Medienspiegel 10. März 2022

Medienspiegel Online: https://antira.org/category/medienspiegel

+++BERN
Erst wenige da: Kanton Bern erwartet bis zu 30’000 ukrainische Flüchtlinge
Wegen der hohen Anzahl von Flüchtlingen aus der Ukraine evaluiert der Kanton derzeit Grossunterkünften und hat ein neues Formular für Private online gestellt.
https://www.derbund.ch/kanton-bern-erwartet-bis-zu-30-000-ukrainische-fluechtlinge-705527867378
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/kantone-organisieren-sich-fuer-die-fluechtlingsaufnahme?id=12156579
-> https://www.neo1.ch/artikel/kanton-bern-rechnet-mit-bis-zu-30000-fluechtlingen-aus-der-ukraine
-> Medienmitteilung Kanton: https://www.be.ch/de/start/dienstleistungen/medien/medienmitteilungen.html?newsID=9d19135f-303a-4d0b-8dab-7eac24ab32e5
-> Ukraine-Hilfe-Koordination BE: https://www.asyl.sites.be.ch/de/start/integration/koordination-ukraine-hilfe.html



derbund.ch 10.03.2022

Über 2 Millionen Menschen auf der FluchtKanton Bern erwartet bis zu 30’000 ukrainische Flüchtlinge

Da es an geeigneten Unterkünften mangelt, sollen die Geflüchteten bei Privaten unterkommen. Kinder sollen möglichst rasch die Schule besuchen.

Andres Marti

Inzwischen sind über 2 Millionen Menschen aus der Ukraine geflüchtet. Die EU hat bereits jetzt mehr Flüchtlinge aufgenommen als während des gesamten Syrien-Kriegs. Noch ist allerdings unklar, wie viele von ihnen in die Schweiz einreisen werden.

Im Kanton Bern sind derzeit nur einige wenige Ukrainerinnen und Ukrainer untergebracht. Die Behörden gehen davon aus, dass sie bei Gastfamilien oder in sonstigen Unterkünften wie Hotels oder Ferienwohnungen wohnen. Da im Schengen-Raum keine Visa nötig sind, fehlt es an genauen Zahlen.

Der Berner Regierungsrat jedoch erwartet, dass in den kommenden Wochen und Monaten eine grosse Anzahl von Personen aus der Ukraine in die Schweiz einreisen wird. Je nach Lage im Kriegsgebiet rechnet der Regierungsrat bis Ende Jahr mit der Einreise von 5000 bis 30’000 Ukraine-Flüchtlingen – nur für den Kanton Bern notabene.

Zum Vergleich: 2015, auf dem Höhepunkt der letzten Flüchtlingswelle, verzeichnete die Schweiz rund 40’000 Asylgesuche. Noch mehr waren es während des Kosovo-Kriegs: 1999 stellten in der Schweiz rund 47’500 Personen ein Asylgesuch. Die Behörden waren mit der Registrierung der Flüchtlinge überfordert und mussten die Armee aufbieten.

Flüchtlinge im Jugendheim?

Im Kanton Bern sollen die Geflüchteten aus der Ukraine zunächst in Grossunterkünften untergebracht werden. Der Platz dafür ist allerdings begrenzt: Die Auslastung der 14 bernischen Asylzentren beträgt derzeit rund 70 Prozent, «Tendenz steigend», wie es auf Anfrage heisst.

Damit mehr Flüchtlinge untergebracht werden können, prüfen die Behörden nun Gebäude, die dem Kanton gehören, oder solche, die in Zusammenarbeit mit den regionalen Partnern im Asylbereich rasch bezugsbereit wären. So schlägt der Kanton etwa das ehemalige Jugendheim in Prêles vor. Zudem sollen die ukrainischen Flüchtlinge nach Möglichkeit von anderen Flüchtlingen getrennt untergebracht werden.

Auf Zivilschutzanlagen will der Kanton hingegen nur in Notsituationen zurückgreifen, da sich diese nicht für einen längeren Aufenthalt eignen würden. Geht es nach dem Kanton, soll die Unterbringung in Kollektivunterkünften nur von kurzer Dauer sein. Die Ukrainerinnen und Ukrainer sollen stattdessen so rasch wie möglich bei Gastfamilien untergebracht werden.

Die Gesundheits-, Sozial- und Integrationsdirektion hat dazu ein Formular online gestellt, über das Privatpersonen Unterbringungsmöglichkeiten oder Dolmetscherleistungen melden können. Wer ein Zimmer oder eine Wohnung zur Verfügung stellt, soll dafür auch entschädigt werden. Vorgesehen ist etwa die Übernahme eines Teils der Miete. Die genauen Rahmenbedingungen für Gastfamilien will der Kanton in Kürze bekannt geben.

Bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe lobt man «die pragmatische Bereitschaft der Behörden, rasch der aktuellen Situation angemessene Lösungen zu schaffen», so Mediensprecherin Eliane Engler. Die Solidarität in der Bevölkerung sei riesig. «Die Menschen möchten mithelfen.»

Auf der Onlineplattform der Kampagnenorganisation Campax haben sich bereits Tausende Schweizerinnen und Schweizer bereit erklärt, den Geflüchteten eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. 40’000 Betten stehen bereit, 6700 davon im Kanton Bern.

Kanton plant «Willkommensklassen»

Da Männer im Alter von 18 bis 60 Jahren nicht aus der Ukraine ausreisen dürfen, flüchten derzeit vor allem Frauen mit Kindern und Jugendlichen. Den Kindern soll dabei so rasch wie möglich der Schulunterricht ermöglicht werden. Je nach Situation sollen sie in die Regelklassen aufgenommen oder in speziellen «Willkommensklassen» unterrichtet werden, so der Kanton.

Der Berner Regierungsrat begrüsst ausserdem den Entscheid des Bundesrats, wonach Ukrainerinnen und Ukrainern auch nach Ablauf der 90 Tage, während denen sie sich visumfrei in der Schweiz aufhalten können, unbürokratisch Schutz gewährt werden soll.

