräfte während des Wirtschaftsbooms zwischen 1950 und 1974 knapp waren.

Pierre V. verteidigte auch die Einrichtung einer Arrestzelle: «Es gibt Fälle, wo eine Isolierung unumgänglich ist, insbesondere wenn bei fluchtgefährdeten Mädchen […] ein Entweichen verhindert werden soll.» Andere Aussagen im Bericht wies das Heimleiter-Ehepaar V. als falsch zurück. Die Fabrikarbeit sei nicht abstumpfend, sondern «eine saubere, spezifische Frauenarbeit». Der Erfolg gebe ihnen recht. Denn nicht nur Behörden, sondern selbst überforderte Eltern würden ihre schwierigen Töchter freiwillig für ein Jahr in den «Sonnenberg» einweisen. Das ist für die letzten Jahre des Heims so belegt.

Pierre V. wohnte zusammen mit seiner Frau und seinen Kindern im Töchterheim. In einem Formular der Gemeinde gab der gelernte Dekorateur als Beruf «Prediger» an. Der Freikirchler aus der Westschweiz war einst Heilsarmee-Offizier. Sein fürsorgerisches Handwerk lernte er als Angestellter des Lärchenheims Lutzenberg, das nur einen Kilometer entfernt liegt. Auch das Lärchenheim arbeitete eng mit der Industrie zusammen. Wegen seines Mottos «Maul halten, Ordnung halten und durchhalten!» geriet es 1970 in die Kritik der Zeitschrift «Sie + Er».

Pierre V. kopierte das Modell des Lärchenheims. Im «Sonnenberg» wohnten je nach Jahr 24 bis 91 Mädchen. Die Fürsorgebehörden der Stadt Zürich oder der Westschweiz überliessen ihre Klientinnen gern dem Heim, da es in der Regel gratis war. Bezahlen mussten die Frauen. Mit ihrem Fabriklohn, der direkt ans Heim ging, finanzierten sie ihre eigene Freiheitsberaubung.

«Ich war sehr allein in Walzenhausen», sagt Liselotte S. aus Bern. «Es herrschte ein Klima der Angst. Der Heimleiter spielte uns gegeneinander aus. Er war ein Frömmler. Wir hockten jeden Sonntag zwei Stunden in seinem Zimmer und mussten seine Predigt hören. In die Kirche durften wir nicht.»

«Es ist ein grosses Unrecht, für das nie jemand hat geradestehen müssen», sagt Liselotte S. Der Regierungsrat des Kantons Bern liess sie zwischen 1960 und 1962 mehr als zweieinhalb Jahre lang im «Sonnenberg» wegsperren, zeigen die Vormundschaftsakten. Jahrelang habe sie mit niemandem darüber gesprochen, sagt die 81-jährige Bernerin. «Ich konnte nie damit abschliessen. Man hat mir einfach das Leben versiechet.» Es ist eine Vergangenheit, die nicht vergeht.

Kapitel 2: Die Beweise

Weil die privaten Akteure von damals ihre Akten weggeworfen haben, lassen die Universitäten die Finger von Walzenhausen und dem fürsorgerisch-industriellen Komplex. Daran ändern auch 28 Millionen Franken an Forschungsgeldern nichts, die Bund und Nationalfonds bisher gesprochen haben, um mehr über die administrativen Internierungen von mindestens 60’000 Schweizerinnen und Schweizern bis 1981 zu erfahren. Zu ihnen zählen auch die Frauen von Walzenhausen.

Dabei ist das Zusammenspiel von Behörden und Industrie gut dokumentiert, nur sind die Beweise dafür verstreut:

– Die Universität St. Gallen hat die Berichte der Arbeitsgruppe für Strafreform aufbewahrt.
– Im Staatsarchiv in Herisau fand sich in unerschlossenen Aktenbergen die Haltung des Regierungsrats.
– Die Vormundschaftsakten von Liselotte S. und Ursula L. spiegeln das Wissen der Behörden wider.
– Und das Einwohnerkontrollregister von Walzenhausen, das der Beobachter anonymisiert auswerten konnte, liest sich wie eine Geschädigtenkartei. Es nennt sogar die Profiteure: Die Stickerei Kleinberger und das Kunststoffwerk Hermann Weiss-Buob AG im Nachbardorf Wolfhalden stellten besonders viele Heimmädchen an. Die Stickerei war vom Heim aus zu Fuss in 20 Minuten erreichbar. Das Kunststoffwerk fuhr die zwangsversorgten jungen Frauen mit einem Firmenbus in die Fabrik, wie ein Brief von Pierre V. zeigt. Daneben beschäftigten die Stickerei Hausammann in Walzenhausen oder zwei Kartonagebetriebe im Rheintal eine kleinere Gruppe junger Frauen.

Der Beobachter führte über ein Dutzend Gespräche mit Anwohnern und Zeitzeuginnen. Sie berichten von kasernierten jungen Frauen, die keinen Kontakt zum Dorf haben durften. Von spektakulären Fluchten übers Dach. Oder vom Dorfpolizisten, der die geflüchteten «Töchter» zurückschaffen musste und den dabei das viele Zigarettenrauchen in seinem Polizeiauto genervt habe. Eine Nachbarin zeigt einen Schuppen auf einer bewaldeten Anhöhe hinter dem Töchterheim. «Die Mädchen versteckten sich auf der Flucht häufig hier im Heu. Mein Mann fand immer wieder Gegenstände. Einmal ein goldiges Halsketteli», sagt sie.

Die Frauen im Heim waren eine Attraktion in Walzenhausen. Appenzeller Buben fuhren mit ihren Töffli beim Töchterheim vor, um die «gefallenen Mädchen» zu sehen. Junge Frauen, die angeblich vorehelichen Geschlechtsverkehr gehabt hatten und damit von der herrschenden Moralvorstellung abgefallen waren. Dass es für solche Frauen eine Arrestzelle brauchte, schien vielen normal.

Die unbeugsame Ursula L. aus Zürich landete gleich zweimal im Heimkerker. «In der Fabrik durften wir nicht sprechen. Da bin ich aufgestanden und habe dem Vorarbeiter gesagt, er sei ein Sklaventreiber. Der Heimleiter hat mich im Arrestzimmer eingesperrt», erzählt die heute 77-Jährige. «Ich hielt das nicht aus, weil ich vorher im Kinderheim schon immer eingeschlossen war.»

«Bestimmt nicht geisteskrank»

Ursula L. kam wenige Tage nach ihrem 16. Geburtstag nach Walzenhausen, wie ihre Akte zeigt. Die Amtsvormundschaft der Stadt Zürich schickte sie 1960 dorthin, weil es an der vorherigen Stelle in einer Autogarage zu einem Streit gekommen war. «Ich war da eine billige Arbeitskraft, vermittelt durch die Stadt Zürich», so L. «Als der Chef mich schlagen wollte, warf ich ihm meine Schuhe an die Birne. Er hat natürlich sofort in Zürich angerufen und gesagt: ‹Die muss weg.›»

In Walzenhausen sperrt der Heimleiter Ursula L. nach fünf Monaten erneut ein – wegen ihres ungebrochenen Widerstands. «Er hat im Vorratsraum einen Arrest gebaut. Die Fenster und die Lampe hat er vergittert. Diese Gitter habe ich rausgerissen. Alles hat geblutet.» Der Heimbesitzer lässt Ursula L. in die Heil- und Pflegeanstalt Herisau einweisen. Die Amtsvormundschaft der Stadt Zürich will unter anderem abklären lassen, ob sie «an Geisteskrankheit» leidet.

Der Anstaltsdirektor schreibt im Gutachten, dass Ursula L. «bestimmt nicht» geisteskrank sei, ihr die Arbeit in der Nastuchstickerei aber «gar nicht in den Kram passte». Diese bringe eine «sehr monotone, auf ein paar Handgriffe beschränkte Arbeitsweise mit sich». Der Direktor empfiehlt, Ursula aus dem «Sonnenberg» zu entlassen, sie in einer Familie zu platzieren und ihr Gelegenheit zu «Sprach- und anderen Ausbildungskursen» zu geben. Einen Monat später kann Ursula L. zu ihrer geschiedenen Mutter abreisen.

