Medienspiegel 17. April 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++LUZERN
Umgang mit Ukraine-Flüchtlingen – Hamit Zeqiri: «Solidarität ist heute viel stärker spürbar»
Hamit Zeqiri ist vor knapp 30 Jahren vom Kosovo in die Schweiz geflüchtet. Heute arbeitet er als Geschäftsführer des Luzerner Migrationszentrums Fabia. Zwischen seiner damaligen Situation und dem aktuellen Umgang mit Flüchtlingen aus der Ukraine sieht er einige Unterschiede.
https://www.zentralplus.ch/gesellschaft/hamit-zeqiri-solidaritaet-ist-heute-viel-staerker-spuerbar-2346625/


+++SCHWEIZ
Hilferuf einer Tochter: Ihrem Mami droht die Ausschaffung
Nach 26 Jahren in der Schweiz muss ihre Mutter das Land verlassen. Um das zu verhindern, wendet sich Anouchka Gwen nun an die Öffentlichkeit.
https://www.blick.ch/schweiz/hilferuf-einer-tochter-ihrem-mami-droht-die-ausschaffung-id17412702.html


Ukrainern fehlt das Geld für Essen: «Behörden sind überfordert»
Walter Leimgruber, Präsident der Migrationskommission, kritisiert den Umgang der Schweiz mit Geflüchteten. Statt unkompliziert zu helfen, schiebe man die Verantwortung hin und her.
https://www.blick.ch/politik/ukrainern-fehlt-das-geld-fuer-essen-behoerden-sind-ueberfordert-id17412828.html



NZZ am Sonntag 17.04.2022

«Schweizer Hunde greifen keine Migrantinnen an»

Keiner seiner Mitarbeitenden hat ihm je von Gewalt gegen Flüchtlinge an der EU-Aussengrenze berichtet, sagt der ehemalige Chef des Schweizer Grenzwachtkorps Jürg Noth. Dass es zu Übergriffen komme, könne er aber nicht ausschliessen.

Sacha Batthyany und Katharina Bracher

Die Schweiz stimmt Mitte Mai über eine massive Erhöhung des Frontex-Beitrags ab. Von 24 auf 61 Millionen. Wozu braucht es einen weiteren Ausbau von Frontex?

Jürg Noth: Frontex nimmt eine sehr wichtige Funktion ein in der europäischen Sicherheits- und Migrationspolitik. Man sieht anhand der Flüchtlingskrise seit dem Arabischen Frühling, wie wichtig der Aussengrenzenschutz ist und wie sehr er gestärkt werden muss. Wir haben im Schengenraum 42 000 Kilometer Seegrenze und 7700 Kilometer Landgrenze – mehr als einmal rund um die Welt. Die Schweiz ist im Herzen dieses Schengenraums und abhängig von der Sicherheit der Aussengrenze.

Wo geht das ganze Geld hin?

Die Schweiz soll 16 Mitarbeiter für Einsätze von je zwei Jahren stellen, dazu kommen 59 Leute für Einsätze von jeweils vier Monaten. Das kostet Geld. Hinzu kommen Beitragszahlungen für Verwaltung und Führung in Warschau sowie für Ausrüstungen: Frontex will Schiffe und Helikopter anschaffen – auch Drohnen werden ein Thema sein. Zudem soll das Informationssystem Eurosur ausgebaut werden.

Was, wenn sich Schweizer Bürger und Bürgerinnen gegen die Aufstockung entscheiden?

Dann verlieren wir vielleicht den Zugang zu Schengen und fallen ins polizeiliche Mittelalter zurück.

Was heisst das?

Wir verlieren die Vorteile von Schengen wie zum Beispiel den Anschluss an das Informationssystem. Auch die Verbrechensbekämpfung muss zwingend grenzüberschreitend erfolgen.

Mal konkret: Welche Arbeiten verrichten Schweizer im Einsatz für Frontex?

Wir entsenden nur handverlesene Spezialisten, die etwa die Echtheit von Dokumenten prüfen, die Flüchtlinge nach Fluchtrouten befragen, um Schleppern auf die Schliche zu kommen. Wir schicken auch Hundeführer – aber nicht mit Schutzhunden, das möchte ich hier betonen, sondern mit Sprengstoff- oder Drogensuchhunden.

Es gibt Migranten, die erzählen, von Hunden attackiert worden zu sein.

Diesen Vorwurf kann ich nicht beurteilen. Ich kann aber sagen: Schweizer Hunde greifen keine Migrantinnen an.

Werden Schweizer Grenzwächter nicht für die Bewachung an Grenzzäunen eingesetzt?

Nein, aber wir bestreiten sogenannte Frontline-Einsätze, dazu gehören Überwachungsaufträge an der grünen Grenze oder Einsätze am Flughafen.

Wie sieht die Zusammenarbeit zwischen lokalen Grenzschützern und Frontex-Beamten aus? Wie sehr ist man im Bild, was an den Grenzen geschieht?

Man tauscht sich aus, es gibt Inspektionen und Rapporte. Und am Abend trinkt man vielleicht auch mal ein Bier.

Gibt es unter Grenzschützern so etwas wie einen Code of Silence: Man verpfeift seine Kollegen nicht, auch wenn sie sich nicht gesetzeskonform verhalten?

