Medienspiegel 24. April 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Büren a. Aare: Frau bei Auseinandersetzung tödlich verletzt – mutmasslicher Täter angehalten
In der Nacht auf Sonntag ist in Büren an der Aare eine Frau bei einer Auseinandersetzung tödlich verletzt worden. Der mutmassliche Täter konnte noch vor Ort angehalten werden. Unter der Leitung der regionalen Staatsanwaltschaft wurden Ermittlungen eingeleitet.
https://www.police.be.ch/de/start/themen/news/medienmitteilungen.html?newsID=cdd9cf4b-65aa-4d75-a8f9-d0026ac65e11
-> https://www.derbund.ch/frau-bei-streit-toedlich-verletzt-ehemann-festgenommen-924769696868
-> https://www.20min.ch/story/frau-bei-auseinandersetzung-toedlich-verletzt-ehemann-42-festgenommen-391143606136
-> https://www.blick.ch/schweiz/bern/drama-in-bueren-an-der-aare-be-afghane-42-verletzt-ehefrau-toedlich-id17431867.html


+++ZÜRICH
Abstimmung Stadt Zürich – «Züri City Card»: Was bringt ein Stadtausweis?
Am 15. Mai 2022 stimmt die Stadt Zürich über die sogenannte «Züri City Card» ab – einen Stadtausweis, der auch den geschätzten 10’000 Sans-Papiers in Zürich die Möglichkeit gäbe, sich auszuweisen. Vorbild ist New York. Der Nutzen ist allerdings umstritten.
https://www.srf.ch/news/schweiz/abstimmung-stadt-zuerich-zueri-city-card-was-bringt-ein-stadtausweis


Ein Stadtausweis für alle – warum Zürich wie New York sein will
Wo man lebt, soll man dazugehören. Dieser Wunsch steckt hinter der Zürich City Card, über die am 15. Mai abgestimmt wird. Neu ist diese Idee nicht. In New York besitzen die Bewohner schon lange einen Stadtausweis.
https://www.watson.ch/schweiz/z%C3%BCrich/338871649-zuerich-city-card-alte-idee-kommt-in-die-schweiz


+++SCHWEIZ
Zurück in die Ukraine: Erste Flüchtlinge verlassen die Schweiz wieder
Als der Krieg begann, flüchteten Tausende Menschen aus der Ukraine. Inzwischen sind über 40’000 Geflüchtete in der Schweiz. Nun kehren aber erste Flüchtlinge wieder zurück in ihre Heimat.
https://www.blick.ch/schweiz/zurueck-in-die-ukraine-erste-fluechtlinge-verlassen-wieder-die-schweiz-id17430835.html


+++GROSSBRITANNIEN
Sonntagszeitung 24.04.2022

Europäische Flüchtlingspolitik: Abschiebestation Ruanda

Grossbritannien möchte Asylsuchende in das ostafrikanische Land verfrachten – obwohl dessen Regime Menschenrechte regelmässig missachtet.

Bernd Dörries

Zwölf Toiletten hat das kleine Hotel in Ruandas Hauptstadt Kigali, die Zimmer sind klein, um die zehn Quadratmeter, viel mehr Platz als für die zwei Betten ist hier nicht, die Dusche auf dem Gang. Etwa 20 Franken zahlten bisher die paar Touristen, die sich hierher verirrten und in den Bewertungen im Internet vor allem das WLAN lobten. Für die britische Regierung ist das bescheidene Hostel der ideale Ort, um mit ihrem neuen Programm zur Abschiebung von Asylbewerbern zu beginnen. «Unser Mitgefühl mag unendlich sein, aber unsere Fähigkeit, Menschen zu helfen, ist es nicht», sagte Premierminister Boris Johnson vergangene Woche.

Migranten, die mit dem Boot im Königreich ankommen, sollen bald nach Ruanda verschifft werden. Dort soll über ihr Asylgesuch entschieden werden. Bei einem positiven Bescheid dürfen sie aber nicht nach Grossbritannien, sondern lediglich in Ruanda bleiben. An Orten wie dem Hostel in Kigali, das ausgerechnet den Namen «Hope» trägt.

Grosse Empörung – selbst in Johnsons eigener Partei

Der Plan hat sofort grossflächige Empörung ausgelöst, zum Teil auch in Johnsons eigener Partei. Mehr als 160 Nichtregierungsorganisationen schrieben einen offenen Protestbrief, nennen das Abkommen «beschämend grausam». Menschenrechtler kritisierten, dass das Abkommen gegen das Asylrecht und die Genfer Konvention verstosse.

Grossbritannien behauptet, mit der Abschiebung der Flüchtlinge gegen Schlepper und Kriminelle vorzugehen, die oft das Leben der Migranten in Gefahr bringen würden. Immer wieder sinken kleine Boote bei der Überquerung des Ärmelkanals. Johnson sagte aber auch, dass die Geflüchteten hohe Kosten verursachen würden, während sie in Grossbritannien auf den Ausgang ihres Verfahrens warten. Ruanda soll für die Aufnahme einer noch ungenannten Zahl von wohl nur männlichen Migranten einen Pauschalbetrag von etwa 140 Millionen Euro erhalten. Damit sollen Unterkünfte gebaut und Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen werden. In einem Land, das zu den am dichtesten besiedelten und ärmsten der Welt gehört.