Der Bund wird voraussichtlich am Freitag den besonderen Schutzstatus S für Ukrainerinnen und Ukrainer aktivieren. Sie müssen dann nicht mehr ein ordentliches Asylverfahren durchlaufen, bekommen ein Aufenthaltsrecht, können ihre Familienangehörigen nachziehen und einer Erwerbsarbeit nachgehen. Zudem  erhalten sie Anspruch auf reguläre Sozialhilfe.
(https://www.derbund.ch/kanton-bern-erwartet-bis-zu-30000-ukrainische-fluechtlinge-149269430379)



Die Stadt bereitet sich auf ukrainische Flüchtlinge vor
Die Stadt Thun organisiert am 18. März einen Informationsanlass für hier lebende Ukrainerinnen und Ukrainer sowie Personen mit ukrainischen Wurzeln. Erste Flüchtlinge befinden sich bereits in Thun.
https://www.jungfrauzeitung.ch/artikel/197895/
-> https://www.thun.ch/stadtverwaltung/abteilungenaemter/amt-fuer-bildung-und-sport/fachstelle-familie/kompetenzzentrum-integration-thun-oberland/krieg-in-der-ukraine.html


+++APPENZELL
Rettungsaktion: Ankunft der 120 Flüchtlinge in Teufen
https://www.tvo-online.ch/aktuell/rettungsaktion-ankunft-der-120-fluechtlinge-in-teufen-145762758


+++JURA
Ukraine-Flüchtlinge komme in Alle JU an – Schweiz Aktuell
In der 1’800 Seelen-Gemeinde Alle im Jura sind 70 Flüchtende aus der Ukraine angekommen. Privatpersonen haben unter dem Namen «Ajoie-Ukraine» die Initiative für die Aufnahme der Flüchtlinge ergriffen und alles organisiert.
https://www.srf.ch/play/tv/schweiz-aktuell/video/ukraine-fluechtlinge-komme-in-alle-ju-an?urn=urn:srf:video:3acb4d54-157a-4e05-8064-0b5d99243984


+++OBWALDEN
Kanton Obwalden plant Kollektivunterkunft für ukrainische Flüchtlinge
Der Sonderstab Ukraine arbeitet mit Hochdruck an der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Kriegsgebiet.
https://www.luzernerzeitung.ch/zentralschweiz/obwalden/krieg-in-der-ukraine-kanton-obwalden-plant-kollektivunterkunft-fuer-ukrainische-fluechtlinge-ld.2261521


+++ZÜRICH
Die Kaserne Bülach wird zur Flüchtlings-Unterkunft
Der Bund rechnet in den nächsten Wochen mit tausenden Flüchtlingen aus der Ukraine. Die Armee schafft nun eine Notunterkunft im Kanton Zürich und räumt die Kaserne Bülach. Entstehen soll Platz für rund 500 Flüchtlinge.
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/die-kaserne-buelach-wird-zur-fluechtlings-unterkunft?id=12156717


Basishilfen-Projekt: Kanton will Stadt Zürich nicht «bestrafen»
Das gestoppte Projekt «Wirtschaftliche Basishilfe» hat für die Stadt Zürich kein Nachspiel: Der Regierungsrat verzichtet darauf, die Stadt dafür zu «bestrafen», etwa durch einen tieferen Finanzausgleich. SVP und FDP hatten dies in einem Vorstoss angeregt.
https://www.toponline.ch/news/zuerich/detail/news/basishilfen-projekt-kanton-will-stadt-zuerich-nicht-bestrafen-00177757/
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-zuerich-schaffhausen/die-kaserne-buelach-wird-zur-fluechtlings-unterkunft?id=12156717 (ab 04:33)


+++SCHWEIZ
Eine Flüchtlingsfamilie in der Schweiz – Rendez-vous
Mehr als zwei Millionen Menschen sind mittlerweile aus der Ukraine geflüchtet, die meisten von ihnen nach Polen. Aber auch in der Schweiz kommen jeden Tag Flüchtlinge an. Einige von ihnen kommen bei Privatpersonen wie Julia Bahatskaya unter. Sie und ihr Partner haben Julias Freundin Xenia und ihre beiden Kinder aufgenommen.
https://www.srf.ch/audio/rendez-vous/eine-fluechtlingsfamilie-in-der-schweiz?partId=12156627


Ukraine-Botschafter: Banken wechseln Geld der Flüchtlinge nicht
Banken lassen Flüchtlinge mit Bündeln von Bargeld abblitzen: Die ukrainische Währung lässt sich nicht umtauschen.
https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/ukraine-botschafter-banken-wechseln-geld-der-fluchtlinge-nicht-66127922


Flüchtlinge: Kantone unterstützen Aktivierung des Schutzstatus S – fordern aber Geld für Sprachkurse
Der Bundesrat dürfte am Freitag den Schutzstatus S für die aus der Ukraine geflüchteten Menschen aktivieren. Die Kantone stellen sich in der Konsultation hinter dieses Vorgehen, verlangen aber Geld für Sprachkurse und andere Integrationsmassnahmen.
https://www.solothurnerzeitung.ch/schweiz/ukraine-fluechtlinge-kantone-unterstuetzen-aktivierung-des-schutzstatus-s-fordern-aber-geld-fuer-sprachkurse-ld.2261236
-> https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/kanton-aargau/fluechtlings-aufnahme-aargau-will-schutzstatus-s-integrationspauschale-und-raschen-zugang-zum-arbeitsmarkt-fuer-ukraine-fluechtlinge-ld.2261214


+++DEUTSCHLAND
Krieg in der Ukraine: Geflüchtete zweiter Klasse
Nicht-ukrainische Geflüchtete aus der Ukraine werden in Deutschland teilweise von der Polizei aus dem Zug geholt. Pro Asyl sieht darin Schikane.
https://taz.de/Krieg-in-der-Ukraine/!5839619/


Kritik an Aufnahmebeschluss: Lässt die EU einige fliehende LGBTI hängen?
Wer in der Ukraine keinen gesicherten Aufenthaltsstatus hatte, kriegt nun auch in der EU keinen. Darunter leiden nicht nur queere Flüchtlinge. Unterdessen läuft die Solidarität mit LGBTI-Geflüchteten weiter an.
https://www.queer.de/detail.php?article_id=41397


EuGH zu Abschiebehaft: Gesetz ging zu weit
Abgelehnte Asyl-Antragsteller sollten drei Jahre lang auch in Straf-Gefängnissen untergebracht werden. Der EuGH verlangt aber Einzelfall-Entscheidungen.
https://taz.de/EuGH-zu-Abschiebehaft/!5836816/


+++ÖSTERREICH
Flüchtlinge werden am Wiener Hauptbahnhof aus dem Zug geworfen
Flüchtende Menschen aus der Ukraine wurden gestern Nacht gezwungen, den Zug nach München zu verlassen. Die Flüchtlinge und ihre Helfer*innen sind verzweifelt.
https://www.bonvalot.net/fluechtlinge-werden-am-wiener-hauptbahnhof-aus-dem-zug-geworfen-821/