Nein, es gibt keinen Code of Silence. Die Grenzschützer Europas rekrutieren sich aus 400 Millionen Einwohnern verschiedenster Kulturen. Manche sind besser ausgebildet, manche schlechter ausgerüstet. Es gibt keine europaweite Solidarität, nur weil man denselben Beruf hat.

Seit ein paar Jahren kritisieren humanitäre Organisationen die systematischen Pushbacks an den Grenzen. Die kollektive Rückschaffung, oft gekoppelt mit roher Gewalt, werde geduldet und gefördert, heisst es.

Das kann ich nicht bestätigen.

Es gibt Hunderte von Fotos und Videos von Pushbacks in ganz Europa. Und trotzdem will niemand etwas wissen?

Schauen Sie, ich schliesse Pushbacks nicht aus. Aber wenn so etwas passiert – und das ist jetzt reine Mutmassung – dann will man als lokale Grenzwache sicher keine fremden Zeugen dabei haben.

Glauben Sie, dass es diese Pushbacks gibt?

Ich schliesse es nicht aus.

Glauben Sie, dass Gewalt im Spiel ist?

Will ein Flüchtling unbedingt weiterkommen, wird er sich behördlichen Anordnungen widersetzen. Dann kann es zur Anwendung von behördlichem Zwang kommen.

Was weiss Frontex über die Gewalt an Grenzen, und was wird dagegen unternommen?

Frontex kann rapportieren und Anträge stellen. Jetzt müssen die neuen Grundrechtsbeauftragten endlich Wirkung zeigen. Ich verurteile Pushbacks in aller Form. Die Schweiz hat schon beim früheren Chef von Frontex insistiert, die Wahrung der Grundrechte zu gewährleisten. Im März 2021 hat mein Nachfolger, Christian Bock, den derzeitigen Chef von Frontex, Fabrice Leggeri, dazu gedrängt, die Gerüchte und Vorwürfe rund um Pushbacks abzuklären.

Haben Schweizer Frontex-Mitarbeiter Ihnen gegenüber je von Pushbacks berichtet?

Nie. Und unsere Leute sind geschult und verpflichtet, Meldung zu erstatten, sollten sie Widerrechtliches gesehen haben.

Erklären Sie, wie es sein kann, dass Grenzschützer derart gewalttätig werden können.

Ich möchte eines klarstellen: Wir sprechen jetzt hier nicht von Frontex, sondern lokalen Corps. Die Situationen in Spanien, Griechenland, aber auch in den Balkanländern waren in der Vergangenheit überfordernd, die Flüchtlingsmassen nur schwer zu kontrollieren. Dass es in solchen Situationen zu Handlungen kommen kann, die nicht rechtskonform sind, kann ich nachvollziehen. Ich habe aber kein Verständnis dafür.

Sie sprechen von überforderten Menschen. Müsste man es nicht systematische Gewalt nennen?

Ich glaube nicht an ein Gewaltsystem an den Grenzen.

In gewissen Regionen ist von Schlägertrupps die Rede. Wir haben die Verletzungen mit eigenen Augen gesehen.

Das kann ich nicht beurteilen. Aber das Geld spielt sicher eine Rolle: Wenn Sie als Staat schlecht ausgerüstete Leute in Extremsituationen arbeiten lassen, die weder genügend ausgebildet sind noch anständig verdienen, dann kommt das selten gut.

Werden Staaten an der Aussengrenze genug unterstützt bei der Bewältigung «der Massen», wie Sie sagen?

Die Italiener haben sich bei mir beschwert, dass man sie weitgehend im Stich gelassen hat. Dasselbe hört man von den Griechen. Auf diesen Vorwurf will man nun mit der neuen Frontex-Vorlage reagieren. Brüssel müsste zudem einen Verteilschlüssel vorgeben, um hier einen fairen Ausgleich zu schaffen, aber da passiert nichts. Und da verstehe ich, dass die Staaten an der Schengen-Aussengrenze frustriert sind.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/hintergrund/juerg-noth-schweizer-hunde-greifen-keine-migrantinnen-an-ld.1679889)


+++DEUTSCHLAND
Arya Suli über sein Leben im Kirchenasyl: „Die schlimmste Zeit ist die Nacht“
Arya Suli lebt im Kirchenasyl in Hamburg-Niendorf. Das Gelände verlässt er nur in deutscher Begleitung. Ein Gespräch über das Leben im Dazwischen.
https://taz.de/Arya-Suli-ueber-sein-Leben-im-Kirchenasyl/!5846191/


+++GROSSBRITANNIEN
Abkommen mit Ruanda: Erzbischof von Canterbury kritisiert britische Flüchtlingspolitik harsch
Großbritannien will Geflüchtete künftig nach Ruanda ausfliegen. Der oberste Geistliche der Landeskirche verurteilte den Deal nun scharf: Eigene Verantwortung auszulagern sei »das Gegenteil der Natur Gottes«.
https://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/erzbischof-von-canterbury-kritisiert-britische-fluechtlingspolitik-harsch-a-c708dbef-594d-4490-9c78-eecc4568da49?utm_source=dlvr.it&utm_medium=twitter#ref=rss


+++GRIECHENLAND
Euch will hier niemand!
Für Ukrainerinnen sind die Grenzen nach Europa offen. Doch in der griechischen Region Evros werden Tausende mit Gewalt an der Einreise gehindert. Was weiss die Europäische Grenzschutzagentur Frontex? Was tut die Schweiz?
https://magazin.nzz.ch/empfehlungen/gewalt-an-der-der-eu-aussengrenze-was-weiss-frontex-ld.1679810