Die Kritik in Ruanda selbst bleibt verhalten

«Wie kann ein reicheres, grösseres Land nicht in der Lage sein, Flüchtlinge aufzunehmen, und denken, sie könnten sie einfach in Ruanda abladen, weil sie Geld haben. Das ist inakzeptabel», sagt Frank Habineza, der Vorsitzende der Demokratischen Grünen Partei in Ruanda. Viel mehr Kritik gibt es nicht aus dem Land, weil dort nicht mehr Kritik möglich ist.

Ruanda wird seit Jahren wegen des autokratischen Führungsstils seines Präsidenten Paul Kagame und zahlreicher Menschenrechtsverletzungen verurteilt. Auch die britische Regierung hatte sich im vergangenen Jahr noch besorgt gezeigt «angesichts der fortgesetzten Einschränkungen von bürgerlichen und politischen Rechten sowie der Medienfreiheit». Nun beschreibt Johnson Ruanda als eine Art Paradies.

Nach Recherchen der kenianischen Zeitung «The EastAfrican» könnten die ersten Flüchtlinge bereits im Mai ankommen. Es gibt allerdings auch viele Ungereimtheiten, die Kosten für die Abschiebung sind immens, ein Abschiebeflug für abgelehnte Asylbewerber kostet derzeit mehr als 10’000 Euro pro Person, Grossbritannien müsste Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen ausfliegen, gegen ihren Willen.

Ganz neu ist die Idee indes nicht. Die israelische Regierung hatte von 2014 bis 2017 mehrere Tausend Asylsuchende nach Ruanda abgeschoben. Als sich herausstellte, dass fast alle von ihnen in den Händen von Menschenschmugglern landeten und auf der Rückreise nach Europa der Sklaverei ausgesetzt waren, wurde das Programm beendet. Auch europäische Staaten denken seit Jahrzehnten immer wieder laut über Asylzentren in Afrika nach.

Kenia und Ghana lehnten das britische Angebot ab

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron plante in Niger und dem Tschad Asylzentren, die aber über die Testphase nicht hinauskamen. In Ruanda finanziert Europa bereits Flüchtlingszentren, in denen Migranten aufgenommen werden, die auf dem Weg nach Europa in Libyen als Sklaven endeten. Zuletzt schlug die EU 2018 vor, sogenannte «regionale Ausschiffungsplattformen» zu gründen, in die Migranten schnell zurückgebracht werden könnten.

Die Afrikanische Union lehnte dieses Vorhaben ab. Ihre Mitgliedsländer haben meist wenig Interesse, den Flüchtlingsstrom nach Norden zu unterbinden. Meist gehen die Unzufriedenen, die der politischen Elite auf die Nerven gegangen sind. Jetzt leben sie im Ausland und schicken sogar noch Geld nach Hause, das manche Volkswirtschaft am Leben erhält. Länder wie Kenia und Ghana lehnten es nicht zuletzt deshalb ab, ein Abkommen mit Grossbritannien zu unterzeichnen.
(https://www.derbund.ch/abschiebestation-ruanda-555675468229)


+++MITTELMEER
Libyen: SOS Mediterranee rettet 70 Migranten das Leben
Vor der Küste Libyens hat die “Ocean Viking” 70 Menschen das Leben gerettet. Ihr Boot drohte zu kentern. Bei weiteren Bootsunglücken im Mittelmeer überlebten nicht alle.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/https-www-zeit-de-politik-ausland-2022-04-libyen-boot-sos-mediterranee-ocean-viking-seenotrettung


Schweres Bootsunglück vor Libanon
Beim Untergang eines Boots mit etwa 60 Flüchtlingen an Bord vor der libanesischen Küste sind mindestens sechs Menschen ums Leben gekommen, darunter ein Kind. 48 Menschen konnten gerettet werden.
https://anfdeutsch.com/menschenrechte/schweres-bootsungluck-vor-libanon-31830


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
APPEL A MOBILISATION – Hébergement d’urgence autogéré à Lausanne
Nous ouvrirons un hébergement d’urgence autogéré et transitoire à Lausanne le 1er mai 2022, en réaction à la suppression de plus de 160 places d’hébergements d’urgence. Nous appelons à une mobilisation collective et solidaire !
Chaque année à la même période, le dispositif des hébergements d’urgence est amputé de la majeure partie de ses lits dans un système déjà saturé et défaillant.
https://renverse.co/infos-locales/article/appel-a-mobilisation-hebergement-d-urgence-autogere-a-lausanne-3519


+++AUSLÄNDER*INNEN-RECHT
Nächster Showdown im Parlament um Sozialhilfe für Ausländer: Wer arm ist, fliegt raus
Seit 2019 können Ausländer ausgeschafft werden, wenn sie Sozialhilfe beziehen. Das führt aber auch zu eigentlich ungewollten Härtefällen. Im Parlament ist das Thema hart umkämpft. Nun kommt es zum nächsten Showdown.
https://www.blick.ch/politik/naechster-showdown-im-parlament-um-sozialhilfe-fuer-auslaender-wer-arm-ist-fliegt-raus-id17431211.html


+++RASSISMUS
EKR – Auswertungsbericht 2021: Rassismusvorfälle aus der Beratungsarbeit
Im Jahr 2021 wurden dem Beratungsnetz für Rassismusopfer 630 Fälle rassistischer Diskriminierung gemeldet. Die meisten Vorfälle ereigneten sich am Arbeitsplatz und im Bildungsbereich. Benachteiligungen und Beschimpfungen waren die häufigsten Diskriminierungsformen. Die am meisten genannten Motive blieben Ausländer- bzw. Fremdenfeindlichkeit und anti-Schwarzer Rassismus gefolgt von antimuslimischem Rassismus. Auffallend war die vermehrt auftretende Feindlichkeit gegenüber Menschen aus dem asiatischen Raum.
https://www.admin.ch/gov/de/start/dokumentation/medienmitteilungen.msg-id-88114.html
-> https://www.humanrights.ch/de/fachstellen/fachstelle-diskriminierung-rassismus/rassismusbericht-2021?kennung=NWR_220424_DE&utm_medium=Email&utm_source=Newsletter+Humanrights&utm_campaign=NWR_220424_DE