Die brave Liselotte S. aus Bern musste 32 Monate im «Sonnenberg» bleiben. Hingebracht hatte sie eine Fürsorgebeamtin im Zug. Es war der 22. März 1960. In der Schweiz revolutionierte der Schlager «Itsy Bitsy Teenie Weenie Honolulu-Strand-Bikini» die Bademode. In Rheineck SG betrat die 19-jährige Liselotte das Zahnradbähnli hoch ins Appenzeller Vorderland. «Ich wusste nicht, wohin sie mich bringen. Es hiess nur: ‹Jetzt kommst du an einen Ort, wo du arbeiten kannst›», erinnert sie sich.

Ein Schwatz als Beweis

Jeden Abend vor dem Nachtessen habe der Heimleiter die Namen der Insassinnen aufgerufen und erwartet, dass zu jeder alle Verstösse gegen die Heimordnung gemeldet würden. «Es gab keine Solidarität unter uns Mädchen. Jede verriet jede, um keine Strafen zu erhalten. Verschwieg man das Vergehen eines anderen Mädchens, erhielt man ein Strichli.» Je mehr Striche eine hatte, desto mehr musste sie im Haushalt helfen. «Weil immer jemand Strichli hatte, brauchte das Heim kein Personal», sagt Liselotte S. «Das System war ausgeklügelt.»

Die 81-Jährige erzählt bei mehreren Treffen in ihrer kleinen Wohnung in Bern ihre Lebensgeschichte. Sie spart nichts aus. Ihr Unglück begann, als an einem Schützenfest etwas wegkam. Die Jugendanwaltschaft kreidete der Elfjährigen einen Diebstahl an. Sie wurde als uneheliches Kind ihrer Patchworkfamilie entrissen, die in ärmlichen Verhältnissen in Sumiswald im Emmental lebte. Trotz erbittertem Widerstand ihrer Mutter, die inzwischen verheiratet war. Die vier ehelichen Kinder beliess die Behörde den Eltern, wie aus den Akten hervorgeht.

Acht Jahre später reichte die Unterstellung, Liselotte S. werde «vielleicht bald» schwanger, für eine administrative Zwangsmassnahme. Als Beweis genügte, dass sie sich am Abend nach der Arbeit «mit halbstarken Burschen» auf einen Schwatz getroffen hatte. Die Fürsorgebürokraten entschieden sich für das Heim Sonnenberg, weil es «finanziell sehr günstig» war, wie sie dank einem Prospekt aus Walzenhausen wussten. Das Mädchen könne dort «auswärts in einer Fabrik arbeiten und aus ihrem Lohn die Kosten» selber bestreiten.

Kapitel 3: Das Geld

Liselotte S. arbeitete 1960 in der Stickerei Kleinberger für einen Stundenlohn, der heute umgerechnet Fr. 6.80 betragen würde. Das war ein Viertel weniger, als Frauen in der Textilindustrie damals im Durchschnitt verdienten, laut Bundesamt für Statistik. In den zweieinhalb Jahren im «Sonnenberg» musste S. in drei Fabriken arbeiten, wofür sie nach heutigem Wert 42’000 Franken Lohn erhielt. Das belegt der Auszug ihrer AHV-Ausgleichskasse.

Doch bei der Entlassung war von der stattlichen Summe nichts mehr übrig. Heimbesitzer Pierre V. machte sogar noch eine Schuld von Fr. 23.35 geltend, die er kulanterweise erliess. Der «Sonnenberg» hatte zwar während des Aufenthalts von Liselotte S. etwas Geld an die Vormundschaftsbehörde zur Einzahlung aufs Sparbuch überwiesen. Doch dieser Betrag machte nach heutigem Wert nur 400 Franken aus.

Liselotte S. hatte nach der Entlassung aus dem Heim also gerade mal ein Prozent ihres Lohns zur Verfügung für den Start ins freie Leben. Sie stand mit 21 da ohne Lehrabschluss und ohne Geld, weil sie sich als uneheliche Tochter aus armem Haus mit einem gleichaltrigen Mann getroffen hatte.