+++TÜRKEI
Migration: Migrantin an EU-Außengrenze erschossen
Am griechisch-türkischen Grenzfluss Evros ist eine Frau beim Versuch, in die EU zu gelangen, tödlich verletzt worden. Von türkischer Seite war zuvor geschossen worden.
https://www.zeit.de/politik/ausland/2022-04/migrantin-erschossen-griechenland-tuerkei-evros


+++RECHTSEXTREMISMUS
Wie Putin uns manipuliert –Tyrannei erklärt | Gert Scobel
Wie wirkt Propaganda? Wer verhilft Tyrannen wie Putin zur Macht? Und warum lassen wir es überhaupt so weit kommen wie aktuell in der Ukraine? Gert Scobel mit Erklärungen anhand von Timothy Snyders Buch „Über Tyrannei“. Auch wenn es weh tut: Wir selbst lassen ein repressives System erst zu, indem wir das Geschehen dulden. Die Mechanismen von Propaganda wirken, auch außerhalb Russlands, aber wie? Timothy Snyder macht in seinem Buch deutlich, dass wir unser Denken und Handeln regelmäßig auf den Prüfstand stellen müssen. Weil hinter Propaganda immer intelligente Verführer stehen, die uns mit ihren Tricks täuschen. Und die wir lernen sollten zu durchschauen – um Widerstand zu leisten!
https://www.youtube.com/watch?v=7P0rZthdHrM


Wie «Putins Koch» deutschen Politikern eine Nazi-Vergangenheit andichtet
Mitgliedern der deutschen Bundesregierung werden hochrangige Wehrmachtsfunktionäre als Grossväter angedichtet. So rächt sich «Putins Koch» dafür, dass Bundeskanzler Scholz die Begründung für den russischen Angriffskrieg lächerlich fand.
https://www.watson.ch/international/deutschland/882724239-wie-putins-koch-deutschen-politikern-eine-nazi-vergangenheit-andichtet



NZZ am Sonntag 17.04.2022

Diese Hetzschrift aus Russland ist eine Anleitung zum Völkermord

Der folgende russische Propaganda-Artikel sorgt im Westen für Entsetzen. Er ruft zum Genozid in der Ukraine auf. Wir bringen Auszüge daraus, weil er das Gedankengut hinter dem Krieg zeigt – und was noch droht

Victor Merten

Ria Nowosti ist eine staatliche russische Nachrichtenagentur. Sie dient als Sprachrohr für die Propaganda des Kremls. «Was Russland mit der Ukraine tun muss» lautet der Titel eines Artikels, der am 3. April auf der Website von Ria Nowosti erschien. Der Gastkommentar des russischen Autors Timofei Sergeizew hat Entsetzen ausgelöst. Denn man kann davon ausgehen, dass er dem russischen Regime genehm ist, ja sogar seine Sicht des Krieges in der Ukraine wiedergibt.

Der Propagandist Sergeizew hat schon mehrfach zur Ukraine und zum Konflikt zwischen Russland und den USA geschrieben. In diesem Artikel beschuldigt er die Ukrainer in völliger Verdrehung der Tatsachen, in der Mehrheit «Nazis» zu sein. So nennt er sie, weil sie auf ihrer ukrainischen Identität bestehen und sich dem Westen zuwenden. Dabei sind es seine Ideen, die an Deutschlands Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg erinnern.

Sergeizew fordert, die Ukrainer müssten von Russland «entnazifiziert» werden, die einen durch militärische Vernichtung, die anderen durch Bestrafung und Umerziehung. Seine Hetzschrift kann man als eigentlichen Leitfaden zum Völkermord verstehen. Dass Ria Nowosti sie ausgerechnet veröffentlichte, als das Massaker im Kiewer Vorort Butscha entdeckt wurde, verstärkt diesen Eindruck. Der Text lässt für die Ukraine Grauenvolles befürchten. Wir geben ihn hier in übersetzten Auszügen wieder, um deutlich zu machen, mit welcher Gefahr die freie Welt zu tun hat.

«Bereits im April letzten Jahres haben wir geschrieben, dass die Entnazifizierung der Ukraine unvermeidbar ist. Wir brauchen keine nazistische Bandera-Ukraine, die ein Feind Russlands und ein Werkzeug des Westens zu unserer Zerstörung ist. (Stepan Bandera war ein ukrainischer Politiker und im Zweiten Weltkrieg ein Partisanenführer und Nazi-Kollaborateur. Anm. der Red.) Heute hat die Frage der Entnazifizierung eine praktische Wende genommen.

Nazis, die zu den Waffen gegriffen haben, müssen auf dem Schlachtfeld möglichst vernichtet werden. Man sollte keinen entscheidenden Unterschied machen zwischen den ukrainischen Streitkräften und den sogenannten Nationalen Sicherheitskräften wie auch den Milizen für territoriale Verteidigung, die sich diesen beiden Militärverbänden angeschlossen haben.

Sie alle sind gleichermassen beteiligt an den abscheulichen Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung, gleichermassen verantwortlich für den Genozid am russischen Volk und halten sich nicht an die Gesetze und Gebräuche des Krieges.