Meldungen über Rassismus an Schulen nehmen zu – ein Betroffener erzählt: «Ich hatte immer Angst vor dem nächsten Tag»
Ein Bericht der Eidgenössischen Kommission gegen Rassismus und des Vereins humanrights.ch zeigt: Meldungen über Rassismus an Schweizer Schulen nehmen zu.
zu.
https://www.blick.ch/politik/rassimus-ich-hatte-immer-angst-vor-dem-naechsten-tag-id17430407.html
-> https://www.20min.ch/story/rassismus-grassiert-am-haeufigsten-in-schulen-und-am-arbeitsplatz-175629623624
-> https://www.nau.ch/news/schweiz/falle-von-rassismus-haben-in-der-schweiz-zugenommen-66162045


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Sonntagszeitung 24.04.2022

Interview mit Extremismusforscher: «Putin-Versteher können gefährlich sein»

In der Schweiz gibt es viele Junge, die Verständnis für die russische Seite im Ukraine-Krieg haben. Dirk Baier beschreibt, wie gross das Gewaltpotenzial dieser Szene ist.

Nadja Pastega, Dominik Balmer, Tom Egli (Foto)

Herr Baier, eine repräsentative Umfrage zeigt, dass fast jeder dritte 18- bis 34-Jährige in der Schweiz Putins Motive für den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine versteht. Müssen wir uns Sorgen machen?

Man fragt sich natürlich, ob die Jugendlichen ihren moralischen Kompass verloren haben.

Und, haben sie das?

Die Resultate der erwähnten Umfrage zeigen, dass die jungen Leute auf der Suche sind. Das ist an sich nichts Aussergewöhnliches und gehört zur Jugendphase.

Bei älteren Menschen gibt es deutlich weniger Putin-Versteher. Experten gehen davon aus, dass eine hohe Nutzung der sozialen Medien zu diesem Graben zwischen den Generationen führt.

Unsere Einstellungen und Überzeugungen resultieren nicht eins zu eins aus dem, was wir in den sozialen und anderen Medien lesen oder sehen. Dieser Prozess ist viel komplizierter. Die Medien spielen zwar mit eine Rolle, aber wichtiger ist das soziale Umfeld, in das die jungen Menschen eingebunden sind. Man hat Kollegen, die genau gleich denken, und das stärkt die eigenen Überzeugungen. In der Extremismusforschung heisst es auch immer wieder, die sozialen Medien würden zu einer Radikalisierung führen. Ich bin da skeptisch. Die sozialen Medien sind ein Baustein, aber mehr nicht.

Also, wie wird ein junger Mensch zum Putin-Versteher?

Bei Jugendlichen gibt es eine höhere Affinität für Linksextremismus oder Anti-Amerikanismus als bei Erwachsenen. Das sind Anknüpfungspunkte zum Putin-Verstehen. Hinzu kommt, dass viele junge Menschen auf der Suche nach Autorität sind, nach Militär und Dominanz. Die sehen, der Putin lässt die Puppen tanzen, der kann die ganze Welt in Aufregung versetzen. Das ist für manche Jugendliche interessant. Und dann gibt es manche, die mit ihrer Haltung einfach nur provozieren wollen.

Trotzdem stellt sich die Frage, ob wir gerade erleben, wie eine Generation mit Sympathien für autoritäre Regimes heranwächst – deutsche Studien sprechen von einer neuen «Angstfaszination» bei Jugendlichen.

Wir haben in der Schweiz keine Hinweise darauf, dass eine unkritische, autoritätsgläubige Jugend heranwächst. Aus unseren Befragungen wissen wir, dass 90 Prozent der Jugendlichen mit unserer Demokratie zufrieden sind. Nur ein ganz kleiner Prozentsatz kann mit alternativen Systemen, etwa einer Anarchie oder einer Diktatur, etwas anfangen. In jenen Ländern, in denen autoritäre Führer in letzter Zeit erfolgreich waren – wie in den USA mit Donald Trump –, waren es gewiss nicht die Jungen, die zu deren Wahlerfolgen beigetragen haben. Das waren eher Leute im mittleren oder fortgeschrittenen Alter, die ihr Heil in der starken Führungsperson sehen.

Für Erwachsene stellt sich aber die Frage, wie man auf junge Putin-Versteher reagieren soll. Einfach hinnehmen?

Nein, das kann man nicht stehen lassen. Man muss mit diesen Leuten diskutieren. Krieg, Mord und Totschlag – das geht überhaupt nicht!

Welche Aufgabe kommt hier der Schule zu?

Ich bin immer vorsichtig damit, über die Schule zu schimpfen. Weil deren Auftrag ja enorm breit ist – und man mit Kritik immer schnell ist. Aber ja, grundsätzlich ist die Schule der geeignetste Platz für solche Diskussionen, schlicht weil wir da alle jungen Menschen beisammen haben. Aber in einigen Schulklassen ist der Ukraine-Krieg bis heute kein Thema. Das wird aussen vor gehalten.