Es gebe einen Haufen Dinge, die sie heute kritischer sehe als damals, sagt Liselotte S. «Wie der Heimleiter uns ausgebeutet hat. Ausgenutzt, dass wir unfrei waren. Das finde ich schlimm. Damals war das für uns normal. Es ist ein Unrecht, das ich mit ins Grab nehmen werde.»

Heimbesitzer Pierre V. musste zwar den Vormundschaftsbehörden genaue Abrechnungen über die Verwendung der Fabriklöhne senden und wies auch den Insassinnen gegenüber monatlich aus, wie ihr Lohn verwendet wurde. Die Walzenhauser Behörden fragten sich dennoch, ob es im «Sonnenberg» in finanzieller Hinsicht mit rechten Dingen zugehe. Spätestens als Pierre V. sein Heim vergrösserte, weckte der private Geschäftserfolg mit staatlichen Internierten Argwohn im Appenzellerland.

Kurz vor Weihnachten 1961 beantragte die örtliche Gesundheitskommission, die das Heim regelmässig besuchte, «eine administrative Aufsicht über das Mädchenheim». Das zeigt ein Brief aus dem Gemeindearchiv. Die Kommission fragte sich, ob Pierre V. den «behördlich eingewiesenen Zöglingen» einen zu hohen Pensionspreis verrechne.

Gemeindehauptmann Ernst Vitzthum fragte in Herisau beim Kanton nach, ob «die Gemeinde Walzenhausen das Recht hat, über das private Heim V. eine Aufsicht zu errichten». Der Kanton verbot das, weil es keine gesetzliche Grundlage dafür gebe.

Ernst Vitzthum, der selbst eine kleine Stickerei besass, gab nicht auf. 1964 sagte er in einer Kommissionssitzung des Ausserrhoder Kantonsrats über das Töchterheim Sonnenberg: «Man sollte von Amtes wegen hie und da nachsehen können; vor allem sollte man das Heim auch materiell etwas kontrollieren; es ist unbehaglich. Scheint ein gutes Geschäft zu sein für V.» Geschehen ist indes nichts. Die vielen Heime Ausserrhodens waren noch in den 1980er-Jahren unkontrolliert und unbeaufsichtigt, wie der Beobachter in seiner Ausgabe vom Mai 1983 kritisierte.

Der Historiker Thomas Huonker hat die Archivdokumente zu Walzenhausen für den Beobachter studiert. Er hat in der bundesrätlichen Expertenkommission zu administrativen Versorgungen mitgearbeitet und forscht seit über 35 Jahren dazu. «Die Ausbeutung im Töchterheim Sonnenberg war Zwangsarbeit», sagt er.

Eine Aussage, die vielerorts Unglauben auslöst. Weil Zwangsarbeit und die Schweiz angeblich nicht zusammenpassen. Indes musste sich der Regierungsrat von Appenzell Ausserrhoden bereits im Juli 1970 den Vorwurf der Zwangsarbeit gefallen lassen. Als das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement wegen der Heiminternierungen ohne Gerichtsprozess eine Gesetzesänderung verlangte, wehrten die Appenzeller das ab. Die Einweisungen in Heime «erfolgen bei uns keineswegs aus Interesse an der Arbeitsleistung der Betroffenen», schrieb Ausserrhoden nach Bern. Um den Vorwurf der Zwangsarbeit aus der Welt zu schaffen, betonte die Kantonsverwaltung: «Wir unterhalten keine Arbeits- und Konzentrationslager.»

Gremien der Uno in Genf prangerten die Schweizer Zwangsarbeit jahrzehntelang an, da die Arbeitspflicht ohne Gerichtsurteil dem internationalen Übereinkommen Nr. 29 über Zwangs- oder Pflichtarbeit widersprach. Die Internationale Arbeitsorganisation machte ab 1962 erheblichen Druck in Bern, die Ausbeutung der Heimzöglinge endlich zu stoppen. Die Schweiz verstiess damit zudem gegen das Zwangsarbeitsverbot der Europäischen Menschenrechtskonvention, was im Parlament in Bern ab 1963 zu Diskussionen führte.