+++UNGARN
Eindrücke von der Grenze Ukraine-Ungarn
Über zwei Millionen Menschen haben die Ukraine bereits verlassen, die meisten von ihnen sind Frauen und Kinder, denn Männer zwischen 18 und 60 müssen in der Ukraine bleiben. Viele flüchten in ihrem eigenen Auto, noch mehr Personen reisen wohl per Zug. Die meisten Geflüchteten queren dabei die Grenze nach Polen, doch auch Ungarn teilt sich eine rund 140 km lange Grenze mit der Ukraine.
«Ich hatte den Eindruck, dass alles sehr gut organisiert ist», sagt der Bieler Fotojournalist und Reporter Klaus Petrus, der in den vergangenen Tagen an der ungarisch-ukrainischen Grenze war. Die Geflüchteten würden sowohl von Organisationen als auch von privaten Helfer*innen betreut, sie können sich verpflegen und in umfunktionierten Turnhallen übernachten.
https://rabe.ch/2022/03/09/eindruecke-von-der-grenze-ukraine-ungarn/


+++FLUCHT
Ausbeutung und Missbrauch – Sexuelle Gewalt: So leiden Frauen auf der Flucht aus der Ukraine
Sie sind allein auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine. Auf ihrem Weg erleben geflüchtete Frauen sexuelle Gewalt.
https://www.srf.ch/news/international/ausbeutung-und-missbrauch-sexuelle-gewalt-so-leiden-frauen-auf-der-flucht-aus-der-ukraine


+++DEMO/AKTION/REPRESSION
Freisprüche im «Kill Erdogan» – Prozess
«Kill Erdogan with his own Weapons» – tötet Erdogan mit seinen eigenen Waffen. Ein Transparent mit dieser Aufschrift sorgte im Jahr 2017 für eine diplomatische Krise zwischen der Schweiz und der Türkei. Gezeigt wurde es an einer Demonstration für den Frieden in der Türkei. Noch am selben Tag bestellte Ankara die Schweizer Vize-Botschafterin vor Ort ein.
Fünf Jahre später kam es zum Prozess, gestern verkündete das Regionalgericht Bern-Mittelland nun das Urteil: Alle vier Beschuldigten wurden freigesprochen vom Vorwurf, zu Verbrechen und Gewalt aufgerufen zu haben.
Das RaBe-Info sprach mit einem der Angeklagten, die Person möchte anonym bleiben.
https://rabe.ch/2022/03/10/freisprueche-im-kill-erdogan-prozess/


2200. Mahnwache findet mit 80 Teilnehmenden statt: «Atomkraft verträgt den Krieg nicht»
Die Bewegung «Mahnwache vor dem Ensi» hat einen Gedenktag in Brugg-Windisch zur Nuklearkatastrophe von Fukushima veranstaltet. Ein anderes Thema dominierte den Anlass.
https://www.aargauerzeitung.ch/aargau/brugg/brugg-windisch-2200-mahnwache-findet-mit-80-teilnehmenden-statt-atomkraft-vertraegt-den-krieg-nicht-ld.2261621


+++FRAUEN/QUEER
Das bernische Kantonsparlament will ein Verbot von Therapien, die Homosexuelle heilen wollen.  (ab 02:21)
https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/es-muessen-doch-nicht-alle-mitholz-verlassen?id=12156372


+++RASSISMUS
Wegen «Zigeuner»-Plakat: Chefs der bernischen Jungen SVP vor Bundesgericht abgeblitzt
Adrian Spahr und Nils Fiechter von der Jungen SVP Kanton Bern haben sich der Rassendiskriminierung schuldig gemacht. Zu diesem Schluss kommt das Bundesgericht.
https://www.derbund.ch/chefs-der-bernischen-jungen-svp-vor-bundesgericht-abgeblitzt-117495875112
-> https://www.gfbv.ch/de/medien/medienmitteilungen/bundesgerichtsurteil-svp-rassismus/
-> https://www.srf.ch/news/schweiz/urteil-des-bundesgerichts-praesidium-der-jsvp-bern-wegen-rassendiskriminierung-verurteilt
-> https://www.20min.ch/story/bundesgericht-bestaetigt-urteil-gegen-jsvp-praesidenten-im-zigeuner-gate-275840489838
-> https://www.blick.ch/politik/wegen-zigeunerplakat-chefs-der-berner-jsvp-als-rassisten-verurteilt-id17305866.html
-> https://www.srf.ch/audio/regionaljournal-bern-freiburg-wallis/praesidium-der-jsvp-bern-wegen-rassendiskriminierung-verurteilt?id=12156807
-> https://www.telebaern.tv/telebaern-news/mitglieder-der-jungen-svp-bleiben-wegen-plakat-verurteilt-145763639
-> Medienmitteilung Bundesgericht: https://www.bger.ch/files/live/sites/bger/files/pdf/de/6b_0636_2020_yyyy_mm_dd_T_d_12_48_23.pdf



derbund.ch 10.03.2022

Die «Enfants terribles» der SVP: Jung, laut, verurteilt

Das Bundesgericht spricht Adrian Spahr und Nils Fiechter der Rassendiskriminierung schuldig. Die beiden sehen sich dennoch als moralische Sieger.

Quentin Schlapbach

Es ist kurz nach Mittag, als Adrian Spahr und Nils Fiechter das Bundesgericht in Lausanne verlassen und sich vor der eindrucksvollen Treppe staatsmännisch in Pose werfen. Bevor sie für Einzelinterviews zur Verfügung stehen, wollen sie ein Statement abgeben, verkündet Spahr. Es folgt ein dramatischer Appell.

«Heute ist ein schwarzer Tag für die Meinungsäusserungsfreiheit», sagt Fiechter. «Die Wahrheit zu sagen, ist mit dem heutigen Tag strafbar geworden», sagt Spahr. Das Bundesgericht hatte die beiden SVP-Jungpolitiker soeben der Rassendiskriminierung schuldig gesprochen.

Zwei Grenzgänger

Vier Stunden zuvor fährt in Niederbottigen Thomas Fuchs mit seinem Mercedes-Maybach vor. Der Stadtberner SVP-Doyen gilt als Strippenzieher der Jungen SVP Kanton Bern, als Förderer und Forderer der Jungpartei. Auch an diesem Tag engagiert er sich für den Parteinachwuchs – als Chauffeur.