Und verlagert sich stattdessen unkontrolliert in die sozialen Medien?

Ja, wobei ich das dann nicht mehr als Diskussion bezeichnen würde. Diskutieren heisst ja, dass verschiedene Sichtweisen angehört werden. In einer Diskussion schaut man ja auch, welche Meinung vielleicht stimmen kann – um gemeinsam etwas Höheres und Besseres zu erreichen. In den sozialen Medien geht es aber in erster Linie um die Provokation. Ich knalle meine Meinung da ins Netz rein. Es ist keine Arena, um sich auszutauschen. Und man kann sich auch schnell ausklinken, wenn einem etwas nicht passt. Das geht in der Schule nicht. Man kann nicht einfach aus dem Klassenzimmer rauslaufen, sondern muss sich andere Meinungen anhören.

Sie sind Jugendforscher und Experte für Delinquenz: Haben Putin-Versteher auch eine stärkere Neigung, Konflikte mit Gewalt zu lösen?

Das hängt mit den Milieus zusammen, aus denen die jungen Leute stammen. Ich glaube zum Beispiel nicht, dass Putin-Versteher, die bloss provozieren wollen, eine gewaltbereite Seite haben. Deren Haltung ist eher ein Spiel. Aber es gibt auch Putin-Versteher mit einem Hang zu Verschwörungstheorien. Die sagen aus Prinzip immer das Gegenteil von dem, was die Mehrheit vertritt.

Ist diese Szene gewaltbereit?

Das ist mit Sicherheit keine ungefährliche Szene. Wir wissen, dass diese Gruppen eine Affinität für Aggressionen und Gewalt haben, um ihre Ziele zu erreichen. Ein Grossereignis wie die Corona-Pandemie kann reichen, um diese Leute zu enthemmen. Das zeigen die Anschlagspläne auf den deutschen SPD-Gesundheitsminister Karl Lauterbach und die Entführung des Schweizer Impfchefs Christoph Berger. Putin-Versteher können gefährlich sein. Den Verschwörungstheoretikern unter ihnen geht es nicht ums Provozieren.

Nehmen solche Strömungen bei den Jungen zu?

Wir wissen aus Befragungen, dass von 2018 bis 2021 die Zahl der jungen Leute, die affin sind für Verschwörungstheorien, abgenommen hat. Zudem ist die Corona-skeptische Bewegung nicht explizit eine Bewegung der Jungen. Das sind die guten Nachrichten. Die schlechte Nachricht: Der verbleibende Teil der Gruppe ist radikaler geworden.

Und was verbindet eigentlich Corona-Skeptiker und Putin-Versteher?

Auch die Verschwörungstheoretiker sind immer auf der Suche nach neuen Themen. Wenn keine Corona-Massnahmen mehr gelten, kann man jetzt nicht mehr behaupten, dass uns irgendeine Elite unterjochen will. Jetzt gehen diese Kreise voll auf das Thema Putin. Und das in dem Sinn, dass der Krieg falsch dargestellt werde. Sie behaupten, es müsse etwas anderes dahinterstecken, das uns verheimlicht wird – eine andere Wahrheit.



Der Gewaltforscher

Dirk Baier ist Professor und Leiter des Instituts für Delinquenz und Kriminalprävention an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW). Seine Arbeits- und Forschungsschwerpunkte sind Jugendkriminalität, Gewaltkriminalität und Extremismus.
(https://www.derbund.ch/putin-versteher-koennen-gefaehrlich-sein-722907757106)



Fake-Video soll Wolodymyr Selenskyj beim Kokain-Konsum zeigen
Das gefälschte Video wird derzeit aktiv von prorussischen Accounts geteilt
https://www.derstandard.at/story/2000135151961/fake-video-sollwolodymyr-selenskyj-beim-kokain-konsum-zeigen?ref=rss


+++HISTORY
Sonntagzeitung 24.04.2022

Warum sprang der 19-Jährige aus dem Fenster?

Im April 1972 hechtete ein junger Mann auf LSD aus dem dritten Stock einer Zürcher Wohnung. Die Polizei fand Waffen und TNT. Andreas Tobler recherchierte für ein Buch, was wirklich an der Bändlistrasse geschah.

Andreas Tobler

Es ist Sommer, und ich warte auf einer Parkbank irgendwo in der Ostschweiz auf einen Mann, der bei einem Ereignis dabei war, über das damals in ganz Europa, Brasilien, Guatemala, Vietnam und den USA berichtet wurde: Am Morgen des 25. April 1972 springt der 19-jährige Werner Meier aus dem Fenster einer Wohnung an der Bändlistrasse in Zürich-Altstetten.

Nackt und mit der vollen Wucht seines Körpers durchbricht er die Scheibe und die heruntergelassene Jalousie – und fliegt aus der Wohnung im dritten Stock. Schwer verletzt bleibt Meier auf dem Rasenstück der Neubausiedlung liegen. Bei der anschliessenden Hausdurchsuchung findet die Polizei Waffen, Sprengstoff und an der Wand in roter Farbe die Buchstaben «RAF».

Die Schweizer Öffentlichkeit war alarmiert. Auch weil just an dem Tag, als Bundesanwalt Hans Walder seine ersten Ermittlungsergebnisse zur Bändlistrasse publik machte, auf der Armeebasis in Heidelberg zwei Autobomben explodierten. Drei Menschen verloren ihr Leben. Die RAF um Andreas Baader und Gudrun Ensslin bekannte sich zum Anschlag. Das Attentat gehörte zur blutigen Mai-Offensive, bei der vier Menschen getötet und 74 verletzt wurden.