Liselotte S. aus Bern bekam in Walzenhausen von alldem nichts mit. «Jetzt ist es bald zwei Jahre, dass ich versorgt bin, und was für ein Verbrechen habe ich begangen??», schrieb sie in einem Brief. Im November 1962, morgens um drei Uhr, flüchtete sie, fuhr per Autostopp zur Mutter nach Burgdorf. Am nächsten Tag holte sie die Polizei.

«Der Jugendanwalt sperrte mich in Untersuchungshaft auf Schloss Burgdorf, weil ich nicht nach Walzenhausen zurückkehren wollte. Nach genau 30 Tagen in einer Einzelzelle brachten sie mich zwangsweise zurück», sagt Liselotte S. «Ich habe schon auch Sachen gemacht. Aber ich war ein normales Mädchen, das einfach unehelich war.»

Nachfahren des verstorbenen Pierre V. wollten sich nicht zitieren lassen. Sie verwiesen auf seine Stellungnahme von 1973. Den «Sonnenberg» hatte V. an eine Freikirche verkauft.

Was wussten die Patrons?

«Die Firmen haben profitiert von den Heimmädchen», sagt Marion Stöckli, die Tochter des Stickereibesitzers Ernst Kleinberger. «Ich bedaure das sehr. Das ist gegen alles, wofür ich mich in meinem Leben eingesetzt habe.» Marion Stöckli bezweifelt, dass ihr Vater gewusst habe, dass die Mädchen kaum etwas vom Lohn hatten. «Mein Vater war fordernd, aber fair.» Das bestätigt die österreichische Gastarbeiterin Gertrud Kupferschmied, die 1960 bei Kleinberger in Wolfhalden denselben Stundenlohn erhielt wie die Heimmädchen. «Ich habe gern dort gearbeitet», sagt Kupferschmied. Sie schickte viel von ihrem Lohn nach Hause. Die Textilfirma Kleinberger & Co., St. Gallen wurde 1985 verkauft und stellte später den Betrieb ein.

«Ich finde es schrecklich, wenn sich das wirklich so zugetragen hat», sagt Denise Sonderegger, Enkelin des Kunststoffwerk-Gründers Hermann Weiss-Buob. Dass den Heimmädchen vom Lohn kaum etwas übrig blieb, hätten ihre Grosseltern und Eltern wohl nicht gewusst. Die HWB Kunststoffwerke AG wurde an einen internationalen Konzern verkauft.

Liliane Fischer, Tochter des Stickereibesitzers Hausammann, sagt: «Die Mädchen hatten es vermutlich nicht einfach. Mein Vater wusste wohl nicht, dass ihnen kaum etwas vom Lohn übrig blieb.» Die Stickerei Alfred Hausammann & Co. AG schloss in den Neunzigerjahren ihre Tore.

Seit der Beobachter im letzten August über Zwangsarbeit für den Industriellen Emil Bührle berichtet hat, ist der Druck auf die Behörden gestiegen, sich ihrer Verantwortung zu stellen. Die Stadt Zürich will bis Ende Jahr einen Forschungsauftrag zur eigenen Verwicklung in die Verdingungen an die Schweizer Industrie ausschreiben. Ob auch der «Sonnenberg» darin vorkommen wird, sei noch unklar, heisst es.

Die unbeugsame Ursula L. aus Zürich zog nach ihrer Freilassung zurück nach Walzenhausen. Monatelang provozierte sie Heimbesitzer Pierre V., fotografierte eingesperrte Mädchen in der Arrestzelle, drohte, warf Steine, störte die Nachtruhe. Sie versuchte, den Heimleiter zum Aufgeben zu zwingen. Sie wollte Gerechtigkeit. Und rannte gegen eine Wand. Die Appenzeller Justiz sperrte sie acht Tage im Rathaus Trogen ein und verurteilte sie 1970 zu fünf Wochen Gefängnis bedingt. Heimbesitzer Pierre V. zog fünf Jahre später als unbescholtener Mann ins Wallis.
(https://www.beobachter.ch/gesellschaft/zwangsarbeit-in-der-schweiz-wie-die-stickerei-industrie-junge-frauen-ausnutzte)