Im Fond des Wagens sitzen Adrian Spahr und Nils Fiechter. Die beiden Co-Präsidenten der Jungen SVP Kanton Bern haben es in den letzten Jahren schweizweit zu Bekanntheit gebracht. Nicht weil sie wichtige politische Ämter bekleideten. Sondern weil sie mit ihren Aussagen und Aktionen immer wieder polarisierten.

Die Provokation gehört zum politischen Betrieb wie die Kuppel zum Bundeshaus. Besonders für Jungparteien ist sie im ständigen Kampf um Aufmerksamkeit oft das einzig effektive Mittel. Die einen verbrennen BHs, andere färben die Aare grün. Adrian Spahr und Nils Fiechter gehen an die Grenzen des politisch Sagbaren – und manchmal auch darüber hinaus.

Geschmacklos, aber auch strafbar?

Der Mercedes-Maybach passiert den Transitplatz Wileroltigen. Die beiden Jungpolitiker schauen aus dem Fenster. «Der Platz ist schon fast voll», sagt Fiechter. «Sie kommen jedes Jahr ein paar Wochen früher», sagt Spahr.

Der Streit um den Transitplatz Wileroltigen war vor vier Jahren der Auslöser, weshalb die beiden Jungpolitiker an diesem Tag vor Bundesgericht erscheinen müssen. Auf Facebook posteten sie auf der Seite der Jungen SVP Kanton Bern seinerzeit eine Karikatur. Diese zeigt einen Transitplatz, auf dem sich der Abfall türmt. Daneben verrichtet ein dunkelhäutiger Mann im Freien seine Notdurft, und ein anderer Mann im Sennenkutteli hält sich genervt die Nase zu. Der Wortlaut: «Wir sagen Nein zu Transitplätzen für ausländische Zigeuner!»

Dass die Karikatur geschmacklos ist, steht wohl ausser Frage. Aber um das geht es hier nicht. Die Frage ist vielmehr, ob das Bild samt Wortlaut ein Verstoss gegen Art 261. des Strafgesetzbuchs darstellt – Rassendiskriminierung.

Sowohl das Regionalgericht als auch das Obergericht sprachen Spahr und Fiechter bereits schuldig. Die beiden zogen das Urteil aber unbeirrt weiter. Vor Bundesgericht erhoffen sie sich nun einen richtungsweisenden Entscheid in Sachen Meinungsfreiheit. «Wir sind zuversichtlich», sagt Fiechter. Spahr nickt zustimmend.

«Es könnte knapp werden»

Der Mercedes-Maybach biegt auf die Place de la Gare in Lausanne ein. Im Bahnhofbuffet treffen die beiden ihren Anwalt und Parteikollegen Patrick Freudiger. Es verbleiben zehn Minuten für eine Tasse Kaffee.

Zwei Jahre lang liessen sich die Bundesrichter Zeit, um zum heutigen Urteil zu gelangen. Sie holten Auskünfte ein, durchforsteten archivierte Entscheide – ein Zeichen, dass man sich uneinig ist. «Es könnte knapp werden», glaubt auch Anwalt Freudiger. Wie stehen die Chancen? «50 zu 50.»

Das Publikum muss sich jeweils erheben, wenn das Hohe Gericht den Raum betritt. Die fünf Richter der Strafabteilung – eine Frau und vier Männer – starten sogleich mit ihren Plädoyers.

Es ist, als ob man ein Fussballspiel mitverfolgt. Richter 1 analysiert detailreich, inwiefern mit dem umstrittenen Begriff «Zigeuner» eine Ethnie gemeint sein könnte. Je länger seine Rede dauert, desto klarer wird für die Zuhörer: Er ist der Meinung, dass ein «Durchschnittsadressat» dieses Wort fast nur als Ethnie verstehen könne. Und weil die Karikatur herabwürdigend sei, liege ein Verstoss wegen Rassendiskriminierung vor.

Dann aber wendet sich das Blatt. Sowohl Richter 2 als auch Richter 3 sind der Meinung, dass Spahr und Fiechter zwar an die Grenze des strafrechtlich Erlaubten gegangen seien, diese jedoch nicht überschritten hätten. «Sozial inadäquat ist nicht rechtlich strafbar», sagt einer der beiden Rechtsgelehrten. Ausserdem stelle die Karikatur einen Sachverhalt dar, den es in der Realität tatsächlich gebe. Mehrere Berner Gemeinden beklagten sich in der Vergangenheit über Abfallprobleme bei Transitplätzen von Fahrenden.

Es steht 2:1 aus der Sicht von Spahr und Fiechter, als Richter 4 sein Plädoyer auf Französisch hält. Auch Richterin 5 spricht im Anschluss Französisch. Während ihrer Rede schaut Fiechter fragend seinen Anwalt Freudiger an. Dieser schüttelt den Kopf und reibt sich leicht gequält die Augen. Die 2:1-Führung reicht nicht bis ins Ziel – die beiden französischsprachigen Richter entscheiden zuungunsten der SVPler.

Keine Zeit für Selbstreflexion

Es sind nun bedingte Geldstrafen von ein paar Tausend Franken, welche Adrian Spahr und Nils Fiechter davontragen. Erst bei einem Wiederholungsfall würden sie zur Kasse gebeten. Viel schwerer als das Strafmass wiegt der Stempel der Rassendiskriminierung.

Auch wenn die beiden Jungpolitiker die 2:3-Niederlage im Anschluss als moralischen Sieg verkaufen, ist ihnen die Betroffenheit sichtlich anzumerken. «Wir sind keine Rassisten», versichert Fiechter. Sie hätten niemals die Absicht gehabt, jemanden aufgrund seiner Hautfarbe, Religion oder sexuellen Zugehörigkeit zu diskriminieren.

Für Selbstreflexion bleibt dann aber nicht viel Zeit. Sogleich schalten die beiden Grenzgänger auf Gegenoffensive. Sie inszenieren sich als Opfer einer «rot-grün übertriebenen politischen Korrektheit» und fordern das Berner Wahlvolk auf, diesem «skandalösen Urteil» am 27. März die Rote Karte zu zeigen.