Kriegsverbrecher und aktive Nazis sind hart und abschreckend zu bestrafen. Es muss eine vollständige Säuberung durchgeführt werden. Sämtliche an Nazi-Umtrieben beteiligten Organisationen müssen beseitigt und verboten werden. Neben der Führung ist allerdings auch ein grosser Teil der Volksmasse – die passiven Nazis, die Mittäter des Nazismus – schuldig.

Die Zeitspanne für die Entnazifizierung kann keinesfalls kürzer sein als eine Generation, die unter den Bedingungen der Entnazifizierung geboren sein, aufwachsen und reifen muss. Die Nazifizierung der Ukraine hat mehr als 30 Jahre gedauert – mindestens seit 1989, als der ukrainische Nationalismus gesetzliche und erlaubte politische Ausdrucksformen bekam und die ‹Unabhängigkeits›-Bewegung in Richtung Nazismus führte.

Der Ukronazismus stellt nicht eine kleinere, sondern eine grössere Bedrohung für den Frieden und Russland dar als Hitlers Spielart des Nationalsozialismus.

Anders als etwa Georgien und die baltischen Staaten ist die Ukraine als Nationalstaat unmöglich, wie die Geschichte zeigt, und jeder Versuch, einen solchen Staat zu ‹bilden›, führt unweigerlich zum Nationalsozialismus. Das Ukrainertum ist ein künstliches, antirussisches Gebilde ohne eigene zivilisatorische Substanz, ein untergeordnetes Element einer ausländischen und fremdartigen Zivilisation.

Die nötigen Hauptschritte der Entnazifizierung kann man wie folgt beschreiben:

– Beseitigung der bewaffneten Nazi-Verbände (womit wir alle bewaffneten Verbände der Ukraine einschliesslich der ukrainischen Streitkräfte meinen) sowie der Militär-, Informations- und Bildungs-Infrastruktur, die ihre Tätigkeit gewährleisten;
– Bildung einer Volksselbstverwaltung und einer Volkspolizei (Verteidigung und öffentliche Ordnung) in den befreiten Gebieten zum Schutz der Bevölkerung vor dem Terror der Nazi-Untergrundgruppen;
– Einrichtung des russischen Informationsraums;
– Beschlagnahmung von Unterrichtsmaterial und Verbot von Bildungsprogrammen aller Ebenen, mit Nazi-Gedankengut;
– Weitreichende Ermittlungen zu persönlicher Verantwortung für Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Verbreitung von Nazi-Ideologie und Unterstützung des Nazi-Regimes;
– Offenlegung der Namen von Komplizen des Nazi-Regimes und Zwangsarbeit im Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur als Strafe für ihre Nazi-Umtriebe (unter denen, die nicht zum Tod oder Haft verurteilt wurden);
– Verabschiedung erster Entnazifizierungsmassnahmen ‹von unten› auf lokaler Ebene unter russischer Überwachung, die jede Art und Form der Wiederbelebung der Nazi-Ideologie verbieten;
– Errichtung von Mahnmalen, Gedenktafeln und Denkmälern für die Opfer des ukrainischen Nationalsozialismus und für die Helden des Kampfes gegen ihn;
– Aufnahme von antifaschistischen und Entnazifizierungs-Vorschriften in die Verfassungen der neuen Volksrepubliken;
– Schaffung ständiger Entnazifizierungsbehörden für eine Zeitspanne von 25 Jahren.

Russland hat im 20. Jahrhundert alles getan, um den Westen zu retten. Es setzte das wichtigste westliche Projekt um, die Alternative zum Kapitalismus, die die Nationalstaaten besiegte, nämlich das sozialistische rote Projekt. Es zerschlug den deutschen Nationalsozialismus, die monströse Ausgeburt der Krise der westlichen Zivilisation. Der letzte Akt der russischen Uneigennützigkeit war die ausgestreckte Hand der Freundschaft, für die Russland in den 1990er Jahren einen ungeheuren Schlag erhielt.

Von nun an wird Russland seinen eigenen Weg gehen, ohne sich um das Los des Westens zu kümmern, und sich auf einen anderen Teil seines Erbes stützen: die Führung im weltweiten Prozess der Entkolonialisierung.

Die Entnazifizierung der Ukraine ist zugleich ihre Entkolonialisierung, eine Tatsache, die die ukrainische Bevölkerung verstehen muss, wenn sie beginnt, sich von den Gefahren, Verführungen und Abhängigkeiten der sogenannten europäischen Ausrichtung zu befreien.»



Zum Autor

Timofei Sergeizew

Der Propagandist ist in Russland auch bekannt aus Talkshows des Staatsfernsehens. Er war Berater der ehemaligen ukrainischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch und Leonid Kutschma und hat das Drehbuch zu einem Film über Kiew im Zweiten Weltkrieg verfasst.
(https://magazin.nzz.ch/nzz-am-sonntag/international/ukraine-krieg-timofei-sergeizews-artikel-sorgt-fuer-entsetzen-ld.1679871)



Sonntagszeitung 17.04.2022

Kriegspropaganda eines Putin-Vertrauten: Russische Nachrichten­agentur ruft zur Vernichtung der Ukraine auf

In einem Essay erklärt ein Vertrauter Putins, wie die «Entnazifizierung» der Ukraine gelingen soll. Das Dokument offenbart Einblicke in das russische Denken – mitsamt Genozid-Rhetorik.