«Gopfertammisiech. Jetzt ist fertig.»

50 Jahre später warte ich auf den einzigen Überlebenden, der beim ominösen Fenstersprung dabei war. In Polizeiakten konnte ich lesen, dass Kurt Koller nach dem Auffliegen der Bändlistrasse – nur wenige Tage vor der Mai-Offensive – bei der RAF in Stuttgart war. Andreas Baader soll sich für ihn und Werner Meier interessiert haben. Die beiden Schweizer sollen ihre Freundinnen verlassen – und sich der RAF anschliessen, meinte der RAF-Führer.

Noch etwas hatte ich im Archiv gefunden: Ein Tonband, auf dem drei Männer miteinander reden, teils schwer verständlich, offenbar ist zumindest einer auf Drogen. Dann hört man, wie es laut klirrt und knallt, ganz so, als würde ein Stein auf eine grosse Scheibe treffen. Es herrscht sekundenlange Stille, bis ein Mann mit Ostschweizer Dialekt schockiert ruft: «Gopfertammisiech. Jetzt ist fertig.»


Hören Sie hier die Aufnahme des Fenstersprungs
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv444575h.mp4

(Im paranoiden Wahn springt Werner Meier am Morgen des 25. April 1972 durch das Fenster der Bändlistrasse-Wohnung.
Tonaufnahme: Stadtarchiv Zürich, Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv/Stadtarchiv Zürich)


Der Ostschweizer ist Kurt Koller, damals 19 Jahre alt. Eine gute Stunde warte ich jetzt auf ihn, dann taucht er auf.

Die Geschichte der RAF füllt inzwischen Bibliotheken. Auch Meier ist zu einer Art Legende geworden: Vom «Bändli-Meier» wird dann gesprochen und seinem Fenstersprung – in dessen Folge in Zürich-Altstetten eine Art Mini-RAF aufgeflogen sei, die Kontakt zu ihrem deutschen Vorbild gehabt haben soll.

Aber wie stark die sechs Mitglieder der Gruppe Bändlistrasse tatsächlich involviert waren, was sie antrieb und was danach aus ihnen wurde, wusste niemand so recht. Stattdessen verbreiteten sich wilde Gerüchte, Mutmassungen und Verschwörungstheorien, wer damals alles dabei gewesen sein soll. Auch rund um die Schlüsselepisode des Fenstersprungs blieb vieles unklar.

«He, hör auf, leg die Pistole weg!»

Das machte mich neugierig. Ich wollte wissen, was dahintersteckt und was wirklich an jenem Frühlingsmorgen geschah. Für mein Buch traf ich alle vier noch lebenden Mitglieder der Bändlistrasse-Gruppe – und führte über fast ein Jahr hinweg mehrstündige Gespräche mit ihnen. Ich stellte beim Eidgenössischen Justiz- und Polizeidepartement Anträge für Akteneinsicht, las tausende Aktenseiten – und fand plötzlich in einer Schachtel jenes Tonband, auf dem der legendäre Fenstersprung zu hören ist.

Auf der Aufnahme sind die 45 Minuten vor dem Fenstersprung zu hören. Zustande gekommen ist es, weil Koller seinen Kollegen Werner Meier aufgenommen hatte – um ihm später vorspielen zu können, wie dieser reagiert, wenn er zu viele Trips nahm:



Letzte Gespräche vor dem Fenstersprung

Koller: «Flippst du jetzt aus? Spinnst du jetzt eigentlich? Wirst du immer so weiter reagieren?»

Meier: «Ab jetzt, ja.»

Koller: «Findest du das gut?»

Meier: «Ja, du nicht?»

Koller: «Was machst du da?»

Meier: «Die Strassensperre einzeichnen. Da wollen wir durch. D’Schmier fahrt ih. […] Was willst du, dass ich mache? Dass ich rausgehe und schiesse?»

Koller: «He, hör auf. Du bist auf einem Trip. Leg die Pistole weg. Komm, setz dich. Come on. Du hattest Trips, du hattest Kokain. Es ist gar niemand da.»
https://unityvideo.appuser.ch/video/uv444576h.mp4

Einzigartiges Dokument: Kurt Koller wollte dokumentieren, wie Werner Meier reagiert, wenn dieser zu viele LSD-Trips konsumiert.
Tonaufnahme: Stadtarchiv Zürich, Fotos: Schweizerisches Bundesarchiv/Stadtarchiv Zürich


Offensichtlich war Meier am Morgen des 25. April 1972 in einer Art paranoidem Wahn: Er glaubte, dass ihre Gruppe verraten worden sei, dass das Militär die Autobahn abriegle – und die Polizei mit allen verfügbaren Einheiten unterwegs sei an die Bändlistrasse.
Flucht aus Angst vor Mordverdacht

Deshalb sprang Meier aus dem Fenster. Seine Kollegen waren schockiert. Einer von ihnen war hörbar aufgelöst. Aber die Verzweiflung dauerte nur einen kurzen Moment, dann ging alles ganz schnell:

«Wo hast du die Waffe?»
«Zuoberst im Küchenkasten.»
«Zum Glück habe ich das Auto unten [geparkt].»
«Hast du die Pistole im Sack?»

Dann waren die zwei Männer, die damals in der Wohnung waren, weg. Ohne Erste Hilfe geleistet zu haben, weil sie annahmen, Meier sei tot – und der Fenstersprung würde ihnen als Mord in die Schuhe geschoben werden.