Dann treten Spahr und Fiechter in ihren Wahlkreisen zu den Grossratswahlen an.
(https://www.derbund.ch/jung-laut-verurteilt-553131288557)


+++VERSCHWÖRUNGSIDEOLOGIEN
Die Pandemie als Nährboden für rechte Bewegungen
In den vergangenen Monaten haben sich zahlreiche Organisationen von Verschwörungsgläubigen und Gegner:innen der Corona-Massnahmen gegründet. Als Reaktion darauf hat sich das linke Bündnis gegen Rechtsabbiegen konstituiert: Die Mitglieder sprechen im Interview über die Gefahr von Rechts, gescheiterte Kapitalismuskritik und linke Perspektiven aus der Krise.
https://daslamm.ch/die-pandemie-als-naehrboden-fuer-rechte-bewegungen/


Putins Handlanger: Warum «Querdenker» und Impfgegner jetzt Putin-Versteher sind
Putins Staatspropaganda fütterte «Querdenker» während der Pandemie mit Fake-News, um westliche Demokratien zu destabilisieren. Nun verbreiten Corona-Verschwörungserzähler Putins Lügen über den Krieg in der Ukraine auch bei uns.
https://www.watson.ch/!160379622


Ukraine-Krieg auf Telegram: Ein Fake-Präsident und jede Menge Propaganda
Der Messengerdienst ist wegen der fehlenden Inhaltsmoderation eine beliebte Plattform für Desinformation und Verschwörungserzählungen
https://www.derstandard.at/story/2000133991066/ukraine-krieg-auf-telegram-ein-fake-praesident-und-jede-menge?ref=rss


+++HISTORY
Schweiz erhält Gedenkort für Opfer des Nationalsozialismus
Der Nationalrat hat seinen Willen bekräftigt, dass die Schweiz einen offiziellen Gedenkort für die Opfer des Nationalsozialismus bekommen soll. Er hat den entsprechenden Vorstoss am Donnerstag ohne Gegenstimme überwiesen.
https://www.parlament.ch/de/services/news/Seiten/2022/20220310104056700194158159038_bsd076.aspx
-> https://www.nau.ch/politik/bundeshaus/schweiz-erhalt-gedenkort-fur-opfer-des-nationalsozialismus-66127628



nzz.ch 10.03.2022

 Der Faschismus ist das, was folgt, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat – Wladimir Putin ist ein gelehriger Schüler Benito Mussolinis

Von seinen Gegnern wird Wladimir Putin gern als «Putler» bezeichnet. Die historische Analogie indes stimmt nicht, Putin ist kein Nazi. Dafür erfüllt er mustergültig den Katalog dessen, was Faschismus ausmacht. Das Gebot der Stunde ist daher, Russland zu entfaschisieren.

Wladislaw Inosemzew

Als Präsident Putin am 24. Februar grünes Licht für den Überfall auf die Ukraine gab, bestand er darauf, dass die russischen Streitkräfte im Nachbarland nur eine «Spezialoperation» durchführen würden, um es zu «entnazifizieren». Es beliebte ihm, das Vorgehen der Ukraine gegen die russischsprachige Bevölkerung im Donbass als «Völkermord» zu bezeichnen. Dabei handelt es sich um eine einzige grosse Lüge. Denn nicht die Ukraine, welche einen jüdischen Präsidenten hat und in welcher der Gebrauch der russischen Sprache weit verbreitet ist, ist unter die Kontrolle von «Nazis» geraten, sondern Russland selbst hat sich unter Putin zu einem klassischen faschistischen Staat entwickelt.

Die ukrainischen Kämpfer bezeichnen die russischen Invasoren nicht zufällig ständig als Faschisten und nennen den russischen Präsidenten «Putler», um die Parallelen zu Hitler zu unterstreichen. Spätestens nach dem Ausbruch des Krieges erscheint eine solche Formulierung naheliegend, aber die Debatte über die Ähnlichkeiten begann kurz nach der russischen Annexion der Krim, als Mikhail Iampolski (New York University) oder Alexander Motyl (Rutgers University) versuchten, Putins Staat als faschistisch darzustellen – ohne sichtbar Unterstützung aus der Zunft der Politikwissenschafter zu bekommen.

Ein Nazi ist Putin nicht

Ich habe damals in der russischen freien Presse positiv auf diesen Versuch reagiert und wurde später dafür verurteilt, unter anderem von Marlène Laruelle (George Washington University), die einen Sonderband zur Verteidigung von Putins Russland verfasst hat.

Ich möchte hier versuchen, mich dem Thema aus einer theoretischen Perspektive zu nähern und auf politische Etiketten zu verzichten. Dabei gehe ich von Robert Paxtons Definition des Faschismus aus. Danach ist Faschismus «eine Form politischen Verhaltens, die durch eine obsessive Beschäftigung mit dem Niedergang der eigenen Gemeinschaft, ihrer Demütigung oder Opferrolle sowie durch kompensatorische Kulte von Einheit, Stärke und Reinheit gekennzeichnet ist, in denen eine Partei nationalistischer Kämpfer, die in loser, aber effektiver Zusammenarbeit mit den traditionellen Eliten arbeitet, demokratische Freiheiten aufgibt und mit messianischer Gewalt und ohne ethische oder rechtliche Beschränkungen Ziele der internen Säuberung und externen Expansion verfolgt».

Fast jeder dieser Punkte widerspiegelt, was sich seit Jahren in Putins Russland abspielt. Man könnte auch Merkmale hinzufügen, die Umberto Eco zum Verständnis des Faschismus beigesteuert hat, wie den «Kult der Tradition» (oder des «Konservatismus»), den Umstand, dass «Uneinigkeit Verrat ist» (was sich in der Suche nach «ausländischen Agenten» niederschlägt), die «Angst vor dem Unterschied» (präsent als fixe Idee von «Stabilität»), das Vertrauen auf «Antiintellektualismus und Irrationalismus» (was in Russland zur religiösen «Erweckung» geführt hat), die «Besessenheit von einer Verschwörung» (sprich: die Einflussnahme des «untergehenden Westens»), sodann «selektiver Populismus», «Neusprech» und Lüge.

Es sei hier an einen Satz erinnert, den der Wirtschaftswissenschafter Peter Drucker vor mehr als achtzig Jahren formulierte: «Der Faschismus ist das Stadium, das erreicht wird, nachdem sich der Kommunismus als Illusion erwiesen hat.»

In Bezug auf Putins Faschismus sei hier festgehalten, dass das Regime, das er in Russland seit den nuller Jahren aufgebaut hat, sehr wenig mit dem Nationalsozialismus gemein hat, wie er von Historikern seinerseits mit dem Faschismus in der Sowjetunion in Verbindung gebracht wurde. Putin ist kein Nazi. Selbst er fand heraus, dass die russische Nation nicht durch «Rasse», sondern durch einen «gemeinsamen kulturellen Code» zusammengehalten wird, der umso «wertvoller» ist, als er aus einer «jahrhunderte-», ja sogar «jahrtausendealten» Vermischung der Kulturen hervorgegangen ist. Aus diesem Gedanken, der von der russisch-orthodoxen Kirche gestützt wird, speist sich die Doktrin der «russischen Welt». Was Putin in seiner Regentschaft reproduzierte, ist das prototypische faschistische Modell, wie es Benito Mussolini entwickelt hat – versetzt mit sozialdemokratischen Elementen, einem starken Gefühl der Grösse des verlorenen Reiches, einer korporativen Organisation der nationalen Wirtschaft und einer eher massvollen Unterdrückung des politischen Gegners.