Andreas Kunz

Anfang Woche veröffentlichte die russische Nachrichtenagentur Ria Novosti einen Gastbeitrag, in dem der Autor Timofei Sergeitsev zur «Entnazifierung» der Ukraine aufrief – und ausführlich darlegte, was er damit meint: die völlige Vernichtung des Staates, seiner Strukturen sowie all jener Menschen, die sich den russischen Plänen widersetzen.

Sergeitsev gilt als Vertrauter Putins, sein Essay liegt auf Regierungslinie. Er legt die Ziele der «Entnazifizierung» jedoch klarer und detaillierter dar als bisherige Verlautbarungen Moskaus, weshalb wir beschlossen haben, Ausschnitte daraus zu publizieren. Im Artikel, der im russischen Original bereits 1,4 Millionen Mal angeklickt wurde und von dem auch eine englische Übersetzung existiert, heisst es zu Beginn:

«Die Entnazifizierung ist notwendig, wenn ein bedeutender Teil des Volkes – wahrscheinlich die Mehrheit – in seiner Politik von der Nazipolitik beherrscht und in sie hineingezogen worden ist (…). Die Anerkennung dieser Tatsache ist die Grundlage der Entnazifizierungspolitik, aller ihrer Massnahmen, und die Tatsache selbst ist ihr Gegenstand.»

Der Autor steigert sich sogleich zu einer Genozid-Rhetorik, die keine Fragen offenlässt: «Die Nazis, die zu den Waffen griffen, sollten auf dem Schlachtfeld so weit wie möglich vernichtet werden. (…) Es muss zu einer totalen Lustration kommen (feierliche, kultische Reinigung durch Sühneopfer und Blutvergiessen, Anm. d. Red.). Alle Organisationen, die sich mit der Ausübung des Nationalsozialismus verbunden haben, sollten liquidiert und verboten werden (…). Auch ein erheblicher Teil der Massen, die passive Nazis, Komplizen des Nazismus sind, ist schuldig. Sie haben die Nazi-Regierung unterstützt und geduldet.»

«Ukrainer sind grössere Bedrohung als Hitler»

Sergeitsev fordert eine «gerechte Bestrafung» der ukrainischen «Bevölkerungsmasse» durch «Umerziehung» sowie «strenge Zensur (…) nicht nur im politischen Bereich, sondern notwendigerweise auch im Bereich der Kultur und der Bildung». Für ihn ist klar: «Die Entnazifizierung kann nur vom Sieger durchgeführt werden, was erstens seine absolute Kontrolle über den Entnazifizierungsprozess und zweitens die Macht, diese Kontrolle zu gewährleisten, voraussetzt. In dieser Hinsicht kann ein entnazifiziertes Land nicht souverän sein.»

Erst in der Mitte seiner Ausführungen erklärt der Autor relativ beiläufig, weshalb die Ukrainer bei den Russen als «Nazis» gelten, indem er sich auf den deutschen Nationalsozialismus unter Hitler bezieht: «Die Besonderheit der modernen nazifizierten Ukraine liegt in ihrer Amorphität und Ambivalenz, die es ermöglichen, den Nazismus als Wunsch nach ‹Unabhängigkeit› und einem ‹europäischen› (westlichen, proamerikanischen) Weg der ‹Entwicklung› (in Wirklichkeit – der Degradierung) zu verschleiern und zu behaupten, dass es in der Ukraine ‹keinen Nazismus gibt, sondern nur lokalisierte individuelle Exzesse›. Schliesslich gibt es keine Haupt-Nazi-Partei, keinen Führer, keine vollwertigen Rassengesetze (nur deren verkürzte Version in Form von Repressionen gegen die russische Sprache). All dies macht den ukrainischen Nationalsozialismus jedoch nicht zu einer ‹Light-Verson› des deutschen Nationalsozialismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.»

Ganz im Gegenteil sogar, wie Sergeitsev schreibt: «Der Ukronazismus stellt nicht weniger, sondern eine grössere Bedrohung für die Welt und Russland dar als der deutsche Nationalsozialismus in der Hitler-Version. Der Name ‹Ukraine› kann offensichtlich nicht als Bezeichnung für ein vollständig entnazifiziertes Gebilde in einem vom Naziregime befreiten Gebiet beibehalten werden. (…) Die Entnazifizierung wird unweigerlich auch eine Ent-Ukrainisierung sein. (…) Der Ukrainismus ist eine künstliche antirussische Konstruktion, die keinen eigenen zivilisatorischen Inhalt hat, ein untergeordnetes Element einer fremden Zivilisation.»

Dann listet der Autor mehrere Schritte auf, die nach der Eroberung der Ukraine «unumkehrbar herbeigeführt» werden müssten: «Die Bildung von Organen der Volksselbstverwaltung und der Polizei (Verteidigung und Strafverfolgung) (…), die Entfaltung des russischen Informationsraumes (…), die Rücknahme von Bildungsmaterial und das Verbot von Bildungsprogrammen auf allen Ebenen, die nationalsozialistische ideologische Leitlinien enthalten (…) Lustration, Veröffentlichung der Namen von Komplizen des Naziregimes, die zur Bestrafung der Nazi-Aktivitäten zur Zwangsarbeit für den Wiederaufbau der zerstörten Infrastruktur herangezogen werden (…), die Errichtung von Mahnmalen, Gedenkzeichen und Denkmälern für die Opfer des ukrainischen Nationalsozialismus.»