Wie man ein Kaba-Schloss knackt

50 Jahre später sitze ich bei Koller am Stubentisch. Über vieles erzählt er bereits beim ersten Treffen ganz offen: Wie einfach es damals zum Beispiel gewesen sei, Autos zu knacken, um damit zum Spass durch die Stadt zu rasen. Oder wie man Schlösser von Geschäften aufbrechen konnte: In seinem Wohnzimmer öffnet der 69-Jährige die Schublade einer Kommode, entnimmt ihr ein altes Kaba-Schloss – und zeigt, wie man es mit Werkzeug knackt: «Hier muss man mit dem Gabelschlüssel ansetzen und den Zylinder abwürgen», sagt er und umschliesst mit zwei Fingern ein Ende des Doppelzylinders. Danach ging fast jede Tür auf.

Mit der Kaba-Methode konnten die Mitglieder der Gruppe Bändlistrasse fast überall einsteigen – etwa in ein Coiffeur-, ein Spielwaren- oder ein Damenmodegeschäft. Sie brachen die Registrierkassen auf und erbeuteten so viel Geld, dass sie als Kleinkriminelle davon leben konnten.

Wurde damals nicht das Frauenstimmrecht eingeführt?

An die politischen Diskussionen der radikalen Linken zu Beginn der 70er-Jahre scheint sich Koller nicht mehr erinnern zu können. «Damals wurde das Frauenstimmrecht eingeführt, nicht?», fragt er einmal, als ich ihn darauf anspreche.

Damals geschah aber auch noch mehr: Im Januar 1971 wurde das autonome Jugendzentrum im Lindenhofbunker Zürich geschlossen, um das die Zürcher 68er-Bewegung seit den Globuskrawallen so heftig gekämpft hatte.

Für die jungen Rebellen war es eine Niederlage, über die sie nur schwer hinwegkamen: Einige von ihnen gründeten im April 1971 die Proletarische Kampforganisation, eine Art Kaderorganisation der sogenannten Bunkerbewegung, in der schon bald über die Herausgabe der «Neuen Strassenverkehrsordnung» diskutiert wurde: Eine Schrift des RAF-Anwaltes Horst Mahler, die unter dem scheinbar unverfänglichen Titel zum bewaffneten Kampf aufrief. Der Antrag wurde mit elf zu einer Gegenstimme angenommen: Die Proletarische Kampforganisation druckte die RAF-Tarnschrift in mehreren Hundert Exemplaren im Sekretariat des Kleinen Studentenrates der Universität Zürich.

Weil es nichts ist, worauf man stolz sein kann

Während der Gespräche mit den Zeitzeugen stellte ich fest, dass es für viele noch heute schwierig ist, über die damalige Zeit zu sprechen: Wie die Umstände und die Stimmung in den Jahren nach 1968 waren, ist heute nur schwer zu vermitteln. Wie empörend man es etwa fand, dass nur tausend Kilometer von Zürich entfernt in Spanien ein faschistisches Regime existierte, das Menschen noch bis ins Jahr 1975 mit der Garotte hinrichtete: Einem Eisendorn, der den Gefesselten so lange ins Genick getrieben wurde, bis sie tot waren.

Die Männer und Frauen aus der 68er-Generation erzählen mir wiederholt, wie beschränkt damals die Freiräume in Zürich waren. In Parks habe man sich noch nicht einmal auf eine Wiese setzen dürfen. Aus den Akten gewinnt man den Eindruck, dass sich die Polizei und die Protestierenden gegenseitig hochschaukelten – eine explosive Gemengelage zwischen Protest und staatlicher Repression, die zunahm, je verbissener die Revoltierenden um ihre Anliegen kämpften. Es verstärkte sich bei ihnen das Gefühl, auch sie würden gegen ein faschistisches Regime kämpfen, das sich mit dem vermeintlich ebenso faschistischen Kapitalismus verbündet hatte. Bis einige von ihnen zur Auffassung kamen, dass es legitim sei, Gewalt anzuwenden, um politische Ziele zu erreichen und den Staat zu liquidieren.

Damals habe alles seine Richtigkeit gehabt, sagt eine, die bei den Diskussionen über die sogenannten Gewaltfrage dabei war. Daher bereue sie nichts. Aber es sei auch nichts, worauf man stolz sein könne. Deshalb sei es so schwierig, darüber zu sprechen.

Auch Koller hat Mühe, aber aus einem anderen Grund: Seit einem Motorradunfall, bei dem er sich Kopfverletzungen zuzog, fällt es ihm schwer, sich an weit zurückliegende Ereignisse zu erinnern. Es hilft ihm, wenn er sich Dokumente anschauen kann – dann kommen seine Erinnerungen wieder hoch.

So ist das auch an diesem Vormittag, an dem wir das Jugendheim Platanenhof im st.-gallischen Oberuzwil besuchen: Hierhin war Koller in den 1960er Jahren gekommen. Und hier hatte er Werner Meier kennen gelernt, der in der Anstalt wie Koller eine Schreinerlehre absolvierte. Der Heimalltag war damals durchorganisiert wie in einer Militärkaserne – die 68er-Bewegung nannte die Einrichtungen «kapitalistische Anpassungslager». Um sich vom tristen Alltag etwas abzulenken, schnüffelten Koller und Meier in den Pausen Lösungsmittel. Sie freundeten sich an – und sollten bald gemeinsam die Gruppe Bändlistrasse gründen.