Vier Säulen

Die erste Säule des russischen Faschismus ist das Lob des Irredentismus (des Ziels also, möglichst alle Angehörigen eines «Volkes» in einem Staat zu einigen) und der Militarisierung. Beides hat Putin zu einem Kernstück seiner Ideologie gemacht. Die jüngeren Feierlichkeiten zum Tag des Sieges über die Nazidiktatur übertrafen alles, was in der Sowjetunion stattfand – einige übereifrige Politiker schlugen sogar vor, den noch lebenden Angehörigen der Kriegsopfer ein Wahlrecht bei den nationalen Wahlen zu gewähren.

Der Kult um die gloriose Vergangenheit lieferte den allerbesten Vorwand für die militärische Aufrüstung. Daneben pflegte Putin einen Hass auf den Westen, von dem her er das Ende des Kalten Krieges als Ergebnis einer Verschwörung und eines Verrats interpretierte, die zur Niederlage und zum Untergang der Sowjetunion geführt hatten. Zuletzt behaupteten Putin und seine Getreuen gar, der Westen wolle die Russische Föderation selber demontieren und zerstören. Ebendiese Gefahr wurde als Hauptgrund für einen «präventiven» Angriff auf eine Ukraine angeführt, deren Präsident Selenski nichts weiter sei als eine russophobe Marionette Washingtons.

Die zweite Säule war die fortschreitende Etatisierung der russischen Wirtschaft. Vor einem Jahrhundert hatte Mussolini verkündet: «Der faschistische Staat beansprucht die Herrschaft auf dem Gebiet der Wirtschaft nicht weniger als auf anderen Gebieten; er entfaltet seine Wirkung in der ganzen Ausdehnung des Landes mithilfe seiner korporativen Institutionen, wobei alle wirtschaftlichen Kräfte der Nation, die in ihren jeweiligen Verbänden organisiert sind, innerhalb des Staates zirkulieren.»

Nach Emilio Gentile ist eines der wichtigsten Merkmale des Faschismus die «korporative Organisation der Wirtschaft, welche die Gewerkschaftsfreiheit unterdrückt, die Sphäre der staatlichen Intervention ausweitet und versucht, durch Technokratie und Solidarität die Zusammenarbeit der ‹produktiven Sektoren› unter der Kontrolle des Regimes zu erwirken – dies, um die gesteckten Machtziele zu erreichen, aber gleichzeitig das Privateigentum und die Klassenunterschiede zu erhalten». Auch die russische Wirtschaft ist unter Putin von Bürokraten beherrscht. Zugleich wird das Wort «Technokrat» verwendet, um die besten Köpfe der Kreml-Administration zu bezeichnen.

Drittens ist Russland unter Putin zum Land der «Vollstreckungsbehörden» geworden. In den letzten Jahren erfolgte eine zunehmende Umstrukturierung der Administration zu dem Zwecke, dem neuen Duce einen absoluten Durchgriff von Macht und Gewalt zu ermöglichen. Zu den Streitkräften, zum Innenministerium und zum Föderalen Sicherheitsdienst kam 2002 der Föderale Wachdienst hinzu. 2007 erweiterte sich der Machtapparat um das Untersuchungskomitee und 2016 um die Nationalgarde. Alle diese Entitäten werden von Putins treuesten Weggefährten geleitet und finden nicht einmal in der aktualisierten Fassung der russischen Verfassung eine Erwähnung. Im Weiteren entstanden in ganz Russland paramilitärische Einheiten – von «Privatarmeen» staatlicher Unternehmen bis hin zu «ethnischen Garden» wie jenen in Kadyrows Tschetschenien (die jetzt in den Aussenbezirken Kiews gegen die ukrainische Armee kämpfen).

Viertens dürfen hier Symbolik und Propaganda nicht unerwähnt bleiben, beides sind für faschistische Regime wesentliche Faktoren. Im heutigen Russland lassen sich sowohl eine «rechtmässige» Kodifizierung der Geschichte als auch der Versuch beobachten, alternative historische Lesarten zu verfolgen. Es gibt eine willkürliche Definition von «Extremismus» und eine willkürliche Einschränkung politischer Aktivitäten. Die wichtigsten Massenmedien unterstehen staatlicher Kontrolle. Deren populistische Rhetorik über eine «nationale Renaissance», über die «Stärke des Landes» und das «Kräftemessen mit dem Feind» hat sich von Jahr zu Jahr verstärkt.

Kurioserweise zeigt das vor Jahren neu entworfene Wappen einer russischen Strafverfolgungsbehörde nichts anderes als ein Bündel jener «fasci», die auf dem Emblem der italienischen faschistischen Partei prangten, nur dass sie jetzt stolz in den Fängen eines doppelköpfigen Adlers liegen. Putins Propaganda ist mit allen Wassern gewaschen und derart wirksam, dass die Russen kein Problem damit haben, wenn der Kreml-Herrscher Charkiw als «russische Stadt» bezeichnet und gleichzeitig die Bombardierungen als «Kampf gegen die Nazis» proklamiert. Im Jahr 2022 sind die durchschnittlichen Russen genauso indoktriniert und unbeleckt von Moral wie die Italiener und Deutschen in den späten dreissiger Jahren.

Der Westen muss sich engagieren

Putins Faschismus wurde Anfang der 2000er Jahre geboren, als er den Untergang des sowjetischen Imperiums zur grössten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts erklärte und die Überführung der sterblichen Überreste des berühmtesten russischen faschistischen Philosophen, Iwan Iljin, vom schweizerischen Zollikon nach Moskau als Staatsakt inszenierte. Er verstärkte sich in den folgenden Jahren durch die Aggression gegen Georgien und die Annexion der Krim.