Zum Schluss ruft Sergeitsev seine Landsleute dazu auf, sich keine Illusionen über die Zukunft zu machen: «Russland wird keine Verbündeten bei der Entnazifizierung der Ukraine haben. Denn dies ist eine rein russische Angelegenheit. (…) Um den Plan der Entnazifizierung der Ukraine in die Tat umzusetzen, muss sich Russland selbst endgültig von proeuropäischen und prowestlichen Illusionen verabschieden und sich als letzte Instanz zum Schutz und zur Bewahrung jener Werte des historischen Europas (der Alten Welt) begreifen, die es verdient haben und die der Westen letztlich aufgegeben hat, indem er den Kampf um sich selbst verlor.»
(https://www.derbund.ch/russische-nachrichtenagentur-ruft-zur-vernichtung-der-ukraine-auf-402322076652)


+++HISTORY
ajour.ch 17.04.2022

Als die Menschen aus dem Osten flohen – und wie die Bieler Bevölkerung auf die Flüchtlinge reagierte

Nach dem Ungarnaufstand 1956 und dem Prager Frühling 1968 hat die Schweiz bereitwillig Menschen auf der Flucht vor russischer Aggression aufgenommen. Es gibt jedoch Unterschiede zu heute.

Beat Kuhn

Der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine hat die grösste Flüchtlingswelle in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst: Von den rund 44 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern sind mittlerweile über 4,5 Millionen aus dem Land geflohen. Es ist nicht das erste Mal, dass Massen von Menschen wegen einer Aggression Russlands aus Osteuropa in den Westen fliehen: Schon in ihrer ersten Stellungnahme am zweiten Kriegstag erklärte Bundesrätin Karin Keller-Suter (FDP), der Überfall auf die Ukraine erinnere sie an den Einmarsch der Sowjetunion in Ungarn 1956 und in der Tschechoslowakei 1968. Nun gehe es erneut um einen Angriff auf demokratische Werte. Und auch mit der Ukraine werde die Schweiz wieder solidarisch sein, versicherte die Justizministerin. Aber passt ihr Vergleich mit dem Ungarnaufstand und dem Prager Frühling überhaupt? Um dies beurteilen zu können, muss man sich die beiden Ereignisse vergegenwärtigen.

1956 lag der Zweite Weltkrieg mit Dutzenden Millionen Toten erst elf Jahre zurück. Und doch war die Einigkeit der westlichen Länder und der Sowjetunion, durch die Nazi-Deutschland in die Knie gezwungen worden war, bereits dahin. Zwischen den kapitalistischen Demokratien und der kommunistischen Diktatur, welche den von ihr befreiten Ländern ihre eigene totalitäre Ideologie aufzwang, herrschte Kalter Krieg. Zu einer direkten militärischen Auseinandersetzung zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion kam es zwar nie, doch gab es sogenannte Stellvertreterkriege, wie den Koreakrieg, den Vietnamkrieg oder den Krieg in Afghanistan.

2500 bis 3000 Todesopfer

Am 23. Oktober 1956 protestierten in der ungarischen Hauptstadt Budapest Studenten gegen die kommunistische Regierung und forderten demokratische Reformen. Doch diese reagierte brutal, indem sie in die stetig wachsende Menschenansammlung schiessen liess. In der Folge kam es zu einem eigentlichen Volksaufstand, der zum Sturz des Regimes führte. Damit war die Freiheit allerdings noch lange nicht erreicht. Denn die militärische Macht im Land hatte das kommunistische Regime in Moskau inne. Offiziell waren die russischen Truppen zwar nur im Rahmen des Warschauer Pakts im Land, also des militärischen Bündnisses der Ostblock-Staaten. Inoffiziell sicherte der Kreml mit diesen aber auch die Macht der Einparteien-Regimes in jenen Ländern.

Die neue Regierung unter dem Reformkommunisten Imre Nagy erklärte den Austritt Ungarns aus dem Warschauer Pakt sowie die Neutralität des Landes und forderte die Sowjetarmee auf, das Land zu verlassen. Die fuhr jedoch vielmehr mit Panzern auf, um den Aufstand niederzuschlagen. Vermeintlich war dies ein Konflikt mit ungleich langen Spiessen. Doch eine erstaunte Weltöffentlichkeit konnte nun eine Woche lang mitverfolgen, wie zumeist jugendliche Aufständische dem Militär mit Molotow-Cocktails erhebliche Verluste zufügten.

Gegen die 60’000 zusätzlichen Soldaten, die mit Hunderten von Panzern aufmarschierten, hatten die etwa 10’000 jungen Freiheitskämpfer dann aber keine Chance; und so installierte Moskau am 4. November eine prosowjetische Regierung unter János Kádár. Daraufhin kam es im ganzen Land zu neuen Kämpfen, die an einzelnen Orten wochenlang dauerten. Nach der Niederschlagung des Aufstandes wurden Hunderte hingerichtet – unter ihnen Imre Nagy – sowie Zehntausende inhaftiert. Insgesamt sind bei dem Aufstand 2500 bis 3000 Ungarn umgekommen. Da zeitgleich in Ägypten die Suezkrise ausbrach, kam international die Befürchtung auf, dass es zu einem heissen Krieg zwischen den Blöcken kommen könne, ja gar zu einem Dritten Weltkrieg.