«Mir ging es nur um das Geld»

Wenn die Jugendlichen nicht spurten, wurden sie während mehrerer Tage oder gar Wochen ins «Cachot» gesperrt: eine Zelle ohne Bücher oder andere Ablenkungsmöglichkeiten. Auch wurden ihnen als Strafe die Köpfe geschoren, was Ende der 60er-Jahre, als Langhaarfrisuren in Mode kamen, für die jungen Männer ein schwerer Eingriff in die Selbstbestimmung war.

Auch Koller musste ins «Cachot». Bei unserem Besuch spricht er ohne Wut übers Jugendheim, ohne zu verschweigen, wie streng damals der Alltag war: «Hier mussten wir jeden Morgen und nach dem Mittagessen zum Appell antreten», sagt Koller, als wir über einen Platz zum Hauptgebäude gehen, wo wir seine Akte einsehen können.

Aus den Dokumenten erfahren wir, warum Koller ins Heim gekommen war: Weil er sich als 13-Jähriger am St. Galler Bahnhof prostituiert hatte. «Man konnte innert kürzester Zeit 20 Franken verdienen», man habe dafür nur «sein Schwänzchen zeigen müssen», sagt Koller. 20 Franken seien damals viel Geld gewesen. Emotional hätten ihn die wesentlich älteren Männer überhaupt nicht berührt. «Mir ging es nur um das Geld.»

Flucht aus dem «kapitalistischen Anpassungslager»

Im Februar 1971 hauten Meier und Koller aus dem Jugendheim in Oberuzwil ab – nach Zürich: Sie hatten gehört, dass sich im Dezember im Lindenhofbunker die Zürcher Heimkampagne gegründet hatte, eine politische Organisation, die nichts weniger verlangte als die Abschaffung aller Erziehungsheime.

Mit ihrer Flucht aus dem Platanenhof waren Koller und Meier auf einen Schlag Teil eines hochpolitischen Kontextes geworden: Sie erhielten Kontakte zu den grossen Kommunen, nahmen an politischen Schulungskursen teil und an Demos: Bei einer Protestaktion für die inhaftierte US-Aktivistin Angela Davis warfen sie Steine und seien «wie Verrückte» auf die Polizei losgegangen.

Aber die beiden jungen Männer suchten auch den schnellen Spass: Im Herbst 1971 begannen sie, Luxusautos zu klauen. Mit Vorliebe edle Jaguar, mit denen man «mit emene Lappe 30 durch d Stadt durefile», also mit 130 durch die Stadt rasen konnte. Sie wurden geschnappt. Koller kam in Untersuchungshaft.

Die Wut der beiden aufs System erreichte nun ihren Höhepunkt. Sie begannen sich zu radikalisieren, weil die Zürcher Autonomen zwar immer wieder vom bewaffneten Kampf sprachen, aber nichts taten. Das wollten Koller und Meier nun eigenhändig ändern – zusammen mit ihren Freundinnen, einem Psychologiestudenten und einem Kochlehrling.

Bändlistrasse stellt TNT her

Die Vorbereitungen auf den bewaffneten Kampf fielen der Gruppe Bändlistrasse erstaunlich leicht: Sie konnten unbehelligt in eine Waffenfabrik in Feuerthalen ZH einbrechen. In einer Zürcher Buchhandlung beschafften sie sich das «Anarchist Cookbook», das damals frei erhältlich war – und Anleitungen zur Herstellung von Sprengstoff und Drogen enthielt.

«Wir haben gemischt, gebraut und gekocht, stunden-, ja nächtelang», gab Koller der Polizei nach seiner Verhaftung zu Protokoll. Dabei war ihnen in der Bändlistrasse offensichtlich gelungen, TNT-Kristalle herzustellen, wie Analysen der Polizei später ergaben. Die Mitglieder der Gruppe wollten dies im Nachhinein nicht bemerkt haben, obwohl die Herstellung von Sprengstoff ihr Ziel war. Die dafür notwendigen Substanzen hatten sie bei einem Einbruch in eine Chemiefirma erbeutet.

Nächtliche Gespräche mit Baader

Aber letztlich waren die Mitglieder der Gruppe Bändlistrasse Dilettanten – auch bei ihrem Kleinkriminellentum.

Und als sie im April 1972 auf bewaffnete Überfälle umsteigen wollten, weil die Ausbeute bei den Einbrüchen zu gering war, wurden sie nervös, zögerten immer wieder – und nahmen offensichtlich viel zu viele Drogen. Mit dem Resultat, dass Werner Meier letztlich voller Paranoia aus dem Fenster sprang.

Doch für Koller ging es weiter, das Auffliegen der Bändlistrasse ermöglichte ihm ein Rendez-vous mit der Weltgeschichte: Er wurde von einem Bekannten nach Stuttgart gebracht zu Gudrun Ensslin und Andreas Baader. Andere Schweizer hatten damals bereits seit mehreren Jahren Kontakte zur RAF: Akten, die ich für mein Buch erstmals auswerten konnte, geben in aller Detailliertheit Auskunft über deren Gespräche mit Baader, Ensslin und Ulrike Meinhof, dass wir sozusagen live bei den Diskussionen dabei sind. Fast immer mit dabei war damals der Journalist und Politaktivist Rolf Thut, welcher der Kopf der Zürcher Heimkampagne war und über mehrere Jahre hinweg Andreas Baader und Ulrike Meinhof in Berlin, Frankfurt und Stuttgart besuchte.

Auch die Gespräche von Kollers Besuch bei der RAF sind in den Akten protokolliert: Er warnte die Deutschen vor der Sprengung von Bomben über ein Funksignal, das sei viel zu gefährlich.