In all diesen Jahren gab es naive westliche Gelehrte, die Russland als «normales Land» beschrieben und versuchten, dessen «souveräne Demokratie» tiefer und besser zu verstehen. Mittlerweile ist das Thema des russischen Faschismus nicht mehr nur von theoretischem Interesse. Die russischen Faschisten haben sich mittlerweile daran gemacht, die ukrainische Zivilbevölkerung zu kujonieren und wenn nötig zu töten, während der Herr im Kreml vorgibt, dass die ukrainische Armee diese als lebenden Schutzschild benutze, so wie es während des Zweiten Weltkriegs die Faschisten taten.

Der Krieg in der Ukraine ist mehr als nur ein Konflikt zwischen den Teilen des ehemaligen Imperiums. Er ähnelt dem Vormarsch der faschistischen Brüder im Vorkriegseuropa, wie man ihn von der italienischen und der deutschen Hilfestellung im Spanischen Bürgerkrieg kennt. Um einen neuen Weltkrieg zu verhindern, sollte sich die freiheitliche westliche Welt entschlossen hinter die tapfer kämpfenden Ukrainer stellen. Sie sollte die Schraube der wirtschaftlichen und politischen Sanktionen gegen Russland, aber auch gegen Weissrussland dermassen stark anziehen, bis beide Regime ins Wanken geraten. Was auf dem Spiel steht, ist nicht mehr und nicht weniger als eine vollständige und tiefgreifende Entfaschisierung Russlands.

Wladislaw Inosemzew ist ein bekannter russischer Ökonom sowie Gründer und Direktor des Zentrums für postindustrielle Studien in Moskau. – Aus dem Englischen von Andreas Breitenstein.
(https://www.nzz.ch/meinung/wladimir-putin-ist-ein-faschist-wie-er-im-lehrbuch-steht-ld.1673256)



nzz.ch 10.03.2022

Russland ist entweder gross oder gar nicht: Putins Handeln basiert auch auf sinistren Ideologien

Der russische Präsident ist nicht wählerisch in seinen Mitteln für die Durchsetzung der Machtpolitik. Noch weniger ist er es, wenn es um die Stichwortgeber seiner Grossmachtphantasien geht.

Ulrich M. Schmid

Ist Putin verrückt? Die Antwort lautet: nein. Zwar scheint sein eigenmächtiges und verblendetes Vorgehen allen Grundsätzen des gesunden Menschenverstandes zu widersprechen, gleichzeitig handelt er aber innerhalb seiner grossrussischen Ideologie kohärent und folgerichtig. Putin bewegt sich in einer Denktradition, die bis ins 15. Jahrhundert zurückreicht und in verschiedenen historischen Kontexten einen undemokratischen und wertkonservativen Staat gefeiert hat. Ideengeschichtlich gesehen ist Putin ein Eklektiker. Er nimmt Theorieangebote auf, wo er sie findet, und integriert sie in seine wahnhafte Vision eines grossrussischen Imperiums, das über eine tausendjährige Staatlichkeit verfügt.

Geschichte gehört in Putins Russland nicht zur Vergangenheit, sondern ist Teil der Gegenwart. 2016 wurde in Orjol ein Denkmal für Iwan den Schrecklichen errichtet. Bei der Einweihung bezeichnete der Rektor der Moskauer Staatsuniversität den blutigen Tyrannen als «Symbol der russischen Staatlichkeit», seine Herrschaftszeit werde «mit goldenen Buchstaben in die Geschichte unseres Vaterlandes» eingeschrieben. Die seltsame Wahl für das Denkmal geht auf die Herrschaftsideologie des grausamen Zaren zurück, die auch für das System Putin relevant ist.

Iwan stützte seine Macht auf das Denken des Abtes Joseph Sanin von Wolokolamsk. Joseph anerkannte zwar die Menschennatur des Zaren, die Macht des Monarchen erschien aber aus seiner Sicht göttlich und deshalb unbegrenzt. Sogar Intrigen und Täuschungen waren explizit erlaubt. Putin bewundert Iwan den Schrecklichen für seine Verteidigung des orthodoxen Glaubens gegen die römisch-katholische Kirche und hält Iwans angeblichen Sohnesmord für eine Legende des rachsüchtigen päpstlichen Nuntius.

Die eiserne Hand des Zaren

Der Absolutismus hielt sich in Russland bis zur Abdankung des letzten Zaren Nikolai II. im März 1917. Die Herrscher standen nicht nur über dem Gesetz, sie waren das Gesetz. Die Monarchen waren aufgrund ihres Gottesgnadentums überzeugt, dass sie über dasselbe staatsrechtliche Gewicht wie das ganze Volk verfügten. Als der britische Botschafter Nikolai II. während des Ersten Weltkriegs auf dessen wachsende Unpopularität ansprach, antwortete der Zar vielsagend: «Meinen Sie nun, dass ich das Vertrauen meines Volks zurückgewinnen muss, oder meinen Sie nicht vielmehr, dass mein Volk mein Vertrauen zurückgewinnen muss?»

Allerdings verachtet Putin Nikolai II. als schwachen Herrscher, der für den Zerfall seines Reichs verantwortlich ist. Umso heller strahlt in Putins Augen Nikolais Vater, Alexander III., der Russland mit eiserner Hand regierte. Putin verwendet gerne ein Zitat von Alexander III., um seinen Isolationismus historisch zu begründen: Russland verfüge nur über zwei Verbündete: die Armee und die Flotte.

Auch die von Putin oft behauptete Einzigartigkeit der russischen Zivilisation geht auf einen Denker aus dem 19. Jahrhundert zurück. Nikolai Danilewski identifizierte in seiner Untersuchung «Russland und Europa» zehn Kulturtypen, die vom alten Ägypten bis zur «germanisch-romanischen Kultur» der Neuzeit reichen. Russland kommt in dieser Typologie nicht vor, und zwar mit gutem Grund: Es stellt nämlich den Höhepunkt dar, der alle religiösen, politischen und ökonomischen Entwicklungen der Weltgeschichte abschliessen wird.

Mit den Sowjetführern teilt Putin die Illusion der Attraktivität des eigenen Herrschaftssystems. Lenin und Stalin waren überzeugt, dass nach dem Oktober 1917 weitere sozialistische Revolutionen in Europa ausbrechen würden. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg betrachtete man in Moskau die Bruderländer des «Ostblocks» nicht als Besatzungszonen, sondern glaubte an ihre Einsicht in den sozialistischen Fortschritt. Der Kommunismus nahm die Züge einer Erlösungsreligion an. Putin verglich noch im Jahr 2016 die ideologische Programmschrift «Der Kodex des Erbauers des Kommunismus» mit der Bibel und nannte als wichtigste sowjetische Werte die Gleichheit, die Bruderschaft und das allgemeine Glück.