Poulets dämpften die Sympathien

Der Westen verzichtete auf militärische Hilfe in Ungarn, nahm aber die rund 200’000 Flüchtlinge bereitwillig auf. Auch die Schweiz leistete einen Beitrag: Am 13. November 1956 beschloss der Bundesrat die pauschale Aufnahme von 4000 Ungarn, mit Recht auf Dauerasyl. Ende November wurde weiteren 6000 der «vorübergehende Aufenthalt» bis zur «Klärung ihrer Weiterreise in ein Drittland» gewährt. Die Flüchtlinge wurden vom Roten Kreuz in österreichischen Lagern abgeholt und mit Sonderzügen bis zum Grenzort Buchs im St. Galler Rheintal gebracht. Vom dortigen Aufnahmezentrum verteilte man sie in Gruppen von 50 bis 100 Personen auf Kantone und Gemeinden. Hilfsorganisationen, Gemeinden, Kirchen und Privatpersonen kümmerten sich um ihre Unterbringung, Versorgung und Arbeitsvermittlung. Ihre Integration vollzog sich rasch und relativ problemlos, auch wenn es immer wieder Klagen über «ungewohntes Benehmen» gab. Die linke «Seeländer Volkszeitung» sah sich einmal veranlasst, zu vermitteln: «Wollen wir den Ungarn nicht wenigstens die Möglichkeit lassen, nach ungarischem Brauch zu kochen? Wir dürfen auch nicht den Stab über sie brechen, wenn sie so viele Poulets kaufen, denn für die Ungarn ist der Hühnergulasch ungefähr das, was für uns die Berner Platte ist.»

In vielen Städten organisierten Studenten Kundgebungen. Am 20. November läuteten im ganzen Land um 11.30 Uhr die Kirchenglocken, danach folgten drei Schweigeminuten: Autos und Trams hielten an, der Bundesrat unterbrach seine Sitzung, die Fahnen auf dem Bundeshaus wurden auf halbmast gesetzt. Bis an Weihnachten spendete die Bevölkerung rund 6,5 Millionen Franken, 8000 Personen spendeten Blut. Das Schweizerische Rote Kreuz (SRK) sammelte über zwei Millionen Pakete mit Medikamenten und Nahrungsmitteln, die von zehn Lastwagen-Konvois nach Budapest gebracht wurden. Zudem brachte die SBB für das SRK 35 Eisenbahnwagen voll Lebensmittel und Kleider in österreichische Auffanglager, die von ungarischen Flüchtlingen überschwemmt wurden.

Grosse Demonstration in Biel

Trotz akuter Wohnungsnot in Biel konnten alle dorthin verbrachten Flüchtlinge in Wohnungen oder in einem Zimmer untergebracht werden. Am 2. November wurde in der Stadtkirche ein gutbesuchter Fürbitte-Gottesdienst für die leidenden Ungarn abgehalten. Am 6. November kam es in Biel zu einer ersten öffentlichen Solidaritätskundgebung mit dem ungarischen Freiheitskampf. Jugendliche und junge Erwachsene der höheren Schulen zeigten mit einem Schweigemarsch ihren stummen Protest. Nur zwei Tage darauf folgte die vielleicht grösste politische Demonstration, die Biel je gesehen hat: Dem Aufruf der Gewerkschaften, der Unternehmerverbände, der Pfarrämter und aller Bieler Parteien mit Ausnahme der kommunistischen Partei der Arbeit (PdA) folgten zwischen 5000 («Bieler Tagblatt») und 10’000 Personen («Seeländer Volkszeitung») und versammelten sich auf dem Neumarktplatz.

Am 7. Dezember nahm die Stadt auf Initiative der Fürsorgedirektion eine Koordinationsstelle für die Unterstützung der ungarischen Flüchtlinge in Betrieb. Am 18. Dezember rezitierte auf Einladung der beiden Studentenverbindungen des Technikums ein Schauspieler «Huttens letzte Tage» von Conrad Ferdinand Meyer zugunsten der Ungarnhilfe. Darin rechtfertigt der deutsche Ritter Ulrich von Hutten ungebeugt seinen Kampf für die Reformation und wider das Papsttum.

Tschechische KP reformiert selbst

Anders als in Ungarn ging die Auflehnung in der Tschechoslowakei von der Zentrale der Macht selbst aus: Im April 1968 verkündete Alexander Dubček, der Zentralsekretär der Kommunistischen Partei und damit mächtigste Mann des Landes, demokratische Reformen und einen «Sozialismus mit menschlichem Antlitz» – der Jahreszeit wegen von der westlichen Presse Prager Frühling genannt. Schon seit Anfang der 60er-Jahre hatte sich die Parteiführung mit den Möglichkeiten von Reformen der bestehenden Planwirtschaft beschäftigt, weil deren Effizienz mangelhaft war.

Vier Monate lang zeigte der Kreml keine Reaktion. Doch dann kam sie – mit aller Wucht: In der Nacht vom 20. auf den 21. August marschierten 500’000 Soldaten aus der Sowjetunion, der DDR, Polen und Bulgarien in der Tschechoslowakei ein. Weil die Demokratisierung der CSSR in den Augen der übrigen Machthaber im Ostblock eine Bedrohung darstellte, setzten sie dem Experiment der Reformer ein Ende.

Gewarnt durch das blutige Durchgreifen der Armee in Budapest, leistete die tschechische Bevölkerung nur gewaltlos Widerstand, etwa indem sie Ortstafeln entfernte, um die Truppen zu verwirren. Dubček, dessen Reformen die breite Bevölkerung mittrug, wurde nach Moskau gebracht.