Verhaftung im Tessin

Als wir im Zürcher Stadtarchiv seine Akten anschauen, erinnert sich Koller, wie «kalt» Baader und Ensslin damals in Stuttgart ein weiteres RAF-Mitglied behandelt hätten. Diese Frau sei von Baader bei der Mai-Offensive dann massiv unter Druck gesetzt worden, erzählt mir später ein renommierter RAF-Forscher.

Von den Schweizern war Baader hingegen begeistert. Vor allem, als er hörte, dass Werner Meier nach seinem Fenstersprung aus dem Triemlispital geflohen war: An der Aussenwand des Krankenhauses soll sich der 19-Jährige nachts mit Leintüchern aus dem 11. Stockwerk abgeseilt haben.

Aber letztlich brachte Meiers Fenstersprung die Polizei auf die Spur der Terroristen: Sie konnte die Schweizer RAF-Verbindungen kurz vor der Mai-Offensive kappen – und zugleich Zürichs radikale Linke zerschlagen. Es kam zu zahlreichen Hausdurchsuchungen, einer der Anführer floh nach Chile. Für die Mitglieder der Bändlistrasse schnappte die Falle am 5. Mai 1972 im Tessin zu: Werner Meier, Kurt Koller, ihre Freundinnen und der Kochlehrling wurden verhaftet.

Fast ein Wunder

«Ich bin froh, dass ich auf dieser Seite stehe», sagt Koller, als wir Anfang dieses Jahres in St. Gallen an einem Imbissstand stehen. Und dass er überhaupt noch lebt – im Unterschied zu Werner Meier, der – wie Koller – harte Drogen konsumiert hatte: Meier starb im Dezember 1990. Fürs Buch habe ich auch sein Leben recherchiert. Werner Meier wurde 38 Jahre alt.

An diesem Vormittag in St. Gallen lasen wir Kollers Fürsorgeakten bei der Kesb: Darin stand, wie ihn sein Vater als Kind so lange schlug, bis er blutüberströmt war. Und wie er 1990 nach seinem schweren Motorradunfall völlig mittellos aus den USA in die Schweiz zurückgekehrt war – und er danach unter epileptischen Anfällen litt.

Sieben Jahre danach wurde die Vormundschaft wieder aufgehoben. «Ich würde die Situation von Herrn Koller fast als ein Wunder bezeichnen», schreibt sein Vormund in einem Akteneintrag. Seine Wiedereingliederung in die Gesellschaft sei «ein Erfolg!».

Zuflucht zu Gott

Koller selbst beschreibt es etwas anders: Nach seinem «blöden Unfall» habe er den Herrgott gefragt, warum er überhaupt noch leben dürfe. «Ich dankte ihm und bat ihn, mir zu helfen, den rechten Weg zu finden.» Er habe dann nochmals «den Kopf anschlagen» müssen, sagt Koller. «Wegen des vielen Alkohols, den ich in den Jahren vor meinem Unfall getrunken hatte, brauchte ich eine neue Leber. Ohne Transplantation wäre ich gestorben.» Nach der Operation sei der Kontakt zu Jesus «plötzlich viel intensiver und klarer geworden», erzählt Koller. «So ist es geblieben – und so will ich den Kontakt auch halten.»

Heute liest Koller täglich in der Bibel. «Mehr oder weniger jeden Tag», korrigiert er. Er habe Kontakt zu Jesus, sagt er und sei Mitglied in einer freien evangelischen Gemeinde.

Ob ich den da hinten sehe, fragt Koller, als wir am Imbissstand stehen. Er zeigt auf einen Mann, der etwas verwahrlost wirkt. «Der sucht nach weggeworfenen Zigarettenstummeln, um sie fertig rauchen zu können.» Der Unbekannte bückt sich kurz darauf bei einem Abfallkorb, um einen Stummel aufzuheben.

Das meint Koller, wenn er sagt, er sei froh, dass er auf dieser Seite stehe: Nach einer langen Phase der Delinquenz, des Drogen- und Alkoholmissbrauchs hat er doch noch die Kurve gekriegt. Und niemand musste wegen ihm sein Leben lassen, als er die rote Linie hin zum Terrorismus überschreiten wollte.



Das Buch von Andreas Tobler erzählt die Geschichte der gesamten Gruppe Bändlistrasse. Dank Gesprächen mit allen noch lebenden Gruppenmitgliedern und tausenden Aktenseiten gibt es einen intimen Blick in eine bis jetzt unbeschriebene Szene: Es zeigt auf, warum der Kreis um Kurt Koller und Werner Meier sich für den bewaffneten Kampf rüstete, über was Schweizer Linksaktivisten mit Andreas Baader und Gudrun Ensslin bei ihren Treffen diskutierten – und was aus den Angehörigen der Gruppe Bändlistrasse geworden ist. Über diesen Link (https://echtzeit.ch/sonntagszeitung) erhalten Sie das Buch mit einem Rabatt für 26 statt für 29 Franken.

Andreas Tobler: Bändlistrasse. LSD, RAF, PKO und TNT. Echtzeit-Verlag, 160 Seiten, reich bebildert. Vernissage am 9. Mai im Kaufleuten Zürich



Wir danken dem Schweizerischen Bundesarchiv, dem Stadtarchiv Zürich, dem Jugendheim Platanenhof in Oberuzwil, dem Stadtarchiv St. Gallen und der Kesb St. Gallen für ihre Hilfe bei der Recherche.
(https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2022/baendlistrasse/)
.