Schädliche Demokratie

Putin macht nicht nur Anleihen bei der Sowjetideologie, sondern auch bei antirevolutionären Denkern aus der russischen Emigration. Eine wichtige Inspirationsquelle ist für ihn der monarchistische Philosoph Iwan Iljin, der nach der Oktoberrevolution zunächst nach Berlin und später nach Zollikon übersiedelte. Iljin entwarf im Jahr 1938 eine Verfassung für ein postsowjetisches Russland. Darin nahm er Putins autoritäre Staatsvorstellungen vorweg.

Eine Demokratie sei schädlich. Russland brauche einen straff gelenkten Staat, dessen Legitimation sich aus der Religion und der Geschichte speise. Ganz dem Zeitgeist entsprechend forderte Iljin, dass «der Staat alle seine Bürger durch eine einheitliche patriotische Solidarität» zusammenbinden solle. Der zukünftige russische Staat müsse durch einen Monarchen zusammengehalten werden. Nicht die Konkurrenz der Parteien, sondern das allgemeine Vertrauen in die Macht sei die Basis der politischen Entscheidungsfindung. Putin zitiert Iljin gelegentlich in seinen Reden. Er sorgte dafür, dass Iljins Gebeine 2005 nach Moskau übergeführt wurden, und war persönlich bei der Beisetzung zugegen.

Der Philosoph Nikolai Berdjajew wurde gemeinsam mit Iwan Iljin 1922 auf einem der sogenannten «Philosophendampfer» aus Sowjetrussland ausgewiesen. Anders als Iljin war Berdjajew in seiner Jugend ein überzeugter Marxist gewesen, der sich später zu einem konservativen Denker wandelte. Auf die Oktoberrevolution reagierte Berdjajew mit einer «Philosophie der Ungleichheit». Seine politischen Vorlieben lagen fortan bei Mussolini und schliesslich sogar Stalin, den er als Verteidiger des russischen Vaterlands verehrte. Putin lobt Berdjajew als Vertreter eines «gesunden Konservatismus», der nicht zukünftige Entwicklungen, sondern den Rückschritt ins Chaos verhindere.

Der dritte Exildenker, auf den sich Putin bezieht, ist Alexander Solschenizyn, der Literatur-Nobelpreisträger des Jahres 1970, der das sowjetische Strafsystem in mutigen literarischen Texten angeprangert hatte. Nach seiner Ausweisung wurde er in Europa und den USA zunächst als Dissident gefeiert. Allerdings las Solschenizyn auch bald dem westlichen Publikum die Leviten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion kehrte er nach Russland zurück. Er empfahl die Vereinigung von Russland, Weissrussland und der Ukraine in einen Staat, der nicht demokratisch, sondern von Philosophenkönigen regiert werden müsse. Bereits kurz nach seinem Amtsantritt hatte Putin Solschenizyn besucht, er zeichnete ihn im Jahr 2007 sogar mit einem Staatspreis aus. Putin nahm persönlich an Solschenizyns Begräbnis teil und weihte im Jahr 2018 ein Solschenizyn-Denkmal in Moskau ein.

Im postsowjetischen Russland gibt es eine prominente nationalistische Denktradition, deren berüchtigtster Vertreter Alexander Dugin ist. Der Vordenker der eurasischen Bewegung ist überzeugt, dass Russland «entweder gross oder gar nicht» sein werde. Russland müsse sich vom Westen abwenden und zu seiner eurasischen Bestimmung zurückkehren. Das «Russentum» wird bei Dugin zum Mass aller Dinge, dem sich sogar die Ethik unterordnen muss. In einem Aufsatz über Dostojewski behauptet Dugin, dass sogar die russischen Verbrechen unvergleichlich höher stünden als fremde Tugenden. Putin hält sorgfältige Distanz zu Dugin – möglicherweise um sich selbst als gemässigten Vertreter des Eurasismus zu präsentieren.

Insel oder Festung

Der Historiker Wadim Zymburski legte 1993 einen einflussreichen Aufsatz über die «Insel Russland» vor. Er ging davon aus, dass sowohl das Zarenreich als auch das Sowjetimperium Russland von der eigenen geopolitischen Identität entfremdet hätten. Deshalb sei der Zerfall der Sowjetunion eine Chance für Russland, das sich auf seine Grenzen zurückziehen und sich wie eine Insel abschotten müsse. Russland sei von einem Gürtel geopolitisch undefinierter Staaten umgeben.

Alle diese Staaten müssten sich entscheiden, entweder zu Russland oder zum Westen zu gehören. Manche Staaten – wie namentlich die Ukraine – würden bei dieser Wahl aber auseinanderbrechen. Zymburski ging davon aus, dass sich die Krim, das sogenannte «Neurussland» und alle Gebiete östlich des Dnjepr in einem Akt zivilisatorischer Selbstdefinition Russland anschliessen würden. Mit dieser Vision wird Zymburski zu einem Stichwortgeber von Putins aggressiver Ukraine-Politik.

2005 legten die beiden nationalistischen Publizisten Michail Leontjew und Michail Jurjew ihre Konzeption der «Festung Russland» vor. Die grösste Gefahr bestand aus ihrer Sicht darin, dass Russland sich als Staat mit einer eigenen Zivilisation in einer globalisierten Wirtschaftsordnung auflösen könnte. Deshalb forderten sie, dass Russland sich selbst vom Welthandel abschneiden und ein alternatives politisches System zum westlichen Liberalismus entwerfen solle. Die Garanten dieses Szenarios wären laut den Autoren der starke Präsident, die Atomwaffen und die natürlichen Ressourcen des Landes. Putin kann sich bei seiner Vorliebe für eine russische Selbstisolation auf solche ideologischen Entwürfe stützen.

Die Politikwissenschaft muss über die Bücher gehen. Viele der klassischen politikwissenschaftlichen Theorien können Putins aggressives Vorgehen nicht erklären. Seit dem 24. Februar ist klar: Der russische Präsident ist kein kalkulierender Machtmensch, der Risiken und Chancen abwägt. Er ist auch nicht in Institutionen eingebunden, die ihre Interessen formulieren können. Sein Handeln beruht auf ideologischen Überzeugungen. Für das Erreichen seiner Ziele ist ihm kein Preis zu hoch.

Ulrich M. Schmid ist Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands sowie Prorektor Aussenbeziehungen an der Universität St. Gallen.
(https://www.nzz.ch/feuilleton/wladimir-putin-schoepft-seine-ideologie-aus-trueben-quellen-ld.1673660)