Erneut kam es zu einer Flüchtlingswelle, diesmal waren es sogar noch mehr als 200’000 Menschen, die sich in den Westen absetzten. 13’000 davon strandeten in der Schweiz. Am 7. September trafen rund 50 tschechische Flüchtlinge in Biel ein. Sie wurden zunächst in Hotels untergebracht. In Zusammenarbeit mit dem Wohnungsamt und der Fremdenkontrolle suchte die Fürsorgedirektion daraufhin private Wohngelegenheiten. Eine unter den Schülern der Gewerbeschule Biel durchgeführte Sammlung zugunsten junger tschechoslowakischer Flüchtlinge ergab den Betrag von 2500 Franken.

Am 11. September organisierte der «Arbeitskreis für Zeitfragen Biel» eine Podiumsdiskussion, die von 350 Personen verfolgt wurde und bis nach Mitternacht dauerte. Vom 24. bis 30. September waren im Foyer des Kongresshauses Fotografien vom 21. August in Prag zu sehen, dem Tag, an dem die Panzertruppen des Warschauer Pakts das Hoffen auf ein weiteres Aufblühen des Prager Frühlings niedergewalzt hatten.

Ein Jahr später gelang es dem Arbeitskreis, den in die Schweiz geflüchteten Ota Sik zu einem Vortrag in den Farelsaal einzuladen. Der Wirtschaftswissenschaftler war gewissermassen der Vater des Prager Frühlings gewesen, weil er die entsprechenden Reformen entwickelt hatte. Im April 1968 ernannte ihn Dubček zum stellvertretenden Ministerpräsidenten und Koordinator der Wirtschaftsreformen – die in Moskau als Restauration des Kapitalismus beurteilt wurden. Der Anlass in Biel sollte für Siks weiteren Lebensweg von grosser Bedeutung sein, denn dort knüpfte er erste Kontakte zur Universität St.Gallen, die damals noch Handelshochschule hiess. 1970 wurde er dort Professor für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

Das ideologische Moment fehlt

Fazit: Sowohl der Ungarnaufstand als auch der Prager Frühling ereigneten sich mitten im Kalten Krieg, als Ungarn und die Tschechoslowakei Satellitenstaaten der kommunistischen Sowjetunion waren. In deren Macht- und Einflussbereich geraten waren sie, als sie im Zweiten Weltkrieg von ihr befreit worden waren. Die Ukraine befindet sich in einer ganz anderen Situation. Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs gehörte ihr Gebiet erstmals nur zu einem einzigen Staat, nämlich zur Sowjetunion. Mit deren Zerfall hat die Ukraine im Dezember 1991 die Unabhängigkeit erlangt – 90,3 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sagten in einer Abstimmung Ja dazu. Anders als 1956 in Ungarn und 1968 in der Tschechoslowakei geht Russland in der Ukraine also nicht gegen eine politische Freiheitsbewegung in ihrem Einflussgebiet vor, sondern gegen einen unabhängigen, souveränen Staat.

Die Bereitschaft der Schweiz, Geflüchtete aus der kulturell und geografisch nahen Ukraine aufzunehmen, ist genauso gross wie damals die Bereitschaft, Flüchtlinge aus Ungarn und der Tschechoslowakei willkommen zu heissen. Es fehlt jedoch das ideologische Moment: Damals herrschte hierzulande ein ausgeprägter Antikommunismus, was die Motivation zur Hilfe noch verstärkte – in den «Basler Nachrichten» war einmal vom «Winkelried Ungarn» die Rede. Politisch Linke, die Kritik an der bürgerlich dominierten Politik in der Schweiz übten, bekamen dann zum Beispiel schnell einmal den Satz zu hören: «Wenn es Ihnen hier nicht passt, können Sie ja rüber gehen.» Oder man wünschte ihnen kurz und bündig ein Billett «Moskau einfach!».

Und wie sieht es mit der eingangs zitierten Einschätzung von Karin Keller-Suter aus, beim Einmarsch in die Ukraine gehe es wie 1956 und 1968 um einen Angriff auf demokratische Werte? Just am 24. Februar, dem Tag des Kriegsbeginns, publizierte die «WOZ» ein Interview mit dem russischen Militärexperten Pawel Luzin, der den Oppositionellen Alexei Nawalny während dessen Präsidentschaftskampagne 2017/18 zu den Bereichen Armee und Rüstungsindustrie beraten hatte. Zitat: «Russland will seine Vorherrschaft über den postsowjetischen Raum aufrechterhalten, um jede vitale und attraktive Alternative zum russischen Wirtschafts- und Politsystem zu verhindern; damit sichert sich die russische Elite letztlich ihre Macht, ihre Vorteile und ihren Wohlstand.» Damit bestätigt er, was die Bundesrätin sagte. Bemerkenswert ist aber auch, dass er nicht wie die westlichen Medien nur von Putin spricht, sondern von einer ganzen Elite. Ohne deren Komplizenschaft könnte Putin wohl gar nicht Krieg führen.

Hauptquellen: Schweizerisches Sozialarchiv, Bieler Chronik, Chronik 1955-2005 des Arbeitskreises für Zeitfragen Biel
(https://ajour.ch/story/als-die-menschen-aus-dem-osten-flohen-und-wie-die-bieler-bev%C3%B6lkerung-auf-die-fl%C3%BCchtlinge-reagierte/6645)